Eine weiche und sehr kleine Hand lag auf ihrer Stirn, als sie erwachte, und das Erste, was sie spürte, war, dass viel Zeit vergangen sein musste; nicht Stunden, sondern Tage, und deutlich mehr als einer oder zwei. Sie hatte schrecklichen Durst. Der schlechte Geschmack eines Fiebers, das sie noch lange nicht überstanden hatte, war in ihrem Mund, und hätte sie sich nicht mit aller Kraft dagegen gewehrt, dann wären die Bilder eines furchtbaren Albtraumes über sie hergefallen, den sie durchlitten hatte, während sie besinnungslos dagelegen hatte.
Ganz schien er noch nicht vorbei zu sein - auch wenn es jetzt sicherlich kein Albtraum mehr war -, denn das Erste, was sie sah, als sie die Augen aufschlug, war ein Gesicht, das es hier gar nicht geben konnte. Darüber hinaus handelte es sich um eine höchst hartnäckige Vision, denn sie weigerte sich nicht nur zu verschwinden, als sie mit den Augen blinzelte, sondern strahlte sie im Gegenteil an und sprang mit einem Satz von dem Hocker, auf dem sie bisher gesessen hatte, und stürmte so schnell davon, dass ihre Zöpfe wild auf und ab hüpften. »Sie ist wach! Sie ist wach!«, schrie sie immer wieder. »Sie ist wach! Schnell!«
Verwirrt stemmte sich Robin auf die Ellbogen hoch, brachte die Bewegung aber nur halb zu Ende. Ihre linke Schulter schmerzte höllisch, und als sie den Kopf drehte und an sich herabsah, erkannte sie, dass sie unförmig angeschwollen und so dick bandagiert war, dass sie wie eine Buckelige aussah. Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers, in dem sie aufgewacht war, fiel eine Tür ins Schloss, aber sie hörte Nemeths aufgeregte Stimme noch immer durch das Holz dringen.
Nemeth? Aber wieso ...?
Eine wilde Hoffnung loderte in Robin auf. Sie setzte sich mit einem Ruck hoch und sah sich um, erreichte damit aber nicht mehr, als dass ihr schwindelig wurde und sie mit einem zwischen den Zähnen hervorgepressten Stöhnen wieder zurücksank.
Mit geschlossenen Augen wartete sie, bis die Dunkelheit hinter ihren Lidern aufgehört hatte, sich wild im Kreise zu drehen, bevor sie die Augen abermals aufschlug und sie sich noch einmal umsah. Ihre Hoffnung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das kleine Zimmer, in dem sie aufgewacht war, war praktisch leer und hatte nur ein kleines, außerhalb ihres Gesichtsfeldes liegendes Fenster und ließ praktisch keine Rückschlüsse auf ihren Aufenthaltsort zu, aber der graue Stein der Wände gehörte ganz eindeutig nicht zu den aus dem gewachsenen Fels herausgehauenen Mauern Masyafs.
Aber wenn sie nicht in Sinans Festung war, wie kam dann Nemeth hierher?
Sie fühlte sich noch zu benommen und auf eine sonderbar unangenehme Art schlaftrunken, um wirklich über diese Frage nachzudenken, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass das Mädchen schließlich genug Lärm machte. Zweifellos würde gleich jemand kommen, der all ihre Fragen beantwortete.
Sie schloss wieder die Augen und lauschte in sich hinein. Ihre Schulter tat weh, wenn auch nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte, wenigstens solange sie sich nicht bewegte. Wo ihre Erinnerungen sein sollten, war nur ein Durcheinander aus größtenteils unangenehmen Bildern und aufblitzenden Impressionen, Geräuschen und erstaunlicherweise Gerüchen, die ihr von allem vielleicht am meisten zu schaffen machten.
Auch darüber machte sie sich keine allzu großen Sorgen. Es gehörte gewiss nicht zu ihrem Alltag, das Bewusstsein zu verlieren, aber es war auch nicht das erste Mal, und sie mutmaßte, dass ihre Erinnerungen zurückkehren würden, wenn sie sich nur ein wenig Zeit ließ. Sie war nicht einmal ganz sicher, ob sie sich wirklich erinnern wollte. Sie war verletzt worden, und ...
Ein so jäher Schrecken durchfuhr sie, dass sie hochfuhr und nicht einmal den stechenden Schmerz zur Kenntnis nahm, den die unvorsichtige Bewegung in ihrer Schulter auslöste. Mit einem Ruck fegte sie die Decke zur Seite und atmete erleichtert auf, als sie sah, dass sie darunter wenigstens nicht nackt war, sondern ein einfaches leinenes Gewand trug. Allerdings war es eine Erleichterung, die nicht sehr lange anhielt. Sie war verletzt worden, und jemand hatte sie verbunden, und das bedeutete zwangsläufig, dass man sie ausgezogen hatte! War ihr Geheimnis noch gewahrt?
Sie wusste es nicht. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass vermutlich schon die bloße Tatsache, dass sie noch am Leben war, diese Frage mit einem ganz klaren Ja beantwortete. Sie war nicht in Ketten. Sie befand sich - vermutlich - nicht in einem Kerker, und der Schnelligkeit nach zu schließen, mit der Nemeth verschwunden war, stand vor ihrer Tür auch keine Wache - aber was besagte das schon?
Der Gedanke wollte Panik in ihr auslösen, doch das ließ sie nicht zu. Stattdessen zog sie die Decke wieder hoch und setzte sich auf, vorsichtig und soweit es ihre verletzte Schulter zuließ. Sie musste vor allem Ruhe bewahren, gleich, ob ihr Geheimnis nun gelüftet war oder nicht. Sie atmete ein paar Mal gezwungen tief ein und aus und lauschte in sich hinein. Das rasende Hämmern ihres Herzens beruhigte sich wieder, und sie fühlte sich auch sonst erstaunlich gut. Selbst der Schmerz in ihrer Schulter war nicht besonders schlimm; wenigstens so lange sie sich nicht bewegte, war es eher ein dumpfer Druck als ein wütendes Pochen.
Als sie die Augen wieder öffnete, flog die Tür auf, und Nemeth kam hereingestürmt, auf dem Fuß gefolgt von einer zwanzig Jahre älteren Ausgabe ihrer selbst, die allerdings im Gegensatz zu ihrer Tochter nicht freudestrahlend hereingehüpft kam, sondern sich im Gegenteil bemühte, eine möglichst strenge Miene aufzusetzen. Auch wenn es ihr nicht wirklich gelang.
»Ja, das habe ich mir gedacht!«, begann sie in scharfem Ton, kaum dass sie sich dem Bett auf drei Schritte genähert hatte.
»Kaum schlägt sie die Augen auf, hat sie auch schon wieder nur Unsinn im Kopf!«
Nemeth verdrehte die Augen und schlenkerte kurz die Hand aus dem Gelenk vor dem Gesicht, als wäre sie versehentlich mit den Fingern an einen heißen Topf geraten. Robin blinzelte ihr verschwörerisch zu, bevor sie sich mit einem Lächeln an Saila wandte.
»Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte sie. »Wie geht es dir?«
»Ganz bestimmt besser als Euch«, antwortete Saila, während sie sich neben Robins Bett aufbaute und herausfordernd die Fäuste in die Hüften stemmte; eine Haltung, die möglicherweise beeindruckend gewirkt hätte, wäre sie dreißig Jahre älter und zweihundert Pfund schwerer gewesen. Es gelang ihr auch nicht ganz, den Ausdruck von Erleichterung in ihren Augen zu unterdrücken. Dennoch fuhr sie mit einem missbilligenden Kopfschütteln und in noch viel missbilligenderem Ton fort: »Wollt Ihr Euch umbringen, Herrin? Ihr seid schwer verletzt, habt ein schlimmes Fieber hinter Euch - und das alles noch dazu in Eurem Zustand ...«
Robin unterbrach sie mit einer müden, zugleich aber auch sehr entschlossenen Geste. »Mein Zustand ist nichts gegen den der meisten Männer, die mit mir in die Schlacht geritten sind«, sagte sie. Saila sah sie so irritiert an, als hätte sie in einer fremden Sprache geredet, sodass sich Robin genötigt fühlte hinzuzufügen: »Immerhin lebe ich noch, was man wohl nicht von sehr vielen anderen behaupten kann. Mit dem Fieber allerdings hast du Recht, fürchte ich.« Sie fuhr sich demonstrativ mit der Zungenspitze über die Lippen, was es aber eher noch schlimmer zu machen schien. Ihre Zunge war so trocken wie ein Stück Holz. Sie wunderte sich fast, dass sie überhaupt reden konnte. »Ein Schluck Wasser wäre nicht schlecht.«
Saila rührte sich nicht, aber Nemeth fuhr auf dem Absatz herum und wuselte davon, während ihre Mutter sie weiter auf eine Art ansah wie eine Lehrerin, die es mit einem ganz außergewöhnlich uneinsichtigen Kind zu tun hatte. Allmählich begann sich Robin darüber zu ärgern. Natürlich war dies eben Sailas Art, um derentwillen sie sie ja auch schätzte, aber manchmal kannte sie weder Maß noch Ziel, und Robin war auch nicht in der Verfassung, allzu viel Geduld zu zeigen.
»Wie ist die Schlacht ausgegangen?«, fragte sie in merklich kühlerem Ton, wovon sich Saila allerdings wenig beeindruckt zeigte.
»Das weiß ich nicht«, behauptete sie. »Ich bin eine Frau, und Eure Schlachten interessieren mich so wenig, wie sie Euch interessieren sollten. Habt Ihr denn wirklich nichts anderes im Sinn als Eure unwürdigen Ritterspiele?«
Nemeth kam zurück und brachte ihr einen Becher Wasser, und sie gewann ein wenig Zeit damit, ihn entgegenzunehmen und einen großen Schluck zu trinken. Er löschte ihren Durst nicht wirklich, löste aber dafür einen heftigen Hustenanfall aus, sodass sie sich im Bett krümmte und die Hälfte des Wassers verschüttete, bevor Saila ihr den Becher abnahm und sie mit einem langen und beinahe schon zufriedenen Blick maß. Sie verkniff es sich, irgendetwas zu sagen, aber das war auch gar nicht nötig.
»Ist es möglich, dass Salim auch hier ist?«, fragte Robin, nachdem sie wieder halbwegs zu Atem gekommen war. Saila nickte, und Robin fügte in griesgrämigem Ton hinzu: »Das dachte ich mir. Ich nehme an, du hast dich lange und ausgiebig mit ihm unterhalten.«
»Das war gar nicht notwendig«, erwiderte Saila schnippisch.
»Was Eure Rolle als sein Weib und die zukünftige Königin über Masyaf angeht, so sind wir einer Meinung.«
»Dann hätte er vielleicht besser dich heiraten sollen«, erwiderte Robin gereizt. Ihr scharfer Ton tat ihr fast sofort wieder Leid, zumal sie sich allmählich wirklich miserabel zu fühlen begann. Das Eingeständnis, dass Saila durchaus Recht hatte, machte es auch nicht unbedingt besser. »Dann wäre es vielleicht nett, wenn du Salim holst«, fuhr sie fort. »Ich nehme an, wenigstens er wird sich freuen, mich zu sehen.«
Saila gab ihrer Tochter einen entsprechenden Wink, aber das Mädchen zögerte. Offensichtlich wollte es mit Robin sprechen und war nun enttäuscht, fortgeschickt zu werden.
»Hast du die Herrin nicht gehört?«, fuhr Saila sie an. »Geh und sag dem Herrn Bescheid!«
»Das ist nicht mehr notwendig«, sagte eine wohl bekannte Stimme von der Tür her. Robin drehte überrascht den Kopf und hätte beinahe vor Freude laut aufgeschrien, und Bruder Abbé kam näher und fuhr mit einem gutmütig-spöttischen Lächeln in Sailas Richtung fort: »Deine Tochter war laut genug, um im ganzen Haus gehört zu werden. Und ich fürchte, nicht nur da.«
»Abbé!«, entfuhr es Robin. Sie wollte aufspringen, erinnerte sich aber gerade noch rechtzeitig genug daran, was das letzte Mal geschehen war, und beließ es dabei, sich vorsichtig ein wenig höher aufzusetzen. Dennoch machte Abbé eine schon vorauseilend besänftigende Geste und verstrubbelte Nemeth im Vorbeigehen aus derselben Bewegung heraus das Haar, während er weiter auf Robin zukam. »Und ich hatte schon Angst, du würdest mich nicht mehr erkennen, nach all der Zeit, die vergangen ist, und allem, was du erlebt hast, meine Tochter.«
Robin riss erschrocken die Augen auf, doch Abbé kam ihrem Protest zuvor. »Keine Angst«, sagte er rasch. »Du bist hier in Sicherheit. Diese Wände haben zwar Ohren, aber keine Münder, um all die Geheimnisse auszuplaudern, die sie schon gehört haben.« Er lachte leise und sah sich bezeichnend um. »Leider, oder gottlob - das kommt wohl ganz darauf an, wen du fragst, vermute ich.«
»Wo ... sind wir hier?«, fragte Robin zögernd. Tief verborgen hinter Abbés Lächeln war ein Ausdruck, der sie irritierte. Der Templer verheimlichte ihr etwas.
»In Sicherheit«, antwortete Abbé, was im Grunde keine Antwort war, fuhr aber auch fast unmittelbar fort: »In diesem Haus bist du nichts als eine verwundete Frau, die von ihrer Sklavin und ein paar Freunden hergebracht wurde, um gesund gepflegt zu werden. Es wurde kein verletzter Tempelritter hergebracht.«
»Und ... Bruder Robin?«, fragte Robin. »Ist er ... tot?«
»In der Schlacht gefallen, meinst du?« Abbé schüttelte den Kopf. »In der Tat habe ich einen Moment ernsthaft über diese Möglichkeit nachgedacht. Ein eleganter Ausweg, um dieser unerquicklichen Situation zu entkommen. Leider ist uns diese Möglichkeit im Moment verwehrt.«
»Wieso?«, fragte Robin. Ihre eigene Reaktion überraschte sie. Abbé hatte vollkommen Recht: In der Schlacht waren Hunderte von Männern gefallen, wenn nicht Tausende. Einer mehr oder weniger machte keinen Unterschied. Niemand würde sich etwas dabei denken, wenn auch Bruder Robin nicht von den Ufern des Litaniflusses zurückkehrte.
»Weil Bruder Robin von Tronthoff - gepriesen sei der Herr ...«, Abbé unterbrach sich, um das Kreuzzeichen zu schlagen, aber das fast jungenhafte Grinsen, das sich dabei auf seinem Gesicht ausbreitete, negierte die fromme Bewegung sofort wieder, »... weil also Bruder Robin einer höchst wichtigen Persönlichkeit das Leben gerettet hat.«
»Balduin«, sagte Robin. Ihre Erinnerungen waren ohne eine Spur von Überraschung wieder da. »Ich weiß.«
»Dem König«, verbesserte sie Abbé. Er klang ein bisschen düpiert.
»Nicht, solange er vor mir im Schlamm lag«, antwortete Robin kopfschüttelnd.
Abbé blinzelte verwirrt, ging dann aber nicht weiter auf das Thema ein, sondern setzte seine unterbrochene Rede fort: »Gott in seiner unermesslichen Weisheit hat es also gefallen, einem gewissen Bruder nicht nur dem König das Leben retten zu lassen, sondern das auch dergestalt zu tun, dass er sein eigenes Leben dabei aufs Spiel gesetzt hat und schwer verwundet wurde.«
»Also ist Bruder Robin jetzt so etwas wie ein Held?«, fragte Robin. Das hatte ihr gerade noch gefehlt!
»Theoretisch ja«, antwortete Abbé. »In der Praxis ist es aber so, dass besagter Bruder ihm nicht nur das Leben gerettet hat, sondern ihm auch noch so ganz nebenbei eine Verschwörung aufgedeckt hat.« Er wiegte den mittlerweile fast vollkommen kahl gewordenen Schädel. »Eine Verschwörung, die sich bis in die höchsten Kreise am Hofe Jerusalems erstreckt, wie ich hinzufügen möchte. König Balduin selbst hat den Befehl erteilt, dass alles getan werden soll, um das Leben dieses tapferen jungen Bruders zu retten.«
»Oh«, machte Robin.
»Ja, genau das war auch das Erste, was mir dazu eingefallen ist«, pflichtete ihr Abbé bei. »Aber Politik ist eine sonderbare Sache, mein Kind. Aus bestimmten Gründen möchte der König nicht, dass der feige Anschlag auf sein Leben ruchbar wird. Jedenfalls jetzt noch nicht. Er hat also niemandem etwas gesagt, sondern diesen tapferen, schwer verletzten jungen Ordensritter in aller Heimlichkeit nach Safet gebracht und von unseren zuverlässigsten Rittern bewachen lassen. Später will er ihn dann zu sich rufen lassen. Ich vermute, um sich in aller Form bei ihm zu bedanken.« Er verzog flüchtig das Gesicht. »Vielleicht mit einem Bruderkuss?«
Robin verspürte einen kurzen Anflug von Ekel, auch wenn ihr natürlich klar war, dass Abbé sie nur foppen wollte. »Wie geht es dem König?«, fragte sie.
»Gut«, sagte Abbé. »Jedenfalls den Teilen, die noch von ihm übrig sind.«
Robin überging die Bemerkung, schon, um nicht vor Lachen laut herauszuplatzen, was ihr unziemlich erschienen wäre. Immerhin sprachen sie über den König. »Wir sind also in Safet«, stellte sie fest.
»Ich sagte, Bruder Robin ist in Safet«, verbesserte sie Abbé.
»Wir sind in Jerusalem.«
»Jerusalem?« Robin richtete sich kerzengerade auf, was eine neue Welle von Schmerz in ihrer Schulter auslöste - die sie in diesem Moment aber nicht einmal wirklich zur Kenntnis nahm. Sie waren in Jerusalem? Sie hatte alles, was hinter ihr lag, im Grunde nur auf sich genommen, um hierher zu kommen, die Heilige Stadt der Christenheit mit eigenen Augen zu sehen und über den gesegneten Boden zu schreiten, den Gottes Sohn selbst berührt hatte!
So viel, hörte sie eine dünne, aber unüberhörbar spöttische Stimme irgendwo in ihren Gedanken, zu ihrer eigenen Behauptung, sie wäre keine gute Christin mehr.
Sie verscheuchte den Gedanken.
»Ja«, antwortete Abbé. »Und das schon seit einer Woche.«
»Eine Woche?«, wiederholte Robin ungläubig. »Ich habe eine Woche geschlafen?«
Abbé zog sich einen Schemel heran, auf den er sich nicht nur mit einem erschöpften Seufzer sinken ließ, sondern der auch hörbar unter seinem Gewicht ächzte. Robin fiel erst jetzt auf, dass der pausbäckige Tempelritter, abgesehen von einem rapiden Verlust seiner restlichen Haare, zwar in den zurückliegenden beiden Jahren keinen Tag älter geworden zu sein schien, dafür aber gehörig an Gewicht zugelegt hatte. Seltsam - sie hätte das genaue Gegenteil erwartet.
»Nicht eine Woche«, antwortete er schließlich. »Fünfzehn Tage.«
Robin starrte ihn an.
»Zwei Wochen und einen Tag«, bestätigte Abbé. »Es ist ein weiter Weg von den Ufern des Litani bis nach Jerusalem. Und den Umweg über Safet nicht zu vergessen, wo wir den bedauernswerten Bruder Robin abliefern mussten, um ihn in der Obhut von Bruder Horace zurückzulassen.«
Es fiel Robin immer noch schwer, Abbés Worten glauben zu schenken. Vergeblich lauschte sie in sich hinein. Sie müsste es doch spüren, wenn sie zwei Wochen im Fieber dagelegen hätte!
»Wieso kann ich mich nicht erinnern?«, fragte sie schaudernd.
»Deine treue Dienerin da«, antwortete Abbé mit einer Kopfbewegung und einem strafend gespielten Blick auf Saila, »hat dir dreimal täglich einen Trunk eingeflößt, angeblich, um deine Wunden zu heilen und dein Fieber zu bekämpfen. Wäre ich kein Mann Gottes, so würde ich glatt behaupten, es handele sich um ein Hexengebräu vom Berge Masyaf. Immerhin sagt man deinem äh ... Schwiegervater nach, er wäre nicht nur der Herr der Mörder und Attentäter, sondern auch ein großer Hexenmeister.«
»Und einer der wichtigsten Verbündeten des Ordens«, fügte Robin hinzu.
»Und einer unserer wichtigsten Verbündeten«, bestätigte Abbé. »Deshalb ist es ja auch ganz und gar ausgeschlossen, dass er wirklich die schwarze Magie betreibt. Würden wir uns sonst mit ihm einlassen?«
»Bestimmt nicht«, sagte Robin ernsthaft.
»Eben.« Bruder Abbé wandte sich zu Nemeth um. »Wie es scheint, warst du gerade doch nicht laut genug, mein Kind, auch wenn ich für einen Moment geglaubt habe, die Posaunen von Jericho erschallen zu hören. Warum gehst du nicht und suchst nach Salim, um ihn zu holen? Ich bin sicher, er kann es kaum noch erwarten, seine Gattin in die Arme zu schließen.«
Saila warf ihm einen strafenden Blick zu, wagte es aber nicht, auch nur ein Wort zu sagen, zumal sich Abbé nun auch an sie wandte und in nur ganz leicht, aber dennoch hörbar kühlerem Ton hinzufügte: »Und du, mein Mädchen, solltest hinab in die Küche gehen und eine kräftige Mahlzeit für deine Herrin zubereiten. Immerhin hat sie seit zwei Wochen nichts mehr gegessen.«
Robin wurde allein bei dem Gedanken an Essen schon fast übel, aber sie schwieg, bis Saila und ihre Tochter die Kammer verlassen hatten. »Wieso schickst du sie weg?«, fragte sie dann. »Ich habe keine Geheimnisse vor ihnen. Sie wissen alles über mich.«
»Alles ist manchmal zu viel«, sagte Abbé. »Ich war schon immer der Meinung, dass ein Geheimnis im Grunde nur dann ein Geheimnis ist, wenn möglichst wenige von ihm wissen.«
»Oder gar keiner?«, schlug Robin vor.
»Richtig«, antwortete Abbé ungerührt. »Wir sollten jetzt genau überlegen, was zu tun ist. Ich will ehrlich zu dir sein, Robin. Das Spiel, das wir gemeinsam spielen, beginnt allmählich gefährlich zu werden. Nicht nur für dich. Ich habe meine schützende Hand über dich gehalten, solange ich konnte, aber auch meine Macht ist begrenzt. Vor allem jetzt, wo Odo nicht mehr da ist.«
»Der Großmeister ist gefallen?«, entfuhr es Robin.
Abbé schüttelte den Kopf und schlug hastig das Kreuzzeichen.
»Gottlob nein. Aber er ist in Gefangenschaft geraten, zusammen mit nur zu vielen anderen.« Er hob die Schultern. »Das ist nicht nur für dich und mich ein schwerer Schlag, sondern für den gesamten Orden - auch wenn der eine oder andere hinter vorgehaltener Hand meint, es wäre nur Gottes gerechte Strafe, nach dem, was er getan hat.«
»Was hat er denn getan?«, erkundigte sich Robin.
»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Abbé. »Außer vielleicht, dass er den Krieg für uns verloren hat.«
»Er hat was?«, wiederholte Robin.
»Mancher behauptet, es wäre so«, bestätigte Abbé. »Wir hätten die Schlacht gewinnen müssen, Robin. Unser Heer war ebenso stark wie das der Heiden, selbst mit Saladins so überraschend aufgetauchten Männern! Wir hätten siegen müssen, und wir hätten gesiegt, ohne Odos selbstmörderischen Angriff. Wir hätten sie zerschmettert. Doch als das Baussant zurückwich, ist der ganze Angriff zusammengebrochen.« Er schüttelte zornig den Kopf. »Dieser Narr! Ich achte und verehre ihn als Mensch, aber er hängt zu sehr an den Buchstaben unserer Ordensregeln! Kein Soldat Christi weicht vor dem Angesicht des Feindes zurück, es sei denn, er ist in mehr als dreifacher Überzahl! Pah! Es war die zehnfache Überzahl, in diesem Moment!«
»Das konnte er nicht sehen«, antwortete Robin. »Wir befanden uns in einem Tal. Wir hatten keine Sicht auf das Schlachtfeld.«
Abbé wirkte ehrlich verblüfft, ausgerechnet sie Odo von Saint-Amand verteidigen zu hören, dann aber ballte er nur umso wütender die Faust; fast wie um ihre Worte zu packen und zwischen den Fingern zu zerquetschen. »Dann hätte er Späher vorausschicken müssen«, beharrte er, und Robin fügte noch leiser hinzu: »Und es war nicht er, der den Angriff befohlen hat.«
Diesmal starrte Abbé sie länger an. Er schwieg.
»Es war nicht Odo, der den Angriff befohlen hat«, sagte Robin noch einmal. »Es war Bruder Dariusz. Odo hat sich, im Gegensatz zu Graf Raimund, von ihm mitreißen lassen. Das ist das einzige Versäumnis, das Ihr ihm vorhalten könnt, soweit ich das beurteilen kann.«
Abbé starrte sie weiter durchdringend an. Fassungslos? »Das kann nicht sein«, sagte er schließlich. »Gerhard von Ridefort behauptet ebenfalls ...«
»Dann lügt er«, unterbrach ihn Robin. Sie war selbst ein wenig überrascht über die Schärfe in ihrer Stimme, aber sie wurde eher noch lauter, als sie fortfuhr: »Ich weiß, was ich gesehen habe!«
»Das ist eine sehr schwere Anschuldigung, die du da vorbringst, Robin«, sagte er schließlich. »Ist dir das klar? Nicht nur Marschall Ridefort bestätigt Dariusz’ Darstellung der Dinge, sondern auch zahlreiche Ritter aus seinem unmittelbaren Gefolge.«
»Dann lügen sie alle«, sagte Robin wütend. »Ich weiß, was ich gesehen habe! Sagt, Bruder Abbé - wenn der Großmeister nicht zurückkommt, wer wird dann sein Nachfolger?«
Abbé japste hörbar nach Luft, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Doch seine Reaktion fiel ganz anders aus, als Robin erwartet hatte. »Was erdreistest du dich?«, fuhr er sie an. Seine Augen blitzten. Für einen Moment wirkte er so wütend, dass Robin nicht überrascht gewesen wäre, hätte er sie geschlagen.
»So etwas will ich nie wieder von dir hören, hast du mich verstanden? Nie mehr!«
»Verzeiht, Bruder«, sagte Robin steif. »Das war respektlos, und ich entschuldige mich dafür. Aber was das andere angeht, so bleibe ich bei dem, was ich gesehen habe.«
Abbé ließ sich wieder zurücksinken. Seine Hände zitterten.
»Das ... das ist ungeheuerlich«, murmelte er. »Ja ... aber jetzt ergibt alles einen Sinn ...«
»Was ergibt einen Sinn?«, fragte Robin.
Abbé ignorierte die Frage. »Ich glaube dir, Robin«, sagte er ernst. »Doch das allein wird uns nicht viel nutzen, fürchte ich. Nicht, wenn Dariusz und Ridefort und so viele andere das Gegenteil behaupten.«
»Graf Raimund kann meine Darstellung bestätigen«, sagte Robin nach kurzem Überlegen. »Er hat sich fast die Kehle aus dem Leib geschrien, um uns aufzuhalten.«
Abbé schüttelte traurig den Kopf. »Nicht einer von Raimunds Männern ist aus der Schlacht zurückgekehrt«, sagte er. »Raimund selbst liegt schwer verwundet darnieder. Er wurde am Kopf getroffen. Niemand weiß, ob er sich je wieder erholen wird oder ob er vielleicht blöde bleibt.« Er schüttelte erneut den Kopf, dann stand er mit einem Ruck auf und seufzte tief. »Umso richtiger war unsere Entscheidung, dich hier zu verstecken«, fuhr er fort, während er mit kleinen, unruhigen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen begann. »Ich werde sofort einen Reiter nach Safet schicken, um Bruder Horace Anweisungen zu erteilen.« Er blieb stehen und sah sie mit einem sonderbar freudlosen Lächeln an.
»Mein Beileid, Bruder Robin«, sagte er. »Ihr seid gerade gestorben.«
»Das ist das erste halbwegs kluge Wort, das ich von Euch höre, Tempelherr«, sagte Salim von der Tür aus. Robin hatte weder gehört, wie er sie geöffnet hatte, noch wie und wann er hereingekommen war.
Abbé musste es wohl ähnlich ergangen sein, denn er maß Salim mit einem nicht besonders erfreuten Blick und fragte scharf: »Wie lange steht Ihr schon da hinter der Tür und lauscht, Assassine?«
»Wie Ihr selbst sagt, Tempelherr«, erwiderte Salim ruhig, »ich bin ein Assassine. Und wir sind im Haus eines Assassinen. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte es nötig zu lauschen?« Er erwartete keine Antwort auf diese Frage, sondern ging mit schnellen Schritten an ihm vorbei, und nun gab es für Robin kein Halten mehr. Mit einem Schrei sprang sie aus dem Bett, warf sich in Salims Arme und küsste ihn so wild und fordernd, dass er unter ihrem Ansturm zurücktaumelte und tatsächlich um sein Gleichgewicht kämpfen musste. Erst als in ihren Lungen keine Luft mehr war und sie das Gefühl hatte, im nächsten Moment ersticken zu müssen, lösten sich ihre Lippen von den seinen, aber nur ihre Lippen; als er zurückweichen wollte, zog sie ihn nur umso fester an sich.
»Nichts da«, sagte sie atemlos. »Ich lasse dich nie wieder gehen.«
»Das ist wahrscheinlich ein typisches Frauenversprechen«, griente Salim. »Es hält gerade so lange, wie man braucht, um es auszusprechen.«
Robin knuffte ihm in die Rippen und küsste ihn wieder, diesmal nicht so stürmisch und fordernd wie gerade, sondern sanft und zärtlich. Neben ihr räusperte sich Bruder Abbé übertrieben, aber Robin ignorierte ihn einfach. Ihre Zunge tastete über seine Lippen und seine Zähne, suchten den Weg dazwischen hindurch und die Berührung seiner eigenen Zunge. Doch plötzlich zog sich Salim zurück und drehte den Kopf auf die Seite.
»Was?«, fragte Robin.
»Oh, äh ... nichts«, antwortete Salim, eine Spur zu hastig und nicht überzeugend, zumal er dabei ihrem Blick auswich. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich. Ich meine, du ... du küsst wirklich gut ... für eine Tote.«
»Wie?«, fragte Robin lauernd.
Salim beeilte sich zu nicken. »Bestimmt. Das Problem ist nur, du ... du schmeckst auch ein bisschen so.«
»He!«, protestierte Robin. »Du hast mich schon an ganz anderen Stellen ...«
»Da warst du auch gewaschen und parfümiert«, antwortete Salim, »und hast nicht zwei Wochen im Fieber dagelegen und all die Zeit den Zaubertrank meines Vaters genossen. Ich meine: Er ist wirklich gut. Selbst ich verdanke ihm mein Leben. Aber das ändert leider nichts daran, dass er schmeckt wie ein Kamel am falschen Ende.«
Wahrscheinlich hatte er damit sogar Recht, dachte Robin, während sie sich mit der Zungenspitze über die Zähne fuhr. Wenn ihre Küsse so schmeckten wie das, was sie jetzt empfand, dann musste Salim sie noch weit mehr lieben, als sie bisher geglaubt hatte.
Vielleicht konnte sie ja herausfinden, wie sehr. »Wann hast du denn das letzte Mal ein Kamel am richtigen Ende geküsst?«, fragte sie.
Salim dachte einen Moment angestrengt nach. »Vor fünfzehn Tagen«, sagte er dann. »Oder sind es mittlerweile schon sechzehn?«
Hinter ihr räusperte sich Abbé noch einmal und deutlich lauter, und Robin knuffte Salim abermals und diesmal so hart in die Rippen, dass er ächzend nach Luft rang. Dann aber ließ sie es gut sein. Sie hätte zwar nicht übel Lust gehabt, Abbé noch eine Weile in seinem eigenen Saft schmoren zu lassen (wer weiß, dachte sie spöttisch, vielleicht ja in wortwörtlichem Sinne), aber die Situation war zu kompliziert, um noch mehr Zeit zu verschwenden. Sie ließ Salim zwar nicht völlig los, lockerte ihren Griff aber ein wenig und drehte sich zu Abbé um.
»Verzeiht, Bruder«, sagte sie spöttisch. »Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen. Immerhin seid Ihr ein Mann Gottes und den Anblick verwerflicher fleischlicher Genüsse nicht gewohnt.«
Abbé spießte sie mit Blicken regelrecht auf, überging das Thema aber ansonsten diskret und wandte sich direkt an Salim.
»Wenn Ihr schon gelauscht habt, Assassine, dann habt Ihr mir wenigstens die Mühe abgenommen, alles noch einmal erklären zu müssen.«
»Es wäre sowieso unnütz.« Salim schlang seinen Arm um ihre Schulter und drückte sie mit sanfter Kraft an sich. Die Berührung tat gut und gab ihr das Gefühl, ebenso geborgen wie sicher zu sein, aber sie hatte auch etwas fast Besitzergreifendes, das ihr nicht gefiel. Sie widerstand dem Impuls, seinen Arm abzustreifen, doch es kostete sie Mühe.
»Ich bringe Robin zurück nach Masyaf«, fuhr Salim fort.
»Mein Vater wird in drei oder vier Tagen hier eintreffen. Wir schließen uns seinem Gefolge an, sobald er Jerusalem wieder verlässt.« Seine Finger strichen zärtlich über ihre Wange. »Keine Angst, Geliebte. Ich werde nicht zulassen, dass man dir noch einmal wehtut.«
Robin schob seine Hand weg, aber er nahm es gar nicht zur Kenntnis, und auch Abbé fuhr direkt an ihn gewandt fort: »Der einzig vernünftige Vorschlag«, sagte er, wobei er gewiss nicht durch Zufall Salims eigene Worte benutzte. »Wenn Dariusz auch nur den Verdacht hat, sie könnte noch am Leben sein, gäbe ich keinen Pfifferling mehr um ihr Leben.«
»He!«, protestierte Robin. Verwirrt und ärgerlich sah sie von Salim zu Abbé und wieder zurück. »Hättet ihr vielleicht die Güte, in meiner Gegenwart nicht so über mich zu sprechen, als wäre ich gar nicht da?«
»Wird der König nicht misstrauisch werden?«, fragte Salim.
»Er weiß immerhin, dass Robin nur an der Schulter getroffen wurde.«
»Aber er weiß nichts von den Zauberkräften deines Vaters, Assassine«, antwortete Abbé. »Hast du schon einmal gesehen, was der Wundbrand selbst aus einer harmlosen Verletzung machen kann?«
Salim blieb unschlüssig. »Er hat ihr Gesicht gesehen.«
»Für einen Augenblick, und es war gezeichnet von der Schlacht und voller Blut und Schweiß.« Abbé schüttelte düster den Kopf. »Wir werden einen Toten finden, der ihr hinlänglich ähnlich sieht. An Leichen herrscht auf Safet im Moment wahrlich kein Mangel!«
»He!«, protestierte Robin. »Habe ich dazu vielleicht auch noch etwas zu sagen?«
»Nein«, antworteten Salim und Bruder Abbé gleichzeitig und wie aus einem Mund.
»König Balduin ist nicht dumm«, versuchte sie es noch einmal.
»Er wird es merken.« Darauf antwortete Abbé erst gar nicht. Robin fuhr fast verzweifelt fort: »Aber ... aber Ihr habt gehört, was ich über Dariusz erzählt habe! Und die Verschwörung gegen den König! Wollt Ihr denn gar nichts dagegen tun?«
»Es war schon immer die erklärte Linie des Ordens«, antwortete Abbé, »sich nicht in die Politik einzumischen. Könige kommen und gehen, aber der Orden bleibt.«
Das war hanebüchener Unsinn, das wusste Robin. Trotzdem fragte sie: »Und Dariusz?«
»Wir werden uns darum kümmern«, sagte Abbé ernst.
»Und wenn ihr es nicht tut, dann tue ich es«, fügte Salim hinzu.
»Das habe ich jetzt nicht gehört«, sagte Abbé kopfschüttelnd.
»Was immer Bruder Dariusz auch getan haben mag, ich kann nicht zulassen, dass er von der Hand eines gedungenen Mörders fällt, auch wenn ich Euch gut verstehen kann. Gott wird ihn richten, und wenn nicht er, dann wir.«
Salim sagte nichts mehr dazu, aber sein Blick machte klar, dass er keinen Deut von seiner Drohung zurückwich. Dariusz war jetzt schon so gut wie tot, dachte sie bitter. Sie würde ihm keine Träne nachweinen, aber wollte sie wirklich seinen Tod?
Abbé beendete das Thema mit einer bestimmenden Geste.
»Genug. Ich kann deine Gefühle verstehen, Robin. Du bist noch immer so stolz und stur wie damals, als wir uns kennenlernten. Aber das hier ist keine Frage des Stolzes.« Er deutete auf Salim.
»Auch auf die Gefahr hin, mir damit den Hass deines Gemahls zuzuziehen, so könnten dich nicht einmal die Mauern Masyafs vor Dariusz schützen, wüsste er, dass du am Leben bist, und auch alle seine Männer nicht. Bruder Robin wird sterben, so oder so.«
Robin wusste ja, dass er Recht hatte. Was er sagte, blieb vermutlich noch weit hinter der Wahrheit zurück. Dariusz würde nicht zulassen, dass ein Zeuge seiner Tat zurückblieb. Er würde vielleicht nicht einmal zögern, ihretwegen einen Krieg anzufangen.
So wenig wie Salim, übrigens.
»Und nun müsst ihr mich entschuldigen, Kinder«, fuhr Abbé in vollkommen verändertem Ton fort. »Mich rufen dringende Geschäfte, wie ihr ja sicher verstehen könnt. Ich muss ein paar Briefe schreiben. Vorbereitungen treffen ... ihr wisst schon.«
Sein Grinsen wurde anzüglich. »Und ich nehme an, dass ihr euer Wiedersehen gebührend feiern wollt.«
Und damit verschwand er, noch bevor Robin auch nur eine weitere Frage stellen konnte.
Salim nahm den Arm von ihrer Schulter und griff in die Tasche seines schwarzen Mantels. Als er die Hand wieder hervorzog, lagen einige saftige dunkelgrüne Blätter darauf.
»Was ist das?«, fragte Robin misstrauisch.
Salim grinste breit. »Eukalyptusblätter«, sagte er. »Gegen den Kamelgeschmack.«