23. KAPITEL


Der Raum, in dem über sie geurteilt werden sollte, gehörte zwar noch offiziell zum Templum Domini, aber gewiss nicht zu jenem Teil der ausgedehnten Tempelanlage, die jedem Besucher zugänglich war und vermutlich nicht einmal jedem Ritter. Es war eine kleine, schäbige Kammer abseits des Kirchenschiffes und der prachtvollen Kreuzgänge, in die nur wenig Licht und noch weniger frische Luft gelangten. Es brannten nur einige wenige Kerzen, die ein unheilträchtiges, rotes Licht verbreiteten. Darüber hinaus war der Raum fast leer. Es gab einen hohen Lehnstuhl, in dem ein Pater des Templerordens saß; kein Ritter, sondern ein Priester in weißer Kutte, mit dem Tatzenkreuz über dem Herzen. Auf einem schmalen Tisch vor ihm lagen einige Pergamente, in denen er angelegentlich herumkramte, seit man Robin hereingeführt hatte. Obwohl seither mindestens eine halbe Stunde vergangen war, hatte er sie in der ganzen Zeit nicht eines einzigen Blickes gewürdigt - obwohl Robin bezweifelte, dass seine trüben, von tausend winzigen Fältchen eingerahmten Augen in dem flackernden Licht gut genug sehen konnten, um zu lesen.

Sie fühlte sich hilflos. Hilflos und auf eine Art allein gelassen, die ihre Angst noch schürte. Bruder Abbé hatte nicht einmal versucht, den grotesken Vorwurf zu entkräften, sondern war nahezu kommentarlos verschwunden, und die sechs Ritter hatten sie hierher gebracht. Bevor sie den Raum betreten durfte, hatte man ihr befohlen, nicht nur Schwert und Ordensrock, sondern auch das schwere Kettenhemd und die Stiefel auszuziehen. Zumindest für das Kettenhemd war sie im Stillen dankbar. Sie wusste nicht, wie lange sie das Gewicht des eisernen Kleidungsstücks auf ihrer Schulter noch ertragen hätte. Aber sie fühlte sich zugleich auch nackt und schutzlos. Außer dem Verband trug sie jetzt nur noch das dünne baumwollene Unterhemd über ihrem verräterischen Körper. Eine einzige unbedachte Bewegung, und sie war verloren.

Wenigstens waren sie nicht so weit gegangen, sie zu binden; zumindest nicht mit Fesseln, die man sah. Vier der sechs Männer, die sie hierher begleitet hatten, waren sofort wieder gegangen, die beiden anderen hatten rechts und links der Tür Aufstellung genommen und schienen zu lebensgroßen Statuen erstarrt zu sein. Es gab keine Stühle oder andere Sitzgelegenheiten.

Der Pater sah für einen Moment von seinen Unterlagen auf, und zum ersten Mal glaubte Robin eine menschliche Regung auf seinem Gesicht zu erkennen, als er mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln zur Tür sah. Aber sie suchte vergeblich nach einer Spur von Mitleid in seinen Augen, als sein Blick sie streifte.

Endlich wurde die Tür aufgestoßen, und Marschall von Ridefort trat ein, dicht gefolgt von Bruder Dariusz. Robin war überrascht, den grauhaarigen Tempelritter hier zu sehen, aber auch - fast widerwillig - ein wenig erleichtert. Wenn es jemanden gab, der wusste, was sie während der Schlacht am Litani getan hatte, dann er.

»Bruder Dariusz!«, rief sie erleichtert. »Ihr ...«

»Schweigt still, Robin von Tronthoff«, fuhr sie der Geistliche an. »Als Angeklagter vor diesem Gericht habt Ihr zu schweigen, bis Ihr zum Reden aufgefordert werdet oder man Euch eine direkte Frage stellt.« Er hatte eine dünne, schneidende Stimme, die mehr über sein wahres Alter verriet als sein Gesicht, aber deutlich sanfter wurde, als er hinzufügte: »Keine Sorge. Ihr werdet Gelegenheit bekommen, in aller Ausführlichkeit zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, die gegen Euch erhoben werden.«

Er seufzte tief, runzelte die Stirn und wandte sich dann mit einem Blick an Dariusz und Ridefort, in dem sehr wenig Respekt für die beiden hochrangigen Ritter zu erkennen war. »Und Ihr, Bruder Gerhard, Bruder Dariusz - verratet Ihr einem müden alten Mann, weshalb Ihr in aller Eile einen Prozess von mir verlangt, der eigentlich einer tagelangen gründlichen Vorbereitung bedarf, um dann zu eben jenem Prozess zu spät zu erscheinen?«

Dariusz wollte antworten, doch Ridefort kam ihm zuvor: »Bitte vergebt uns, Vater Johannes. Es war meine Schuld. Leider haben mich wichtige Geschäfte daran gehindert, sofort zu erscheinen. Und ich fürchte auch, dass ich Jerusalem noch vor dem nächsten Sonnenaufgang verlassen muss, woraus sich die große Eile dieses Prozesses ergibt.«

»So, tut es das?«, fragte Johannes. Er seufzte erneut. »Nun ja, wir werden sehen.« Er kramte einen Moment lautstark in seinen Pergamenten herum, seufzte noch einmal und sah Robin dann mit verändertem Gesichtsausdruck an. »Feigheit im Angesicht des Feindes, Ritter Robin. Das ist ein sehr schwerer Vorwurf. Was sagt Ihr dazu?«

»Das ist Unsinn«, antwortete Robin, biss sich auf die Unterlippe und setzte mit einem entschuldigenden Lächeln neu an:

»Verzeiht. Ich wollte sagen: Das ist nicht wahr. Ich bin noch niemals einem Kampfe ausgewichen. Fragt Bruder Dariusz. Er wird es Euch bestätigen.«

»Bruder Dariusz, so?« Der Geistliche wirkte ehrlich verblüfft.

»Das wundert mich, um ehrlich zu sein. Es war Bruder Dariusz, der die Anklage gegen Euch erhoben hat.«

Robin drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte Dariusz fassungslos an. Dariusz? Ausgerechnet Dariusz brachte diese absurde Anschuldigung gegen sie vor? Was um alles in der Welt ging hier vor?

Vater Johannes schien zumindest zu spüren, was in ihr vorging, denn er hob rasch die Hand und kam allem zuvor, was sie hätte sagen können. »Also gut«, seufzte er. »Wenn wir schon fast alle Ordensregeln mit Füßen treten, können wir auch ebenso gut weiter so verfahren. Bruder Dariusz, begründet diesen schweren Vorwurf, den Ihr erhebt.«

Dariusz berichtete, wie er Robin weit entfernt von den Liegenschaften der Templer in einem kleinen Küstendorf angetroffen hatte und dass er Robin mit großem Nachdruck dazu bringen musste, dem Ruf des Großmeisters zu den Waffen zu folgen.

»Aber er ist Euch gefolgt?«, vergewisserte sich Johannes und raschelte wieder mit seinen Papieren. »Ich meine: Ihr musstet ihn nicht gewaltsam zwingen oder in Ketten legen oder etwas in dieser Art?«

»Nein«, antwortete Dariusz. Er wirkte irritiert.

Vater Johannes machte sich eine Notiz und seufzte. »Fahrt fort.«

Dariusz fuhr fort. Er berichtete von dem Gefecht mit den Plünderern, in dem sich Robin durch große Zurückhaltung gegen den Feind ausgezeichnet hatte - eine dreiste Lügengeschichte - und führte als Beweis an, dass weder sie noch ihr Pferd verletzt wurden, weil sie sich von den Kampfhandlungen fern gehalten hätte.

Dariusz erzählte weiter, wie unziemlich sie sich dem Großmeister während des gemeinsamen Mahls in Safet aufgedrängt hätte. Immer wieder hätte sie während des Mahls das Gebot zu schweigen gebrochen. Doch ihre ganze Schändlichkeit habe sich erst in der Schlacht gegen Saladin gezeigt. Während die Templer in geschlossener Ordnung in das Heer Saladins eingebrochen seien, habe sie sich zur Flucht gewandt, wodurch die Schlachtreihe zerbrach und der schon sichere Sieg in einer schmählichen Flucht endete. Er behauptete, auch mehrere Zeugen dafür aufbieten zu können.

»Nur die Ruhe«, sagte Johannes. »So weit sind wir noch nicht.« Er wandte sich direkt an Robin. »Ihr habt die Vorwürfe gehört, die Bruder Dariusz gegen Euch erhebt. Was habt Ihr dazu zu sagen?«

»Das ... das ist nicht wahr«, stammelte Robin. »Ich ... ich habe mich in der Schlacht zurückgenommen, das ist wahr.«

»Er gibt es also zu«, sagte Ridefort.

»Aber nur, weil Dariusz es mir befohlen hat«, schloss Robin.

Johannes blinzelte. »Wie?«

»Albernes Gewäsch«, sagte Dariusz abfällig. »Warum sollte ich das tun?«

Vater Johannes brachte ihn mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen und wandte sich wieder direkt an Robin. »Auch wenn ich es ungern tue, Bruder, so muss ich Ritter Dariusz doch Recht geben. Warum sollte er so etwas tun, mitten in einer Schlacht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Robin mühsam beherrscht.

»Ich habe es selbst nicht verstanden. Aber er hat mir eindeutig befohlen, kein Risiko einzugehen und immer in seiner Nähe zu bleiben. Als der Angriff zusammenzubrechen begann, da hat er mir den Befehl erteilt, zu fliehen und im Feldlager auf ihn zu warten.«

»Ist das wahr?«, wandte sich Johannes an Dariusz.

Der Ritter machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten.

»Das ist in der Tat seltsam«, sagte Johannes. »Zumal es Zeugen gibt, die Bruder Robin auf dem Schlachtfeld im Kampf gesehen haben.«

»Er ist um sein Leben gerannt wie ein Hase«, sagte Dariusz verächtlich. »Die meisten unserer Brüder sind gefallen, als wir in den Hinterhalt gerieten. Unser Großmeister ist in Gefangenschaft geraten. Tausende guter Christenmenschen haben an diesem Tag ihr Leben gelassen, und genug haben gesehen, wie dieser Feigling davongerannt ist!«

»Immerhin wurde Bruder Robin während der Schlacht schwer verletzt«, gab Johannes zu bedenken. Er drehte sich wieder zu Robin um. »Wie ist es zu dieser Verletzung gekommen?«

»Das weiß ich nicht«, log Robin. »Ein verirrter Pfeil, nehme ich an.« Sie widerstand gerade noch im letzten Moment der Versuchung, mit den Schultern zu zucken.

»Was für ein Unsinn«, sagte Dariusz. »Wie schade, dass wir diesen verirrten Pfeil nicht mehr haben - es sollte mich nicht weiter wundern, wenn es einer unserer eigenen Pfeile gewesen wäre. Wie Ihr ja sicher wisst, ist es bei uns üblich, Deserteure und Fahnenflüchtige auf der Stelle zu erschießen.«

Robin wollte antworten, doch in diesem Moment flog die Tür auf, und eine schlanke, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidete Gestalt trat ein. Sofort griffen die beiden Wachen neben der Tür nach ihren Schwertern, doch sie kamen nicht einmal dazu, ihre Waffen zu ziehen. Drei, vier weitere Männer in schwarzen Kettenhemden, Helmen und Mänteln stürmten herein und hielten sie mit gezückten Schwertern in Schach, während der zuerst eingetretene mit langsamen Schritten näher kam.

Johannes schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es klatschte. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er scharf. »Was erdreistet Ihr Euch, hier ungefragt einzudringen, noch dazu mit Waffen? Wachen!«

Der Schwarzgekleidete hob rasch die Hand. »Nicht doch, Vater«, sagte er. »Das wird wohl kaum nötig sein. Ich versichere Euch, ich bin in friedlicher Absicht gekommen. Ganz im Gegenteil kann ich vielleicht das eine oder andere zur Aufklärung dieser unangenehmen Geschichte beitragen.« Er hob die Hände an den Kopf und streifte den Helm ab, doch das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war dennoch nicht zu erkennen. Der Mann trug eine Art flachen Turban, an dem ein undurchsichtiges Tuch aus schwarzer Spitze befestigt war. Alles, was Robin von seinem Gesicht erkennen konnte, war ein Paar ungewöhnlich klarer, stechend grüner Augen.

»Baldu ...«, begann sie ungläubig, brach erschrocken ab und korrigierte sich dann hastig. »Majestät?«

Balduin streifte sie mit einem kurzen, spöttischen Blick und drehte sich dann wieder zu Johannes um, der halb von seinem Stuhl aufgesprungen, nun aber mitten in der Bewegung erstarrt war.

»Ich muss mich noch einmal für die rüde Art meines Eintretens entschuldigen«, fuhr Balduin fort. »Man sagt mir einen Hang zu dramatischen Auftritten nach, und ich fürchte fast, es ist etwas Wahres daran.«

»Majestät?«, murmelte Johannes fassungslos.

Balduin wedelte mit der Rechten, die in einem dünnen Handschuh aus schwarzer Seide steckte. »Nicht doch, Vater. Dies ist ein Gericht, und auf dieser Seite des Tisches sollten Ränge und Titel nicht zählen.«

Johannes räusperte sich. Er fand seine Fassung zwar rasch wieder und setzte sich, rettete sich aber dann darin, wieder hektisch in seinen Pergamenten zu blättern.

Nicht so Ridefort. Auch er war im allerersten Moment vollkommen perplex gewesen, fing sich aber deutlich schneller wieder als Dariusz. »Bei allem Respekt, Majestät«, sagte er kühl.

»Aber dies hier ist eine reine Ordensangelegenheit - und wir befinden uns im Templum Domini, dem Hauptquartier unseres Ordens.«

Balduin drehte sich betont langsam zu ihm um. »Ich fürchte, da befindet Ihr Euch im Irrtum, mein lieber Marschall«, sagte er zuckersüß. »Und das in zweierlei Hinsicht.«

»Wieso?«, fragte Ridefort scharf.

»Fangen wir mit dem zweiten Punkt an«, antwortete Balduin.

»Muss ich Euch wirklich daran erinnern, dass ich der König von Jerusalem bin? Wem die Stadt gehört und somit auch dieser Tempel?«

»Majestät - bitte!«, sagte Johannes.

Balduin starrte Ridefort noch einen Moment aus seinen durchdringenden grünen Augen an, die plötzlich gar nicht mehr spöttisch wirkten, sondern ganz im Gegenteil so kalt und hart wie geschliffener Smaragd. Dann jedoch wandte er sich wieder an Vater Johannes und deutete eine Verbeugung an. »Verzeiht, Vater. Ich habe mich hinreißen lassen. Wie gesagt: Leider habe ich eine gewisse Schwäche für dramatische Situationen.«

An der Tür entstand erneut Bewegung, als zwei weitere Männer eintraten. Im allerersten Moment konnte Robin nicht erkennen, wer es war, weil die schwarz gekleideten Lazarusritter sie fast vollkommen verdeckten, dann jedoch traten sie zur Seite, und Robins Verwirrung nahm noch weiter zu, als sie nicht nur Bruder Abbé, sondern direkt neben ihm auch Rother erkannte. Der junge Ritter trug ein frisches, blütenweißes Gewand und auch wieder einen Schwertgurt, und anders als Abbé hatte er sich nicht vollkommen in der Gewalt. Er gab sich redliche Mühe, aber es gelang ihm nicht wirklich, den triumphierenden Ausdruck aus seinen Augen zu verbannen.

»Darf ich fragen ...?«, begann Johannes.

»Bitte verzeiht«, sagte Balduin rasch. »Diese beiden Brüder haben mich alarmiert, hierher zu kommen, um ein großes Unrecht zu verhindern.«

»Majestät?«, fragte Johannes. Ridefort wirkte plötzlich ein wenig nervös, fand Robin, während auf Dariusz’ Gesicht noch immer nicht die mindeste Regung zu erkennen war.

»Ein Unrecht, das Bruder Robin droht«, fuhr Balduin fort. Er hatte tatsächlich einen gewissen Hang für Dramatik. »Auch wenn ich ihm den Vorwurf nicht ersparen kann, zumindest zu einem gewissen Teil selbst schuld daran zu sein.«

»Bitte verzeiht, Majestät«, mischte sich Ridefort abermals ein, »doch es geht hier um eine Angelegenheit ...«

»... von großem Mut und beispielloser Tapferkeit?«, unterbrach ihn Balduin. Ridefort blickte einfach nur verwirrt, und Balduin fuhr mit einem Nicken und an Vater Johannes gewandt fort: »In der Tat, genau darum geht es. Niemals zuvor habe ich ein Beispiel von größerem Mut erlebt. Diesen jungen Ritter der Feigheit vor dem Feind zu bezichtigen ist aberwitzig! Der Pfeil, der ihn verletzt hat, galt mir. Er hat ihn mit seinem eigenen Körper aufgefangen und fast mit seinem Leben dafür bezahlt. Was für ein größeres Beispiel für Opferbereitschaft und Mut gäbe es denn noch?«

»Ist das ... wahr?«, fragte Johannes. Ridefort sah regelrecht entsetzt aus, während Rother so aussah, als würde er im nächsten Augenblick einfach in Ohnmacht fallen. Nur Dariusz starrte sie beinahe hasserfüllt an. Aber nicht nur sie.

»Ist das wahr, Bruder Robin?«, fragte Johannes.

Robin antwortete nicht gleich. Sie wollte es, aber ihre Lippen waren plötzlich wie ausgetrocknet. Alles, was sie fertig brachte, war ein mühsam angedeutetes Nicken.

»Warum habt Ihr uns nichts davon gesagt?«

»Weil ich ...« Robin druckste einen Moment herum und rettete sich schließlich in ein hilfloses Achselzucken.

»Weil ich es ihm befohlen hatte«, sagte Balduin. Das entsprach ganz und gar nicht der Wahrheit, aber Robin war viel zu verstört, um irgendwie darauf zu reagieren. Ihr Blick wanderte verstört von Balduin zu Rother, wieder zurück und abermals zu Rother. Der junge Ritter grinste immer breiter, als wisse er als Einziger hier um ein Geheimnis, von dem alle anderen noch nichts wussten, und könne es kaum noch für sich behalten. Vielleicht, dachte Robin, war es aber auch gerade anders herum. Vielleicht war sie die Einzige, die es nicht kannte.

»Ihr habt ihm befohlen, zu schweigen?«, vergewisserte sich Johannes. »Warum ...«, er räusperte sich fast erschrocken, »... wenn ich fragen darf, Majestät.«

»Sagen wir, aus Gründen der Staatsräson«, erwiderte Balduin.

»Ich habe diesem jungen Ritter mein Leben zu verdanken. Bin ich vermessen, anzunehmen, dass das diesen unsinnigen Vorwurf entkräften dürfte?«

»Und was ist mit all den Männern, die diesen tapferen Ritter davonreiten sahen, als wir in den Hinterhalt gerieten?«, fragte Ridefort störrisch. »Irren sie sich alle?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Balduin gelassen. »Ich war nicht dabei.«

»Soll ich Ihnen vielleicht befehlen, sich geirrt zu haben?«, fragte Ridefort. Seine Augen blitzten kampflustig. War sein Respekt vor dem König so gering, dachte Robin, oder sein Zorn über die vermeintliche Schande, in seinem eigenen Haus zurechtgewiesen zu werden, so groß?

»Warum fragen wir nicht ...« Balduins stechend grüne Augen suchten Dariusz und musterten sein Gesicht ungefähr so interessiert, wie er ein ekliges Insekt betrachtet hätte. »Wie war noch einmal Euer Name?«

»Dariusz«, antwortete der Gefragte kühl.

Balduin nickte. »Richtig. Fragen wir doch Bruder Dariusz«, sagte er noch einmal. »Ist es wahr, dass Ihr diesem jungen Ritter den Befehl erteilt habt, das Schlachtfeld zu verlassen und nach Safet zurückzukehren?«

Robin konnte Dariusz ansehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Natürlich würde er alles abstreiten, und sie musste nicht einmal in Rideforts Gesicht blicken, um zu wissen, dass es dann um sie geschehen war. Feigheit im Angesicht des Feindes war gleich hinter Ketzerei (und für so manchen Ordensbruder insgeheim vermutlich noch davor) das schwerste Verbrechen, dessen sich ein Tempelritter schuldig machen konnte. Vermutlich glaubte Ridefort sogar, dass es so gewesen war. Schließlich hatte er gesehen, wie sie davongeritten war. Und nicht nur er.

Nein, dachte sie niedergeschlagen. Wenn Dariusz bei seiner Darstellung blieb, dann würde sie nicht einmal die Fürsprache des Königs retten können.

»Ja«, sagte Dariusz schließlich.

Balduin zog die Brauen zusammen. »Ja - was?«

»Ja«, wiederholte Dariusz. Er klang trotzig. »Robin sagt die Wahrheit. Ich habe diesen Befehl erteilt. Aber erst nachdem ich auf alle anderen erdenklichen Arten versucht habe, Robin vom Schlachtfeld fern zu halten.«

Für einen Moment wurde es so still, als hätte jedermann im Raum den Atem angehalten. Robin starrte Dariusz an und fragte sich, ob sie richtig gehört hatte.

»Ihr habt was?«, keuchte Ridefort. Sein Gesicht verlor jede Farbe.

»Ich habe Robin von Tronthoff befohlen, das Schlachtfeld zu verlassen, um nach Safet zu flüchten«, bestätigte Dariusz. »Aber das wäre nicht nötig gewesen, wenn er die Warnungen, die ich ihm zuvor habe zuspielen lassen, ernst genommen hätte. Oder wenn es mir gelungen wäre, ihn mit einem Botenritt aus dem Geschehen fern zu halten, wie ich es noch am Morgen der Schlacht versucht habe.« Seine Stimme klang ebenso trotzig, wie die Haltung aussah, die er unbewusst eingenommen hatte. Aber er hielt Balduins Blick dennoch stand und vermied es sogar, Ridefort anzusehen, dem er gerade indirekt einen Vorwurf gemacht hatte: Schließlich war es der Ordensmarschall höchstpersönlich gewesen, der ihm untersagt hatte, Robin als Bote nach Safet zurückzuschicken.

Wieder kehrte für eine kleine Ewigkeit eine schon fast unheimliche Stille ein, und Robin dachte nur eines: also doch.

Sowohl die in Latein verfasste Warnung, die sie in ihrem Zimmer in Safet vorgefunden hatte, als auch der gefährlich aussehende, aber ungiftige Skorpion, den man in ihr Zelt geworfen hatte, waren nichts weiter als der Versuch von Dariusz’ Männern gewesen, ihr Angst zu machen und zu verhindern, dass sie an der Schlacht teilnahm.

»Womit Ihr mir zweifellos das Leben gerettet habt, Ritter Dariusz«, sagte Balduin schließlich. »Denn wäret Ihr nicht so sehr um das Wohl Bruder Robins besorgt gewesen, dann wäre er womöglich gefallen, bevor er mich aus meiner unwürdigen Lage am Flussufer befreien konnte. Doch sosehr ich Euch auch zu Dank dafür verpflichtet sein mag - würdet Ihr mir den Grund für diesen ... äh ... ungewöhnlichen Befehl verraten?«

»Nein«, antwortete Dariusz. »Bei allem Respekt, Majestät, doch es handelt sich hier um eine reine Ordensangelegenheit, bei der ich keiner weltlichen Instanz Rechenschaft schuldig bin.«

Nicht nur Robin hielt für einen Moment den Atem an. Dariusz hatte ja möglicherweise sogar Recht - aber das änderte nichts daran, dass seine Worte eine glatte Unverschämtheit waren.

»Wie bitte?«, fragte Balduin spröde.

»Ich will nicht respektlos erscheinen, Majestät«, sagte Dariusz. Er hielt Balduins Blick weiter stand, und seine Stimme verlor auch nicht an Sicherheit. Robin war noch immer zutiefst verwirrt - wie jedermann hier. Aber da war auch plötzlich ein neues, ungutes Gefühl in ihr. Irgendetwas war hier nicht so, wie es schien. »Es ist nur so, dass es von existenzieller Bedeutung für unseren Orden war, dass ... Bruder Robin die Schlacht überlebt und unbeschadet hierher zurückkehrt.«

Ein eisiger Schauer lief Robin über den Rücken, als sie hörte, wie Dariusz das Wort Bruder aussprach. Auch Ridefort sah plötzlich zutiefst verwirrt aus und warf ihr einen raschen, verstörten Blick zu.

»Bruder Robin?«, vergewisserte sich Balduin. »Ich habe Euch richtig verstanden, Dariusz? Wir sprechen von demselben Ritter Robin, einem Eurer jüngsten Ordensbrüder, über den kaum jemand etwas weiß?«

Dariusz schwieg.

»Ich verstehe«, sagte Balduin. Er schoss einen ärgerlichen Blick in Rideforts Richtung ab, dann hob er die Arme und klatschte zweimal in die Hände. »Alles hinaus!«, befahl er lautstark. »Lasst uns allein! Alle!«

Die Männer des Lazarusordens gehorchten schweigend, während die beiden Tempelritter neben der Tür erst gingen, nachdem ihnen Ridefort mit einem kaum merklichen Nicken sein Einverständnis signalisiert hatte. Auch Rother wollte sich umwenden, doch Abbé hielt ihn rasch am Arm zurück und schüttelte den Kopf.

»Nun?«, fragte Balduin, nachdem sie allein waren. Er klang mittlerweile hörbar ungeduldig. Als Dariusz nicht schnell genug antwortete, fuhr er mit einer ärgerlichen Bewegung zu Ridefort herum. »Marschall! Würdet Ihr Euren sonderbaren Bruder vielleicht davon in Kenntnis setzen, dass ich hier derjenige mit einer Schwäche für dramatische Auftritte bin?«

»Majestät, bitte«, sagte Dariusz mit perfekt gespielter Nervosität. »Ich weiß, mein Verhalten muss Euch sonderbar vorkommen, aber es ... es fällt mir nicht leicht weiterzusprechen. Was ich Euch ...«, er wandte sich mit ernstem Gesichtsausdruck an Ridefort, »... und Euch zu sagen habe, ist fast zu ungeheuerlich, um es auszusprechen.«

»Und was sollte das Ungeheuerliches sein?«, fragte Ridefort.

Robins Herz begann immer heftiger zu klopfen. Es war alles verloren. Dariusz wusste Bescheid. Er hatte es die ganze Zeit über gewusst, schon bevor sie sich in dem kleinen Fischerdorf an der Küste wiedergesehen hatten. Und er hatte bis zu diesem Moment gewartet, um ihr Geheimnis zu offenbaren. Sie warf einen stummen, flehenden Blick in Abbés Gesicht, aber was sie sah, steigerte ihre Verwirrung eher noch. Von allen hier im Raum war Abbé der Einzige, der genauso gut wie sie wusste, worauf Dariusz hinauswollte, und doch wirkte er nicht im Geringsten beunruhigt. Im Gegenteil. Sie meinte sogar, etwas wie ein Lächeln zu erkennen, tief in seinen Augen.

Dariusz spielte weiter perfekt den Erschütterten. Bevor er weitersprach, drehte er sich demonstrativ zu Robin um und maß sie mit einem langen, ebenso durchdringenden wie eisigen Blick. Dann wandte er sich wieder Ridefort und dem König zu. »Bitte vergebt mir, Bruder Gerhard«, sagte er. Seine Stimme klang ruhig, aber auf jene bestimmte Art beherrscht, als brauche er seine ganze Kraft dazu. »Was ich getan habe, war falsch, das weiß ich. Und wenn Ihr mich dafür bestrafen wollt, so werde ich klaglos jede Strafe annehmen, die Ihr aussprecht. Doch was ich getan habe, geschah nur aus dem Wunsch heraus, Schaden von unserem Orden fern zu halten.« Er atmete hörbar ein und streifte Robin wieder mit einem kurzen, eisigen Blick. »Es ist wahr, dass ich Bruder Robin als Einzigem unter allen Tempelrittern das Privileg gewährt habe, die Nacht vor der Schlacht in einem eigenen Zelt zu verbringen. Und das geschah aus dem gleichen Grund, aus dem ich ihm während des größten Schlachtgetümmels den Befehl erteilt habe, nicht zu kämpfen und am Schluss zu fliehen.«

»Und warum?«, fragte Balduin.

»Weil ich auf keinen Fall zulassen konnte, dass Robin verletzt oder gar tot auf dem Schlachtfeld aufgefunden wird«, antwortete Dariusz.

Natürlich nicht, dachte Robin bitter. Plötzlich war ihr alles klar. Er hatte sie hier gebraucht. Genau hier und in dieser Situation. Panik griff nach ihr.

»Kurz vor der Schlacht«, fuhr Dariusz fort, »habe ich etwas erfahren, was auf keinen Fall allgemein bekannt werden darf. Ein Geheimnis, das durchaus die Existenz unseres Ordens bedrohen könnte.«

»Und welches Geheimnis wäre das?«, fragte Balduin.

Statt zu antworten, zog Dariusz seinen Dolch. Balduin wich einen halben Schritt zurück, und Ridefort und Abbé legten gleichzeitig die Hand auf ihre Waffen, doch Dariusz machte auch zugleich eine rasche, besänftigende Geste mit der freien Hand.

»Nein, keine Sorge«, sagte er. »Ich will niemandem etwas zuleide tun, das schwöre ich. Doch was ich Euch zu sagen habe, ist zu ungeheuerlich. Ihr würdet es mir nicht glauben. Deshalb will ich, dass ihr alle Euch Bruder Robin anseht!«

Und damit fuhr er herum, war mit einem einzigen Schritt bei ihr und schlitzte ihr Kleid vom Halsausschnitt bis zur Hüfte auf.

Es ging viel zu schnell, als dass Robin noch irgendetwas tun konnte. Dariusz’ Klinge zerteilte den zähen Stoff mit einem reißenden, seidigen Laut, ohne dass die Klinge ihre Haut auch nur berührte. Der zerrissene Stoff rutschte rechts und links von ihrer Schulter, und Dariusz packte sie grob am Arm und riss sie so brutal herum, dass sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.

Die Zeit schien stehen zu bleiben. Robin erschrak nicht einmal wirklich, aber sie war wie gelähmt. Sie wollte nach ihrem Kleid greifen und es nach oben ziehen, aber sie konnte sich nicht rühren. Alles rings um sie herum schien zu erstarren.

Ridefort ächzte. Seine Augen quollen vor Entsetzen schier aus den Höhlen, und Robin konnte hören, wie Vater Johannes hinter ihr nach Luft japste. Seltsamerweise schienen Ridefort und er jedoch die Einzigen hier zu sein, die der Anblick ihrer Brüste schockierte. Rother senkte verlegen den Blick, begann mit dem linken Fuß zu scharren und bekam tatsächlich rote Ohren. Abbé lächelte, und der König sagte: »Hübsch.«

»Sie ist eine Frau!« Das letzte Wort hatte Dariusz geschrien.

Niemand reagierte. Ridefort starrte sie weiter aus aufgerissenen Augen an, und es war klar, dass er einfach nicht begriff, was er sah, und es noch sehr viel weniger begreifen wollte.

Schließlich krächzte Vater Johannes: »Bedecke deine Blöße, Weib! Wir sind hier in einem Haus Gottes.«

Die Worte brachen den Bann. Robin riss sich los, raffte mit der linken Hand ihr zerschnittenes Kleid zusammen und war mit zwei Schritten bei Abbé, um sich an seine Brust zu werfen. Abbé legte schützend den Arm um ihre Schulter.

»Was ... was hat das ... zu bedeuten?«, stammelte Ridefort.

»Das solltet Ihr vielleicht besser Bruder Abbé fragen«, sagte Dariusz verächtlich. Er ließ eine genau bemessene Pause folgen, dann wandte er sich wieder an den König. »Unser Bruder Robin, Majestät«, sagte er betont, »ist eine Frau.«

»Aber das wusste ich doch, mein lieber Freund«, sagte Balduin sanft.

Robin hob mit einem Ruck den Kopf, und auch Ridefort fuhr herum und starrte nun den König ebenso fassungslos an wie sie gerade.

»Was ... habt Ihr gesagt?«, murmelte Dariusz.

»Jedermann hier im Raum wusste es«, bestätigte Balduin und fügte mit einem raschen, um Vergebung heischenden Blick in Rideforts Richtung hinzu: »Abgesehen von Euch, Marschall, wofür ich Euch um Vergebung bitte. Euer Großmeister Odo von Saint-Amand wollte Euch informieren, doch wie es scheint, hat ihm das Schicksal keine Gelegenheit mehr dazu gegeben.«

Robin blickte verwirrt von einem zum anderen. Sie verstand nichts mehr.

»Bruder Abbé?«, murmelte Ridefort hilflos.

Abbé nahm den Arm von ihrer Schulter und trat einen Schritt vor. »Es ist so, wie der König sagt«, bestätigte er. »Die Geschichte ist lang und kompliziert, doch ich will versuchen, sie in wenige Worte zu fassen. Es ist wahr. Robin ist eine Frau. Um genau zu sein: Sie ist das Eheweib Prinz Salims, des Sohnes Sheik Raschid Sinans.«

»Des Alten vom Berge?«, fragte Ridefort. Er sah Robin überrascht und mit neuem Ausdruck an.

»Ja«, bestätigte Abbé. »Er ist einer unserer wichtigsten Verbündeten, wie Ihr wisst. Vor fünf Jahren äußerte er den Wunsch, unsere Heimat kennen zu lernen, und Odo und ich kamen überein, ihn in der Rolle eines vermeintlichen Sklaven in eine kleine Komturei nach Friesland zu schicken.« Er deutete auf Robin. »Dabei hat er sich in ein Mädchen aus dem Nachbardorf verliebt. Es war sein Wunsch, sie zum Weib zu bekommen und mit sich nach Hause zu nehmen.« Er hob die Schultern. »Ein geringer Preis für eine noch engere Verbindung zwischen uns und den Assassinen. Und da Robin einverstanden war, kamen der Großmeister und ich überein, ihm diesen Wunsch zu erfüllen.«

»Das ... das ist doch ... Unsinn«, murmelte Dariusz. Er war sehr blass geworden. »Ihr könnt viel behaupten, jetzt, wo Odo nicht da ist, um diese haarsträubende Geschichte zu bestätigen.«

»Wir hielten es für eine gute Idee, Robin in der Verkleidung eines jungen Ordensbruders nach Masyaf zu bringen«, fuhr Abbé unbeeindruckt fort. »Die künftige Schwiegertochter des Alten vom Berge wäre eine zu verlockende Geisel für jeden Stammesfürsten in diesem Land gewesen. Seither ist sie die Frau Prinz Salims.«

»Das ist lächerlich«, schnaubte Dariusz.

»Scheich Raschid Sinan befindet sich in Jerusalem«, fuhr Abbé fort, scheinbar immer noch, ohne Dariusz überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. »Ich habe bereits einen Mann zu ihm geschickt. Er und sein Sohn werden in Kürze hier sein, um Euch meine Worte zu bestätigen.«

»Ein Verräter und ein Heide«, sagte Dariusz. Seine Stimme bebte. »Was für hervorragende Zeugen!«

»Und ein König«, wandte Balduin ein. »Nun gut - was von ihm übrig ist.«

»Ihr ... habt davon gewusst?«, murmelte Ridefort ungläubig.

»Und Ihr wart damit einverstanden?«

»Ich fürchte«, seufzte Balduin. »Obwohl ich niemals zugestimmt hätte, hätte ich Bruder Robin damals schon gekannt.« Er lachte leise. »Dann hätte ich sie zweifellos für mich beansprucht.«

Seine Augen funkelten, während er Robin ansah, und obwohl sie sein Gesicht hinter dem schwarzen Tuch nicht erkennen konnte, glaubte sie sein Lächeln regelrecht zu spüren. Sie empfand ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, aber sie fragte sich auch, warum er für sie log. Immerhin war er der König.

»Das ... das ist nicht wahr«, beharrte Dariusz. Mittlerweile klang seine Stimme fast verzweifelt. »Diese verrückte Geschichte könnt Ihr doch nicht glauben, Gerhard.«

Langsam wandte sich Abbé ganz zu ihm um. Etwas in seinem Blick erlosch. »Es war niemals geplant, Robin tatsächlich in der Rolle eines Ordensbruders auftreten zu lassen oder sie gar in den Kampf zu schicken. Und das wisst Ihr sehr wohl, Dariusz.«

»Was ... was soll das heißen?«, fragte Dariusz. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.

»Ich denke, das wisst Ihr besser als ich.« Plötzlich war Abbés Stimme so hart und kalt wie Glas. »Gebt Euch keine Mühe, es abzustreiten, Dariusz. Wir haben den Spion gefangen, den Ihr nach Masyaf geschickt habt, und glaubt mir, Raschid Sinan kennt Mittel und Wege, einen Mann zum Reden zu bringen. Er hat uns alle Einzelheiten des feigen Mordanschlags auf den König verraten - und Euer Ziel, über diesen Umweg in die Spitze des Ordens aufzusteigen!«

»Das ist ...«, fuhr Dariusz auf, aber Abbé unterbrach ihn mit einer kraftvollen Handbewegung. »Es ist uns dadurch mittlerweile bekannt, dass Ihr mit Herzog Ferdinand von Falkenberg gemeinsame Sache gemacht habt, der sich selbst zum Herrscher von Jerusalem und allen zugehörigen Ländereien aufschwingen wollte«, fuhr er eine Spur lauter fort.

»Was soll das heißen?«, polterte Dariusz. »Wollt Ihr mir etwa unterstellen, in ein Mordkomplott verwickelt zu sein, bei dem es um die Herrschaft in Outremer ging? Das ist lächerlich!«

Abbé nickte grimmig. »So ungeheuerlich das klingt: Genau das will ich. Der Herzog sollte König Balduin und Ihr Großmeister Odo von Saint-Amand nachfolgen. Voraussetzung war natürlich, dass Ihr sowohl König Balduin aus dem Weg räumen musstet wie Odo - und auch Ordensmarschall Gerhard von Ridefort, der in der Hierarchie über Euch steht.« Vater Johannes fuhr so heftig in die vor ihm liegenden Pergamente, dass ein ganzer Stoß von ihnen zu Boden segelte, und Ridefort stieß ein überraschtes Keuchen aus. Doch bevor einer von ihnen beiden etwas sagen konnte, fuhr Abbé auch schon mit schneidender Stimme fort: »Nehmt zur Kenntnis, Dariusz, dass Eure heimtückischen Pläne zur Gänze fehlgeschlagen sind. Die Attentäter aus den Reihen der weltlichen Ritter, die den König und seine Leibwache während der Schlacht töten sollten, haben wir bereits dingfest gemacht - genauso wie den Meuchelmörder, den Ihr sofort nach der Euch gelegen gekommenen Gefangennahme Großmeister Odos auf Marschall Ridefort angesetzt habt.«

»Das ist ... ungeheuerlich«, brach es aus Ridefort hervor. Sein Gesicht war bleich, und in seinen Augen funkelte ein fast unheimliches Feuer. »Dariusz, wenn das stimmt ...«

»Es stimmt«, unterbrach ihn König Balduin beinahe fröhlich, während Johannes für einen Moment hinter seinem Pult verschwand, um sich zu bücken, die herabgefallenen Pergamente mit einer erstaunlich zielsicheren und raschen Bewegung aufhob und sie so kraftvoll vor sich auf den schmalen Tisch donnerte, dass Robin unwillkürlich zusammenzuckte. »Jedes einzelne Wort von Bruder Abbé entspricht vollständig der Wahrheit.«

Obwohl er nicht einmal die Stimme erhoben hatte, hallten Balduins Worte unangenehm laut in dem Raum wider. Robins Blick irrte von einem zum anderen. Schließlich war es Vater Johannes, der als Erster seine Sprache wiederfand. Er räusperte sich umständlich, wischte mit einer erregten Bewegung beinahe die Papiere wieder zu Boden, die er gerade erst so umständlich aufgehoben hatte, ohne wohl aber darüber oder über Abbés vernichtend vorgetragene Anklage den Sinn der eigentlichen Verhandlung aus den Augen verloren zu haben, und deutete mit einer leicht zitternden Altmännerhand auf Robin. »Aber was ist mit ...«, begann er mit vor Empörung merkwürdig hohl klingender Stimme, »was ist mit ... mit diesem Frauenzimmer ...«

»Das ist schnell erzählt«, sagte Abbé. Er drehte sich zu Ridefort um, deutete aber zugleich anklagend auf Dariusz. »Bruder Dariusz hat von unserem Täuschungsmanöver bezüglich des kleinen Friesenmädchens und der anschließenden Heirat mit Prinz Salim erfahren, und auch von Robins Vorliebe, manchmal weiter in den Kleidern eines Ordensbruders herumzulaufen. Eine kindische Marotte, die der Prinz ihr aus Liebe durchgehen ließ. Er hat den richtigen Moment abgepasst, sie zu entführen, aus keinem anderen Grund als dem, sie hierher zu bringen und den Großmeister, mich und nicht zuletzt den König zu brüskieren, sollten seine anderen Pläne fehlschlagen.« Er wandte sich wieder zu Dariusz um, und seine Stimme wurde noch kälter. »Bruder Dariusz, ich klage Euch des Verrates an unserem Orden und Eurem Großmeister an.«

»Und des Hochverrats, nicht zu vergessen«, fügte Balduin im Plauderton hinzu.

»Das ... das ist doch absurd!«, krächzte Dariusz.

Ridefort starrte Dariusz zwei, drei, vier endlose schwere Atemzüge lang an. Sein Gesicht hatte jeden Ausdruck verloren. Dann klatschte er in die Hände und rief laut: »Wache!«

Die Tür flog auf, und die beiden Templer kamen herein, auf dem Fuß gefolgt von zwei Rittern des Lazarusordens. Balduin schüttelte fast unmerklich den Kopf, und sie zogen sich wieder zurück.

Ridefort deutete auf Dariusz. »Nehmt diesen Verräter fest«, sagte er kalt. »Entwaffnet ihn. Und nehmt ihm das Ordensgewand ab. Er hat das Kleid des Herrn lange genug besudelt.«

Dariusz schwieg. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, und selbst aus seinen Augen schien jedes Leben gewichen zu sein. Mit steifen, umständlichen Bewegungen zog er das Schwert aus dem Gürtel und reichte es einem der beiden Soldaten mit dem Griff voran. Als ihn die beiden an den Armen ergreifen wollten, riss er sich mit einer trotzigen Bewegung los und ging hoch aufgerichtet zwischen ihnen hinaus.

Ridefort sah ihm fassungslos nach. Lange Zeit stand er einfach schweigend da, dann wandte er sich mit einem knappen Nicken zuerst an Balduin, dann an Abbé und verließ schließlich ohne ein weiteres Wort den Raum. Robin würdigte er nicht einmal eines Blickes.

Robin wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, aber dann war ihre Kraft endgültig aufgebraucht. Ihre Knie wurden weich. Der ganze Raum begann sich um sie zu drehen, und plötzlich dröhnten ihre eigenen Herzschläge wie das Trommeln einer riesigen Kesselpauke in ihren Ohren. Sie machte einen torkelnden Schritt zur Seite, streckte hilflos die Arme aus und wäre gestürzt, wäre Abbé nicht rasch hinzugesprungen, um sie aufzufangen.

»Ganz ruhig«, sagte Abbé rasch. »Jetzt ist alles in Ordnung. Dir kann nichts mehr passieren.« Behutsam ließ er sie zu Boden sinken. »Atme einfach tief durch. Ich habe nicht allzu viel Erfahrung in solcherlei Dingen, aber man hat mir gesagt, das soll helfen.«

Robin verstand nicht, was er damit meinte, aber es interessierte sie auch nicht, nicht in diesem Moment. Wie durch einen Vorhang aus fließendem Wasser hindurch hörte sie, wie auch Vater Johannes und nach einem weiteren Moment der König den Raum verließen, aber es vergingen noch einmal schwer endlose Minuten, bis das Schwindelgefühl zwischen ihren Schläfen so weit verebbte, dass sie wieder klar denken konnte und Abbés Gesicht sich aus einem Wirbel ineinander fließender Farben wieder neu zusammensetzte.

»Es ist alles vorbei«, sagte Abbé lächelnd. »Der Albtraum hat ein Ende. Salim ist auf dem Weg hierher. Er wird dich nach Hause bringen.«

Robin hörte gar nicht hin. »Das ... das war doch nicht die Wahrheit, was Ihr gerade erzählt habt, oder?«, fragte sie stockend.

»Dass Dariusz ein Hochverräter ist?«, fragte Abbé und nickte.

»O doch. Dariusz hat dich aus keinem anderen Grund entführt. Er wollte Odo brüskieren, und mich gleich dazu. Mach dir keine Sorgen. Du wirst ihn niemals wiedersehen.«

»Das meine ich nicht«, beharrte Robin. »Das mit Odo und eurem Plan, mich an Sheik Sinan zu verkaufen.«

Abbé grinste. »Es klang doch überzeugend, oder?«

»Und wenn Odo zurückkommt und Ridefort die Wahrheit erfährt?«

Abbés jungenhaftes Grinsen erlosch und machte einem Ausdruck von großem Ernst Platz. »Odo von Saint-Amand wird nicht zurückkommen«, erklärte er bekümmert. »Er ist tot.«

»Aber Ihr habt doch selbst gesagt ...«

»Niemand weiß davon«, fuhr Abbé fort. »Und es wäre gut, wenn das noch eine Weile so bliebe, aus verschiedenen Gründen.« Er schüttelte den Kopf und raffte sich wieder zu einem Lächeln auf. »Aber das soll nicht mehr deine Sorge sein.«

»Aber ... aber der König«, murmelte Robin. »Er wusste, dass ...«

»... du eine Frau bist?«, unterbrach sie Abbé. »Das konnte ihm schwerlich verborgen bleiben, mein Kind. Nachdem dich der Armbrustbolzen getroffen hatte, haben Salim und er eine halbe Stunde um dein Leben gerungen. So etwas ist schwer möglich, wenn man ein Wams und ein Kettenhemd trägt, weißt du?«

»Oh«, machte Robin. »Dann hat er ...?«

»... dir das Leben gerettet?« Abbé nickte. »Zug um Zug, wenn du so willst. König Balduin ist ein Mann, der seine Schulden sehr schnell zahlt.«

»Aber warum hat er nichts gesagt?«, wunderte sich Robin.

»Weil König Balduin nicht nur ein Mann von großer Ehre, sondern auch von großer Klugheit ist«, antwortete Abbé.

Robin versuchte aufzustehen, aber sie hatte ihre Kräfte überschätzt. Sie kam erst beim dritten Versuch und mit Abbés Hilfe auf die Füße, und Abbé ließ ihren Arm auch nicht los, als sie stand.

»Glaubst du, dass du es alleine nach draußen schaffst?«, fragte er besorgt.

»Kein Problem«, behauptete Robin. »Ich brauche nur ein paar Augenblicke Ruhe. Meine Schulter schmerzt.«

»Aha«, sagte Abbé.

»Und ein neues Kleid«, fügte Rother hinzu.

Robin sah an sich hinab und stellte fest, dass ihr zerschnittenes Kleid schon wieder auseinander gefallen war und deutlich mehr von ihrem Körper enthüllte, als es verbarg. Es war ihr nicht einmal mehr wirklich peinlich. Dafür war sie einfach zu müde.

»Was das angeht, kann ich vielleicht behilflich sein.« Balduin war wieder hereingekommen, ohne dass sie es überhaupt gemerkt hatte. Er war nicht allein. Zwei Ritter im matten Schwarz des Lazarusordens standen hinter ihm. Robin konnte ihre Gesichter hinter den schwarzen Helmen nicht erkennen, doch sie glaubte ihre Blicke regelrecht zu spüren. Plötzlich war ihr ihre Nacktheit doch peinlich. Hastig raffte sie ihr Kleid über der Brust zusammen, doch das einzige Ergebnis, das ihre hastige Bewegung hervorbrachte, war ein leises, amüsiertes Lachen, das hinter Balduins Schleier hervordrang.

»Ihr braucht keine Angst um Eure Tugend zu haben, holde Jungfer«, sagte er spöttisch. »Ich bin aus gewissen Gründen ... äh ... keine Gefahr mehr für eine Frau, und ich fürchte, dasselbe gilt auch für meine Männer. Doch vielleicht kann ich Euch bei einem anderen Problem behilflich sein.«

Er gab einem seiner Männer einen Wink. Der Lazarusritter ließ sich vor ihr in die Hocke sinken und legte etwas auf den Boden, das sie erst wirklich erkannte, als er aufstand und sich rückwärts gehend entfernte. Es war ein schmuckloses, schwarzes Gewand, dessen bloßer Anblick ihr einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

»Keine Sorge«, sagte Balduin spöttisch. »Es ist ganz neu. Keiner meiner Männer hat es je getragen.«

Robin sah ihn weiter verstört an. Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte. Mit einem Hilfe suchenden Blick wandte sie sich an Abbé, aber sie erntete auch jetzt nur ein sachtes, spöttisches Lächeln, in dem etwas sonderbar Wissendes war, das sie immer mehr beunruhigte.

Balduin streckte die Hand aus, und der Ritter hinter ihm reichte ihm ein gewaltiges Schwert.

»Ich bin Euch noch etwas schuldig, Bruder Robin«, sagte er spöttisch. »Und ich bin es gewohnt, meine Schulden zu begleichen.« Seine Stimme wurde kühler, nahm aber zugleich auch einen offizielleren Ton an. »Kniet nieder, Robin«, befahl er.

Robin tauschte einen verwirrten Blick mit Abbé. Er nickte. Es ist alles in Ordnung, signalisierte sein Blick.

Robin ließ sich mit klopfendem Herzen auf die Knie sinken, und Balduin streckte den Arm aus und berührte ihre rechte Schulter mit der Schwertklinge.

»Ritter Robin«, sagte er feierlich. »Hiermit ernenne ich Euch zum Ehrenhauptmann meiner Leibgarde und verleihe Euch den Titel Schwert des Königs.« Sein Schwert berührte auch ihre andere Schulter, aber nur sanft, kaum mehr als ein Hauch. Dann trat er zurück, drehte das Schwert um und reichte ihr die Klinge mit dem Griff voran. Robin griff danach und starrte die Waffe an, ohne wirklich zu verstehen. Das Schwert war sehr groß, dafür aber überraschend leicht und perfekt ausbalanciert. Eine Waffe, die zwar vollkommen aussah, in Güte und Qualität aber der gleichkam, die Salim für sie hatte anfertigen lassen. Klinge, Parierstange und Griff waren vollkommen schwarz. Der einzige Schmuck waren fünf winzige, blass silberne Kreuze, die in den Knauf eingraviert waren; das Symbol der königlichen Leibgarde.

»Erhebt Euch, Ritter Robin«, sagte der König feierlich. »Lasst jeden wissen, dass Ihr vom heutigen Tage an unter meinem persönlichen Schutz steht. Wer die Hand gegen Euch erhebt, der erhebt sie zugleich auch gegen mich. Und nun nehmt Euer Schwert, Euer Gewand und den Segen des Königs, Robin, und geht nach Hause.«

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