20. KAPITEL


In den nächsten beiden Tagen sah sie Bruder Abbé gar nicht, Salim dafür aber umso öfter wieder. Der Sohn des Alten vom Berge hatte verschiedene Pflichten, denen er in diesem Assassinenhaus inmitten von Jerusalem nachkommen musste, aber sie nahmen nur wenige Stunden am Tage in Anspruch, und seine gesamte übrige Zeit verbrachte er mit ihr.

Natürlich genoss sie die Zeit, die sie in seinen Armen lag oder eng an ihn gekuschelt am Fenster saß und auf den schmalen Ausschnitt der Stadt hinuntersah, den sie von hier aus erkennen konnte. Er beantwortete all ihre Fragen über Jerusalem und all die Wunder, die die Mauern der Stadt beherbergten, mit großer Geduld und in aller Ausführlichkeit. Ihre hartnäckig vorgebrachten Bitten jedoch, sie mit hinaus in die Stadt zu nehmen, sodass sie all diese Wunder mit eigenen Augen schauen konnte, beschied er immer wieder abschlägig; mehr noch: Robin verlegte sich schließlich darauf, ihn wenigstens um ein anderes Zimmer zu bitten, sodass sie einen anderen Ausschnitt der Stadt betrachten konnte, doch selbst das lehnte er ab, ohne zu erklären, warum. Ob es Robin gefiel oder nicht, sie begann den Gedanken zu akzeptieren, dass sie trotz allem eine Gefangene war.

Natürlich gefiel ihr das nicht.

Am dritten Tag, nachdem sie in diesem Zimmer aufgewacht war, verabschiedete sich Salim mit der Eröffnung, dass die Ankunft seines Vaters in den nächsten Stunden erwartet wurde und es durchaus Abend werden könnte, bis er zu ihr zurückkam.

Robin verabschiedete ihn mit einem langen Kuss und einem Bedauern, das nicht vollkommen geheuchelt war. Sie hatten sich an diesem Morgen bereits zweimal geliebt, und dennoch erregte sie der Anblick seiner muskulösen und doch schlanken Brust schon wieder. Ihre Hand kroch an seinem Bein empor, aber Salim hielt ihre Finger fest, bevor sie ihr Ziel erreichten.

»Du bist ja unersättlich«, sagte er mit gespielter Missbilligung.

»Du etwa nicht?«, fragte Robin mit einer Geste dorthin, wohin ihre Hand unterwegs gewesen war.

Salim folgte ihrem Blick und zog die Augenbrauen noch weiter zusammen. »Das muss an den Eukalyptusblättern liegen. Sie erinnern mich an mein Lieblingskamel, weißt du?«

»Welches Ende?«, wollte Robin wissen.

Salim lachte und küsste sie spielerisch auf die Nase, hielt ihre Hand jedoch weiter fest und schob sie dann sogar weg, während er aufstand und sich nach seinem Hemd bückte. »Es tut mir Leid, aber ich muss wirklich noch eine Menge Vorbereitungen treffen, bevor mein Vater hier ist. Später, wenn wir wieder in Masyaf sind, haben wir so viel Zeit für uns, wie wir nur wollen. Ich gebe dir mein Wort, dass ich nie wieder von deiner Seite weichen werde. Auch«, fügte er hinzu, während er die Arme hob und in sein Hemd schlüpfte, und seine Stimme drang dabei nur noch gedämpft unter dem groben schwarzen Stoff hervor, »wenn ich nicht ganz sicher bin, ob ich dir auf die Dauer gewachsen sein werde.« Er streifte seinen Mantel über, warf ihr mit spitzen Lippen einen Kuss zu und begann noch im Hinausgehen seinen Turban zu wickeln.

Robin zog eine Schnute und ließ sich wieder in das weiche Kissen ihres Bettes zurücksinken. Ihre Schulter schmerzte ein bisschen - das war kein Wunder, nach der letzten Stunde -, aber die Heilung machte dennoch erstaunlich gute Fortschritte. Die Salbe, die Saila ihr zweimal am Tag auftrug, wirkte wahre Wunder.

Es würde zwar noch lange dauern, bis sie den Arm wieder richtig benutzen konnte (davon, einen Schild zu tragen und etwa die Wucht eines Schwerthiebes damit aufzufangen, gar nicht zu reden), aber wenn Saila die Verbände wechselte, dann erblickte sie eine Wunde, die aussah, als wäre sie mindestens zwei Monate alt, nicht zwei Wochen.

Salims Geruch haftete noch an der Bettwäsche. Robin sog ihn tief in die Nase ein und schloss die Augen, als sich ein wohliges Kribbeln in ihrem Leib auszubreiten begann, allein ausgelöst von der Erinnerung an Salims Nähe, das unbeschreibliche Gefühl, ihn in sich zu spüren. Es wurde stärker, als ihre Hände über ihre Brüste und weiter hinab zu ihrem Schoß zu wandern begannen.

Dann fuhr sie erschrocken zusammen, zog ihre Hand mit einem heftigen schlechten Gewissen zurück und setzte sich mit einem Ruck auf. Was war nur mit ihr los?

Gut, ihr schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, aber Salims spielerischer Vorwurf war nicht ganz so aus der Luft gegriffen, wie es ihr im Grunde lieb gewesen wäre. Seit sie Salims Frau geworden war, hatte sie die Freuden dessen, was Bruder Abbé so gerne als fleischliche Genüsse bezeichnete, kennen und in weitaus größerem Maße schätzen gelernt, als sie in seiner Gegenwart jemals zugegeben hätte. Doch seit ihrer Rückkehr hierher war sie tatsächlich fast unersättlich geworden. Sie brauchte Salims Wärme in sich mindestens zweimal am Tag, wenn nicht öfter - und es war dennoch, als könne sie einfach nicht genug bekommen. Vielleicht, weil sie sich in diesen Momenten auf unbeschreibliche Weise lebendig fühlte.

Vielleicht hatte es mit der Schlacht zu tun, dachte sie. Ihre Gier nach allem, was Lebendigkeit verströmte und ihr dabei das Gefühl gab, selbst lebendig zu sein. Vielleicht hatte sie für ein einziges Leben einfach zu viel Leid und Tod gesehen.

Sie streifte die Decke endgültig ab und schwang gerade die Beine aus dem Bett, als die Tür aufging und Nemeth hereinkam. Das Mädchen streifte sie mit einem sonderbaren Blick, und Robin fragte sich, ob sie sie belauscht oder Salim und sie gar beobachtet hatte. Das Ergebnis, zu dem sie kam, war einem Ja deutlich näher als einem Nein, aber sie verzichtete darauf, dem Mädchen die Frage laut zu stellen. Was hatte sie davon, Nemeth in Verlegenheit zu bringen? Darüber hinaus war sie bald alt genug, sich mit gewissen Dingen des Lebens vertraut zu machen.

»Benötigt Ihr etwas, Herrin?«, fragte Nemeth. »Wasser oder etwas zu essen?«

Robin schüttelte stumm den Kopf und trat ebenso wortlos an das Fester heran, an dem sie in den letzten Tagen so oft gestanden und auf die Stadt hinabgeblickt hatte, der ihre ganze Sehnsucht galt und die so nahe und doch so unerreichbar fern war. Es war selbst nach all der Zeit noch immer ein faszinierender Anblick. Obwohl es noch früh war, spürte Robin schon, wie heiß der Tag wieder werden würde. Staub hing in der Luft und versah die Konturen der Gebäude mit einem zweiten, flimmernden Umriss. Im Licht der noch tief stehenden Sonne sah es aus, als sei die Heilige Stadt in goldene Schleier gehüllt. Die Stadt strahlte ... Erhabenheit aus. Die Türme zahlloser Kirchen erhoben sich aus dem Labyrinth von Straßen und schmalen, verwinkelten Gässchen. Eine hohe Mauer umgürtete die gesamte Stadt, von der sie allerdings von hier aus nur einen winzigen Teil sehen konnte.

Besonders eindrucksvoll erschien ihr das etwas höher gelegene Felsplateau am östlichen Ende der Stadt gegenüber des Ölbergs. Dort erhob sich zwischen anderen Gebäuden eine hohe Kuppel, die von einem mächtigen Kreuz gekrönt wurde. Der Templum Domini. Sie hatte andere Tempelritter von dem Ort erzählen hören, der unter dem besonderen Schutz ihres Ordens stand. Dort lag der Fels, auf dem Abraham seinen Sohn Isaak Gott opfern wollte. Und plötzlich wurde sich Robin bewusst, dass Jesus selbst über den Ölberg gekommen war, als er nach Jerusalem einzog. Seltsam, dachte sie. Sie hatte geglaubt, sich spätestens während des Grauens der Schlacht endgültig von ihrem Glauben losgesagt zu haben, und doch dachte sie jetzt mehr an Gott und seinen Sohn als in all den Monaten zuvor. Vielleicht hatte sie sich ja gar nicht von Gott losgesagt, sondern nur von dem, was Menschen in seinem Namen taten.

»Eine wunderschöne Stadt, nicht wahr?«, fragte Nemeth. Sie war lautlos neben sie getreten, und auch in ihrer Stimme meinte Robin etwas zu hören, das weit über das Maß normalen kindlichen Staunens hinausging. »Ich wusste gar nicht, dass es so große Städte gibt. Hier müssen mehr Menschen leben als in einem ganzen Land!«

»Es gibt noch sehr viel größere Städte«, antwortete Robin. »Ich habe ein paar davon mit eigenen Augen gesehen. Aber Jerusalem ist schon etwas Besonderes. Es ist die heiligste Stadt der Christenheit.«

»Die heiligste Stadt der Christenheit«, wiederholte Nemeth in sonderbar nachdenklichem Ton. Sie runzelte die Stirn. »Warum liegt sie dann in unserem Land?«

Robin sah sie verstört an.

»Habt Ihr sie schon gesehen, Herrin?«, fuhr Nemeth ungerührt fort. »Ich meine: Wart Ihr schon draußen in der Stadt?«

Robins Gesicht verdüsterte sich. »Du weißt genau, dass Salim und Bruder Abbé mich hier gefangen halten. Findest du es gut, dich auch noch über mich lustig zu machen?«

»Das wollte ich nicht, Herrin«, antwortete Nemeth mit einem breiten Grinsen, das so ungefähr das genaue Gegenteil behauptete. »Ich frage mich ja nur, ob Ihr sie sehen wollt.«

»Salim hat Wachen vor jede Tür aufgestellt«, grollte Robin.

»Und wie ich ihn kenne, schleichen seine Spione durch die ganze Stadt, nur für den Fall, dass ich trotzdem hier herauskäme.«

»Er kennt Euch eben«, feixte Nemeth.

Robin seufzte tief. »Das hier ist ein Assassinenhaus, Nemeth. Es führt kein Weg hinaus.«

Nemeth schwieg. Aber sie tat es auf eine ganz bestimmte Art, die dazu führte, dass Robin sich nach einem weiteren Moment vom Anblick der Stadt draußen vor dem Fenster losriss und sie stirnrunzelnd ansah.

»Oder?«, fragte sie.

Nemeth schwieg beharrlich weiter, aber ihre Augen blitzten schelmisch.

»Du kennst einen Weg hier hinaus?«, fragte Robin.

»Meine Mutter hat mich zu Euch geschickt, Herrin«, sagte Nemeth, ohne ihre Frage zu beantworten. »Sie wird den ganzen Tag fortbleiben. Salim hat sie mitgenommen, damit sie ihm hilft. Sein Vater kommt wohl mit einem großen Gefolge, und es sind eine Menge Vorbereitungen zu treffen.« Sie warf Robin einen schrägen Blick zu. »Sie werden den ganzen Tag fortbleiben, bestimmt bis Sonnenuntergang, wenn nicht länger.«

»Und was genau willst du mir damit sagen?«, fragte Robin.

»Ich?« Nemeth riss in gespielter Empörung die Augen auf.

»Aber ich würde doch nie ...«

»Wir müssten zurück sein, bevor Salim wieder hier ist«, fuhr Robin nachdenklich fort. »Und was ist, wenn jemand hereinkommt und sieht, dass ich nicht mehr da bin?«

»Wer außer mir, meiner Mutter und Salim war denn bisher hier in Eurem Zimmer?«, fragte Nemeth.

Niemand, pflichtete ihr Robin in Gedanken bei. Der Grund, aus dem Salim sie hier in diesem Haus untergebracht hatte, war ja eben der, dass niemand außer ihm selbst und Saila und ihrer Tochter sie zu Gesicht bekam. Vielleicht, überlegte sie, war das auch der Grund, aus dem er ihr nicht gestattet hatte, auch nur dieses Zimmer zu verlassen. Wie Bruder Abbé vor ein paar Tagen gesagt hatte: Ein Geheimnis war umso besser gewahrt, je weniger um seine Existenz wussten.

Sie drehte sich wieder zum Fenster. Natürlich war schon die bloße Idee verrückt, aber auf der anderen Seite ... sie würde Jerusalem in wenigen Tagen verlassen, um zusammen mit Salim und seinem Vater zum Berg Masyaf zurückkehren, und irgendetwas sagte ihr, dass sie vielleicht nie wieder hierher kommen würde. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie eines Tages ihren Enkelkindern davon erzählen würde. Oh, aber sicher war ich in Jerusalem. Eine ganze Woche. Natürlich habe ich die Stadt gesehen. Einen Ausschnitt von zwei Fuß Breite und vier Fuß Höhe. Eine wunderbare Vorstellung.

»Ich bräuchte ... ein anderes Kleid«, sagte sie zögernd. »So kann ich schlecht auf die Straße gehen.«

»Nicht, ohne aufzufallen«, bestätigte Nemeth. »Ihr habt fast dieselbe Statur wie meine Mutter. Ich glaube, eines von ihren Kleidern müsste Euch passen.« Sie trat mit einem gespielten Seufzen vom Fenster zurück. »Es wird ohnehin Zeit, Euren Verband zu wechseln. Meine Mutter hat mir aufgetragen, es ja nicht zu vergessen. Ich bin nur immer so furchtbar ungeschickt mit der Salbe. Am Ende verderbe ich Euch noch das Kleid.«

»Dann solltest du auf jeden Fall ein Kleid zum Wechseln mitbringen«, sagte Robin ernsthaft.

»Eine gute Idee«, antwortete Nemeth. Sie ging. Robin blickte ihr lächelnd nach, aber ihr Gesicht wurde wieder ernst, als sie sich erneut zum Fenster wandte und hinausblickte.

Also würde sie Jerusalem sehen. Natürlich war ihr klar, wie verrückt das war, was sie und Nemeth vorhatten. Es wäre nicht nur Wasser auf Salims Mühlen, wenn er davon erfuhr, er würde auch Nemeth streng bestrafen, von dem, was ihre Mutter mit ihr tun würde, gar nicht zu sprechen. Aber in diesem Moment fühlte sich Robin dem Mädchen weitaus näher als allen anderen hier. Allein der Gedanke an das, was vor ihnen lag, bescherte ihr ein kribbelndes Gefühl, das sie allzu lange vermisst hatte. Ganz plötzlich fühlte sie sich wieder wie das naive kleine Mädchen, als das sie ihr Leben vor so langer Zeit im fernen Friesland begonnen hatte, und es war ein gutes Gefühl. O ja, Salim würde der Schlag treffen, wenn er davon erfuhr - aber sie freute sich schon darauf, es ihm zu erzählen. Später, irgendwann, wenn sie zurück in Masyaf waren.

Nemeth kam nach wenigen Augenblicken zurück. Sie brachte nicht nur Verbandszeug und Salbe, sondern auch ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer Mutter gehörte, und zwei kleine irdene Töpfe mit. Während sie alles zu einem unordentlichen Stapel auf dem Fußboden aufhäufte, ließ sich Robin auf der Bettkante nieder, streifte ihr Kleid bis zur Hüfte herunter und begann mit zusammengebissenen Zähnen den Verband zu entfernen.

Prüfend bewegte sie die Schulter. Es tat noch ein bisschen weh, ging aber besser, als sie erwartet hatte. Vielleicht noch zwei oder drei weitere Wochen, dachte sie, und sie würde die Schulter wieder ganz normal bewegen können. Raschids Salbe hatte wahre Wunder gewirkt.

Nemeth trug ihr frische Salbe auf und begann ihre Schulter dann mit erstaunlichem Geschick neu zu verbinden. Sie legte die Bandagen fester an als bisher, sodass sie Robins Bewegungen zwar deutlich mehr behinderten, unter ihrer Kleidung aber kaum noch auftragen würden.

Ais sie fertig war, machte Robin eine auffordernde Geste in Richtung des mitgebrachten Kleides, doch Nemeth schüttelte den Kopf und griff stattdessen nach den beiden kleinen Tontöpfen. »Zuerst das. Wir wollen Eure Verkleidung doch perfekt machen, oder? Hier - reibt Euch damit ein.«

Sie nahm den Deckel von einem der Tiegel, und Robin erblickte eine braune, cremige Substanz, von der ein leicht unangenehmer Geruch ausging.

»Keine Sorge«, sagte Nemeth, als sie ihren zweifelnden Gesichtsausdruck bemerkte. »Es ist nur einfache Schminke. Ihr könnt sie mit Wasser und Seife wieder abwaschen.«

Robin war noch nicht überzeugt. Was sollte das? Ihre Haut war nach zwei Jahren unter der unbarmherzigen Sonne des Orients zwar immer noch nicht so dunkel wie die Nemeths oder ihrer Mutter, aber auch längst nicht mehr so bleich, um sie sofort zu verraten. Nemeth bestand jedoch mit einem so hartnäckigen Nicken darauf, dass sie die Schminke auftrug, dass Robin schließlich aufgab und sich das Gesicht, Hände und Arme bis hinauf zu den Ellbogen eincremte.

Das Ergebnis war verblüffend. Nemeth hatte keinen Spiegel mitgebracht, sodass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, doch die Haut auf ihren Händen und Unterarmen hatte nun genau denselben Farbton wie die des Mädchens.

»Sehr gut«, lobte Nemeth. »Und jetzt das Kleid.« Sie hatte sichtlich Freude daran, das Kommando zu übernehmen, und Robin ließ sie gewähren - auch wenn sie immer noch nicht ganz verstand, was dieser Mummenschanz eigentlich sollte. Sie kannte Orientalinnen, die einen helleren Teint hatten als sie.

Nemeth ging zur Tür, spähte einen Moment auf den Flur hinaus und bedeutete ihr dann mit einer verschwörerischen Geste, ihr zu folgen, winkte aber praktisch sofort wieder ab und deutete heftig gestikulierend auf ihr Gesicht.

»Was?«, fragte Robin. Sie verstand nicht.

»Euer Kopftuch, Herrin«, sagte Nemeth. »Mutter, wollte ich sagen. Und der Schleier.«

Robin streifte das schwarze Kopftuch über, zögerte aber, den Schleier vor dem Gesicht zu befestigen. Wozu hatte sie sich geschminkt, wenn sie ihr Gesicht dann nahezu vollkommen verbergen sollte? Schließlich aber gab sie auch diesmal auf, befestigte den Schleier und folgte Nemeth auf den Flur hinaus.

Das Haus schien leer zu sein. Von irgendwoher drangen Geräusche an ihr Ohr, aber es war nichts Bedrohliches daran. Robin blieb trotzdem aufmerksam. Dies hier war ein Haus der Assassinen. Dass sie keine Wachen sah, bedeutete nicht, dass es keine gab.

Der Korridor besaß zwei weitere Türen auf derselben Seite, aber kein Fenster, sodass nur ein wenig blasses Licht vom Fuße der Treppe heraufdrang, die ins Erdgeschoss hinunterführte. Irgendwo dort unten bewegte sich etwas. Sie sah das Flackern von Schatten.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Nemeth laut, als sie die aus Lehmstufen gefertigte Treppe hinabstiegen. »Es ist ein weiter Weg bis zum Basar, und wahrscheinlich werden die Händler wieder stundenlang feilschen und uns unnötig aufhalten.«

Robin begann ganz allmählich zu dämmern, was Nemeths sonderbares Benehmen zu bedeuten hatte - vor allem, als sie die in einen schmuddeligen weißen Burnus gehüllte Gestalt sah, die mit lässig vor der Brust verschränkten Armen an der Wand neben der Tür lehnte und so tat, als beobachte sie gelangweilt das Treiben auf der Straße. Der Mann trug normale Kleidung und keine Waffen, aber Robin erkannte einen Assassinen, wenn sie ihn sah.

Sie erkannte sogar diesen Assassinen.

Sie hatte ihn ein paar Mal auf Masyaf gesehen, wenn auch nur flüchtig, und sie konnte nur hoffen, dass es ihm umgekehrt genauso erging. Rasch senkte sie den Blick - nicht so weit, dass es auffiel - und dankte Nemeth im Stillen dafür, dass sie auf dem Schleier bestanden hatte. Der Mann gehörte nicht zu Salims oder Raschid Sinans Leibwache. Wenn er ihr Gesicht überhaupt schon einmal gesehen hatte, dann allerhöchstens aus großer Entfernung und nur kurz. Dennoch begann ihr Herz schneller zu schlagen, als sie dicht hinter Nemeth das Haus verließ und an dem Assassinen vorbeiging. Er rührte sich nicht, aber Robin glaubte den misstrauischen Blick seiner Augen regelrecht zwischen den Schulterblättern zu spüren.

»Jetzt beeil dich schon, Mutter«, drängelte Nemeth. »Immer trödelst du herum!«

Robin versetzte ihr einen Klaps mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf, und das Mädchen verzog übertrieben das Gesicht und beeilte sich weiterzustolpern, während sie die Hand hob und sich den Schädel rieb. Als Robin ihr folgte, sah sie aus den Augenwinkeln, wie der Assassine flüchtig lächelte und seine Aufmerksamkeit dann wieder seiner eigentlichen Aufgabe zuwandte, nämlich so zu tun, als wäre er gar nicht da.

»Wieso habt Ihr mich geschlagen?«, fragte Nemeth vorwurfsvoll, als sie außer Hörweite des Assassinen waren.

»Weil deine Mutter es auch getan hätte für diese vorlauten Worte«, antwortete Robin. »Und wir wollen doch schließlich kein Aufsehen erregen, oder?«

Nemeth rieb sich weiter den Schädel, obwohl Robin ihr wirklich kaum mehr als einen freundschaftlichen Klaps gegeben hatte, beließ es aber bei einem vorwurfsvollen Blick. Am Ende der Straße wandte sie sich nach links, und erst jetzt, als sie sicher außer Sichtweite des Wächters waren, wagte es Robin, vorsichtig aufzuatmen und den Kopf zu heben.

Die Straße, auf der sie sich nun befanden, unterschied sich in nichts von zahllosen Straßen in zahllosen Städten, in denen sie schon gewesen war. Nahe an der Stadtmauer gelegen, war sie weit vom Zentrum Jerusalems mit all seinen Wundern und fantastischen Kirchen, Palästen und anderen großartigen Bauwerken entfernt, und es entsprach auch ganz der Art der Assassinen, nicht in einem Palast zu residieren, sondern eher unsichtbar zu bleiben. Dennoch war sie enttäuscht. Auch wenn sie wusste, wie unsinnig es war, so hatte sie doch einfach etwas anderes erwartet. Sie wusste selbst nicht, was, aber auf jeden Fall irgendetwas, das ihrer Vorstellung von der heiligsten Stadt der Christenheit mehr entsprach.

»Wohin gehen wir zuerst?«, fragte Nemeth aufgeregt. »Die Grabeskirche? Der Palast des Königs? Der Tempelberg?«

»Kennst du denn all diese Orte?«, fragte Robin überrascht.

»Nicht alle«, gestand Nemeth kleinlaut. »Aber ich habe davon gehört. Und der Basar ist ganz in der Nähe des Tempelberges.«

Sie kicherte. »Ich habe ein wenig Geld eingesteckt. Wir könnten ein paar Einkäufe erledigen. Auf diese Weise«, fügte sie nachdenklich hinzu, »hätten wir nicht einmal gelogen. Oder wenigstens nur ein bisschen.«

Robin musste gegen ihren Willen lachen. Das Mädchen fand offensichtlich mit jedem Moment mehr Gefallen an dem Spiel, das sie spielten - und warum auch nicht? Ihre Verkleidung war immerhin gut genug gewesen, selbst einen Assassinen zu täuschen, und Salim hatte den Mann gewiss nicht wegen seiner Unzuverlässigkeit ausgewählt. Darüber hinaus wusste niemand, dass sie in der Stadt war. Genau genommen wusste nicht einmal jemand, dass es sie überhaupt gab. Nein, versicherte sie sich noch einmal selbst in Gedanken, ihre Tarnung war perfekt. In dem schlichten schwarzen Kleid und mit ihrer dunkleren Haut würde sie nicht einmal Dariusz erkennen.

»Warum nicht?«, stimmte sie achselzuckend zu. »Geh voraus.«

Nichts anderes - das machte der spöttische Blick klar, den Nemeth ihr über die Schulter zuwarf, hatte das Mädchen vorgehabt. Robin sagte auch dazu nichts, nahm sich aber vor, es damit gut sein zu lassen. Nemeth war in geradezu euphorischer Stimmung, was sie ihr gönnte, aber sie war ein Kind, und sie musste aufpassen, dass sie in ihrer Ausgelassenheit nicht sie beide in Gefahr brachte.

»Es ist ein Umweg«, sagte Nemeth, »aber wir könnten am großen Tempel vorbeigehen. Würde Euch das gefallen?«

Robin signalisierte mit einem stummen Nicken ihre Zustimmung, und Nemeth wandte sich am Ende der Straße abermals nach links, sodass sie sich nun wieder in Richtung des Josefstores bewegten, durch das sie die Stadt auch betreten hatten, wie Robin von Saila erfahren hatte. Endlich aber lag der gewaltige Komplex des Templum Domini vor ihnen. Die riesige goldene Kuppel und die Wände aus glasierten, blauen Ziegeln des Gebäudes beeindruckten Robin über die Maßen, aber sie gaben ihr auch das Gefühl, winzig und unwichtig zu sein, und das auf eine unangenehme, demütigende Art. Nie zuvor hatte sie ein solches Gotteshaus gesehen. An seinen wuchtigen Mauern, den kantigen Linien und den riesigen Torbögen war etwas, das sie schaudern ließ. Kathedralen, so hatte Bruder Abbé ihr einmal erklärt, werden gebaut, um den Menschen Gottes Größe und Allmacht vor Augen zu führen. Das mochte ja auch die Absicht des Baumeisters gewesen sein, der diese Kirche geplant und gebaut hatte, aber das Ergebnis wirkte - zumindest auf Robin - ganz anders. Dieses Gebäude führte ihr nicht die Größe Gottes vor Augen, sondern die Kleinheit des Menschen. Der Gott, zu dessen Lobpreisung und Ehre dieses Monstrum von Kirche gebaut worden war, konnte sich gar nicht für die Schicksale der Menschen interessieren.

Am Ende des Platzes neben dem Templum Domini lag ein wuchtiger Palast, dessen Fassade von insgesamt sieben riesigen Toren gebildet wurde: das Hauptquartier der Templer, nicht nur hier in Jerusalem. Auch über diesem Gebäude erhob sich eine Kuppel, die jedoch viel kleiner war als jene des Templum Domini. Robin fühlte sich angesichts der gigantischen Abmessungen nicht nur des Platzes, sondern auch der riesigen Gebäude ringsum verloren. Eine sonderbar gestaltlose, aber tiefe Enttäuschung begann sich in ihr breit zu machen. Sie fragte sich, warum sie überhaupt hierher gekommen war. Als sie sich dem Tempel genähert hatten, da hatte sie es fast bedauert, statt des einfachen schwarzen Kleides nicht ihr Templergewand angelegt zu haben. Obwohl farbige Burnusse, Kopftücher und Turbane auch in der heiligsten Stadt der Christenheit weit in der Überzahl waren, stellte auch der Wappenrock eines Templers oder eines anderen christlichen Ritters nichts Außergewöhnliches dar, und in ihrem weißen Ordensgewand hätte sie die Kirche ohne Probleme betreten dürfen. Noch vor zwei Wochen hätte sie ihr Leben für einen einzigen Blick in diesen heiligsten aller Orte riskiert. Jetzt war sie nicht einmal mehr sicher, ob sie ihn überhaupt noch sehen wollte.

»Starrt den Tempel nicht so an, Herrin«, zischte Nemeth. »Ihr zieht bereits neugierige Blicke auf Euch.«

Robin hätte beinahe widersprochen und sie angefahren, ob sie sich als Templer etwa nicht das Hauptquartier ihres eigenen Ordens ansehen dürfe, bis ihr im letzten Moment einfiel, dass sie nicht als Tempelritter auf dem Platz stand, sondern als einfache muslimische Frau ohne Stand und Rang. Schließlich kannte sie ihre Ordensbrüder gut genug, um zu wissen, dass schon ein falsches Wort oder ein zu neugieriger Blick ausreichen konnte, um sie als Spionin zu verdächtigen.

»Hast du nicht etwas ... von einem Basar gesagt?«, fragte sie stockend.

»Auf der anderen Seite des Berges«, bestätigte Nemeth. Sie sah Robin verwirrt an, denn der sonderbar niedergeschlagene Ton in ihrer Stimme war ihr keineswegs entgangen.

»Dann lass uns dorthin gehen«, sagte Robin müde. Vielleicht waren das Stimmengewirr und Durcheinander eines orientalischen Basars ja genau das, was sie im Moment brauchte, um ihre düsteren Gedanken wenigstens etwas aufzuhellen. Nemeth warf ihr einen neuerlichen, noch verwirrteren Blick zu, deutete aber dann nur ein Schulterzucken an und ging los.

Wieder nahm sie das Labyrinth kleinerer Sträßchen und Gassen auf, als sie den Vorplatz des Großen Tempels hinter sich ließen. Obwohl es noch früh war, herrschte auf den Straßen bereits ein reges Treiben. Männer und Frauen, die meisten - aber nicht alle - mit verhüllten Gesichtern, gingen ihrer Wege, standen zusammen und unterhielten sich oder eilten mit verbissenen Gesichtern und weit ausgreifenden Schritten an ihr vorüber. Eine angespannte Atmosphäre schien über der gesamten Stadt zu liegen, und Robin war sicher, auf mehr als einem Gesicht auch einen Ausdruck mühsam unterdrückter Furcht zu erkennen.

Mehr als einmal kamen ihnen Ritter in Waffen und prachtvollen Kleidern entgegen, einmal sogar eine Gruppe von drei ihrer eigenen Ordensbrüder, denen die Einheimischen beinahe angstvoll Platz machten. Und auch die Blicke, die den in strahlendes Weiß und blutfarbiges Rot gehüllten Gestalten folgten, waren alles andere als freundlich. Robin las Furcht in den dunklen Augen der Einheimischen, aber auch Trotz, und hier und da sogar fast so etwas wie Hass. Waren ihr, wenn sie in ihrer Rolle als Tempelritter durch die Straßen einer Stadt geschritten war, ebensolche Blicke gefolgt?

Sie wollte es nicht, aber plötzlich hörte sie, so deutlich, als hätte sie sie tatsächlich laut ausgesprochen, noch einmal Nemeths Worte von vorhin. Die heiligste Stadt der Christenheit. Und warum liegt sie dann in unserem Land?

Robin verscheuchte auch diesen Gedanken und signalisierte Nemeth stumm, schneller zu gehen. Sie war nicht mehr wirklich sicher, ob es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, das Haus zu verlassen und hierher zu kommen.

Aber sie war natürlich auch viel zu stolz, um dies - schon gar nicht vor Nemeth - zuzugeben.

Sie benötigten eine gute halbe Stunde, um den Basar zu erreichen, der tatsächlich genau auf der anderen Seite des Tempelberges lag. Robins Blick blieb auf dem Weg dorthin mehr als einmal an der goldenen Kuppel der Grabeskirche hängen, die sie selbst in ihrer Verkleidung hätte betreten dürfen, denn sie stand allen Gläubigen offen, gleich welchem Glauben sie auch anhingen.

Vielleicht auf dem Rückweg, entschied sie. Im Moment fühlte sie sich noch nicht in der Lage, eine Kirche zu betreten, ganz gleich, zu welchem Gott darin gebetet wurde.

Der Basar lag in einer schmalen, halbdunklen Gasse, die nur auf der linken Seite von den hier typischen, eingeschossigen Häusern aus unverputzten Lehmziegeln bestand, während die rechte Seite von einer nahezu senkrecht emporstrebenden Wand aus sandfarbenem Fels gebildet wurde. Auch dort hatten Händler, Handwerker und Bauern ihre Stände aufgeschlagen, einfache Konstruktionen aus Stoff und hastig zurechtgeschnittenen Ästen zumeist, über die bunte Stoffbahnen gespannt waren, die ihren Besitzern und deren verderblichen Waren Schutz vor der unbarmherzigen Sonnenglut gewährten. Auf der anderen Seite gab es auch einige wenige Stände, zum allergrößten Teil aber wurde gleich aus den Häusern heraus verkauft.

Ein unbeschreibliches Durcheinander aus Gerüchen, Farben und Lärm drang ihr entgegen und schlug sie fast augenblicklich in seinen Bann: Sie roch frisches Fladenbrot, den exotischen Duft kostbarer Gewürze und heißes Fett, Schweiß und Rosenöl, zu ihrem nicht geringen Erstaunen den typischen Geruch gebratenen Fisches und heißen Metalls, Olivenöls und Kümmels und gebratenen Lammes, und sie hörte das Schreien der Ausrufer, die ihre Waren priesen (natürlich hatte jeder das absolut beste Angebot unter dem gesamten Firmament), das Klingen von Hämmern, die Kupfer oder anderes Metall bearbeiteten, das Blöken eines Schafes und das Brutzeln heißen Fettes, das Weinen eines Kindes und die schrillen Stimmen der Feilschenden, lautes Lachen und das Geräusch harter Stiefelschritte auf dem gepflasterten Boden, und so vielfältig wie die Geräusche und Gerüche waren auch die optischen Eindrücke, die auf sie einstürmten. Obwohl die aufgespannten Sonnensegel rechts und links der Straße das Tageslicht zu einem matten, sonderbar buntfarbenen Zwielicht dämpften, hatte sie im allerersten Moment doch nur den Eindruck einer wahren Explosion von Farben, die von Kleidern, feilgebotenen Schmuckstücken und Teppichen, blitzenden Kupferkesseln und polierten Waffen ausgingen, die von ihren Besitzern mit typisch orientalischem Stolz zur Schau getragen wurden. Es herrschte ein unbeschreibliches Gedränge.

»Bleibt immer dicht bei mir, Herrin«, sagte Nemeth. »Nicht, dass wir uns am Ende verlieren und ich Euch suchen muss.«

Diese Sorge mochte nicht einmal unbegründet sein, aber Nemeths Worte waren trotzdem eine glatte Unverschämtheit, die Robin für einen Moment die Sprache verschlug. Sie kam jedoch nicht dazu, den strengen Verweis loszuwerden, der ihr auf den Lippen lag, denn Nemeth lief unverzüglich los, und sie musste sich sputen, um sie nicht tatsächlich aus den Augen zu verlieren. Sie machte sich keine Sorgen um Nemeth. Das Mädchen konnte zweifellos ganz gut selbst auf sich aufpassen - Tatsache war, dass sie nicht wirklich auf den Weg geachtet und keine Ahnung hatte, wie sie wieder zurückkommen sollte.

Selbstverständlich strebte Nemeth zuallererst einen Stand an, dessen Besitzer allerlei Süßigkeiten und Naschwerk feilbot, und sie begann auch fast unverzüglich um ein Stück türkischen Honig zu feilschen. Robin ließ sie gewähren, aber sie fragte sich im Stillen, ob Nemeth sie nur zu dem kleinen Ausflug überredet hatte, um sich auf diese Weise mit Süßigkeiten einzudecken, die sie ohne erwachsene Begleitung nicht hätte kaufen können und deren Erwerb ihre Mutter niemals gestattet hätte.

Der Verdacht war so hässlich, dass sich Robins schlechtes Gewissen wieder meldete. Fast hastig drehte sie sich um und gewahrte gerade noch ein Aufblitzen von Weiß und Rot, das zu schnell aus ihren Augenwinkeln verschwand, als dass sie sicher sein konnte. Und doch ...

»Was habt Ihr, Herrin?«, fragte Nemeth alarmiert. Offensichtlich war ihr Robins Erschrecken nicht verborgen geblieben.

»Nichts«, murmelte Robin. »Ich muss ... mich getäuscht haben.«

Sie war nahezu sicher, sich nicht getäuscht zu haben. Jemand beobachtete sie. Jetzt, im Nachhinein, wurde ihr klar, dass sie schon die ganze Zeit über das Gefühl gehabt hatte, beobachtet zu werden.

»Bleib hier«, sagte sie knapp. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten zum Anfang der Gasse zurück, wo sie erneut stehen blieb und sich aufmerksam umsah.

Nichts.

Wenn sie tatsächlich beobachtet wurden, dann war ihr Verfolger äußerst geschickt.

Aber wer sollte sie verfolgen? Niemand außer Salim und Bruder Abbé wusste, dass sie in der Stadt war. Und wenn es Salims Assassinen waren, die sie verfolgten, hätte sie sie nicht bemerkt.

Ganz davon abgesehen, dass sie bestimmt kein Templergewand getragen hätten ...

Sie ließ ihren Blick trotzdem noch einmal und sehr aufmerksam über die Straße schweifen, sah aber nichts Außergewöhnliches.

Vielleicht war sie einfach nur hysterisch.

»Was habt Ihr?«, fragte Nemeth noch einmal, als sie zu ihr zurückkehrte. Sie wirkte alarmiert.

»Nichts«, wiederholte Robin. »Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben.« Sie wedelte mit der Hand und war plötzlich dankbar für den schwarzen Schleier vor dem Gesicht, der ihre wahren Gefühle verbarg.

»Mach weiter.«

»Oh, ich bin schon fertig«, antwortete Nemeth. »Ich wollte nichts kaufen.«

Der Händler hinter seinem Stand blickte finster, und Robin fragte: »Warum hast du dann um den Preis gefeilscht?«

»Weil es Spaß macht«, antwortete Nemeth.

Robin schüttelte seufzend den Kopf. Vielleicht, um ihr Gewissen wegen des unfairen Verdachtes, den sie gerade gehabt hatte, zu beruhigen, wiederholte sie ihre ungeduldig-wedelnde Handbewegung und sagte: »Nimm das Stück Honig. Ich kläre das mit deiner Mutter. Aber gib acht«, fügte sie mit einem finsteren Blick ins Gesicht des Händlers hinzu, »dass du nicht übers Ohr gehauen wirst.«

»Ich doch nicht!«, versicherte Nemeth. Ihre Hand kam so schnell unter ihrem Kleid hervor, als hätte sie den Betrag schon längst abgezählt bereitgehalten, und händigte ihn dem Händler aus. Der Mann begann zwar lautstark zu lamentieren, dass er drei Frauen und ein Dutzend hungriger Kinder zu Hause hätte und solche Preise zweifellos der Grund für ihren bevorstehenden Hungertod seien, was ihn aber nicht daran hinderte, das Geld in Windeseile verschwinden zu lassen und Nemeth im Gegenzug ein rechteckiges Stück steinharten Honigs zu geben. Reingelegt, dachte Robin. Sie nahm sich vor, Salim bei nächster Gelegenheit nahe zu legen, Nemeth unter seine Fittiche zu nehmen. Das Mädchen war offensichtlich die geborene Intrigantin.

Nemeth begann genießerisch an ihrem Honig zu schlecken, während sie weitergingen. Robin warf - fast gegen ihren eigenen Willen - noch einmal einen Blick über die Schulter zurück, aber sie sah auch jetzt nichts Auffälliges.

Aus dem einfachen Grund, dass da nichts war, versuchte sie sich in Gedanken zu beruhigen. Sie war hysterisch. Es war ein Fehler gewesen, das Haus zu verlassen, und nun bezahlte sie den Preis dafür.

Sie würde Salim ganz gewiss nichts von diesem Ausflug erzählen.

Langsam schritten sie weiter über den Basar. Robin verspürte immer wieder den Wunsch, sich umzudrehen, um nach ihrem - eingebildeten - Verfolger Ausschau zu halten, aber sie gestattete sich nicht, diesem Bedürfnis nachzugeben, und die selbst auferlegte Disziplin half. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war immer noch da, nun aber nur noch schwach am Rande ihres Bewusstseins. Und nach einer Weile hatte sie es beinahe ganz vergessen. Das bunte Treiben und Lärmen des Basars nahm sie wieder in Beschlag, und statt sich weiter selbst zu quälen, konzentrierte sie sich lieber auf das, was sie sah, hörte und roch.

Der Basar zog sich über ein unerwartet langes Stück dahin, und es war nur einer von mehreren, die es hier in der Stadt gab. Die Anzahl der Männer und Frauen, die sich auf der schmalen Straße drängten, erschreckte Robin im ersten Moment fast, aber Jerusalem war ja auch eine große Stadt, und ihr Unbehagen mochte durchaus andere Gründe haben. Obwohl sie seit nunmehr gut zwei Jahren im Heiligen Land lebte, war sie tatsächlich erst ein einziges Mal auf einem Basar gewesen - und da hatte sie als Sklavin auf einem Podest gestanden und war zum Verkauf feilgeboten worden.

Nicht alle Waren wurden auf der Straße angeboten. Zahlreiche Türen standen offen - soweit es überhaupt welche gab -, und überall forderten aufgeregte Stimmen die Vorübergehenden lautstark auf, einzutreten und einen Blick auf die besten und preiswertesten Waren diesseits des Mittelmeeres zu werfen. Handwerker arbeiteten an Tellern, Teekannen oder prächtigen Harnischen, der verlockende Duft frisch zubereiteter Speisen drang ihr in die Nase, und in manchen Häusern sah sie Männer mit großen Turbanen und noch größeren Schnurrbärten, die im Schneidersitz zusammensaßen und Tee tranken. Der eine oder andere warf ihr ein verwirrtes Stirnrunzeln zu, wenn er ihre unverhohlen neugierigen Blicke bemerkte, aber sie erntete auch mehr als ein Lächeln. Allmählich begann sie sich zu fragen, wie viel von diesem Land und seinen Menschen sie eigentlich kannte. Sie war jetzt seit zwei Jahren hier, doch sehr viel mehr als Omars Sklavenkerker und Raschids Bergfestung hatte sie im Grunde noch nicht gesehen.

Sie stellte sich auch noch eine weitere Frage, die ihr fast gegen ihren Willen in den Sinn kam. Nemeth und sie waren vollkommen allein hierher gekommen, eine Frau und ein Mädchen ohne die Begleitung eines Mannes, und sie versuchte sich einen Marktplatz in ihrem Heimatland vorzustellen, eine finstere Gasse irgendwo am Rande der Stadt, in der sich Händler, Zigeuner, fahrendes Volk und finstere Gestalten herumtrieben, und fragte sich, ob sich eine schutzlose Frau und ein Kind dort auch so sicher fühlen würden wie hier.

Die Antwort auf diese Frage wollte sie gar nicht wissen.

»Was ist das hier eigentlich?«, fragte sie nach einer Weile und deutete auf die gewaltige Wand aus sandbraunem Fels, die die komplette rechte Seite der Gasse bildete.

»Der Tempelberg«, antwortete Nemeth und schleckte an ihrem Honig.

Robin blieb überrascht stehen. »Der Tempelberg?«

»Der Al-Schadenal-Sharif, den ihr Tempelberg nennt, um genau zu sein«, bestätigte Nemeth. Sie klang ein bisschen triumphierend, als wäre ihr gerade ein besonders raffinierter Streich gelungen. »Er ist die drittheiligste Stätte des Islams. Es heißt, dass Muhammad eine Traumreise nach Jerusalem unternahm, um hier auf den Tempelberg zu steigen und von dort den Koran zu empfangen. Und soweit ich mitbekommen habe, ist er auch für euch Christen von großer Bedeutung. Ihr wolltet doch hierher, oder?«


Robin nickte zwar, aber sie hatte Mühe, den Worten des Mädchens zu folgen. Ihr Blick tastete staunend über die gut fünf oder sechs Meter hohe Wand. »Er sieht so ... gerade aus«, murmelte sie. »Fast wie eine Mauer.«

»Manche behaupten auch, genau das wäre er«, sagte Nemeth triumphierend. Robin sah sie zweifelnd an, aber Nemeth nickte nur noch heftiger und fuhr fort: »Es gibt nicht wenige, die glauben, König Salomon hätte diesen ganzen Berg bauen lassen. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, aber es heißt, dass er voller Gänge und Stollen und geheimer Kammern wäre. Und es gibt sogar Türen, die hineinführen. Seht Ihr?« Sie deutete mit einer weit ausholenden Geste auf eine niedrige Tür aus wuchtigen, eisenbeschlagenen Bohlen, die nur wenige Schritte entfernt tatsächlich in die braune Sandsteinmauer hineinführte.

Vielleicht war ihre Bewegung etwas zu schwungvoll, denn als sie den Arm wieder zurückzog, streifte ihre Hand einen Mann, der gerade vorübergehen wollte. Das Stück Honig flog davon, und der Mann - er war nicht viel größer als Robin, aber mindestens doppelt so breit und dreimal so schwer - blieb mitten im Schritt stehen und blickte mit gerunzelter Stirn auf den klebrigen Honigstreifen hinab, der auf seinem Mantel zurückgeblieben war. Nemeth schlug erschrocken die Hand vor den Mund, bückte sich aber dann hastig, um ihren Honig aufzuheben, und der Dicke versetzte dem Honig einen Fußtritt, der ihn endgültig davonschlittern ließ.

»He!«, protestierte Nemeth. »Mein ...«

Sie kam nicht weiter. Der dicke Mann versetzte ihr eine Ohrfeige, die sie zwei Schritte rückwärts stolpern und dann auf das Hinterteil plumpsen ließ.

»Du dummes Kind«, fauchte er. »Kannst du denn nicht aufpassen? Jetzt sieh dir nur an, was du mit meinem Mantel gemacht hast!«

Nemeth presste die Hand gegen die Wange, wo sie der Schlag getroffen hatte, und starrte den Dicken aus aufgerissenen Augen an, die sich rasch mit Tränen füllten. Dem Mann schien das allerdings nicht zu genügen, denn er trat mit einem wütenden Grunzen auf Nemeth zu und hob den Arm, um sie noch einmal zu schlagen.

»Das genügt«, sagte Robin.

Sie hatte nicht einmal sehr laut gesprochen, aber ihre Stimme war von einer so schneidenden Kälte erfüllt, dass der Dicke den Arm tatsächlich wieder sinken ließ und sich zu ihr umdrehte. Im allerersten Moment wirkte er einfach nur verwirrt, dann blitzte Wut in seinen Augen auf. »Was hast du gesagt, Weib?«

Er war nicht der Einzige, der auf Robins Stimme aufmerksam geworden war. Zwei oder drei Männer waren stehen geblieben und blickten stirnrunzelnd in ihre Richtung, und es schien leiser geworden zu sein. Nach und nach erstarben immer mehr Gespräche in ihrer unmittelbaren Umgebung.

Robin gemahnte sich in Gedanken zur Vorsicht. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war Aufsehen.

»Ich sagte, es ist gut«, antwortete sie. »Das Mädchen war ungeschickt, und Ihr habt es dafür gezüchtigt. Ich finde, das reicht.«

»So, findest du?«, fragte der Dicke lauernd. Er hatte jedes Interesse an Nemeth verloren, und Robin beschlich das ungute Gefühl, dass ihre Worte vielleicht doch nicht ganz so mit Bedacht gewählt gewesen waren, wie sie geglaubt hatte.

»Was erdreistest du dich, mich zu maßregeln, Weibsstück?«, fuhr der Dicke fort. »Weißt du nicht, mit wem du sprichst?«

Nein, dachte Robin, so wenig wie du. Laut, aber mit mühsam beherrschter Stimme, antwortete sie: »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Herr. Bitte verzeiht. Es ist meine Schuld. Ich wusste, wie wild das Mädchen ist und hätte besser aufpassen müssen.«

Im ersten Moment war sie fast sicher, dass diese Entschuldigung dem Dicken immer noch nicht reichen würde. Vielleicht war er einfach auf Streit aus. Dann aber machte die Wut in seinen Augen plötzlicher Verachtung Platz. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass es wenig Ehre einbrachte, auf eine wehrlose Frau loszugehen. »Pass in Zukunft besser auf dein Balg auf, dummes Weib«, sagte er verächtlich.

Robin atmete nicht nur innerlich auf, als er sich umdrehte, sondern beglückwünschte sich im Stillen auch zu ihrer eigenen Beherrschung. Wäre die Situation auch nur ein bisschen anders gewesen ...

Sie war anders.

Der Dicke hatte zwar von ihr abgelassen, doch als er an Nemeth vorbeiging, versetzte er ihr einen Tritt, der sie vor Schmerz aufschreien und sich krümmen ließ, und Robin war mit einem einzigen Schritt bei ihm und riss ihn an der Schulter zurück. Der Dicke schüttelte ihren Arm mit einem wütenden Knurren ab, fuhr herum und holte aus, um sie zu schlagen. Robin duckte sich ohne Mühe unter seinem Schlag weg, packte sein Handgelenk und benutzte die Kraft seiner eigenen Bewegung, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und von sich zu stoßen. Der Dicke stolperte mit hilflos rudernden Armen in einen Stand, der unter seinem Aufprall zerbrach und zusammen mit seinem Besitzer und ihm selbst zu Boden ging.

Der Dicke heulte auf und kam mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder auf die Beine. Robin wich rasch zwei oder drei Schritte zurück, duckte sich leicht und breitete die Arme aus. Ihre Schulter schmerzte, und ihre Gedanken überschlugen sich schier. Sie hatte alles verdorben! Wenn sie jemals eine Chance gehabt hatte, ohne allzu großes Aufsehen aus dieser Situation herauszukommen, dann hatte sie sie gerade selbst kaputtgemacht!

»Du verdammtes Weibsbild!«, keuchte der Dicke. »Das hast du nicht umsonst gemacht! Dafür zahlst du!« Er hatte sich beim Sturz die Nase aufgeschlagen und fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um das Blut fortzuwischen, das herauslief. Trotzdem kam er näher. Seine Augen funkelten, und Robin wich einen weiteren halben Schritt zurück. Sie durfte diesen Mann nicht unterschätzen. Er war plump und schwerfällig und wahrscheinlich ebenso langsam wie ungeschickt, aber er war auch mindestens dreimal so schwer wie sie. Wenn er sie zu fassen bekam, war sie in Schwierigkeiten.

»Dafür bringe ich dich um!«, drohte der Dicke. Er meinte das ernst, begriff Robin.

Plötzlich war ihr alles egal. Was immer auch in den nächsten Augenblicken geschah, Salim würde so oder so davon erfahren, und er würde sofort wissen, wer die unscheinbare junge Frau gewesen war, die auf dem Basar eine Prügelei angefangen hatte.

»Ich nehme nicht an, dass es Sinn hat, an dein Ehrgefühl zu appellieren und dich zu fragen, ob du tatsächlich eine Frau schlagen willst«, fragte sie.

Sie bekam nicht einmal eine Antwort. Der Dicke grunzte nur, kam einen weiteren Schritt heran und hob in einer albernen Geste die Fäuste vor das Gesicht.

»Dann appelliere ich eben an deinen Verstand«, fuhr Robin fort. »Wenn du mich angreifst, töte ich dich.«

Für einen halben Atemzug zögerte der Dicke tatsächlich, und in die Mordlust in seinem Blick mischte sich Unsicherheit. Vielleicht begann er zu begreifen, dass diese Drohung durchaus ernst gemeint war. Dann aber brüllte er voller Wut auf und stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf sie.

Robin machte einen halben Schritt zur Seite und tat so, als würde sie nach seinem Arm greifen, um ihn noch einmal auf die gleiche Weise wie gerade abzuwehren, und natürlich fiel der Dicke darauf herein. Er duckte sich mit selbst für Robin unerwarteter Geschicklichkeit, um ihrer zupackenden Hand auszuweichen, und versuchte gleichzeitig, ihr einen brutalen Faustschlag ins Gesicht zu versetzen. Robin musste nicht einmal viel tun. Der Fettsack sprang mehr in ihren Hieb hinein, als sie zuschlug, und Robin konnte ihren Stoß gerade noch im letzten Moment zurückhalten, um ihm die allergrößte Wucht zu nehmen. Sie wollte den Mann nicht töten.

Dennoch konnte Robin hören, wie mindestens zwei seiner Rippen brachen, als sie ihm die Faust in die Herzgrube hämmerte.

Die Augen des Dicken quollen ein gutes Stück weit aus den Höhlen. Einen winzigen und zugleich schier endlosen Moment lang stand er wie erstarrt da, dann torkelte er einen Schritt zurück, und sein Mund öffnete und schloss sich wie der eines Fisches auf dem Trockenen, während er ebenso vergeblich wie ein solcher nach Luft schnappte. Dann kippte er stocksteif nach hinten und zertrümmerte im Fallen noch einen weiteren Verkaufsstand. Es sah beinahe komisch aus.

Aber das war es nicht.

Ganz und gar nicht.

Plötzlich war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Es wurde still. Vollkommen still. Robin spürte, wie Dutzende von Augenpaaren sie anstarrten, und sie registrierte sogar, wie Nemeth hinter ihr aufsprang und hastig davonlief. Niemand hielt sie auf. Wenigstens etwas.

Das unheimliche Schweigen hielt noch eine weitere, schier endlose Sekunde an, dann schüttelte der erste Mann seine Lähmung ab, und die Bewegung war offensichtlich ein Zeichen für drei oder vier weitere, sich gemeinsam auf sie zu werfen.

Robin versuchte erst gar nicht, zu kämpfen. Die Übermacht war einfach zu groß. Und selbst, wenn sie mit vier Gegnern gleichzeitig fertig geworden wäre (was schlechterdings unmöglich war), wären sofort andere da gewesen. Der Schock, den es für diese Männer bedeuten musste, eine Frau auf diese Weise kämpfen zu sehen, würde nicht lange vorhalten. Als der erste Mann die Arme ausstreckte und sie zu packen versuchte, ließ sie sich einfach fallen, zog die Knie an den Leib und rollte blitzartig zwischen seinen Beinen hindurch. Ein riesiger Fuß stampfte nach ihrem Gesicht, und Robin revanchierte sich, indem sie hart nach oben austrat. Sie wurde mit einem schrillen Geheul belohnt, und dem Anblick eines dürren Kerls, der zwei komische Hüpfer machte und dann gurgelnd und die Hände in den Schoß gekrallt in die Knie brach.

Sofort waren zwei weitere Männer zur Stelle. Robin trat dem einen vor die Kniescheibe, was ihn prompt zu Boden schickte, doch der andere packte ihren Arm - ihren linken Arm! - und riss sie in die Höhe.

Robin kreischte vor Pein. Ihre verletzte Schulter fühlte sich an, als hätte man ihr den Arm aus dem Gelenk gerissen, und der Schmerz war so schlimm, dass ihr übel wurde. Alle Kraft wich aus ihrem Körper. Sie brach in die Knie, und der Mann, der sie gepackt hatte, riss sie erneut am linken Arm in die Höhe, und diesmal war der Schmerz so unbeschreiblich, dass ihr schwarz vor Augen wurde.

Als sich die Schleier vor ihren Augen wieder lichteten, hielten sie zwei kräftige Männer an den ausgebreiteten Armen gepackt, und ein dritter stand vor ihr und war gerade dabei, ihr den Schleier vom Gesicht zu reißen.

»Wer bist du, Weib?«, fuhr er sie an. Robin hatte Mühe, sein Gesicht zu erkennen, und nicht nur sein Gesicht. Alles verschwamm vor ihren Augen.

»Wer bist du, Weib, dass du kämpfst wie ein Mann?«, wiederholte er seine Frage. »Bist du überhaupt ein Weib?« Eine harte Hand grapschte nach ihrer linken Brust und drückte so fest zu, dass Robin vor Schmerz aufstöhnte.

»Ja, du bist ein Weib«, sagte er. »Aber wie kann das sein? Du kämpfst härter als jeder Mann, den ich kenne, und ...«

Der Rest seiner Frage ging in einem qualvollen Stöhnen unter, als Robin ihm die Stirn ins Gesicht rammte und ihm die Nase brach. Der Mann stolperte zurück und schlug die Hand vor das Gesicht. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.

Robin ließ sich fallen, warf sich zurück und fast im gleichen Moment wieder nach vorne, und der doppelte Ruck wirkte. Der Schmerz in ihrer Schulter ließ sie gellend aufschreien, aber sie kam frei, stolperte einen Schritt nach vorn und halb blind vor Schmerz herum. Noch immer drehte sich alles um sie. Die Männer versuchten abermals nach ihr zu greifen. Robin wich einer zupackenden Hand aus, tauchte unter einem gemeinen Fausthieb weg und schlug blindlings zurück. Sie hatte nicht mehr die Kraft, wirklich hart zuzuschlagen, aber der Mann stieß trotzdem keuchend die Luft zwischen den Zähnen aus und stolperte aus dem Weg. Robin taumelte weiter. Hände griffen nach ihr. Stoff zerriss, und Fingernägel fuhren heiß und brennend über ihre Wange und ihren Hals. Jemand schrie ihren Namen.

Irgendwie gelang es ihr, sich noch einmal loszureißen und davonzutaumeln. Schatten führten einen irrsinnigen Tanz rings um sie herum auf, versuchten sie zu packen. Robin schlug zu, traf und wurde getroffen und fiel auf ein Knie herab. Eine Hand grub sich so schmerzhaft in ihre verwundete Schulter, dass ihr abermals übel wurde. Der Ausschnitt der Welt vor ihren Augen begann kleiner zu werden. Sie sah plötzlich keine Farben mehr. Dunkelheit begann aus allen Richtungen auf sie zuzukriechen.

»Robin! Hierher!«

War das Nemeth? Robin hob mühsam den Kopf und sah einen sonderbar verschwommenen hellen Schemen, der ihr zuzuwinken schien. Nicht weit entfernt, nur ein paar Schritte. Es musste Nemeth sein. Niemand sonst hier kannte ihren Namen. Sie stand vor der Mauer auf der rechten Seite, aber irgendwie zugleich auch darin, und winkte ihr hektisch zu.

Der Anblick gab Robin noch einmal neue Kraft. Sie taumelte auf die Füße, riss sich los und rannte auf den Schatten zu. Hinter ihr waren schwere, trappelnde Schritte, die rasend schnell näher kamen. Sie konnte es nicht schaffen.

Aber irgendwie brachte sie das Unmögliche fertig. Plötzlich lag die Tür vor ihr. Robin duckte sich unter dem kaum fünf Fuß hohen Sturz hindurch und spürte, wie sich starke Finger in ihr Kleid krallten, aber dann war da plötzlich noch eine andere, viel stärkere Hand, die ihren Arm ergriff und sie mit solcher Kraft nach vorne riss, dass sie hilflos stolperte und nach zwei oder drei Schritten gegen die raue Wand prallte, die den Gang auf der anderen Seite begrenzte. Hinter ihr wurde ein Chor ebenso wütender wie enttäuschter Stimmen laut, dann hörte sie ein dumpfes Krachen, und es wurde dunkel. Noch während sie hilflos an der Wand herab in die Knie brach, ertönte ein schweres Scharren und Poltern; vielleicht ein Riegel, der vorgelegt wurde.

»Herrin? Ist alles in Ordnung?«

Hände machten sich in der Dunkelheit an ihr zu schaffen, tasteten über ihr Gesicht und ihren Hals und zogen sich erschrocken zurück, als sie die frischen blutigen Kratzer spürten. Robin drehte sich mühsam um. Sie fühlte rauen Stein unter den Fingern, und ein sonderbar muffiger Geruch hing in der Luft. Es war vollkommen dunkel.

Das Klicken eines Feuersteins erscholl irgendwo links von ihr, einmal, zweimal, dreimal, dann stach ein weißer Funke durch die Schwärze, der sich im nächsten Augenblick zur ruhig brennenden Flamme einer Fackel auswuchs. Ein schmales, fast jungenhaft wirkendes Gesicht erschien in der Dunkelheit über ihr.

»Rother?«

»Soll ich mich geschmeichelt fühlen, dass du dich überhaupt noch an mich erinnerst?«, fragte der junge Tempelritter. Seine Stimme troff vor Verachtung. Langsam trat er auf sie zu. Seine Augen glitzerten kalt. »Schreckst du denn vor gar nichts zurück? Jetzt verkleidest du dich schon als Weib, um unerkannt deinen widernatürlichen Gelüsten nachzugehen? Ich hätte dich töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte!«

Robin ließ sich mühsam an der Wand herabgleiten und biss die Zähne zusammen, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Ihre Schulter schien in Flammen zu stehen, und sie hatte das Gefühl, als wäre tief in ihrem Körper irgendetwas zerbrochen.

»Warum ... tust du es dann ... nicht?«, presste sie hervor. »Die Gelegenheit ist günstig.«

Rothers Augen flammten auf. Er trat einen weiteren Schritt auf sie zu und riss das Schwert aus dem Gürtel. Die Klinge zitterte, als er die Spitze auf ihre Kehle richtete. »Führe mich nicht in Versuchung«, zischte er.

»Wirst du wohl sofort mit diesem Unsinn aufhören, du Dummkopf!«, fuhr Nemeth ihn an. Sie schlug sein Schwert beiseite, funkelte ihn einen Moment lang herausfordernd an und ließ sich dann neben Robin auf die Knie sinken. Der Ausdruck von Zorn auf ihrem Gesicht machte Bestürzung und Sorge Platz.

»Bewegt Euch nicht, Herrin«, sagte sie. »Ich helfe Euch.«

Robin hätte sich nicht einmal bewegen können, wenn sie es gewollt hätte. Ihre Schulter schmerzte unerträglich. Ein leises Wimmern kam über ihre Lippen, als Nemeth mit spitzen Fingern ihr Kleid zurückzuschlagen begann und sich vorsichtig an dem Verband zu schaffen machte. Der Stoff war dunkel und schwer von Blut.

Rother trat näher und senkte seine Fackel. Seine Augen wurden groß. »Aber ...«

»Halt den Mund, du Dummkopf!«, unterbrach ihn Nemeth gereizt. »Leuchte mir lieber!«

Rother war so perplex, dass er schon ganz automatisch gehorchte. Nemeth rutschte ein Stück zur Seite, um sich nicht selbst im Licht zu sitzen, und wickelte behutsam weiter den Verband ab. Robin stöhnte, als sie sah, dass die fast verheilte Wunde darunter wieder aufgebrochen war und heftig blutete.

Rother ächzte. Die Fackel in seiner Hand begann zu zittern, und seine Augen quollen ein Stück weit aus den Höhlen.

Aber er starrte nicht die Wunde an.

»Aber das ist doch ...«, stammelte er. »Ich meine ... aber ich dachte, du ... du ...«

»Du bist wirklich ein richtiger Mann, wie?«, unterbrach ihn Nemeth spöttisch. »Wenn du einen Satz mit den Worten ich dachte beginnst, dann folgt garantiert eine Katastrophe.«

Rother schien ihre Worte gar nicht zu hören. Er starrte Robins Brüste an, die unter dem Kleid zum Vorschein gekommen waren. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren.

Robin hob instinktiv die Hand, um ihre Blöße zu bedecken, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern ließ den Arm kraftlos wieder sinken. Es spielte keine Rolle mehr. Alles war aus.

»Aber du ...«, stammelte Rother. »Ich meine, als ... als ich dich mit dem Sarazenen gesehen habe, da dachte ich ... ich meine ...«

»Ja, ich weiß, was du dachtest«, sagte Robin müde.

»Du ... du bist ... eine Frau?«, ächzte Rother.

»Ein scharfsinniges Bürschchen, Euer Freund«, höhnte Nemeth. »Seid ihr Tempelritter alle so klug? Euch entgeht aber auch wirklich nichts.«

Rother nahm sie auch weiterhin gar nicht zur Kenntnis. »Aber wie kann das sein?«, murmelte er. »Ich meine, wie ...?«

»Jetzt hör endlich auf zu reden!«, schnappte Nemeth. »Die Wunde sieht schlimm aus. Wir müssen sie verbinden, oder sie verblutet!«

Sie überlegte einen Moment angestrengt, dann griff sie kurzerhand nach Robins Kopftuch und versuchte es in Streifen zu reißen. Ihre Kraft reichte nicht, und Rother steckte rasch sein Schwert ein und zog stattdessen einen schmalen Dolch, den er dem Mädchen reichte. Nemeth nahm ihn wortlos entgegen und zerschnitt das Kopftuch in ein halbes Dutzend handbreiter Streifen, mit denen sie - alles andere als sanft, aber sehr schnell - einen Verband über der Wunde improvisierte. Es tat weh, aber Robin glaubte zumindest zu spüren, dass die Blutung tatsächlich nachließ. Sie glaubte nicht, dass sie wirklich in Gefahr war, zu verbluten. Nemeth übertrieb, wie sie es gerne tat.

Und selbst wenn nicht, war es vermutlich auch egal.

Endlich hörte Nemeth auf, an ihrer Schulter herumzuzerren und -zudrücken, und Robin ließ mit einem erleichterten Seufzen den Hinterkopf gegen den rauen Stein sinken und schloss die Augen. Die Schmerzen verebbten allmählich, aber nun machte sich eine bleierne Schwere in ihr breit. Keine drohende Ohnmacht, begriff sie. Sie war schlicht und einfach dabei einzuschlafen.

Robin riss mit einem Ruck die Augen auf.

Auch Rother hatte sich mittlerweile auf die Knie niedergelassen. Er starrte jetzt nicht mehr ihre Brüste an, sondern ihr Gesicht. Er war kreidebleich.

»Du ... du bist eine Frau«, murmelte er.

»Wie Nemeth schon sagte«, antwortete Robin mit einem dünnen, gequälten Lächeln. »Du bist ein scharfer Beobachter. Dir entgeht wirklich nichts. Wo kommst du überhaupt so plötzlich her? Erzähl mir nicht, du wärst ganz zufällig des Weges gekommen.«

Rother schwieg, und Robin ließ ihren Blick über sein Templergewand schweifen und dachte an den Schemen in Weiß und Rot, den sie vorhin auf dem Basar gesehen hatte. »Du hast uns verfolgt.«

»Ich ... wusste, dass man dich in dem Assassinenhaus untergebracht hatte«, antwortete Rother zögernd. »Als ich das Mädchen und dich herauskommen sah, war ich zuerst nicht sicher. Aber dann dachte ich, du hättest dich als Frau verkleidet, und bin euch gefolgt.«

»Wer hat dir gesagt, dass ich in diesem Haus bin?«, fragte Robin.

Rother schwieg. Er wich ihrem Blick aus.

»Jemand hat dich beauftragt, mir nachzuspionieren«, beharrte Robin. »Wer war es? Bruder Dariusz? Du kannst es mir ruhig sagen. Es ist ohnehin alles vorbei. Ihr habt gewonnen.«

»Nein«, antwortete Rother, leise und noch immer, ohne sie direkt anzusehen. »Nicht Dariusz.«

»Also Abbé.« Robin seufzte. Der Gedanke hätte sie beruhigen sollen, aber er tat es nicht. Sie fühlte sich verraten.

Rother antwortete auch darauf nicht. Er starrte weiter an ihr vorbei ins Leere und stand dann mit einem plötzlichen Ruck auf. Seine Fackel flackerte.

»Wir müssen weg hier. Die Männer werden Alarm schlagen, und jemand wird kommen und nach dir suchen. Eine Frau im Tempelberg, das ist unmöglich. Kannst du laufen?«

Robin versuchte es. Sie kam tatsächlich auf die Füße, aber als sie einen Schritt machen wollte, gaben ihre Knie unter dem Gewicht ihres Körpers nach, und Rother konnte gerade noch rechtzeitig hinzuspringen, um sie aufzufangen. Wortlos ergriff er ihren Arm und legte ihn sich um die Schulter. Nemeth nahm die Fackel und ging voraus.

»Warum tust du das?«, fragte Robin. »Wenn sie dich zusammen mit mir erwischen, dann ist es auch um dich geschehen. Lass mich einfach hier und bring dich in Sicherheit.«

»Es ist nicht meine Aufgabe, dich hier zurückzulassen und mich in Sicherheit zu bringen«, antwortete Rother. »Und nun schweig still. Ich muss mich konzentrieren.«

»Worauf?«, wollte Robin wissen.

»Auf die Frage, wie wir lebend hier herauskommen«, antwortete er.

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