18. KAPITEL


Selbst über die große Entfernung hinweg sah Robin, wie Ridefort überrascht den Kopf wandte und erst Dariusz, dann sie und dann wieder Bruder Dariusz anstarrte, und für einen winzigen Moment wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ein Teil von ihr, der immer noch Tempelritter war und sich an den Eid gebunden fühlte, den sie vor so langer Zeit abgelegt hatte, drängte danach, weiterzulaufen und ihren Platz an der Seite ihrer Ordensbrüder einzunehmen, auch wenn das vermutlich ihren sicheren Tod bedeutet hätte, aber da war plötzlich noch eine andere, mächtigere Stimme, und diese Stimme wollte nichts anderes als leben. Nicht einmal für sich. Sie konnte das Gefühl nicht begründen - und doch wusste sie plötzlich einfach, dass ihr Leben nicht mehr ihr allein gehörte, sie nicht das Recht hatte - nicht mehr! -, damit zu verfahren, wie es ihr beliebte, sondern dass da noch etwas anderes, Wichtigeres war, für das sie weiterleben musste. Sie machte nur noch einen einzigen, stolpernden Schritt, dann blieb sie stehen und verschwendete noch eine weitere, kostbare Sekunde damit, hilflos zu Dariusz und den anderen hinzusehen. Dann aber fuhr sie auf dem Absatz herum und stürmte los, so schnell sie konnte.

Was nicht besonders schnell war. Dass die Pfeile ihr Kettenhemd und ihren Helm nicht durchschlagen hatten, bedeutete nicht, dass sie nicht verletzt war. Robin spürte, dass sie aus zahllosen Schrammen und Abschürfungen blutete, und jeder einzelne Muskel in ihrem Körper schien verkrampft zu sein; es bereitete ihr immer größere Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und das Schwert in ihrer Hand schien plötzlich Zentner zu wiegen. Hinter ihr erscholl ein gewaltiges Krachen und Bersten, gefolgt von einem Chor aus Schmerz- und Wutschreien, doch Robin wagte es nicht, sich auch nur umzusehen, sondern raffte im Gegenteil all ihre verbliebene Kraft zusammen und stolperte schneller weiter.

Trotzdem hätte sie es nicht geschafft, wäre in diesem Moment nicht ein dritter Schutzengel aufgetaucht, den ihr das Schicksal sandte. Er erschien in Gestalt eines reiterlosen Pferdes im Weiß und Rot der Tempelritter, das plötzlich wie aus dem Nichts neben ihr stand und sie aus großen, verängstigten Augen anblickte.

Robin verschwendete keine Zeit damit, darüber nachzudenken, ob dieses neuerliche Wunder nun purer Zufall war oder Gott vielleicht tatsächlich etwas Besonderes mit ihr vorhatte. Mit dem letzten bisschen Kraft, das sie aufbringen konnte, griff sie nach dem Zaumzeug des Pferdes, langte mit der anderen Hand zum Sattelhorn und zog sich mit allerletzter Anstrengung hinauf. Das Pferd wieherte nervös und begann unruhig auf der Stelle zu tänzeln, sodass sie um ein Haar sofort wieder abgeworfen worden wäre, beruhigte sich aber dann, als es das vertraute Gewicht eines Reiters auf dem Rücken spürte. Robin schob mit zitternden Fingern das Schwert in die Scheide, griff mit beiden Händen nach den Zügeln und drehte sich nun doch im Sattel um.

Was sie sah, war nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Es war schlimmer. Wie durch ein Wunder flatterte das Baussant immer noch über dem Schlachtfeld, doch von dem Mann, der es hielt, und seinen Brüdern war nichts mehr zu sehen. Der Bereich vor dem Talausgang war schwarz von Reitern, die von allen Seiten zugleich auf die Tempelritter eindrangen. Robin wusste, dass die Männer keine Chance hatten. Sie kam sich wie eine Verräterin vor.

Doch ihr wurde auch klar, dass sie keineswegs außer Gefahr war. Auch wenn das letzte Gefecht der Tempelritter zwei- oder dreihundert Schritte hinter ihr stattfand, so wurde doch auch überall rings um sie herum gekämpft. Schon war ein weiterer Sarazene auf sie aufmerksam geworden und galoppierte, seinen Speer unter dem Arm angelegt wie ein christlicher Ritter seine Lanze, auf sie zu. Robin griff automatisch nach ihrem Schwert. Plötzlich waren Schmerzen und Furcht vergessen, und alles, was sie fühlte, war eine kalte, mörderische Entschlossenheit, auch diesen Kampf zu gewinnen.

Mit einem Mal erschien ihr dieser einzelne Krieger als alles, was noch zählte. All ihr Zorn, ihre Furcht und dieser neue, absolute Wille zu überleben konzentrierten sich mit einem Mal auf ihn, irgendeinen der zahllosen Krieger aus Saladins Heer, den sie so wenig kannte wie er sie, und der trotzdem wild entschlossen war, sie zu töten. Es war nur ein winziger Moment, und er war fast so schnell vorbei, wie er gekommen war, und doch spielten die Schlacht, der Krieg, das große, hehre Ziel der Christenheit, für das sie gelebt hatte, plötzlich gar keine Rolle mehr. Für diesen einen Moment, in dem der Sarazene heransprengte und sie ihr Schwert aus dem Gürtel zog, um seinen Angriff abzuwehren, war es eine persönliche Sache zwischen ihr und ihm. Mit einer Bewegung, die ihr selbst sonderbar schwerelos vorkam, zwang sie das Pferd herum, zerschmetterte mit einem einzigen Hieb die Lanze des Sarazenen und ließ die Bewegung in einem nach oben führenden Bogen enden, der die Schwertklinge diagonal über seine Brust führte, als er an ihr vorübergaloppierte. Der Mann kippte mit einem Schrei aus dem Sattel und warf die Arme in die Luft, bevor er auf dem Boden aufschlug, und so schnell es auch ging, sah Robin trotzdem den Ausdruck maßloser Verblüffung und allmählich aufkeimenden Entsetzens in seinen Augen, der von einem heftigen, jähen Schmerz hinweggefegt wurde.

Dann schlug der Reiter auf dem Boden auf und rollte davon, sein Pferd verschwand irgendwo hinter ihr, und es war vorbei. Mit einem Mal holte sie die Vergangenheit ein. Sie war wieder am Strand, kniete wieder über Guy und starrte ihre eigenen Hände an, mit denen sie seinen Kehlkopf zerschmettert hatte. Plötzlich begann sie am ganzen Leib zu zittern. Sie hatte einen Menschen getötet. Es war absurd - der Reiter war garantiert nicht der Erste gewesen, der in dieser Schlacht von ihrer Hand gefallen war, und sie würde auch nicht zögern, es wieder zu tun, wenn es um ihr Leben ging - und doch war es ein gewaltiger Unterschied. Indem sie den Kampf mit ihm zu einer persönlichen Sache gemacht hatte, war er von einem feindlichen Krieger, der in der Schlacht fiel, zu einem Menschen geworden, den sie ermordet hatte. Ihr wurde übel.

Sie ließ das Schwert fallen, dessen Klinge noch rot vom Blut des Erschlagenen war, krümmte sich im Sattel und schaffte es gerade noch, sich den Helm vom Kopf zu reißen, bevor sie sich qualvoll würgend übergab.

Alles drehte sich um sie. In das Getöse der Schlacht in ihren Ohren mischte sich ein immer lauter werdendes, an- und abschwellendes Rauschen und Brausen, und die Übelkeit wurde schlimmer, nicht besser, und nun gesellte sich auch noch ein dünner, aber weiß glühender Schmerz dazu, der sich wie ein heißer Dolch in ihren Unterleib bohrte. Zitternd brach Robin über dem Hals des Pferdes zusammen, klammerte sich mit letzter Kraft an den rauen Stoff seiner Schabracke fest und übergab sich noch einmal, so lange, bis nur bittere Galle und Blut über ihre Lippen kamen.

Sie saß vielleicht zwei oder drei Minuten lang reglos über den Hals des Pferdes gebeugt da, und es war ein schieres, weiteres Wunder, dass sie diese Zeit überlebte und kein anderer Feind die Gelegenheit nutzte, den so offensichtlich wehrlos dasitzenden Tempelritter anzugreifen. Vielleicht hielt man sie auch für tot. Irgendwann klang das Wüten in ihrem Leib ab, und auch die Übelkeit verebbte, ohne ganz zu erlöschen. Taumelnd richtete sich Robin im Sattel auf, fuhr sich mit dem rauen Kettenhandschuh über die Lippen und blinzelte die Tränen weg, die ihre Augen füllten. Rings um sie herum tobte die Schlacht mit unverminderter Wucht und Härte weiter, aber alles kam ihr plötzlich irreal und ... falsch vor, als wäre sie an einem Ort, an den sie nicht gehörte. Es war vorbei. Sie hatte einen Mann zu viel getötet.

Angewidert von sich selbst, schnallte sie mit zitternden Fingern den Schwertgurt ab und warf ihn zu Boden, dann griff sie nach den Zügeln des Pferdes und ritt los. Diese Schlacht ging sie nichts mehr an. Für sie war der Krieg vorbei, und sie hatte ihn verloren. Da war noch immer eine - leiser werdende - hysterische Stimme in ihrem Kopf, die ihr zuzuschreien versuchte, dass sie feige war, ihren Eid brach und ihre Brüder im Stich ließ, dass ihr Platz an der Seite der anderen war und dass sie sich so ganz nebenbei auch noch immer in Lebensgefahr befand, denn der Anblick eines waffenlos und ohne Schild und Helm dasitzenden Tempelritters musste für jeden von Saladins Kriegern geradezu eine Einladung darstellen, sich auf sie zu stürzen, aber diese Stimme wurde leiser und hatte keine Gewalt mehr über sie. Sie würde nicht mehr töten. Sie hatte viel zu lange bei diesem Irrsinn mitgemacht. Safet, hatte Dariusz gesagt. Dort würde sie Salim wiedersehen.

Später, wenn sie über diese grässlichen Augenblicke nachdachte - und sie sollte es oft tun in endlosen, schlaflosen Nächten, in denen sie die furchtbaren Bilder heimsuchten -, sollte sie sich immer und immer wieder vergebens fragen, welchem Wunder sie es zu verdanken hatte, den Weg zum Fluss hinab lebend überstanden zu haben. Niemand griff sie an, obgleich sie zwei- oder dreimal in die Nähe erbitterter Kämpfe geriet, niemand stellte sich ihr in den Weg oder versuchte sie aufzuhalten, ja, es war, als wichen Freund und Feind vor ihr zurück, sobald sie näher kam, als wäre da ein unsichtbarer Schutzschild, der sie umgab. Es war das Pferd, das den Weg zum Fluss hinab fand, nicht sie, vielleicht weil das Tier instinktiv den einzigen Ausweg suchte, den es aus dieser Orgie des Tötens und Mordens gab.

Auch über die Ufer des Litani hatte der Krieg seinen Schatten geworfen. Das Wasser des ruhig dahinfließenden Flusses hatte sich rot vom Blut der Erschlagenen gefärbt. Die Leichen von Menschen und Tieren trieben in seinen Fluten oder hatten sich im dichten Schilf des Ufers gefangen, und auch hier war das Klirren von Waffen und das Schreien sterbender und verwundeter Männer der einzige Laut, den sie hörte. Dennoch schien die Schlacht hier nahezu vorüber zu sein.

Und nahezu verloren, wie Robin bitter begriff. Die Leichen, die mit der Strömung vorübertrieben, waren fast ausschließlich die muselmanischer Krieger, doch sie wusste auch, wie furchtbar falsch dieser Eindruck war, wurden doch die Körper erschlagener christlicher Ritter vom Gewicht ihrer Rüstungen sofort unter Wasser gezogen. Noch immer langsam reitend, waffen- und wehrlos und mit leerem Blick, erreichte sie den Gürtel aus mannshohem Schilf, der das Ufer säumte, und hielt an.

Hier bot sich ihr ein anderer, grausam ehrlicher Anblick. Überall zwischen dem niedergebrochenen, geknickten Schilf lagen die Leichen leicht gerüsteter Fußsoldaten, die keine Kettenhemden oder Rüstungen getragen hatten, die sie vor den Pfeilen oder Schwertern der Sarazenen hätten schützen können. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht Tausende, niedergestreckt wie Stroh unter der Klinge eines grausamen Schnitters, viele von ihnen noch am Leben, aber dennoch todgeweiht. Robin begriff plötzlich, wie schrecklich falsch der Eindruck gewesen war, den sie trotz allem bisher von der Schlacht gewonnen hatte. Inmitten der schwer gepanzerten Reiterei der Tempelritter war sie sich auch im Angesicht heranstürmender Feinde nahezu unverwundbar vorgekommen, doch das Privileg, das für die Soldaten Christi galt, hatte wenig Gültigkeit für die einfachen Fußtruppen und Waffenknechte gehabt. Was hier stattgefunden hatte, das war keine Schlacht gewesen, dachte sie bitter, sondern ein Massaker. Wohin sie auch blickte, sah sie verwundete und tote Männer beider Seiten und erschlagene Pferde.

Mit einer unendlich müden Bewegung lenkte sie ihr Pferd herum und dichter an den sumpfigen Uferstreifen heran. Blut und hochgespritztes Wasser hatten den Morast zu einem hässlichen Rosa verfärbt, in dem ihr Pferd immer wieder wegzurutschen drohte, und ein süßlicher, ekelerregender Geruch nach Verwesung stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich wenden sollte, wo Safet war oder das Feldlager, sondern schlug die Richtung ein, in der die Kämpfe am wenigsten schlimm schienen. Eine verwundete Gestalt stemmte sich neben ihr aus dem Morast und streckte ihr eine blutbesudelte Hand entgegen. Gesicht und Kleidung waren so voller Schlamm und Blut, dass Robin nicht erkennen konnte, zu welcher Seite er gehörte. Spielte es eine Rolle?

Robin starrte mit leerem Blick auf ihn hinab. Ihr Pferd trabte langsam weiter, und dennoch war da eine leise Stimme in ihr, die ihr zuflüsterte, dass sie diesem Mann helfen müsse. Er war verwundet und brauchte sie, und es spielte keine Rolle, unter welcher Fahne er gekämpft hatte, ob es ein von einem christlichen oder einem heidnischen Hammer geschmiedetes Schwert gewesen war, das ihn verwundet hatte. Er würde sterben, noch bevor der Tag zu Ende war, und in derselben Erde begraben werden wie seine Mörder.

Sie ritt noch ein kurzes Stück weiter, hielt dann doch an und drehte sich müde im Sattel herum. Irgendetwas an dem Verletzten hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, aber sie konnte selbst nicht sagen, was. Er war nur einer von hunderten, die im zertrampelten Schilf des Ufers lagen, und doch ...

Vielleicht war es nur ihr Gewissen, das ihr zu schaffen machte. Sie hatte ein Leben genommen, und so absurd der Gedanke war, vielleicht war es einfach ihre Pflicht, ein anderes dafür zu retten.

Es kostete sie erhebliche Mühe, das widerstrebende Pferd auf der Stelle umzudrehen und wieder zu dem Verletzten zurückzureiten. Die Hufe des Tieres kamen nur schwer aus dem sumpfigen Boden frei und verursachten dabei schmatzende Geräusche, als versuche der Morast mit aller Kraft, sein Opfer festzuhalten, und Robin überlegte einen Moment ganz ernsthaft, ob sie diesen Umstand als Omen deuten und vielleicht doch weiterreiten sollte.

Natürlich tat sie es nicht. Sie glaubte nicht an Omen, so wenig wie an göttliche Fügung oder die lenkende Macht des Schicksals. Was sie in der zurückliegenden Stunde gesehen hatte, das hatte sie eines mit unerschütterlicher Gewissheit begreifen lassen: Was zählte, das war nicht Gottes Wille oder ein übermächtiges Schicksal, sondern einzig das, was Menschen einander im Namen des einen oder anderen antaten.

Was sie gerade gedacht hatte, war die Wahrheit gewesen: Sie war es diesem Mann schuldig, sein Leben zu retten. Oder es wenigstens zu versuchen.

Gerade als sie ihr Pferd mit deutlich mehr Gewalt als gutem Zureden aus dem Uferschlamm herausgebracht hatte und die fünfzehn oder zwanzig Schritte zu dem Verwundeten zurückreiten wollte, sprengte eine ganze Abteilung christlicher Ritter heran. Sie hielten so direkt auf den Mann zu, dass es unmöglich ein Zufall sein konnte - doch dann geschah etwas Sonderbares: Kaum war der erste nahe genug heran, um den Mann wirklich zu sehen, da riss er sein Pferd mit einer so abrupten Bewegung zurück, dass das Tier erschrocken scheute und ihn um ein Haar abgeworfen hätte, und auch die anderen Reiter hielten abrupt inne. Für einen Moment breitete sich etwas wie ein kleiner Aufruhr unter dem halben Dutzend Männern aus, ein heftiges Gestikulieren und Kopfschütteln und Deuten. Einer der Reiter löste eine Armbrust von seinem Sattel und steckte sie wieder weg, als einer der anderen mit einem wütenden Kopfschütteln darauf reagierte. Dann riss das halbe Dutzend Reiter wie ein Mann seine Pferde herum und sprengte davon.

Robin sah ihnen verstört nach. Sie versuchte das Wappen zu erkennen, das auf den Schilden und Mänteln der Männer prangte, aber ihre Kleider waren zu schmutzig und die Männer zu schnell im Staub verschwunden. Was hatte das zu bedeuten?

Trotz allem neugierig geworden, stieg sie aus dem Sattel und bereute diese Idee sofort, denn dem Tier schien endgültig aufgegangen zu sein, dass es nicht sein legitimer Besitzer gewesen war, der es in diese ungastliche Umgebung gelenkt hatte; es riss sich los und sprengte mit einem protestierenden Wiehern davon. Robin sah ihm ärgerlich - auf sich selbst, nicht auf das Pferd - nach, dann wandte sie sich endgültig um und ging mit schnellen Schritten los.

Irgendetwas Seltsames ging hier vor, und sie würde herausfinden, was. Die sonderbare Stimmung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, verflog mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Verwundeten näherte, mehr. Vielleicht war das, was sie gedacht hatte, auch einfach nur melancholischer Unsinn, und die Belastung der Schlacht war einfach zu viel für sie gewesen. Robin beschleunigte ihre Schritte noch einmal - und blieb dann ebenso überrascht stehen wie die Ritter gerade vor ihr.

Der Verwundete war nicht der einzige Ritter, der im blutig-rot gefärbten Schilf des Uferstreifens lag. Robin schätzte die Anzahl der Erschlagenen auf mindestens ein Dutzend, und die Männer trugen ausnahmslos nachtschwarze Mäntel, geschwärzte Kettenhemden und Helme und dreieckige schwarze Schilde ohne Wappen oder irgendwelche Insignien.

Dennoch wusste Robin sofort, wen sie vor sich hatte.

Einem der erschlagenen Lazarusritter war der Helm vom Kopf gerutscht. Er lag mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze aus brackigem Wasser, aber Robin war fast froh, ihn nicht genau erkennen zu können. Das Wenige, was sie von seiner Haut sah, war schon beinahe mehr, als sie sehen wollte. Dennoch blieb sie stehen, und für einen kurzen Moment fochten Neugier und Furcht einen stummen Kampf hinter ihrer Stirn aus.

Die Neugier gewann. Zögernd ließ sich Robin in die Hocke sinken und streckte den Arm aus, um den Toten auf den Rücken zu drehen, aber dann verließ sie im letzten Moment doch der Mut. Was sie von der Haut des Mannes sehen konnte, bot einen verheerenden Anblick. Nässende Geschwüre und Pusteln bedeckten seine vernarbte Wange, und ein Teil seiner Unterlippe fehlte, was ihm ein schreckliches, für alle Zeiten erstarrtes Totenkopfgrinsen verlieh. Robin stand fast erschrocken wieder auf und legte die letzten Schritte zu dem Verwundeten beinahe rennend zurück.

Sie war nicht einmal wirklich überrascht. Ob der König verletzt war oder nicht, konnte sie nicht sagen, denn sein Pferd war gestürzt und lag quer über seinen Beinen. Das Tier lebte noch und schnaubte leise vor Schmerz, war aber nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Die zersplitterten Schäfte von gleich drei Pfeilen ragten aus seiner Flanke.

»Und ich hätte geschworen, dass Ihr weiterreitet und mich meinem Schicksal überlasst. Immerhin habt ihr Tempelherren allen Grund, mir zu grollen.«

Robin wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der sich ihr bieten musste, wenn sie in Balduins zerstörtes Gesicht blickte, doch es war wie gerade, als sie an ihm vorbeigeritten war: Sie sah auch jetzt nichts außer einer fast konturlosen schlamm-braunen Masse, in der das einzige Lebendige ein Paar fast schon unnatürlich klarer, stechend grüner Augen war, das sie ebenso aufmerksam wie besorgt, aber auch mit einem deutlichen Anteil von Spott musterte. Im allerersten Moment schnürte ihr der Anblick die Kehle zu, denn sie glaubte, ein einziges Grauen erregendes Geschwür zu sehen, zu dem die Krankheit sein Gesicht gemacht hatte, doch sie erkannte auch fast sofort ihren Irrtum. Balduin hatte das schwarze Kettenhemd, das er unter seinem Wappenrock trug, so weit nach oben gezogen, dass er seinen Rand am Nasenschutz des wuchtigen Helmes einhaken konnte, sodass sein Gesicht fast vollkommen bedeckt war, und in dem engmaschigen Kettengeflecht hatten sich Klumpen blutigen Morastes festgesetzt.

»Majestät?«, fragte sie.

Der König gab ein sonderbar kehliges Lachen von sich.

»Balduin reicht«, sagte er mühsam. »Majestät dürft Ihr mich wieder nennen, wenn ich nicht mehr vor Euch im Schlamm liege.« Er versuchte sich hochzustemmen, aber das Gewicht seines gestürzten Hengstes drückte ihn so unerbittlich nieder, als wäre er unter Tonnen von Felsen begraben. Robin sah erst jetzt, dass das Gewicht des Tieres den König schon so weit in den weichen Morast hineingepresst hatte, dass er sich mit beiden Händen abstützen musste, um nicht im Schlamm zu ersticken.

»Wo wir schon einmal dabei sind ...« Balduin streckte mühsam einen Arm in ihre Richtung, mit dem anderen stützte er sich am Uferschlamm ab. »Nur falls Ihr gerade nichts Dringendes vorhabt. Bruder - könntet Ihr mir vielleicht dabei behilflich sein, unter diesem Stück zukünftigen Sauerbratens hervorzukommen?«

Robin starrte Balduins Hand an. Auch seine Finger steckten in einem feinmaschigen Kettengeflecht, von dem Schlamm und brackiges Wasser tropften.

»Keine Angst, edler Ritter«, sagte Balduin spöttisch, als er ihr Zögern bemerkte. »Ich trage Handschuhe, wie Ihr seht. Außerdem ist es nicht ansteckend. Das behaupten jedenfalls diese Quacksalber, die sich meine Ärzte schimpfen.«

Robin griff hastig zu, ergriff Balduins ausgestreckten Arm und stemmte sich mit gespreizten Beinen in den Boden, während sie mit aller Kraft zerrte. Auch Balduin tat sein Möglichstes, um unter dem gestürzten Hengst hervorzukriechen. Im allerersten Moment schien es, als reichten nicht einmal ihre gemeinsamen Kräfte aus, um den König aus seiner lebensbedrohlichen Lage zu retten, dann aber kam er mit einem so plötzlichen Ruck frei, dass Robin zurückstolperte und mit hilflos rudernden Armen der Länge nach im Morast landete.

Balduin begann schallend zu lachen, allerdings nur für einen kurzen Moment; dann ging sein Lachen in ein qualvolles Husten über, und er ließ sich direkt neben ihr ebenfalls zu Boden sinken.

»Ich danke Euch, Bruder ...?« Er legte den Kopf auf die Seite und sah sie fragend an. »Ich möchte ja nicht aufdringlich erscheinen, aber wenn ich mich später bei Euch bedanken will, wäre es möglicherweise von Vorteil, Euren Namen zu kennen.«

»Robin«, antwortete Robin.

Da sie Balduins Gesicht nicht sehen konnte, war es ihr auch nicht möglich, den Ausdruck darauf zu deuten, aber sie konnte seine Überraschung deutlich spüren. »Robin?«, vergewisserte er sich. »Robin von Tronthoff?«

Um ein Haar hätte sie den Kopf geschüttelt. Es war so lange her, dass sie ihren - falschen - Nachnamen das letzte Mal gehört hatte, dass sie sich kaum noch daran erinnerte. »Ihr ... habt von mir gehört, Majestät?«, fragte sie unbehaglich.

»Balduin«, verbesserte er sie. »Majestät bin ich erst wieder, wenn ich stehe. Und: Ja, natürlich habe ich von Euch gehört, dem jungen Tempelritter, der vor zwei Jahren mit Bruder Abbé aus dem fernen Friesland gekommen ist. Ihr seid doch der junge Ritter, der zwei Jahre lang der Gefangene des Alten vom Berge war.«

»Ihr seid ... gut informiert, Maje ... Balduin«, erwiderte Robin ausweichend. Ihr Herz begann zu klopfen. Gab es denn in diesem ganzen Land eigentlich niemanden, der ihre Geschichte nicht kannte?

»Das gehört sich auch für einen König«, antwortete Balduin spöttisch. Plötzlich lachte er wieder. »Und da sage noch einer, Gott hätte keinen Sinn für Humor! Zehntausend Männer sind hier versammelt, und von allen rettet mir ausgerechnet derjenige das Leben, der den wenigsten Grund dazu hätte.«

Robin fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Zähne. Sie hatte das fast sichere Gefühl, dass der junge König auf etwas ganz Bestimmtes hinauswollte. Beinahe nur, um Zeit zu gewinnen, fragte sie: »Was ist hier geschehen, Majestät?«

Diesmal verzichtete Balduin darauf, sie zu verbessern. »Wenn ich das wüsste«, seufzte er. »Meine ebenso unfähigen wie inzwischen wohl ausnahmslos toten Leibwächter und ich sind ganz harmlos des Weges geritten, als wir wohl unversehens in einen Krieg geraten sein müssen.« Er deutete auf sein erschossenes Pferd. »Seht Euch das an, Robin! Wenn ich nicht genau wüsste, dass es unmöglich ist, könnte ich auf die Idee kommen, dass jemand etwas gegen mich hat.«

Robin verbiss sich jede Antwort. Wäre ihr der Gedanke nicht zu respektlos erschienen, hätte sie fast an Balduins Verstand gezweifelt. Sie saßen am Rande eines Schlachtfeldes, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ein paar von Saladins Reitern auf sie aufmerksam wurden oder den König gar erkannten, und Balduin trieb seine Scherze? Statt etwas zu sagen, betrachtete sie Balduins totes Pferd - und runzelte plötzlich die Stirn.

»Das ist seltsam«, murmelte sie.

»Ah, Ihr habt also auch den Verdacht, dass es kein Versehen gewesen sein könnte?«, fragte Balduin.

Robin blieb ernst. Einen Moment lang blickte sie noch das tote Pferd an, dann stand sie auf, ging zu einem der erschlagenen Lazarusritter und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Fast beiläufig registrierte sie, dass nahezu alle Männer erschossen worden waren. Sie achtete sorgsam darauf, das Gesicht des Mannes nicht anzusehen und auf keinen Fall seine Haut zu berühren, während sie den Pfeil aus seiner Seite zog.

»Seht Ihr das, Majestät?«

»Ein Pfeil, in der Tat«, sagte Balduin betrübt. »Jetzt müsste ich allmählich wirklich verletzt sein. Mit einem ordinären Pfeil auf mich zu schießen! Geschmolzenes Gold in die Kehle oder Diamantsplitter, die man insgeheim unter das Essen mischt, das ist ein Tod, der eines Königs würdig ist - aber ein ordinärer Pfeil? Das ist blamabel.«

Robin ignorierte seinen spöttischen Ton. »Das ist kein gewöhnlicher Pfeil«, sagte sie.

»Nein?« Balduins Augen leuchteten auf.

»Er ist schwarz«, sagte Robin ungerührt. »Ebenso wie alle anderen hier. Seht Ihr? Ein schwarzer Schaft, eine geschwärzte Spitze und sogar schwarze Federn.«

»Und? Hättet Ihr erwartet, dass man ihn in den königlichen Farben bemalt, bevor man damit auf mich schießt?« Balduin scherzte noch immer, aber der Blick seiner durchdringenden grünen Augen schien plötzlich wacher zu werden.

»Pfeile wie diese benutzen Sheik Raschids Männer«, fuhr Robin fort.

»Die Assassinen?«, fragte Balduin zweifelnd. »Ihr müsst Euch irren, Robin. Der Alte vom Berge gehört seit vielen Jahren zu unseren treuesten Verbündeten.«

»Und doch ist allgemein bekannt, dass nur die Assassinen diese Art von Pfeilen benutzen«, beharrte Robin, legte eine kurze, bewusst dramatische Pause ein und fuhr dann fort: »Aber diesen Pfeil hat kein Assassine gefertigt.«

»Gerade hast du noch gesagt, dass nur die Assassinen schwarze Pfeile benutzen«, sagte Balduin. Jede Spur von Spott war aus seiner Stimme verschwunden. »Und er ist schwarz.«

»Dennoch stammt er nicht aus Masyaf«, beharrte Robin. »Die Spitze ist anders. Und auch die Form der Federn ist nicht vollkommen korrekt. Er sieht ihm ähnlich, aber er stammt nicht von den Assassinen.«

Balduin streckte die Hand aus. Robin reichte ihm den Pfeil, und Balduin drehte ihn eine geraume Weile nachdenklich in den Händen. »Seid Ihr sicher?«

»Ihr wisst, wer ich bin«, antwortete Robin ernst. »Ich habe lange genug bei ihnen gelebt, und ich habe genug von diesen Pfeilen in der Hand gehabt. Dieser Pfeil stammt nicht von den Assassinen. Aber jemand hat sich große Mühe gegeben, ihn so aussehen zu lassen.« Tatsache war, dass sie zahllose Pfeile wie diesen nicht nur in der Hand gehabt, sondern selbst angefertigt hatte. Und dass sie ausgezeichnet damit umgehen konnte. Hätte sie - oder irgendein Assassine, den sie kannte - diesen Pfeil abgeschossen, wäre Balduin jetzt nicht mehr in der Lage, diese Frage zu stellen. Allerdings zog sie es vor, das nicht laut zu sagen, zumindest im Moment noch nicht.

»Das ist interessant«, murmelte Balduin. Er wandte kurz den Kopf, um in die Richtung zu blicken, in die die Reiter verschwunden waren, dann schob er den Pfeil unter seinen Gürtel und versuchte aufzustehen, sank aber mit einem schmerzerfüllten Grunzen wieder zurück, als er sein rechtes Bein zu belasten versuchte. Stöhnend streckte er die Hand nach Robin aus. »Ich muss mich noch weiter bei Euch verschulden, fürchte ich«, ächzte er. »Bitte helft Eurem lahmen König aufzustehen. Sosehr mich unsere kleine Plauderei auch amüsiert, fürchte ich doch, dass dringende Geschäfte auf mich warten. Ich muss noch einen Krieg verlieren.«

Robin musste gegen ihren Willen lachen. Mit einer einzigen kraftvollen Bewegung zog sie Balduin auf die Füße, und der König legte ihr ohne viel Federlesens den Arm um die Schulter und stützte sich mit seinem ganzen Körpergewicht auf sie. Robin ächzte, und sie redete sich sogar selbst mit Erfolg ein, dass es einzig an seinem Gewicht lag. Balduin war kaum größer als sie, aber er trug immerhin einen Zentner Eisen am Körper, wenn nicht mehr.

»Ich sagte doch, es steckt nicht an«, sagte Balduin gepresst. Anscheinend bereitete ihm sein verletztes Bein große Schmerzen. »Und wenn doch, mache ich Euch zum Hauptmann meiner neuen Wache.«

Robin hatte nicht einmal Luft, um zu antworten. Balduin war zweifellos verletzt, aber auch sie befand sich in keinem sehr viel besseren Zustand. Die kurze Rast am Rande des Schlachtfeldes hatte ihr gut getan, aber sie machte sich nichts vor. Weniger als eine Pfeilschussweite entfernt tobte die wütende Schlacht mit unverminderter Heftigkeit weiter. Wenn sie kein Pferd fand, waren ihre Aussichten, lebend sicheres Gelände zu erreichen, gleich null.

Balduin blieb plötzlich stehen und sog erschrocken die Luft ein, und auch Robin sah alarmiert hoch. Gleich drei Reiter sprengten in gestrecktem Galopp auf sie zu, christliche Ritter in wehenden Mänteln und mit schweren Rüstungen, in denen Robin auf den zweiten Blick Mitglieder derselben Gruppe erkannte, die gerade tatenlos davongesprengt war, statt dem König zu helfen. Auch der Reiter mit der Armbrust war unter ihnen. Er hatte seine Waffe wieder gehoben und versuchte sie im Reiten zu spannen, während die beiden anderen lange Bögen hielten, auf deren Sehnen schwarze Pfeile lagen.

»Was zum Teufel ...?«, keuchte Balduin.

Hinter den drei Rittern preschte eine weitere, schlanke Gestalt heran. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet und hielt ebenfalls einen Bogen in der Hand, mit dem sie auf einen der Reiter schoss, scheinbar ohne auch nur gezielt zu haben. Trotzdem traf der Pfeil den vordersten Reiter mit tödlicher Präzision und schleuderte ihn aus dem Sattel.

Die beiden anderen schossen im gleichen Augenblick. Der Bogenschütze bewegte sich zu hastig und verriss seine Waffe, sodass der Pfeil sein Ziel verfehlte und harmlos meterweit entfernt in den Boden fuhr, doch dafür zielte der andere Mann mit umso größerer Präzision. Robin sah, wie Salim herangejagt kam und seinen Bogen gegen einen blitzenden Krummsäbel austauschte, den er mit gewaltiger Kraft nach dem Schädel des Armbrustschützen schwang, und sie sah auch, dass er treffen würde, und dennoch war er nicht schnell genug. Der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug seiner heimtückischen Waffe, und Robin reagierte, ohne zu denken, und warf sich schützend vor den König.

Einen Pfeil hätte das schwere Kettenhemd, das sie unter ihrem zerrissenen Wappenrock trug, vielleicht selbst auf die kurze Entfernung aufgehalten, aber es war kein Pfeil, der sie traf. Der Bolzen durchschlug ihr Kettenhemd, ihre Schulter und selbst noch die Haut in ihrem Rücken.

Aber das merkte sie schon nicht mehr.

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