21. KAPITEL


Eine halbe Stunde später war auch Robin nicht mehr sicher, ob sie das Tageslicht jemals wiedersehen würden. Sie war auch nicht sicher, ob es wirklich eine halbe Stunde gewesen war oder vielleicht auch zwei oder ein ganzer Tag. Zeit war auf eine sonderbare Weise bedeutungslos geworden. Im flackernden roten Licht der Fackel, die Nemeth vor ihnen hertrug, wirkten die unheimlichen Gänge und Stollen, durch die sie sich bewegten, nicht nur immer fremdartiger und bizarrer, sondern auch irgendwie alle gleich. War ihr der Große Tempel bedrohlich und einschüchternd vorgekommen, so ging von diesem lichtlosen uralten Labyrinth etwas kaum in Worte zu fassendes, Atem abschnürendes aus. Sie musste daran denken, was Nemeth über den Tempelberg gesagt hatte. Wenn sie die Wahrheit gesagt hatte, dann stammten diese Stollen und Treppen noch aus den Zeiten König Salomons und waren älter, als sie sich auch nur vorstellen konnte. Und sie glaubte das unglaubliche Alter dieser Mauern beinahe körperlich zu spüren, als hätte jedes Jahr, das seit dem Tag ihrer Fertigstellung verstrichen war, irgendetwas zurückgelassen, das nun unsichtbar, aber wie ein körperlich spürbares Gewicht in der Luft hing.

Vielleicht fantasierte sie auch einfach nur.

Robins Schulter hatte nach einer Weile aufgehört zu bluten, und auch die Schmerzen waren wieder auf ein erträgliches Maß zurückgegangen, sodass sie endlich den Arm von Rothers Schulter nehmen und aus eigener Kraft gehen konnte. Doch auch das Fieber war zurückgekommen. Der schlechte Geschmack in ihrem Mund war wieder da, schlimmer denn je. Sie zitterte am ganzen Leib, und obwohl ihr kalt war, fühlte sich ihre Stirn glühend heiß an. Wenn es die Wahrheit war, dachte sie, dass Gott kleine Sünden sofort bestrafte, dann konnte ihr Vergehen, sich Salims Anweisungen widersetzt zu haben, wohl nicht allzu schwer wiegen ...

Sie hatten eine weitere Abzweigung erreicht (die wievielte?, dachte sie. Die fünfzigste? Oder war es mittlerweile schon die fünfhundertste? Sie wusste es nicht. Sie wäre nicht einmal erstaunt gewesen herauszufinden, dass sie sich im Kreis bewegten und schon einmal hier gewesen waren. Ihrer Meinung nach hatte Rother längst die Orientierung verloren - falls er sie jemals gehabt hatte), und Nemeth wollte sich nach rechts wenden, aber Rother bedeutete ihr mit einer raschen Geste, stehen zu bleiben. Nemeth gehorchte, aber sie sah ziemlich unglücklich dabei aus, fand Robin, und auch die Blicke, mit denen Rother abwechselnd nach rechts und links sah, wirkten alles andere als zuversichtlich.

»Dort entlang«, sagte er schließlich und deutete nach links. Es wirkte unentschlossen, und eigentlich hörte es sich auch eher an wie eine Frage.

Nemeth schien das wohl ebenso zu sehen wie sie, denn sie rührte sich nicht, sondern betrachtete zuerst Rother und dann einen deutlich längeren Moment ihre Fackel. Sie war schon mehr als zur Hälfte heruntergebrannt.

»Warum gibst du nicht einfach zu, dass wir uns verirrt haben?«, fragte sie dann.

»Ich habe mich nicht verirrt«, protestierte Rother. Nach einem Moment und in leicht verlegenem Ton fügte er hinzu: »Na ja, wenigstens nicht richtig.«

»Und wie verirrt man sich richtig, deiner Meinung nach?«, fragte Nemeth spöttisch.

»Das Problem ist nicht, dass ich den Weg nach draußen nicht kenne«, behauptete Rother. »Das Problem seid ihr.«

»Wieso?« Nemeths Augen wurden schmal.

»Weil ihr Frauen seid.« Rothers Blick streifte kurz und irritiert Robins Gesicht. Dann machte er eine fast trotzig wirkende Kopfbewegung hinter sich. »Dieser Gang führt ganz offensichtlich parallel zu den Pferdeställen.«

»Die Pferdeställe«, wiederholte Robin. »Und?« Dann riss sie ungläubig die Augen auf. »Moment mal«, keuchte sie. »Willst du etwa sagen, König Salomons Pferdeställe? Sie ... sie existieren wirklich?«

Rother nickte ungerührt. »Als ich das letzte Mal hier war, gab es sie jedenfalls noch ... gestern«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu.

»Und du weißt, wo diese Pferdeställe sind?«, erkundigte sich Nemeth.

»Wir sind schon an drei Abzweigungen vorbeigekommen, die zu ihnen führen«, antwortete Rother.

»Und von da aus kommen wir nach draußen?«, hakte Nemeth nach.

»Nein«, sagte Robin, bevor Rother antworten konnte. »Er. Nicht wir.«

»Was?«, fragte Nemeth verwirrt.

»Weil er ein Mann ist«, sagte Robin. Sie machte eine Geste auf Rothers Ordenstracht. »Und ein Tempelritter. Niemand, der nicht Mitglied des Ordens ist, hat Zutritt zum Inneren des Tempelberges. Und eine Frau schon gar nicht.«

»Dann müssen wir eben aufpassen, dass uns niemand sieht«, sagte Nemeth. »Ich bin richtig gut darin, mich anzuschleichen. Und Robin ist noch viel besser. Sie kann sich in einen Schatten verwandeln, wenn sie will.«

»Das glaube ich gern«, antwortete Rother, während er Robin mit einem weiteren, irritierten Blick streifte. »Trotzdem ist es unmöglich. In den Ställen ist immer jemand. Stallburschen, Knappen, Pferdeknechte ...« Er zuckte die Achseln. »Sie würden euch sehen, bevor ihr dem Ausgang auch nur nahe kommt. Auf der anderen Seite ...«

»Ja?«, fragte Robin, als er nicht weitersprach, sondern nur angestrengt die Stirn runzelte und einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere starrte.

»Es wäre möglich«, murmelte er. »Riskant, aber möglich.«

»Dann sollten wir es versuchen«, sagte Robin. Was immer er auch meinte.

Rother sah sie noch einen Moment lang nachdenklich an, dann drehte er sich um und gab Nemeth ein Zeichen, wieder mit ihrer Fackel vorauszugehen.

Sie bewegten sich tatsächlich nur knappe zwei oder drei Dutzend Schritte den Weg zurück, den sie gekommen waren, dann erreichten sie eine Abzweigung und wandten sich nach links, und diesmal hatte Robin das beruhigende Gefühl, dass er wusste, was er tat.

Sie waren einige weitere Dutzend Schritte gegangen, als Nemeths Fackel stärker zu flackern begann. Alarmiert hielt sie an, und Rother machte eine wedelnde Handbewegung.

»Mach die Fackel aus«, befahl er.

»Aber dann sehen wir nichts mehr«, protestierte Nemeth.

»Wer werden uns im Dunkeln ...«

»Tu einfach, was er sagt«, unterbrach sie Robin.

Nemeth funkelte sie einen Moment lang trotzig an, aber dann legte sie die Fackel auf den Boden und trat sie aus. Im allerersten Moment erschien Robin die Dunkelheit, die über ihnen zusammenschlug, so absolut, dass sie das Gefühl hatte, nicht mehr richtig atmen zu können. Aber dann spürte sie einen sachten Luftzug auf dem Gesicht, und ihre Augen begannen einen mattgrauen Lichtschimmer am Ende des Stollens wahrzunehmen.

»Keinen Laut mehr jetzt«, flüsterte Rother. »Und bleibt immer dicht hinter mir.«

Er übernahm die Führung, und Robin und Nemeth schlossen sich ihm schweigend an. Zuerst war er nicht einmal ein Schatten vor ihnen, den sie eigentlich nur sah, weil er den Lichtschimmer verdeckte. Doch das Grau wurde rasch heller. Nach wenigen Augenblicken hatten sie das Ende des Ganges erreicht, und als Rother stehen blieb und sie heranwinkte, bot sich ihr ein absolut fantastischer Anblick.

Der Gang endete in einer steilen, direkt aus dem Fels herausgemeißelten Treppe, die gute fünfzehn oder zwanzig Stufen weit in eine gewaltige, von grauem Zwielicht erfüllte Halle hinabführte. Robin versuchte erst gar nicht, ihre Größe zu schätzen - es musste der größte frei tragende Raum sein, den sie jemals gesehen hatte -, doch sie war gewaltig. Zahlreiche hüfthohe Mauern unterteilten sie in ein Labyrinth aus rechteckigen Abteilen. Der allergrößte Teil davon war leer. In einigen wenigen glaubte sie Stroh oder Heu auf dem Boden zu erkennen, und in noch weniger hielten sich tatsächlich Pferde auf. Der Anblick hatte etwas gleichermaßen Erhabenes wie Ernüchterndes, wobei sie weder das eine noch das andere Gefühl wirklich in Worte fassen konnte.

»Das sind ... König Salomons Pferdeställe?«, fragte sie schließlich.

Rother bedeutete ihr grimassenschneidend, leiser zu sprechen, antwortete aber trotzdem. »Jedenfalls hat man mir das gesagt«, wisperte er. »Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht. Aber das wollte ich dir auch nicht zeigen.«

Er hob den Arm und deutete zur Decke empor. Robins Blick folgte seiner Geste. Sie sah fast sofort, was er meinte.

Das graue Zwielicht, das den Raum erhellte, kam nicht von Fackeln oder irgendeiner anderen künstlichen Beleuchtung, sondern aus Dutzenden runder, vielleicht einen Fuß messender Löcher, die in fast regelmäßigen Abständen in der Höhlendecke gähnten und nicht nur für Licht, sondern vor allem für die Zufuhr frischer Luft unten sorgten.

»Wir sind fast genau unter dem Templum Domini«, fuhr Rother fort. »Diese Luftschächte münden direkt hinter ihm auf einen kleinen Hof, von wo aus man zur Straße gelangen kann, ohne gesehen zu werden.«

»Du willst ... dort hinaufklettern?«, fragte Nemeth zweifelnd.

»Es ist nicht so schwierig, wie es aussieht«, behauptete Rother.

»Die meisten Schächte sind viel zu eng, aber es gibt ein paar, durch die man durchaus nach oben klettern kann.«

»Und ich habe mich schon gefragt, wie es kommt, dass ein so junger und unbekannter Ordensbruder um dieses Geheimnis weiß«, sagte Robin spöttisch.

Rothers Blick sagte ihr, dass sie mit ihrer unausgesprochenen Vermutung der Wahrheit wohl näher gekommen war, als er zugeben wollte. »Die Decke ist vielleicht zehn Fuß dick«, fuhr er fort. »An manchen Stellen sogar weniger. Wenn man keine Angst vorm Klettern hat, kann man es schaffen.« Sein Blick tastete kritisch über Nemeths Gesicht. »Glaubst du, dass du es schaffst?«

»Wenn du mir verrätst, wie wir da hochkommen sollen«, erwiderte Nemeth stirnrunzelnd. »Fliegen kann ich nämlich noch nicht.«

»Ich kenne eine Stelle, an der man leicht an der Wand nach oben klettern kann«, antwortete Rother. Sein Blick wurde besorgt, als er sich wieder zu Robin umwandte, und seine Augen stellten eine lautlose Frage, die sie mit einem ebenso stummen Kopfschütteln beantwortete. Sie musste nicht einmal in sich hineinlauschen, um zu wissen, dass sie auf gar keinen Fall in der Lage war, die Kletterpartie zu bewältigen, die Rother vorgeschlagen hatte.

Er schien allerdings mit genau dieser Antwort gerechnet zu haben, denn er zuckte nur fast resignierend mit den Schultern und begann seinen Schwertgurt abzuschnallen. Rasch entledigte er sich des Wappenrocks, seines Kettenhemds und auch der Stiefel. Nemeth sah ihn nur mit wachsender Verblüffung an, aber Robin wusste natürlich, was Rother von ihr erwartete. Sie fragte sich, warum sie nicht von selbst darauf gekommen war.

»Zieh das an«, sagte Rother. »Aber du solltest warten, bis das Mädchen und ich weg sind. Ich bringe Nemeth nach Hause, dann komm ich mit Hilfe zurück.«

»Ich lasse Robin nicht im Stich!«, protestierte Nemeth.

»Rother hat Recht«, beruhigte Robin sie. »Mach dir keine Sorgen. Mir kann gar nichts passieren. Wie sind hier im Hauptquartier des Ordens. In diesen Kleidern werde ich praktisch unsichtbar. Sobald ihr in Sicherheit seid, kann ich einfach hier hinausspazieren, und niemand wird eine Frage stellen.«

Ganz so einfach würde es nicht werden, das musste auch Rother klar sein, aber er fing wohl im letzten Moment Robins beschwörenden Blick auf, denn er sagte nichts Entsprechendes, sondern stimmte ihr im Gegenteil zu. »Vielleicht solltest du dich einfach eine Weile verstecken. Am Nachmittag wird mit der Ankunft einer Gruppe Reiter aus Safet gerechnet. Sicherlich zwanzig Mann, wenn nicht mehr. Sie werden ihre Pferde herunterbringen. Wenn sie den Stall verlassen, kannst du dich unauffällig unter sie mischen. Niemandem wird es auffallen.«

»Am Nachmittag?« Das war eine lange Zeit.

Rother machte eine beruhigende Geste. »Nur für alle Fälle. Keine Sorge. Bis dahin bin ich längst zurück, und du wirst sicher hier herausgebracht.«

»Warum tust du das, Rother?«, fragte Robin.

»Weil es mein Befehl ist, auf dich acht zu geben«, antwortete Rother, doch Robin schüttelte heftig den Kopf.

»Nein«, sagte sie. »Das ist vielleicht dein Befehl, aber nicht der Grunde, aus dem du es tust. Niemand, nicht einmal Bruder Dariusz oder Bruder Abbé und vermutlich nicht einmal der König selbst könnten dich dazu zwingen, etwas zu tun, was du nicht wirklich willst.« Sie machte eine Kopfbewegung auf seine Kleider, die neben ihr lagen. »Das da hätte dir ganz einfach nur nicht einzufallen brauchen, und ich wäre praktisch schon so gut wie tot. Aber es ist dir eingefallen.«

»Und was genau willst du damit sagen?« Rother sah sie mit schräg gehaltenem Kopf an. Er wirkte angespannt.

»Fragen, Rother, nicht sagen«, korrigierte ihn Robin. »Du riskierst dein Leben für mich. Dabei habe ich in deinen Augen alles verraten, woran du glaubst und wofür unser Orden steht. Warum?«

»Vielleicht, weil ich mich dasselbe frage«, antwortete Rother ernst. »Warum? Es muss einen Grund geben. Einen wichtigen Grund, denn du hast mächtige Freunde, wie es aussieht. Vielleicht bin ich einfach nur neugierig und will wissen, was dahinter steckt.«

»Ich werde den Orden verlassen«, sagte Robin unvermittelt.

»Weil dein Geheimnis keines mehr ist?« Rother schüttelte den Kopf. »Ich werde nichts sagen.«

»Nein«, antwortete Robin. »Es hat nichts mit dir zu tun. Mir ist klar geworden, dass ich nicht zu euch gehöre. Nicht wirklich. Ich ... ich habe gedacht, es wäre mein großer Traum. Alles, wofür ich wirklich lebe. Aber während der Schlacht am Litani habe ich begriffen, dass das nicht stimmt.«

»Es war entsetzlich«, sagte Rother mitfühlend, aber Robin unterbrach ihn sofort wieder.

»Ich habe einen Mann getötet«, sagte sie.

»Nur einen?«, fragte Rother. »Weißt du, wie viele tapfere Männer während der Schlacht den Tod gefunden haben, auf beiden Seiten?«

»Das war etwas anderes«, sagte Robin leise. »Er war ...« Die Erinnerung drohte sie zu überwältigen. Für einen Moment war sie wieder auf dem Schlachtfeld, und für einen schrecklichen Augenblick spürte sie noch einmal den ungläubigen Blick seiner Augen, hörte noch einmal das schreckliche, reißende Geräusch, mit dem ihre Klinge sein Gewand zerschnitt. Ihr Herz begann zu klopfen. Sie schloss für einen Moment die Augen, ballte die Fäuste und musste all ihre Willenskraft aufbieten, um die schrecklichen Bilder zurückzudrängen. »Er war kein Krieger, Rother. Nicht für mich. Ich habe ihn nicht im Kampf getötet, sondern ihn ermordet.« Sie hob die Hände. »Damit.«

Sie hatte nicht erwartet, dass Rother verstand, wovon sie sprach, doch ein einziger Blick in seine Augen machte ihr klar, dass sie den jungen Ritter abermals unterschätzt hatte. Er verstand sie nicht nur, er wusste ganz genau, wovon sie sprach, weil auch er es schon erlebt hatte.

»Wir versuchen jetzt unser Glück«, sagte Rother mit einem unbehaglichen Räuspern und stand auf. »Nemeth?«

Das Mädchen sah Robin an und reagierte erst, als Robin zustimmend nickte, dann jedoch bewegte sie sich sehr schnell und praktisch lautlos. Sie huschte die Treppe hinab und hatte ihr unteres Ende erreicht, noch bevor Rother auch nur losgegangen war. Robin nickte auch dem jungen Ritter noch einmal auffordernd zu, und endlich setzte auch er sich in Bewegung.

Was zurückblieb, war ein sonderbares Gefühl vager Enttäuschung - und eigentlich war es gar nicht so vage, wie sie es gerne gehabt hätte. Robin hatte längst begriffen, dass ihr der junge Ritter weit mehr bedeutete, als er eigentlich sollte. Sie war nur noch nicht so weit, es zuzugeben.

Sowohl Nemeth in ihrem schwarzen Gewand als auch Rother in seinem grauen Untergewand wurden vom grauen Zwielicht in den Ställen aufgesogen, kaum dass sie sich wenige Schritte entfernt hatten. Robin versuchte einen Moment lang, sie wiederzufinden, aber es gelang ihr nicht - doch das beruhigte sie eher. Wenn sie die beiden nicht sah, würde es auch anderen nicht gelingen.

Irgendwann am Nachmittag, hatte Rother gesagt. Das bedeutete, dass sie viele Stunden tatenlos hier warten musste. Vermutlich wäre es das Klügste, dachte sie, genau das zu tun, was er ihr geraten hatte, und einfach hier sitzen zu bleiben, bis er zusammen mit Bruder Abbé zurückkam, um sie zu holen.

Sie wusste, dass sie es nicht durchhalten würde.

Robin zählte in Gedanken langsam bis hundert, dann stand sie auf, nahm die Kleider, die Rother ihr dagelassen hatte, und zog sich ein paar Schritte weit in den Gang zurück, bevor sie ihr Kleid abzustreifen begann. Es fiel ihr schwer, und es tat so weh, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste, um ein Wimmern zu unterdrücken. Nemeth hatte den Verband so fest angelegt, dass sie die Schulter kaum bewegen konnte. Sie war es nicht, aber sie fühlte sich an, als wäre sie auf die Größe eines Fasses angeschwollen und pulsiere im rasenden Takt ihres hämmernden Herzens.

Mit zusammengebissenen Zähnen streifte sie ihr Kleid vollends ab, bückte sich nach dem Kettenhemd und konnte einen Schmerzenslaut nicht mehr ganz unterdrücken, als sie es überstreifte und die eisernen Kettenglieder wie tausend winzige Messerklingen in ihre Schulter bissen. Das Hemd schien eine Tonne zu wiegen.

Sie schlüpfte in die Stiefel, die ihr zu klein waren, sodass sie wahrscheinlich nur unter Schmerzen eine längere Strecke darin laufen konnte, und streifte den Ordensrock über, doch als sie den Schwertgurt umband, begannen ihre Hände zu zittern. Robin versuchte sich einzureden, dass es einfach am Gewicht der Waffe lag. Rothers Schwert musste sehr viel schwerer sein als ihre eigene Waffe, die einem normalen Breitschwert zwar zum Verwechseln ähnlich sah, in Wahrheit jedoch eine täuschend ähnliche Kopie war, die Salim aus feinstem Damaszenerstahl für sie hatte anfertigen lassen; zehnmal so scharf wie normaler Stahl, aber nicht einmal halb so schwer.

Immerhin war es eine gute Ausrede, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, warum es ihr so schwer fiel, die Waffe umzubinden.

Minutenlang blieb sie einfach sitzen, lauschte auf das Hämmern ihres eigenen Herzens und wartete darauf, dass die Schmerzen in ihrer Schulter nachließen. Es wurde nicht wirklich besser, doch groteskerweise war es nun ausgerechnet das Fieber, das ihr zugute kam, denn es machte es ihr nicht nur zunehmend schwerer, klar zu denken, sondern dämpfte auch all ihre Empfindungen. Sie schleppte sich mehr zur Treppe zurück, als sie ging, und sie war selbst von diesen wenigen Schritten so erschöpft, dass sie schon wieder zu Boden sank und um ein Haar eingeschlafen wäre.

Wahrscheinlich wäre sie es sogar, hätte sie nicht in diesem Moment donnernden Hufschlag gehört, der sich rasend schnell näherte. Alarmiert richtete sich Robin wieder auf und starrte in die Halle hinab. Nichts rührte sich dort unten. Nicht einmal von den angeblich allgegenwärtigen Stallburschen und Knechten, von denen Rother gesprochen hatte, war eine Spur zu sehen, und Robin wäre versucht gewesen, das Geräusch als neuerliche Fieberfantasie abzutun, doch es wurde immer lauter und kam zugleich rasend schnell näher, als galoppiere eine ganze Armee heran. Die Gruppe, von der Rother gesprochen hatte? Aber er hatte etwas vom Nachmittag gesagt, und bis dahin waren es noch viele Stunden. War sie vielleicht eingeschlafen, ohne es selbst gemerkt zu haben? Robin hielt das für unwahrscheinlich, aber fiebernd und erschöpft, wie sie nun einmal war, konnte sie es auch nicht vollkommen ausschließen.

So oder so - der unterirdische Saal erzitterte mittlerweile unter dem donnernden Hufschlag von mindestens hundert Pferden. Noch waren sie nicht zu sehen, aber es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln. Sie musste sich entscheiden.

So schnell sie konnte, stand sie auf und eilte mit einer Leichtfüßigkeit die Treppe hinab, die sie fast selbst überraschte - die aber auch durchaus angebracht war, wie sich schon im nächsten Augenblick zeigte. Das Donnern der Pferdehufe wuchs zum Tosen eines Erdbebens heran, und dann erschienen die ersten Reiter als fahle Schemen am jenseitigen Ende des riesigen unterirdischen Raumes.

Für einen Moment drohte Robin in Panik zu geraten. Etwas in ihr reagierte noch immer mit gewohnter Schnelligkeit, sodass sie sich blitzartig hinter eine der hüfthohen Mauern duckte und sich mit angehaltenem Atem gegen den unverputzten Stein presste. Selbst diese hastige Bewegung war schon beinahe zu viel. Ihr wurde schwindelig, und sie musste etliche Sekunden darum kämpfen, nicht endgültig zusammenzubrechen.

Als die Welt aufhörte, sich nicht nur rings um sie herum, sondern in gegenläufiger Richtung auch in ihrem Kopf zu drehen, war das Donnern der Pferdehufe verklungen. Nur dann und wann hörte sie einen vereinzelten Hufschlag oder ein Wiehern, einen Wortfetzen oder auch ein erleichtertes Aufatmen. Mit klopfendem Herzen beugte sie sich zur Seite und spähte zu den Reitern hin.

Sie hatte sich getäuscht. Möglicherweise hatte ihr auch die Akustik des unterirdischen Stalles einen Streich gespielt - es waren nicht Hunderte von Reitern, nicht einmal Dutzende, sondern allenfalls ein knappes Dutzend. Die Männer hatten ihre Pferde kaum zwanzig Schritte entfernt angehalten und saßen nun gerade ab. Etliche Tiere scheuten vor Schwäche und zitterten; Schaum troff von ihren Nüstern, und Robin konnte trotz des schwachen Lichtes sehen, dass sich ihre Reiter in kaum besserem Zustand befanden. Ihre Kleider waren verdreckt und zerrissen, und die meisten von ihnen zitterten vor Anstrengung und waren ebenfalls in Schweiß gebadet. Robin konnte zwar keine frischen Wunden oder Verbände erkennen, was bedeutete, dass die Männer wahrscheinlich nicht in einen Kampf verwickelt gewesen waren, aber es war zugleich auch unübersehbar, in welcher Eile sie den Weg hierher zurückgelegt hatten. Sie dachte an die Gluthitze draußen und fragte sich, wie wichtig eine Nachricht sein musste, dass die Männer eine solche Tortur auf sich nahmen.

Robin war sich vollkommen klar, welches Risiko sie einging, aber sie wusste auch, dass ihr keine andere Wahl blieb. Ihre Kräfte ließen jetzt immer rascher nach. Sie würde nicht mehr durchhalten, bis die größere Kolonne kam, von der Rother gesprochen hatte. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal mehr durchhalten, bis Rother mit Bruder Abbé oder Salim zurückkehrte. Wenn die Männer tatsächlich so erschöpft waren, wie sie annahm, dann hatte sie vielleicht tatsächlich eine Chance, sich ihnen unbemerkt anzuschließen und den Stall zu verlassen.

Sie versuchte, sich den riesigen Raum vor Augen zu führen, wie sie ihn von oben aus gesehen hatte. Völlig gelang es ihr nicht, aber sie hatte immerhin eine ungefähre Ahnung, in welcher Richtung sich der Ausgang befand, und das musste genügen. Wenn es ihr irgendwie gelang, sich in der Nähe des Ausgangs zu verstecken, dann konnte sie dort warten, bis die Männer den Stall verließen, und sich ihnen anschließen. Robin wusste, wie lächerlich gering ihre Aussichten waren, es zu schaffen, aber wenn sie hier blieb, dann konnte sie genauso gut Rothers Schwert ziehen und sich selbst die Kehle durchschneiden.

Vielleicht wäre das ohnehin die einfachste Lösung, dachte sie bitter. Zumindest wäre es weniger schmerzhaft als der Tod auf dem Scheiterhaufen, der ihr vermutlich bevorstand, wenn sie hier unten aufgegriffen wurde.

Der Gedanke erschreckte sie. Seit sie ihre Heimat verlassen hatte, war sie oft in Gefahr gewesen und mehr als einmal in Situationen, die eindeutig aussichtsloser erschienen waren als diese hier - und niemals hatte sie auch nur daran gedacht, ihr Leben wegzuwerfen. Vielleicht war es nichts anderes als einfacher Trotz, der ihr die Kraft gab, sich noch einmal aufzurappeln und geduckt und die Deckung der halbhohen Mauern ausnutzend in Richtung Ausgang zu schleichen.

Danach musste sie sich gedulden.

Es waren vermutlich nur wenige Minuten, doch sie schienen für Robin kein Ende zu nehmen. So erschöpft und abgerissen die Reiter auch waren, verwandten sie doch große Sorgfalt darauf, ihre Pferde abzuschirren und in die sonderbaren Ställe zu führen. Endlich aber gingen die Ritter; und zu Robins Erleichterung nicht in einer geschlossenen Gruppe, sondern einzeln und nacheinander, und anscheinend, ohne sich gegenseitig sonderliche Beachtung zu schenken. Vielleicht hatten sie dasselbe unsinnige Schweigegelübde abgelegt, das auch Dariusz seinen Männern abverlangt hatte, viel wahrscheinlicher jedoch erschien es Robin, dass sie einfach zu erschöpft zum Reden waren.

Sie wartete, bis der letzte Mann an ihrem Versteck vorübergegangen war, dann nahm sie all ihren Mut zusammen, stand auf und schloss sich ihnen an. Auf den ersten Schritten hielt sie vor lauter Anspannung den Atem an, doch nichts von dem, womit sie fest rechnete, geschah. Genau genommen passierte gar nichts. Sie folgte dem letzten Mann in Weiß und Rot in wenigen Schritten Abstand. Er ging nicht sehr schnell, und es fiel Robin auch nicht besonders schwer, seinen schleppenden Gang und seine erschöpfte Haltung mit den hängenden Schultern und dem müde gesenkten Kopf nachzuahmen.

Nachdem sie gerade vorsichtig aufatmen wollte, hörte sie Schritte hinter sich, ebenso schleppend und langsam wie ihre eigenen, aber schwerer. Robins Herz begann wie verrückt zu hämmern, aber sie widerstand der Versuchung, sich umzudrehen, sondern ging einfach weiter. Ganz egal was auch geschah, sie konnte jetzt nicht mehr zurück.

Der hohe Torbogen, durch den sie gingen, führte nicht nach draußen, wie sie gehofft hatte, sondern in einen zweiten und womöglich noch größeren Felsendom, in dem deutlich mehr Pferde untergebracht waren; sicherlich hundert, wenn nicht mehr. Hier sah sie auch die Stallburschen und Pferdeknechte, von denen Rother gesprochen hatte. Niemand nahm auch nur Notiz von ihren Begleitern und ihr, und warum auch? Ritter, die müde zurückkehrten, nachdem sie ihre Pferde in den Stall gebracht hatten, mussten hier ein ganz normaler Anblick sein. Robin begann wieder ein wenig mehr Mut zu fassen.

Obwohl sie das Gefühl hatte, mit jedem Schritt Kraft zu verlieren, konzentrierte sie sich doch die ganze Zeit über auf die Schritte des Mannes hinter ihr. Ein- oder zweimal hatte sie das Gefühl, dass er näher kam, und beschleunigte unauffällig auch ihre eigenen Schritte. Auch wenn sie selbst nicht wirklich begriff, wieso, durchquerte sie auch diesen zweiten unterirdischen Saal unbehelligt und erreichte schließlich den Ausgang, einen guten fünf Meter hohen und mindestens doppelt so breiten Torbogen, von dem sie beim besten Willen nicht sagen konnte, ob er aus dem Fels herausgemeißelt oder gemauert worden war. Beides erschien ihr gleich unglaublich. Aber sie konnte auch nicht wirklich verstehen, wie es ihren Ordensbrüdern gelungen war, ein solch unglaubliches Wunder all die Jahre vor der Welt verborgen zu halten. Oder gar, warum. Lag es daran, dass dieses Wunder das Werk von Menschen war, die lange gelebt hatten, bevor Gott seinen eigenen Sohn auf die Erde geschickt hatte? Wie auch immer, seit der erste christliche Ritter seinen Fuß ins Innere des Tempelberges gesetzt hatte, rankten sich unzählige Gerüchte um diesen heiligsten aller Orte der Christenheit. Manche behaupteten sogar, der heilige Gral selbst wäre irgendwo in den Tiefen des Tempelberges verborgen.

Robin war - trotz allem - so sehr in Gedanken versunken, dass sie die einzelne Gestalt, die den Templern auf der anderen Seite des breiten Ganges entgegenkam, beinahe zu spät bemerkte. Es war ein Tempelritter wie sie und alle anderen hier, nicht einmal besonders groß, dafür aber von umso beeindruckenderer Leibesfülle und nahezu kahlköpfig. Das einzig wirklich Beeindruckende an ihm war das wuchtige Bastardschwert, das er anders als die allermeisten Männer an der rechten Hüfte trug, obwohl er kein Linkshänder war.

Bruder Abbé war endlich gekommen, um sie zu holen!

Robin atmete erleichtert auf und wollte sich gerade vorsichtig zu erkennen geben, als Abbé seinerseits den Arm hob und rief:

»Bruder Gerhard! Ihr kommt spät - doch ich hoffe, Ihr bringt gute Neuigkeiten.«

Robin senkte so hastig den Blick, dass es ihr selbst fast wie ein kleines Wunder erschien, dass Abbé oder der Mann in ihrem Rücken nicht spätestens auf diese Bewegung aufmerksam wurden, aber der Angesprochene hinter ihr antwortete mit Rideforts Stimme: »Ich fürchte, nein, Bruder Abbé.«

»Ihr habt keine Nachricht vom Großmeister?«

Robin senkte den Blick noch weiter, behielt Abbé aber aus den Augenwinkeln weiter im Auge, während sie an ihm vorüberging. Sie passierte ihren alten Mentor in weniger als zehn Schritten Abstand. Abbé hätte sie bemerken müssen, Schminke hin oder her, aber er schien geradewegs durch sie hindurchzublicken. Trotz des schwachen Lichts konnte Robin erkennen, wie bleich er war. Weshalb auch immer er hier heruntergekommen war - sie war nicht der Grund dafür gewesen. Sie konnte hören, wie Abbé hinter ihr kehrtmachte und seine Schritte dann denen Rideforts anglich. Seine Stimme wurde leiser, aber er sprach jetzt in jenem gehetzterschrockenen Flüsterton, den man fast ebenso weit hören konnte wie ein normal gesprochenes Wort.

»Ihr habt keine Nachricht von Odo? Aber ich dachte ...«

»Saladin hat einen Boten geschickt«, antwortete Rideforts Stimme, deutlich leiser als Abbés und auch nicht annähernd so erregt. Wenn ihr überhaupt ein Gefühl anzuhören war, dann die Erschöpfung des zurückliegenden Rittes. »Der Großmeister lebt. Er ist verwundet, aber nicht sehr schlimm.«

»Worauf wir nur Saladins Wort haben«, versetzte Abbé. »Das Wort eines Heiden und Aufständischen!«

»Ich glaube ihm«, antwortete Ridefort. »Er mag ein Heide sein, aber man sagt ihm dennoch nach, er wäre ein Ehrenmann.«

Robin konnte hören, wie sein Kettenhemd klirrte, als er seufzend den Kopf schüttelte. »Nur fürchte ich, ist er nicht nur ein Ehrenmann, sondern auch ein kluger Taktiker, der um den Wert seiner Geisel weiß.«

»Was genau soll das heißen?«, fragte Abbé. Robin hatte mittlerweile immer größere Mühe, die beiden Ritter zu verstehen. Abbé sprach eher noch erregter und lauter als zuvor, doch die beiden Männer bewegten sich auch eine Winzigkeit langsamer als sie, und Robin wagte es nicht, ihrerseits langsamer zu werden, um nicht am Ende doch noch aufzufallen.

»Saladin verlangt ein Lösegeld von einhundertundfünfzigtausend Goldstücken«, antwortete Ridefort.

»Einhundertfünfzigtausend Goldstücke!«, ächzte Abbé. »Heilige Mutter Gottes, das ist viel! Kann der Orden eine solche Summe aufbringen?«

»Die Frage ist nicht, ob er es kann«, antwortete Ridefort. »Die Frage ist, ob Bruder Odo möchte, dass für das Leben eines einzelnen Mannes eine Summe gezahlt wird, für die man so viele neue Waffen und Rüstungen und Pfeile kaufen kann. Saladin kann eine neue Armee aufstellen mit diesem Geld. Ist es das Leben eines einzigen Mannes wert, in der nächsten Schlacht vielleicht tausend zu verlieren?«

»Waren das Odos Worte?«, fragte Abbé ungläubig.

Ridefort zögerte einen winzigen Moment, bevor er antwortete, und Robin glaubte seine misstrauischen Blicke regelrecht zwischen den Schulterblättern zu spüren. Seine Schritte wurden langsamer und brachen schließlich ganz ab. »Nein«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Aber wir alle kennen doch Odo von Saint-Amand, oder? Eine solche Antwort würde durchaus zu ihm passen, ganz davon abgesehen, dass er es bestimmt empört ablehnen würde, wie ein Sklave auf dem Markt freigekauft zu werden, und ...«

Seine Stimme wurde leiser und verklang schließlich ganz. Robin verstand nichts mehr, sosehr sie sich auch anstrengte, und sie verstand auch Abbés Antwort nicht - doch sie hörte immerhin, dass seine Stimme nicht einmal annähernd so empört klang, wie es angemessen wäre, und vor allem, wie sie erwartet hätte.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sie gerade gehört hatte, das war vielleicht noch keine wirkliche Verschwörung, aber es grenzte daran, und allein der Gedanke, Abbé und Ridefort ein solches Gespräch führen zu hören, erschien ihr schier ungeheuerlich.

Sie war mittlerweile endgültig außer Hörweite der beiden Ritter und schritt nun ein wenig schneller aus, um nicht den Anschluss an die anderen zu verlieren. Vor ihnen machte der Korridor eine sanfte Biegung nach links, hinter der helles Tageslicht schimmerte, aber die Männer traten durch eine schmale Seitentür, die nicht nur so niedrig war, dass Robin sich hindurchbücken musste, sondern auch so schmal, dass sie sich allen Ernstes fragte, wie etwa ein Mann von Abbés Statur hindurchpassen sollte.

Dahinter führte eine steile, kaum beleuchtete Treppe in die Höhe. Robin schleppte sich die Stufen mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf empor. Der Stein fühlte sich unter ihren Füßen so glatt poliert wie Eis an, als hätten ihn Tausende und Tausende und Abertausende von Füßen in ebenso vielen Jahren blank gescheuert, doch die Tür, zu der die ausgetretenen Stufen hinaufführten, mündete in einen Raum von geradezu profaner Schlichtheit: braungelber Sandstein ohne den geringsten Schmuck oder Zierrat, Fußboden und eine leicht gewölbte Decke aus demselben Material. Helles Sonnenlicht und ein Schwall erstickender Wärme drangen durch zwei schmale Fenster auf der Rückseite, und es gab gleich drei Türen, die aus der Kammer herausführten.

Zwei davon standen auf. Die eine führte ins Freie, auch wenn Robins an das trübe Zwielicht gewöhnten Augen kaum mehr als einen verschwommenen Fleck gleißender Helligkeit wahrnahmen. Hinter der anderen konnte sie einen schmalen Ausschnitt eines gewaltigen, lichtdurchfluteten Raumes erkennen. Überall blitzte und schimmerte es von Gold und Silber. Prachtvolle Gemälde und kunstvolle Schnitzereien und Skulpturen säumten die Wände, und Dutzende schneeweißer Säulen trugen die hohe, reich verzierte Decke. Der Duft von Weihrauch lag in der Luft. Von der Decke hingen bunte Banner mit verschlungenen Schriftzeichen, die Fahnen der Heere der Ungläubigen, die von den Tempelrittern erbeutet worden waren. Sie befanden sich im Templum Domini. Vor ihr lag eines der Wunder, die zu sehen Robin vom anderen Ende der Welt hierher gekommen war.

Dennoch wandte sie sich in die entgegengesetzte Richtung.

Die meisten Männer, die mit ihr heraufgekommen waren, betraten das Kirchenschiff, um zu beten und Gott für die glückliche Rückkehr von ihrer gefährlichen Mission zu danken, aber sie musste raus hier. Ihr Schwindelgefühl wurde immer schlimmer. Ihr Herz pochte bis zum Hals, und im Nachhinein fragte sie sich fast selbst, wie sie es die Treppe heraufgeschafft hatte. Ihre Knie zitterten so stark, dass die Glieder ihres Kettenhemdes leise klimperten, wenn sie still stand.

Hitze und Licht trafen sie wie ein Faustschlag ins Gesicht, als sie ins Freie trat. Im allerersten Moment war sie fast blind. Die Luft, die sie atmete, brannte wie flüssiges Pech in ihrer Kehle, und ihre Augen drohten zu verbrennen. Alles verschwamm vor ihrem Blick. Der Platz, der sich vor ihr ausbreitete, war derselbe, vor dem sie vorhin mit Nemeth gestanden hatte, nur von der anderen Seite her betrachtet, aber er kam ihr plötzlich viel größer vor und auf unheimliche Weise verzerrt. Alles schien in beständiger, Schwindel machender Bewegung. Der Boden schwankte wie die Planken eines kleinen Schiffchens im Sturm. Das Schwindelgefühl wurde stärker, obwohl sie es noch vor einem Augenblick gar nicht für möglich gehalten hätte.

Blindlings taumelte sie los. Ihre Schulter begann wieder zu schmerzen. Plötzlich konnte sie sich nicht mehr erinnern, in welcher Richtung das Assassinenhaus lag oder der Basar, aber sie musste es einfach finden. Sie machte einen weiteren, taumelnden Schritt in die lodernde Mittagshitze hinaus, und ein weiß glühender Schmerz explodierte in ihrem Leib und ließ sie wie von einem Axthieb gefällt zusammenbrechen.

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