4. KAPITEL


»Bruder Robin?« Jemand schüttelte sie sanft an der Schulter. Robin schob die Hand weg, nuschelte verschlafen irgendetwas in sich hinein und drehte sich auf die Seite, wobei sie mit der Hand nach einer Decke tastete, die es gar nicht gab. Die Stimme, die ihren Namen genannt hatte, wiederholte sich nicht, aber die Hand war wieder da und rüttelte noch einmal und diesmal deutlich kräftiger an ihr. Widerwillig öffnete Robin die Augen, blinzelte verständnislos in ein schmutziges, von einem unordentlich gestutzten Bart eingerahmtes Gesicht und versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wo sie war.

»Es ist Zeit, Bruder«, sagte der Bärtige. Er flüsterte fast; dennoch entging Robin der missbilligende Unterton in seinen Worten nicht. Sie hatte auch das Gefühl, den Grund für seinen leisen Ärger kennen zu müssen, aber sie war einfach noch nicht richtig wach. Dennoch deutete sie eine Bewegung an, die der Bärtige zumindest als zustimmendes Nicken auslegen konnte, wenn er es denn wollte, presste für einen Moment die Lider so fest aufeinander, dass bunte Lichtblitze vor ihren Augen flimmerten, und stemmte sich zugleich auf beide Ellbogen hoch. Dem Bärtigen schien das als Antwort zu genügen, denn er warf ihr zwar noch einen halb strafenden, halb aber auch verzeihenden Blick zu, sagte aber nichts mehr, sondern drehte sich wortlos um und ging. Robin stemmte sich ein kleines Stückchen weiter in die Höhe und unterdrückte nur noch mit Mühe ein Gähnen. Im allerersten Moment hatte sie immer noch Mühe, sich zu erinnern, wo sie war. Ihr Körper begann vielleicht allmählich zu erwachen, aber ihre Gedanken und erst recht ihre Erinnerungen schienen größere Schwierigkeiten damit zu haben. Ihre Umgebung hatte jedenfalls alle Voraussetzungen, geradewegs aus einem Albtraum stammen zu können, dessen Nachhall sie noch spürte, ohne sich wirklich daran zu erinnern. Es war ein einfacher, niedriger Raum in einem engen Turm, dessen Wände aus unverputzten Ziegeln bestanden und der von einer einzelnen, schon fast heruntergebrannten Kerze nur unzureichend erhellt wurde, sodass sie kaum mehr als die dunklen Schatten einiger Männer wahrnahm, die sich rings um sie herum allmählich zu rühren begannen. Es war stickig, und es stank. Der zerschlissene Strohsack, auf dem sie sich zum Schlafen ausgestreckt hatte, musste unter ihrem Gewicht aufgeplatzt sein, denn sie spürte mindestens ein Dutzend trockener Halme, die in ihrem Nacken kitzelten und stachen, und der Geruch des schon halb in Fäulnis übergegangenen Strohs war noch beinahe der angenehmste hier drinnen.

Das war etwas, was sie in der Zeit mit Salim schlichtweg vergessen hatte. Die Tempelritter mochten gefürchtete Krieger sein, tapfere und - zumindest zum größten Teil - aufrechte Männer, die tatsächlich an das glaubten, wofür sie standen, aber eines waren sie gewiss nicht: reinlich. Robin musste sich keine Sorgen darum machen, dass ihr Geheimnis spätestens beim ersten gemeinsamen Bad entdeckt würde. Die Tempelritter badeten nie. Einige wenige, allen voran zweifellos Dariusz, bildeten da vielleicht eine Ausnahme, doch Robin hatte weder damals in ihrer Zeit in der Komturei noch auf dem Schiff während der Überfahrt oder jetzt eine Ausrede benötigt, um sich in ihrem langen Unterkleid oder auch gleich komplett angezogen zum Schlafen auszustrecken. Sie war sicher, dass etliche der Männer, die rings um sie herum allmählich erwachten oder auch noch lautstark vor sich hin schnarchten, ihre Kleidung seit Jahren nicht mehr abgelegt hatten.

Dennoch waren die letzten Nächte, die sie gemeinsam mit den Rittern verbracht hatte, Nächte voller Angst gewesen, in denen sie kaum zum Schlafen gekommen war; und wenn, dann war es ein unruhiger, von Albträumen und Furcht heimgesuchter Schlaf gewesen, aus dem sie nicht wirklich ausgeruht wieder erwacht war. Sie war es gewohnt, in einem eigenen Zimmer zu schlafen und in einem Bett, das annähernd so groß war wie dieser ganze Raum, in dem sich ein gutes Dutzend Männer drängte, und sie hatte allein zwei Nächte gebraucht, um eine Stellung zu finden, in der sie auch nur einzuschlafen gewagt hatte. Eine flüchtige Berührung, und ihr Geheimnis wäre keines mehr. Es kam Robin schon jetzt fast wie ein kleines Wunder vor, dass bisher noch keiner dieser Männer misstrauisch geworden war.

Vielleicht lag es einzig daran, dass jeder einzelne von ihnen mindestens genauso erschöpft und müde war wie sie selbst. Nicht wenige von ihnen schafften es abends gerade noch mit letzter Kraft, sich zu ihrem Schlafplatz zu schleppen, und schliefen ein, noch bevor ihre Köpfe die zerschlissenen Strohsäcke oder auch den nackten Boden berührt hatten, und Robin war auch nicht die Einzige, die Mühe hatte, sich nach den immer kürzer werdenden Pausen wieder zu erheben. Nach dem fünf lange Tage währenden erbarmungslosen Ritt entlang der Mittelmeerküste, vorbei an den blühenden Gärten von Tripolis, deren Farbenpracht und Schatten ihnen unter ihren schweren Rüstungen wie der blanke Hohn vorgekommen waren, vorbei an schattigen Hainen und endlosen Feldern mit goldenem Korn und Anpflanzungen mit Hunderten von Obstbäumen und Sträuchern, immer in Sichtweite des Paradieses und doch geradewegs durch die Hölle, hatten sie gestern Abend erst nach Sonnenuntergang die Tore von Tyros erreicht.

Die Plünderer hatten sie dem großen Gefolge weltlicher Ritter überlassen, dem sie vor zwei Tagen begegnet waren. Das kleine Heer, das von einer gewaltigen Anzahl nicht berittener Waffenknechte begleitet wurde, kam nur langsam voran, war aber auf dem gleichen Weg, den auch Dariusz und seine Begleiter eingeschlagen hatten: dem Weg zur Templerfestung Safet, in deren Nähe sich das Heerlager des Königs befand. Obwohl Robin gespürt hatte, dass sie in Tyrus nicht unbedingt willkommen waren und die Angst der Einwohner vor den Tempelrittern ihre Ehrerbietung und Gastfreundschaft eindeutig überwog, hatte man Dariusz und seinen Begleitern ein Lager in einem der Festungstürme überlassen - auch wenn sich diese scheinbare Großzügigkeit spätestens auf den zweiten Blick ins Gegenteil verkehrt hatte. Robin hatte Verließe gesehen, die bequemer und wohnlicher waren als diese stickigen, engen Kammern.

Ihre Hände zitterten nicht nur vor Benommenheit, als sie sich endgültig aufsetzte und den gefütterten Gambeson überstreifte. Das Kleidungsstück stank nach Schweiß und anderen, noch unangenehmeren Dingen, nach den Ausdünstungen ihres Pferdes und heißem Sand, und Robin hätte ihren rechten Arm für ein Stück wohlriechender Seife oder einen einzigen Spritzer des Parfüms gegeben, das sie bisher so selbstverständlich benutzt hatte.

Nachdem sie das Kleidungsstück übergestreift hatte, wurde die Hitze schier unerträglich. Es war schon warm hier drinnen gewesen, als sie die Augen aufgeschlagen hatte. Sie war schweißgebadet erwacht, und allein die Vorstellung, das schwere Kettenhemd überzustreifen, nahm ihr schier den Atem.

Dennoch zögerte Robin nur einige Augenblicke, sich zu Ende anzuziehen. Rings um sie herum taten ihre neuen Weggefährten dasselbe, und abgesehen von einem gelegentlichen Klirren, dem Knarren von Leder, manchmal einem scharfen Atmen oder einem Husten oder Räuspern geschah alles in fast unheimlicher Stille.

Niemand rings um sie herum sprach. Die Ritter hielten sich eisern an das Schweigegelübde, das den Templern verbot, auf Reisen miteinander zu reden, wenn sie nicht etwas wirklich Wichtiges auszutauschen hatten, oder um Gott zu preisen. Auch das war etwas, was sie schlichtweg vergessen hatte wie so vieles. Abbé war mit dieser Ordensregel immer recht locker umgegangen, Dariusz hingegen achtete streng auf die Einhaltung dieser wie auch sämtlicher anderen Vorschriften.

Mit einem (lautlosen) Seufzen streifte sie das schwere, knielange Kettenhemd über und musste tatsächlich die Zähne zusammenbeißen, um unter seinem Gewicht nicht aufzustöhnen. Es war nicht ganz klar, ob Schmerzenslaute oder ein Seufzen und Stöhnen schon gegen das Schweigegelübde verstoßen würden, aber sie wollte sich vor den anderen auf keinen Fall eine Blöße geben. Auch wenn es bisher niemand laut gesagt hatte, so waren ihr die verwirrten und überraschten Blicke, mit denen sie die Männer selbst jetzt, nach einer fünftägigen Reise, noch immer dann und wann maßen, doch nicht entgangen. Niemand hier argwöhnte, dass sie eine Frau war - schon weil dieser Gedanke so absurd war, dass ein Tempelritter ihn gar nicht denken konnte -, aber sie sah auch ganz und gar nicht aus wie die zumeist hoch gewachsenen, breitschultrigen und kräftigen Männer in ihrer Begleitung, sondern allenfalls wie ein etwas zart geratener, noch immer bartloser Jüngling, und vermutlich lag es einzig an dem Schweigegelübde, dass die Männer nicht bereits offen über sie zu tuscheln begonnen hatten.

Was nichts daran änderte, dass sich sicherlich der eine oder andere seinen Teil dachte. Sie musste vorsichtig sein. Schwäche war gleich nach Gottlosigkeit und Ketzerei diejenige Eigenschaft, die Tempelritter am meisten verachteten.

Sie war dennoch die Letzte, die den weißen Waffenrock mit dem roten Kreuz überstreifte und das Schwert umgürtete. Die anderen Ritter waren bereits fertig gerüstet, manche starrten sie schweigend an, und auf dem einen oder anderen Gesicht glaubte sie deutliche Spuren von Missbilligung zu erkennen. Robin bückte sich nach dem weißen Mantel, der allein den Rittern im Orden vorbehalten war, und befestigte ihn mit einer schweren, silbernen Fibel an der Schulter. Fast hastig griff sie als Letztes nach dem Schild und klemmte sich den schweren Topfhelm unter den anderen Arm.

Schweigend verließen die Ritter den Turm. Draußen war es noch dunkel, und trotzdem glaubte sie die Hitze des bevorstehenden Tages schon zu spüren. Hintereinander und schnell, dennoch aber mit den leicht schleppenden Bewegungen von Männern, die am Ende ihrer Kräfte angelangt waren, bewegte sich die schweigende Prozession eine schmale Stiege an der Stadtmauer hinab. Nur hier und da brannte bereits ein Licht hinter den schmalen Fenstern der Stadt, aber es war dennoch fast unheimlich still. Tyros lag noch in tiefem Schlaf. Nur einsam und blechern ertönte irgendwo in der Nähe der Klang einer kleinen Glocke, Vom Meer her wehte ein kühler Wind über die Stadt. Robin drehte fast ohne ihr Zutun das Gesicht in die entsprechende Richtung, um den milden Hauch zu genießen; vielleicht das letzte Mal an diesem Tag, dass sie etwas wie Kühle spüren würde. Sie stöhnte innerlich schon jetzt unter dem Gewicht der Rüstung und dachte voller Schrecken an den Tag, der ihnen bevorstand. Ein weiterer, endloser Tag in voller Rüstung durch die Gluthitze des Orients, ein weiterer Tag, der jedem von ihnen wieder etwas von ihrer Kraft und Ausdauer nehmen würde, ein weiterer Tag, dessen Hitze, Durst und Anstrengungen die kleine Armee, die auf ihrem Weg nach Osten beständig anwuchs, weiter zermürbte. Robin fragte sich, in welchem Zustand diese Männer sein mochten, wenn sie sich Safet und damit König Balduins Heerlager näherten. Gewiss nicht in einem Zustand, in dem sie eine Schlacht schlagen konnten, und ganz gewiss nicht in dem Zustand, sie zu gewinnen.

Irgendwo in dem Durcheinander aus Dunkelheit und allmählich heller werdenden Schatten vor ihnen bewegte sich eine Gestalt. Irgendein Einwohner der Stadt, den es früh aus dem Haus getrieben hatte, vielleicht ein Bediensteter, ein Handwerker oder einer der zahllosen Händler, die immer wieder versuchten, ihnen ihre Ware anzupreisen, obgleich sie im Grunde genau wussten, wie fruchtlos diese Versuche bleiben mussten. Aber müde, wie sie immer noch war, erlag sie für einen winzigen Moment einer Vision. Einen einzelnen, schweren Herzschlag lang war sie sicher, die Gestalt zu erkennen, sah sie das schmale und doch kraftvolle Gesicht unter dem schwarzbraunen Tuch und begegnete dem Blick von Salims Augen.

Das Trugbild erlosch, aber was zurückblieb, war ein bitterer Geschmack auf ihrer Zunge. Sie fühlte sich schuldig. Sie wusste nicht, wann sie aufgehört hatte, an Salim zu denken - am zweiten Tag ihres Rittes, vielleicht auch erst am dritten -, aber irgendwann hatte sie ihn einfach vergessen.

So wie alles andere. Sheik Sinans Burg, Saila, all die Wochen und Monate, die sie auf der Festung der Assassinen verbracht hatte; selbst Salims Küsse und Liebkosungen begannen allmählich zu verblassen, kamen ihr schon jetzt beinahe wie die Erinnerungen einer Fremden vor, die sich nur durch einen Zufall in ihren Kopf verirrt hatten. Der unbarmherzige Gewaltmarsch, zu dem Dariusz die Männer zwang, forderte nicht nur körperlich seinen Preis. Abgesehen von den wenigen kostbaren Augenblicken gleich nach dem Erwachen und den vielleicht noch kürzeren Momenten vor dem Einschlafen hatte sie irgendwie aufgehört zu denken. Die Vergangenheit spielte ebenso wenig eine Rolle wie die Zukunft.

Alles, was zählte, alles, worauf sie sich noch konzentrieren konnte, war die Gegenwart, der nächste Augenblick, der nächste Schritt, zu dem sie ihr Pferd zwang, das ebenso sehr unter der Hitze und dem Gewicht seiner Schabracke und des gepanzerten Reiters litt wie sie, der nächste Atemzug, mit dem sie die glutheiße Luft in die Lungen sog. Hätte sie noch die Kraft dafür gehabt, sie hätte das Schicksal und vielleicht sogar Gott verflucht für das, was ihr angetan worden war. Als Dariusz so urplötzlich vor ihr aufgetaucht war, da hatte sie nicht nur jemanden wieder getroffen, den sie nie mehr im Leben zu sehen wünschte. Ihre Vergangenheit hatte sie eingeholt, und sie war mit der Wucht einer Naturkatastrophe über sie gekommen und hatte ihr Leben nicht bloß verändert, sondern zerschmettert. Robin war in der Hölle. Ganz gleich, was die Zukunft noch bringen mochte, es konnte nicht mehr schlimmer werden.

Und dennoch geschah etwas Sonderbares mit ihr, während sie im Gleichtakt der gepanzerten Schritte ihrer Ordensbrüder einherschritt. Es war nicht das erste Mal, dass es geschah, aber vielleicht das erste Mal, dass es ihr auffiel. Die weißen Mäntel der Ritter wippten im Rhythmus ihrer Schritte. Sie sahen ... erhaben aus, die Verteidiger der Christenheit, edel und gut, so wie sie selbst sich als kleines Mädchen immer einen Ritter vorgestellt hatte. Auch dieser Teil ihrer Vergangenheit war plötzlich so deutlich und mit solcher Intensität wieder da, dass sie plötzlich erschauderte. So absurd es ihr auch selbst vorkommen mochte - ein Teil von ihr war trotz allem von einem unbändigen Stolz erfüllt, ein Tempelritter zu sein.

Aber vielleicht war sie auch einfach nur müde.

Die Ritter bogen um die Ecke und in eine schmale Gasse. Vor ihnen lag eine winzige Kirche, aus deren offen stehender Tür ein dreieckiger Keil aus gelbem Kerzenlicht fiel, der verblasste, je weiter er sich von der Tür entfernte; wie um die Vergeblichkeit des Menschen zu symbolisieren, die Dunkelheit endgültig zu besiegen. Der blecherne Klang der Glocke, die sie gerade schon einmal gehört hatte, hob unter dem Dach der Kirche erneut an und rief nach ihnen. Als sie das enge Kreuzschiff betraten, hörte der Glockenhall auf, und die nachfolgende Stille erschien doppelt tief und auf eine sonderbare Weise beinahe bedrohlich.

Der Vormarsch der Ritter kam ins Stocken. Die Männer bewegten sich immer nur einen Schritt vor, blieben einen Moment stehen und gingen dann weiter, und schließlich war auch Robin an dem kleinen Marmorbecken nur ein Stück hinter der Eingangstür angelangt, das mit dem gesegneten Wasser des Jordans gefüllt war. Mit einem sonderbar frommen Schaudern, das sie selbst verwirrte, gegen das sie aber auch hilflos war, dachte sie daran, dass dieser heilige Fluss keine zwei Tagesritte entfernt lag. Noch zwei Tage, zweimal endlose Stunden voller unerträglicher Hitze, glühend heißem Sand, der in Augen, Nase und Mund drang und ihre Haut wund scheuerte, dann würde auch sie an den Ufern dieses heiligen Flusses stehen, und aus einem Grund, den sie sich selbst nicht erklären konnte, erfüllte sie dieser Gedanke mit einem Stolz und einer Zuversicht, die sie beinahe erschreckte. Sie hatte so oft an ihrem Glauben gezweifelt, dass sie fast erstaunt war, noch einen - überraschend großen - Rest davon in sich zu finden. Gerade nach dem, was hinter ihr lag, sollte sie jeden Grund haben, Gott zu hassen oder zumindest an seiner angeblichen Liebe zu allen Menschen zu zweifeln, denn es waren Männer gewesen, die in seinem Auftrag handelten, die ihr alles genommen hatten.

Und dennoch war es möglicherweise gerade dieser Glaube gewesen, der ihr überhaupt die Kraft gegeben hatte, die letzten Tage durchzustehen. Vielleicht, überlegte sie, war sie auf das Geheimnis jeglichen Glaubens gestoßen. Vielleicht spielte es gar keine Rolle, an welchen Gott oder welche übergeordnete Macht man glaubte, vielleicht war es einfach wichtig, dass man glaubte.

Fast erschrocken verscheuchte sie den Gedanken, Laut ausgesprochen hätte er gereicht, sie auf dem nächsten Scheiterhaufen enden zu lassen. Es war Ketzerei. Nicht mehr und nicht weniger. Auch wenn es vielleicht die Wahrheit war.

Die Reihe der schweigenden Gestalten rückte langsam weiter. Die Kirche war sehr schmal. Abgesehen von dem einfachen Jesusbildnis über dem Altar, mit Dämonenfratzen geschmückten Säulenkapitellen und dem silbernen Pokal, der auf dem Altar stand, gab es keinerlei Schmuck, und es brannten auch nur zwei einzelne Kerzen, deren Licht ihr nur so hell erschienen war, weil draußen nahezu vollkommene Dunkelheit herrschte.

Bruder Dariusz stand hoch aufgerichtet vor dem Altar. Der breitschultrige, hoch gewachsene und in jeder Beziehung imposant wirkende Ritter hatte den Waffengurt abgeschnallt und das Schwert schräg gegen den gelblich-weißen Altarstein gelehnt. Sein Helm lag nur eine Handbreit neben dem Pokal, und er hatte ihn so umgedreht, dass die schmalen Sehschlitze die versammelten Ritter argwöhnisch anzublicken schienen. Robin verspürte bei diesem Anblick ein eisiges Frösteln. Die Tempelritter nannten sich nicht umsonst Soldaten Christi. Sie waren Krieger, Männer der Waffen und der Gewalt. Und dennoch erschien ihr die brachiale Symbolik des Anblickes in diesem Moment fast gotteslästerlich.

»Lasset uns die Prima, die erste Stunde des neuen Tages, die Stunde des Sonnenaufganges, in feierlichem Gebet begrüßen«, unterbrach Dariusz die fast feierliche Stille, die in der kleinen Kirche herrschte.

Robin, aber Dariusz nicht mitgezählt, waren sie zu zwölft; alle anderen Mitglieder der kleinen Armee, die in Tyros angekommen war, waren nur Waffenknechte oder weltliche Ritter. Zwölf Männer, dachte Robin, so wie einst Jesus von zwölf Jüngern begleitet worden war, und ebenso wie er befanden sie sich auf dem Weg nach Galiläa, wo auch der Heiland einst seine Jünger um sich selbst versammelt hatte. Seltsam, dachte sie, welche fast fremdartigen Gedanken ihr plötzlich durch den Kopf schossen. Noch vor einer Woche hätte sie die bloße Vorstellung, so etwas zu denken, in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Aber diese Woche lag nicht nur geraume Zeit, sondern ein ganzes Leben zurück.

»Pater noster ...« Robin betete leise das Vaterunser nach, das Dariusz vorgab, und das Echo der anderen Stimmen klang zwölffach in ihren Ohren nach. Die Tempelritter knieten in einem Halbrund um den Altar, ihre Helme neben sich auf dem Boden, die Köpfe in tiefer Ergebenheit geneigt, und vielleicht war es einfach die Monotonie der Worte, vermengt mit ihrer noch immer nicht ganz überwundenen Müdigkeit und der Schwere ihrer Glieder, die sie die fast magische Kraft dieses Gebetes spüren ließ. Dreizehnmal wiederholten die Ritter das Vaterunser, um ihre Schuld zu begleichen. Dariusz hatte auf die Gebete zur Mitternacht verzichtet, damit sie zumindest ein Minimum an Schlaf bekamen, um Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln. In Kriegszeiten war es den Rittern des Ordens gestattet, das nächtliche Gebet ausfallen zu lassen.

Nachdem Robin das dreizehnte Vaterunser gesprochen hatte, verharrten sie alle noch einen Moment still und mit gesenkten Köpfen, und Dariusz gab ihnen Zeit für ein persönliches, stummes Gebet. Robin betete nicht. Sie dachte an Salim, aber die Kraft und Zuversicht, die ihr diese Gedanken spenden sollten, kehrten nicht ein. Vorhin hatte sie geglaubt, in dem Schatten draußen Salim zu erkennen, nun musste sie sich voller Schrecken eingestehen, dass es einer bewussten Anstrengung bedurfte, sich überhaupt an sein Gesicht zu erinnern. Sie war fast dankbar, als Dariusz sich als Erster erhob und damit das Zeichen für die anderen gab, es ihm gleichzutun.

Über den Gipfeln des Libanongebirges erschien ein erster, grauer Schimmer, als sie die Kirche verließen. Der erste Gruß des neuen Tages, noch vor dem Morgenrot. Schweigend begaben sie sich zurück zu dem Turm, in dem sie übernachtet hatten.

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