Juli

Gregory war schon da. Der maitre d’ ging ihr voraus. Gregory saß in der Ecke. Weit hinten. Rechts. Die Sitzbänke runde Nischen. Gregory saß in der letzten Nische. In der Mitte der Sitzbank.

Sie bekam den Sessel ihm gegenüber. Der maitre d’ hielt ihr den Sessel vom Tisch weg. Schob ihr den Sessel dann unter. Er griff von links auf den Platzteller. Nahm die kunstvoll gefaltete Serviette. Schlug sie aus und legte sie ihr auf den Schoß. Er hielt die Serviette zwischen Daumen und Zeigefinger. Links. Mit der Rechten. Von rechts legte er ihr die Speisekarte auf den Platzteller. Gregory schaute diesem Mann hinter ihr zu. Der ging weg. Gregory lehnte sich vor. Sie drehte sich weg. Sie drehte sich aus seinem Blick weg und schaute zu der Uhr an der Wand hinter sich zurück. Eine schwarze Art-déco-Uhr auf einer Steinkonsole vor einer Spiegelwand. Die Wand hinauf Bänder von Glitzersteinen. Die Glitzersteine waren aufgeklebt. Billig. Es war kein Versuch unternommen worden, die Glitzersteine in die Spiegelwand einzulassen. Sie als Nägel erscheinen zu lassen. Wenigstens. Swarovski, dachte sie. Sie wäre nur 12 Minuten zu spät, sagte sie. Für London. Für London sei das eine Leistung.

Sie schaute Gregory herausfordernd an. Er seufzte. Ja, wahrscheinlich war das so. Für ihn reiche das nicht.»Not in my book. «sagte er. Mit den englischen Zügen und deren Unpünktlichkeit könne niemand einen Termin einhalten. Da brauche man einen Chauffeur. Sie beugte sich über den Tisch. Wie solle man das hier machen. Sie wiederholte es. Die englischen Züge. Es sei unmöglich. Er winkte ab. Ja. Ja. Er habe begriffen. Aber gäbe sie nicht immer den Umständen Schuld. Ginge es nicht darum, trotz der englischen Züge pünktlich zu sein. Wäre nicht das die Leistung.

Der chef de rang kam an den Tisch. Ob man gewählt hätte. Gregory bejahte.»King crab and prawn cocktails and charcoal grilled chateaubriand with pommes soufflées for us both. «Die Nachspeise. Das würden sie dann später entscheiden. Und dann nähme er eine Flasche Vouvray. Der sommelier würde schon wissen, was da gut sei. Er wolle keinen Rotwein am Mittag. Der Oberkellner hörte sich die Bestellung an. Er stand ein wenig vorgebeugt. Zu Gregory gewandt. Er hatte die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt. Er verbeugte sich kurz und ging. Sie rief ihm nach, dass sie Mineralwasser wolle. Ja. Sparkling. Der Mann nickte ihr zu und ging davon.

Gregory schaute sie finster an. Das hätte sie ihm sagen sollen. Sie müsse ihm sagen, dass sie ein Mineralwasser haben wolle, und er gäbe das weiter.»Wie beim Militär. «fragte sie. Das hier. Das wäre eine kulturelle Erfahrung, erwiderte Gregroy. Ob sie denn überhaupt wisse, wo sie sich hier befände. Die kleine Amy aus Wien säße hier, wo nur die wichtigsten Personen der Weltgeschichte gesessen hätten. Young Amy und die Wichtigsten. Die Sieger und nicht die Bekanntesten. Wichtigkeit. Das wäre das Geheimnis des Siegens. Ihre Abstammung. Ihre Familie. Das reiche da nicht aus.

«Boing!«, wollte sie sagen. Gepunktet. Gregory ging es nicht subtil an. Aber man könne es doch kaufen, lächelte sie ihm zu. Sie betrachtete ihn. Gregory sah genauso aus, wie der Innendekorateur sich den idealen Gast vorgestellt haben musste. So wie Gregory musste der ideale Gast aussehen. Der erfolgreiche Mann in den besten Jahren. Nicht richtig dick, aber ein wenig schwerer. Eine reichere Silhouette konnte man das nennen. So würde das gesagt werden müssen. Gregory hatte eine reichere Silhouette. Aber er war schon richtig so. Man konnte sich ihn nicht anders vorstellen. Gregory war perfekt angezogen. Unauffällig, aber atemberaubend richtig. Die elfenbeinweiße Hose. Das schwarze Sakko. Das Material des Sakkos schimmerte vor Leichtigkeit und Kühle. Das dunkellila-elfenbeinweiß gestreifte Hemd. Das hellgrün-gelbgepunktete Seidentuch in der Brusttasche. Sie lehnte sich zurück, um unter den Tisch sehen zu können. Die Schuhe. Schwarze Maßschuhe und grau-fliederfarbene Seidensocken. Keine Krawatte. Gregory war also in Freizeitkleidung. Die Farben die perfekte Ergänzung zur Einrichtung und das Seidentuch genau der Kontrapunkt, der die Harmonie erst richtig betonte. Ein Traum an Richtigkeit. Sie seufzte. Gregorys Maniküre war dann auch noch sehr viel perfekter als ihre.

Warum sie dann hier sei, fragte sie. Sie lächelte ihn weiter an. Sie lächelte strahlend. Sie lächelte den Kellner an, der das Mineralwasser brachte. Das Brot und die Butter. Dieser Kellner hatte eine weiße Jacke an. Er war aber sehr viel älter als der chef de rang. Er war ein alter Mann. Sehr alt. Er nickte ihr zu. Er drehte den Flaschenverschluss auf und schenkte ihr ein. Er sah Gregory fragend an. Gregory winkte ab. Sie lächelte dem Mann wieder zu. Der nickte zurück und ging. Gregory rümpfte die Nase.

Sie beugte sich über den Tisch und lachte Gregory zu. Ob er wisse, dass er gerade die Nase gerümpft habe. Ob er das Wort kenne. Er spräche ja Deutsch, als wäre es seine Muttersprache, aber rümpfen. Sie wiederholte das Wort. Rümpfen. Wie man das auf Englisch sage. Gregory schaute erst fragend. Sie machte es ihm vor. Sie rümpfte ihre Nase. Gregory habe die Nase gerümpft, weil er ein Snob sei und es falsch fände, wenn sie den Kellner anlächle. Der Kellner aber. Wäre der nicht ein wunderbares Faktotum. Der sähe doch aus, als hätte er schon Churchill den Whisky gebracht. Sie fände es richtig altmodisch, jemanden nicht dafür zu belohnen, dass er eine solche Illusion aufrechterhielt. Eine solche Schauspielerei. Das wäre doch auch Arbeit. Diese tiefen Falten im Gesicht zu haben. Und außerdem. Das beruhige doch jeden Gast und bestätige alle in ihrer Jugendlichkeit. Sie würde diesen Mann besonders hoch bezahlen. Sie hoffe, Gregory würde das dann beim Trinkgeld berücksichtigen. Gregory hatte ihr nicht zugehört. Er schaute durch sie hindurch. Er überlegte die ganze Zeit. Rümpfen, sagte er dann. Rümpfen, das hieße to sneer. Turn up one’s nose at something.»Or at someone. «sagte sie.

Der sommelier kam an den Tisch. Sie verstand ihn nicht gleich. Er sprach, als käme er aus Manchester. Aber das wusste sie nicht so genau. Er sprach Gregory an. Einen Vouvray. Er habe gesehen, sie würden das Chateaubriand essen. Er habe eine Cuvée Aurelie von der Domaine du Viking aus dem Jahr 2004. Das wäre ein sehr fruchtiger Wein. Nougat und Haselnuss. Im zweiten Geruch käme dann getrocknetes Stroh hinzu, und hier würde dann die Verbindung mit den Aromen des Chateaubriand erfolgen. Tabak und Vanille würden die Fleischaromen befreien und einem Marzipanaroma Platz machen. Das Marzipan zum Ende am Gaumen könne so intensiv sein, dass man sich das Dessert sparen könne. Die Männer grinsten einander an. Gregory nickte. Ja, das könne er sich vorstellen. Der Boden für diesen Wein sei ja auch die richtige Mischung von Lehm und Kalkstein. Der sommelier nickte zustimmend. Er habe dann aber noch einen Vorschlag zu machen. Weil es so heiß sei. Der Mann schaute nach vorne zum Eingang. Weil es so heiß sei, würde er auch an den trockenen Le Clos de la Thierrière denken. Die Domaine sei Sylvain Gaudron. Der Jahrgang 2008. Wie gesagt. Bei einer solchen Hitze würde er diesen Wein vorschlagen. Natürlich wäre das eigentliche Abenteuer eines Pineau blanc de la Loire diese ganz besondere Halbsüße. Aber die Domaine Gaudron habe da eine große Leistung vollbracht. Der Reichtum des Vouvray wäre erhalten, und trotzdem hätte dieser Wein jene Trockenheit, die ihn zu einem perfekten Sommerwein mache.

Die beiden Männer schauten einander an. Ins Gesicht. Gregory dachte nach. Er machte einen schmalen Mund. Der sommelier hielt den Kopf schief. Fragend. Wartend. Gregory entschied sich für den Le Clos de la Thierrière. Der sommelier verbeugte sich. Man würde nicht enttäuscht werden, das könne er versprechen. Er wandte sich jetzt auch wieder an sie. Dann ging er eilig davon.

Gregory nahm sich ein Stück Baguette und Butter. Also, begann er. Er machte eine lange Pause. Dann hob er den Kopf. Er hätte erwartet, von ihr zu hören. Berichte zu bekommen. Sie sah ihn fragend an. Er wandte sich wieder dem Baguette zu. Ja. Es wäre schon ihre Aufgabe gewesen, ihn informiert zu halten. Dazu müsste sie doch in der Lage sein. Präzise Berichte. Das wäre schon die Grundlage einer Zusammenarbeit. Sie wäre doch nicht nach Nottingham geschickt worden wegen ihres netten Wesens. Und er verstünde ja nicht, warum er sie verhören müsse, damit er etwas über die Arbeit da erfahren würde. Sie holte tief Luft. Was hatte sie schon wieder nicht begriffen. Es war klar, dass er etwas erwartete. Sie wusste nicht, was. Der Kurs in Nottingham. Das war doch, weil diese Fusion den Austausch ermöglichte. Das war ja auch einer der Synergieeffekte gewesen. Die Internationalität. Sie lächelte weiter. Sie bemühte sich, das Lächeln auf ihn zu richten. Die Augen in das Lächeln einzubeziehen. Nichts sagen. Lächeln. Die Pause aushalten. Ihn zum Reden bringen. Er musste Fragen stellen. Sie musste die süße kleine Amy sein und er der Ersatzpapi. Sie sollte sich an die Decke denken und von dort das Gespräch einschätzen. Oder das Verhör. Sie hatte im Kurs für Kommunikationstechniken sich vorstellen müssen, während der Kommunikation eine Fliege zu sein, die das Gespräch umkreisend sich Gedanken machte. Sie hatte dann beschlossen, sich nicht an die Decke zu denken. Sie hatte schon Probleme, wenn sie sich beim Stretchen vorstellen sollte, dass an irgendeinem Körperteil ein Strang ziehe oder der Kopf von einem Magneten an die Decke gezogen würde. Die Vorstellung, sich und Gregory nun von oben zu beobachten. Dann musste sie laut lachen. Sie würde Gregory da oben ja antreffen. Gregory hatte dieselben Kurse gemacht. Gregory hatte die Kursprogramme mitgeschrieben. Gregory hatte Erfahrung darin. Gregory hatte sich sicherlich schon in den seltsamsten Umständen und Räumen an die Decke gedacht und die Situation von oben beobachtet. Beurteilt. Eingeschätzt. Ihr wurde übel. Sie saß strahlend lächelnd da. Erwartungsvoll lächelnd. Auffordernd. Vom Oberbauch eine Übelkeit bis in die Fingerspitzen ausstrahlend. Ein Elend innen. Was habe dieser Aufenthalt in Nottingham nun gebracht, fragte er. Für sie. Gregory steckte das gebutterte Baguettestück in den Mund. Was habe ihr denn Spaß gemacht. Von den Kursen da. Von den Erfahrungen. Sie nahm einen Schluck vom Mineralwasser. Was er meine. Was er genau wissen wolle. Das wäre eine sehr allgemeine Frage. Sie trank wieder vom Wasser. Die Übelkeit zu verbergen. Sie konnte die e-mail vor sich sehen. Gregory wusste doch alles. Gregory war doch informiert.

Gregory kaute. Er nahm die Flasche mit dem Mineralwasser vom Beistelltischchen und schenkte sich ein. Na. So schwierig wäre das auch wieder nicht zu beantworten. Aber er könne sich vorstellen, dass es problematisch sei für sie. Alle anderen hätten eben die Grundausbildung. Polizei oder Militär. Nicht von da zu kommen. Das mache sie zur Außenseiterin. Aber genau deswegen wäre ihre Beurteilung interessant. Genau deswegen unterstütze er sie doch. Gregory sah sie ernst an. Er unterstütze sie. Das müsse sie wissen. Er habe sie immer unterstützt und gegen alle verteidigt. Wisse sie das denn nicht. Die anderen. Alle wären gegen sie gewesen. Er aber wolle sie genau deswegen. Im normalen operativen Geschäft. Da wären die alle sehr gut. Aber für Spezialaufgaben. Er sei gar nicht sicher, ob sie überhaupt in einem Kurs auftauchen hätte sollen. Nein. Nein. Es sei kein Fehler. Man müsse schon wissen, wie diese Leute funktionierten. Die wären eine geschlossene Gesellschaft da. Das wisse er auch. Aber noch gehöre denen nicht die Welt. Gregory sagte das bitter. Bitterböse sagte er das. Gregory sah sich um. Sie folgte seinem Blick. Ja. Ja. Nickte er. Er habe die angrenzenden Tische alle reserviert. Sie wären hier wirklich ungestört. Sie schaute ihn fragend an. Logistik eins, sagte er. Man müsse nur eine Liste mit Kreditkartennummern dafür haben. Solche Listen kaufe man ein, und dann bestelle man Tische mit Kreditkarten und Namen, die echt waren. Dann hätte man sich die Umgebung quasi gepachtet und könne in Ruhe miteinander reden. Das alles. Das könne sie bei Cindy lernen. Die sei Spezialistin dafür.»Weil sie so gut Russisch kann. «fragte sie. Gregory nickte.

Gregory nahm wieder vom Mineralwasser. Würde sie meinen, dass ihre Kurskollegen. Wären die nun eigentlich bereit, einen Einsatz in einem Kriegsgebiet erfüllen zu können. Könne sie sich das vorstellen. Sie. Amy. Sie habe im Waffengebrauch nicht so schlecht abgeschnitten, und ihre Stärke wäre ohnehin die Logistik. Aber habe sie genug Personalkompetenz erworben, dass sie sich zutrauen könne, sich in einer solchen Situation durchzusetzen. Transporte. Objektsicherung. Gefängnisse. Glaube sie, dass das ein Monopol der Militärausbildung geblieben sei. Er wäre da anderer Meinung. Er wäre da immer anderer Meinung gewesen. Er halte auch Kameradschaft für kontraproduktiv. Habe sie das Gefühl, dass das in der Ausbildung da in Nottingham berücksichtigt würde. Würde da die Kameradschaft stark betont, oder habe man endlich begriffen, dass diese Rituale und Mutproben Bindungen herstellten, die sich dann später als fatal herausstellen konnten. Jedenfalls als hinderlich. Als psychisch hinderlich, wenn diese Bindungen zerfielen. Zerstört würden. Beendet. Traumatisierten.

Sie griff nach dem Brot. Sie beobachtete ihre Hand über dem Brotkörbchen. Wie sie ein Stück auswählte. Wie sie es auf ihren Brotteller legte. Mit dem Gäbelchen eine Butterrose aufspießte. Die Butter auf ihrem Teller ablegte.

Sie lächelte dabei. Das war die einfachste Haltung im Gesicht. Freundliches Lächeln. Sanft. Gregory sollte sie ruhig dumm finden. Das Lächeln hielt ihre Übelkeit tief in ihr. Einen Widerwillen. Ekel ließ das Lächeln feiner werden. Die Mundwinkel zittriger. Sie hob ihre Augen. Sie ließ ihre Augen Gregorys Blick treffen. Gregory hielt das nur kurz aus. Dann schaute er wieder auf seine Gläser. Schob die Gläser voreinander und wieder zurück in die Reihe. Wasserglas. Weißwein. Rotwein.

Der alte Kellner kam an den Tisch. Er nahm die Rotweingläser weg. Er nahm Gregory das Rotweinglas aus den Fingern. Er nahm ihm das Glas einfach weg und nickte ihr wieder freundlich zu. Gregory warf sich nach hinten zurück. Er schaute dem Kellner nach. Natürlich könne sie das nicht, sagte sie. Gregory riss sich aus seinem missbilligenden Blick nach dem Kellner. Sie müsse ihm vertrauen. Sie müsse ihm ganz einfach vertrauen. Er hielt den Kopf gesenkt. Sprach mit ihr. Schaute auf seinen silbrig glänzenden Platzteller. Er wetzte dabei. Unter dem Tisch. Er schob seine Knie vor und zurück. Verlagerte sein Gewicht von rechts nach links. Er wetzte. Wie ein Schulbub, dachte sie. Sie hasste ihn. Während er so vor sich hin sprach und wetzte. Sie hasste ihn. Der Hass sprang so plötzlich und so stark auf, dass sie sich über ihre Tasche beugen musste und nach einem Taschentuch suchen. Der Hass presste ihren Brustkorb zusammen. Im Bauch ein brodelndes Getobe. Und ein staubig trockener Geschmack am Gaumen. Der staubig trockenborstige Geschmack des Bodenbelags an der Wand. Sie tupfte an ihrer Nase. Sie hatte feuchte Augen. Sie sah ihm ins Gesicht. Er hob seinen Blick und schaute sie zurück an. Dann schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Amy, sagte er. Es wäre schon o.k. Sie wäre schon o.k. Gregory war plötzlich vergnügt. Wenn er sie so anschaue. Sie habe eine große Zukunft vor sich. Eine wirklich großartige Zukunft. Sie würde schon sehen. Sie habe nicht nur das Aussehen dafür. Sie habe auch die richtige Biographie. Sie müsse einsehen, dass sie mit einem solchen Job die Möglichkeit habe, ihre Biographie kreativ nutzen zu können. Alle Wut und Verzweiflung, die das Leben bis jetzt in sie vergraben habe. Alle diese Wut und Verzweiflung könne sie freisetzen. Sich befreien davon. Überwinden. Wäre das nicht die ultimative Erfüllung. Sie wäre auf dem richtigen Weg. Er könne das ja beurteilen, und er läge da immer richtig. Er habe eine Begabung darin. Das Potential von Personen zu beurteilen, und er beurteile ihres als sehr hoch. Er könne das sehen. Vor sich sähe er das. Sie mache sich ja keine Vorstellungen, was für ein Potential da draußen existierte. Die Deregulierung der Sicherheitsfrage. Man konnte in Sicherheit dealen. Man konnte den Lauf der Geschichte bestimmen. Schmerzen. Pain and anger. Damit konnte gehandelt werden. Es ging nicht mehr um altmodische Loyalitäten. Es ging um die Macht. Ein wahrhaft königliches Unternehmen. Er habe sie als eine Tochter angesehen. Er habe gedacht, sie könne das alles begreifen. Eine Nachfolgerin. Er wäre bereit, sie alles wissen zu lassen, und sie würde ihn nicht enttäuschen. Er grinste sie an. Er wetzte und grinste sie an. Verschwörerisch. Verschwörerisch triumphal.

Der sommelier räusperte sich. Er stand am Tisch und hielt Gregory eine Flasche hin. Gregory griff nach der Flasche. Fühlte die Temperatur. Der Ärmel seines Sakkos rutschte zurück. Gregorys Rolex war zu sehen. Kurz. Der Anblick. Gregorys Handgelenk. Die dunklen Härchen. Das Silber und Goldglitzern der Rolex. Eine Schwärze fiel von hinten über sie her, und sie stützte ihr Kinn auf ihre Hände, um nicht auf ihren Platzteller geworfen zu werden. Dann legte sie die Hände auf den Platzteller, die Kühle des Metalls zu spüren. Kühlung. Kühle irgendwie. Sie begann, in ihrer Tasche zu wühlen. Ihr Gesicht musste dunkelrot angelaufen sein. Von dieser Hitze. Wallungen. Das waren also Wallungen. Sie hielt den Kopf gebeugt. Aber die Männer konnten nichts bemerken. Sie waren mit dem Öffnen des Weins beschäftigt. Schnüffelten am Kork. Sie besprachen kurz die Frage des Korkens im Gegensatz zum Drehverschluss. Der sommelier wollte Korkverschlüsse. Gregory war dem Drehverschluss gegenüber offener. Für Picknicks wäre das schon sehr praktisch. Da müsse er zustimmen, sagte der sommelier. Was sollte er schon anderes sagen. Er verlor an Kompetenz. Ohne die Korkverschlüsse. Da fiel die Korkschnüffelei aus. Einen Augenblick half ihr die Schadenfreude darüber. Dann übernahmen wieder der Hass und die Wut. Der sommelier war gegen Gregory im Nachteil. Sie lächelte den sommelier strahlend an. Der legte erstaunt den Kopf zur Seite. Dann lächelte er zurück. Gregory ließ gerade den Wein in seinem Mund herumrollen. Er nickte mit vollem Mund. Schluckte. Ja. Das sei eine gute Wahl. Er schaute zum Eingang. Er hob grüßend die Hand. Er nahm seine Serviette vom Schoß und stand auf. Der sommelier schenkte ihr Wein ins Glas. Sie nahm einen großen Schluck. Sie hatte die Stimme von Marina gehört. Gregory ging Marina entgegen. Sie trank das Glas aus. Der sommelier schenkte ihr gleich nach. Sie schaute auf. Er zwinkerte ihr zu. Er war gleich wieder ernst und stellte die Flasche in den Kühler. Er legte seine Serviette darüber und ging. Sie blieb sitzen. Sie spürte im Rücken, wie die beiden auf den Tisch und sie zukamen.

Marina setzte sich auf die Bank. Zwei sehr junge Kellner in weißen Jäckchen eilten mit Tellern und Besteck und Servietten herbei. Sie bauten die Gläser auf. Rückten alles zurecht. Marina schaute Gregory zu, wie er sich wieder an seinen Platz auf der Bank schob. Der maitre d’ kam und schnalzte mit der Serviette. Marina ließ alles geschehen. Aufmerksam. Sie nahm die Speisekarte nicht. Sie nähme nur einen Salat. Mit shrimp. Ob man ihr das machen könne. Der maitre d’ beugte zustimmend seinen Kopf. Ob Madam ihren Salat mit der Hauptspeise nähme oder mit der Vorspeise.»Pigging out?«, fragte Marina Gregory. Gregory zuckte mit den Achseln. Wenn er nun schon hier wäre. What would be the point to sit in the» Savoy Grill «and not eat anything. Der maitre d’ stand abwartend da. Marina schüttelte unwillig den Kopf. Das sei ja ganz gleichgültig. Mit der Hauptspeise. Bei Amalia könnte sie es ja verstehen, sagte sie dann. Die wachse ja wahrscheinlich noch. So groß, wie Amalia wirke.

«I hope not. «sagte sie. Es war wie immer. Marina musste etwas über ihr Aussehen sagen. Über ihren Körper. Sie machte Marina wütend. So, wie sie aussah. Sie war nun schon die zweite Generation, der der Vater unbekannt war und von der man nicht wusste, woher das Aussehen kam. Ohne Vergleiche gab es nur Überraschungen. Ihre Großmutter hatte schon nicht erzählt, wer der Vater ihrer Mutter gewesen war. Ihre Mutter hatte nicht die geringste Ahnung, wer ihr Vater gewesen sein hätte können. Marina war klein. Kleinwüchsig. Winzig. Sie war groß. Großgewachsen. Sehr groß. Sehr schlank. Marina hätte sich das für ihre Tochter gewünscht. Von der war der Vater zwar bekannt. Er war aber mit der mittleren Erbschaft von Marina längst über alle Berge. Die erste hatte sie noch vor ihm fest angelegt gehabt. Marinas Tochter Selina kannte den Namen ihres Vaters. Getroffen hatte sie ihn auch nie. Jedenfalls nicht als halbwegs erwachsene Person. Aber es gab Fotografien. Wenigstens. Und man konnte sagen, woher die großen Ohren kamen.

Marina starrte sie an. Sie schaute Gregory an. Gregory beobachtete Marina. Was war zwischen diesen beiden. Gregory lehnte sich zurück. Er habe nicht erwartet, dass Marina kommen würde, murmelte er. Sonst hätte er natürlich gewartet. Naturally. Marina reagierte nicht. Sie wolle mit Amalia reden. Sie müsse mit Amalia reden. Ob Amalia sich im Klaren sei, was sie da anrichte. Mit ihrer Weigerung. Ob ihr klar wäre, was das für ein Kunstwerk darstelle. So eine Restitutionsvereinbarung mit dem österreichischen Staat. Sie habe gute Lust und gäbe ihr ein paar Ohrfeigen. Slaps. She could slap Amalia. Gregory solle ihr Wein einschenken. Sie bräuchte jetzt ein Glas Wein. Zur Beruhigung. Wenn sie sich nicht beruhigte. Es konnte passieren, dass sie Amalia schlagen müsste. Silly stupid unreliable Amalia. Die perfekte Tochter dieser zwei Schlampen in Wien. Sluts. Verwandte. Relations. Die dümmste Erfindung überhaupt. Marina trank das Glas in einem Zug aus. Beim Abstellen des Glases war es zu sehen. Das Wutzittern.

Sie solle sich beruhigen. Amy sei ja jetzt da. Sie könne alles besprechen. Aber in Ruhe. Gregory beugte sich über den Tisch und zischte Marina an. Marina sah sich um. Diese paar Leute, sagte sie laut. Wenn das alle seien, die der» Savoy Grill«überreden konnte, ihren lunch hier zu nehmen, dann würde Gordon Ramsay noch einen Konkurs zu seinen bisherigen hinzufügen können. Gregroy verdrehte die Augen. Marina sah das. Sie fuhr auf ihn los. Wie es komme, dass Fiona nicht mit hiersäße. Ob er immer lunches mit Frauen nähme, die seine Töchter sein könnten. Gregory schaute Marina amüsiert an. Er habe Amy für sie hierhergeholt. Sie. Marina habe verlangt, er mache einen Termin mit Amy in London. Damit Marina nicht nach Nottingham fahren müsse. So eilig könne es mit der Sache mit den Wiener Bildern nicht sein, wenn es Marina nicht der Mühe wert war, Amy in Nottingham aufzusuchen. Sie habe zu jedem Zeitpunkt gewusst, wo Amy sich aufgehalten hatte. Er habe nicht gesehen, dass Marina sich beeilt hätte, Amy zu finden.

Sie stand auf. Ging um das Beistelltischchen zum Weinkühler. Sie hob die Flasche heraus. Hielt die Flasche in die Serviette gewickelt. Wer noch Wein brauche. Sie dringend. Sie schaute die beiden an. Der alte Kellner kam eilig an den Tisch. Er nahm ihr die Flasche aus der Hand und schenkte allen nach. Sie setzte sich wieder.

Die Vorspeisen kamen. Die Kellner stellten die Speisen auf die Platzteller. Gleichzeitig. Sie hoben die hochgewölbten Deckel in die Höhe. Gleichzeitig.»King crab and prawn cocktail«, sagte der maitre d’ und wandte sich ab. Die Kellner gingen hinter ihm her. Eine kleine Prozession. Gregory seufzte und beugte sich über seinen Teller. Sie begannen zu essen. Marina trank Wein. Sie nippte immer wieder. Dazwischen drehte sie das Weinglas.

Sie habe große Probleme gehabt, Amalia zu verstehen. Sie hätte mehrere Wochen ihrer Therapie auf Amalia und ihre Probleme verschwenden müssen. Ihr Therapeut habe ihr wieder klargemacht, dass es sich um ein Muster in ihrer Familiensituation handle. Frauen in ihrer Familie. Kein Mann konnte den ungeheuerlichen Ruf und Ruhm ihres Stammvaters erreichen. Trotzdem würde aber jeder Mann an diesem Übermenschen gemessen werden. Er wäre ja schließlich schon ihr Großvater gewesen. Deswegen hatte sie gedacht, dass das nur für sie gelten würde. Dass das alles aber Amalia nicht mehr betraf. Das wäre alles 100 Jahre zurück und Amalia die Ururenkelin. Sie hätte gedacht, dass das alles längst nicht mehr gültig sein könnte. Sie sei aber nun überzeugt worden, dass solche Familiengeschichten. Dass die eine ewige Wirkung ausüben könnten. Sie verstünde also Amalias Weigerung, sich in die Erbengemeinschaft einzuordnen, als eine Form der Flucht vor dieser Familiengeschichte. Sie appelliere aber an Amalia, gerade aufgrund dieser Familiengeschichte zu unterschreiben. Nur zu unterschreiben. Einen Erbverzicht. Ihren Eintritt in die Erbengemeinschaft. Sie könne ja mit dem Geld machen, was sie wolle. Sie müsse es nicht behalten. Andere könnten nicht so einfach auf dieses Geld verzichten.

Gregory verzog den Mund. Er rümpfte wieder die Nase. Sie aß von der Vorspeise. Es schmeckte süßlich und scharf. Der Hummer in großen Stücken. Die Cocktailsauce samtig. Chili am Grund. Sie hörte zu. Marina machte eine Pause und winkte nach dem Kellner. Sie waren in der Ecke allein. Die restlichen Gäste saßen am anderen Ende. Marina trug ein olivfarbenes Mantelkleid von Dior. Mit gelbem Gürtel. Aus der Militaryserie. Die Knöpfe den Ausschnitt entlang bis zu den Schultern. Sie trug keine Strümpfe unter dem sehr kurzen Rock und die höchsten Absätze, die zu finden waren. Ihre Haare waren zu einer Siebziger-Jahre-Frisur toupiert. Aschblond. Hoch um den Kopf und die Deckhaare glatt ausfrisiert. Marina war sicherlich beim Friseur gewesen. Gerade. Das letzte Mal hatte sie dunkelbraune Haare gehabt. Das helle Blond aber besser. Marina drehte sich herum und schlug zwei Gläser gegeneinander.

«What exactly is the relationship between you two?«, fragte sie. Schaute Gregory und Marina an. Abwechselnd. Fragend. Marina stellte die Gläser zurück. Der alte Kellner kam. Langsam. Es kam ihnen schon niemand mehr in die Nähe, dachte sie und lächelte den alten Mann wieder an. Der schenkte ein. Die Flasche war dann leer. Gregory deutete ihm, eine zweite Flasche zu bringen.

Das sei doch ganz unwichtig, sagte Marina. Jetzt ginge es um diese Angelegenheit. Sie und Gregory hätten gleiche Interessen gehabt. Sie sei nicht so sicher, ob das noch der Fall sei. Sie schaute Gregory wütend an.

Ob das mit den Fusionen zu tun habe, fragte sie. Marina wandte sich ihr scharf zu. Gregory schob seinen Teller weg. Ob man das so besprochen habe. In Nottingham, fragte er. Ob sie da etwas gehört hätte. Er müsse das wissen. Er sprach scharf. Er zischte. Er solle sich da jetzt nicht wichtigmachen. Es ginge um eine Familienangelegenheit. Sie habe gedacht, er sei auf ihrer Seite. Marina war rot im Gesicht geworden.

Sie lehnte sich zurück. Sie wusste, wie diese Predigt weitergehen würde, und Marina ließ sich auch nicht weiter unterbrechen. Marina redete weiter. Der sommelier brachte die zweite Flasche. Öffnete sie. Der Kork. Gregory kostete. Neue Gläser wurden gebracht. Es wurde eingeschenkt. Marina redete weiter. Sie wisse, dass Amalia Probleme damit habe, dass ihr unbekannter Großvater wahrscheinlich ein Nazi war. Sie wüssten ja alle, warum ihre Schwester den Namen nicht preisgeben wollte. Er war nicht koscher. Die ganze Sache war übel. Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, würde schon die Mutter von Amalia aus der Erbfolge ausgeschlossen worden sein. Und am besten gleich ihre Schwester. Amalias Großmutter also. Die habe sich von Anfang an nicht ihrer Erbschaft würdig erwiesen. Auf keiner Ebene. Sie habe ihr ganzes Leben nichts als Schwierigkeiten mit dieser Schwester gehabt und immer alles regeln müssen. Dabei sei sie die Jüngere. Aber die habe selbst ja auch schon einen anderen Vater als sie. Ihr Vater. Der wäre wenigstens ein Künstler gewesen. Sie. Marina. Sie sei dadurch die natürliche und soziale Erbin geworden. Aber wie gesagt. Sie sei diese Schwierigkeiten gewohnt. Sie sei eine Märtyrerin. Aber jetzt sei es einfach genug. Sie könne nicht einsehen. Niemand könne das einsehen. Wieso und warum Amalia diese Angelegenheit zum Scheitern bringen wolle. Es gäbe Kräfte in Österreich. Und da solle sie sich keine Illusionen machen. Es gäbe Kräfte in Österreich, die alles tun würden. Aber auch alles. Um diese Restitution zu verhindern. Diesen Kräften wäre alles recht. Jede Ausrede käme denen parat, und sie. Amalia. Sie würde diesen Kräften in die Hände spielen. Sie unterstütze damit alle diese alten Nazis da. Man müsse sich immer erinnern, dass da heute die Kinder von den Arisierern an der Macht wären. Amalia müsse ihre Erbschaft aus dem Holocaust akzeptieren. Da könne sie nichts dagegen tun. Selbst wenn sie halb aus dem Holocaust käme und halb aus einer Nazifamilie stamme. Die Holocausterbschaft verpflichte sie, und wenn sie das nicht bald einsähe, dann tue es ihr leid. Aber sie müsse dann sagen, dass Amalia eine Schande wäre. Eine Schande sei. Eine Schande wäre und dann verzichten solle. Dann solle Amalia einen Erbverzicht unterschreiben und ein Ende machen. Amalia solle diese unwürdigen Verhandlungen beenden. Sie habe es satt, hinter Amalia hertelefonieren zu müssen. Mit diesen seltsamen Leuten da in Stockerau. Nie wäre sie in ihrer Wohnung zu erreichen, und jedes Mal sei da jemand anderer dran. Wohne sie denn überhaupt noch in Wien. Sie habe etwa dreihunderttausend Nachrichten auf Amalias cell phone hinterlassen. Sie sei am Ende. Und sie müsse zugeben. Sie sei gedemütigt. Ob Amalia zufrieden sei damit.

Die Hauptspeisen wurden gebracht. Die Vorspeisenteller waren mit den Gläsern weggetragen worden. Die 3 Kellner gaben ihr Synchronballett mit den Dampfdeckeln. Hielten sie am Griff. Hoben sie zur gleichen Zeit ab. Marina redete währenddessen. Als sie sagte, dass Amalia eine Schande sei, sagte der maitre d’:»Charcoal grilled chateaubriand with pommes soufflées. And for you, Madam, a garden salad with shrimp. Bon appetit. «Sie aßen dann schweigend. Gregory schenkte den Wein selber nach. Diesmal kam niemand gelaufen, ihm die Flasche aus der Hand zu reißen. Gregory murmelte etwas von» lepers«. Sie waren vollkommen isoliert. Da. In der Ecke.

Sie aß vor sich hin. Sie war hungrig. Sie würde heute nicht so schnell wieder etwas zu essen bekommen. Sie schaute auf ihren Teller. Sie fühlte, wie Marina sie verachtete. Ihr war ein bisschen kühl. Sie war nicht so perfekt für die Klimaanlage angezogen wie Marina. Sie wollte fragen, ob Marina im Haus bei sich eine Klimaanlage eingebaut habe. Ihr war das Haus plötzlich gegenwärtig. Aber winterlich. So wie es im Winter gewesen war. Sie legte das Besteck hin. Sie mochte nicht mehr essen. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Sie musste sich den Text der e-mails vorsagen. Sie musste den Abstand zwischen dieser Wirklichkeit und jener der e-mails im Auge behalten. Sie trank Wein. Der Wein schmeckte ausgezeichnet. Sie nahm noch einen Schluck. Kühl füllte der Wein den Mund aus. Einen Augenblick nur der gefüllte Mund. Der Mund vollgestopft mit Geschmack. Dann schaute sie wieder auf und sah Gregory, wie er auf sie sah. Wehmütig. Gregory schaute wehmütig auf sie. Ihr Blick schreckte ihn auf. Er trank sein Glas aus. Stellte es hin. Griff nach der Flasche. Goss sich das Glas voll. Schüttelte den Kopf. Bedauernd.

«You don’t get it. Really. Darling. You think you look cute and everything is fine and dandy. I tell you. That is not so. What you and your kind don’t get. The dragons were never defeated. You know. And do you know why this is the case. Do you know?«Marina legte ihre Hand auf Gregorys Arm. Er solle nicht schreien. Gregory schüttelte Marinas Hand ab. Gregory fuchtelte nach dem Kellner. Der alte Kellner kam wieder heran. Ob sie noch eine Flasche Wein wollten. Oder die Karte. Fürs Dessert. Gregory verneinte. Nein. Er brauche einen Zahnstocher. A toothpick.

Der Mann ging davon. Gregory trank den Wein aus. Marina saß in sich zusammengesunken. Sie war blass. Nervös. Der Kellner brachte Zahnstocher. Sie lagen einzeln in Cellophan verpackt auf einem Silbertellerchen. Gregory schälte einen Zahnstocher aus der Verpackung und begann seine Zahnzwischenräume zu bearbeiten. Systematisch. Die Welt würde nicht besser werden. Die Welt könne nicht besser werden, sagte er, während er in seinem Mund stocherte. Und die Helden. Die Guten. Die könnten auch nichts daran ändern. Denn. Und er beugte sich weit in die Mitte des Tischs. Marina sagte, sie wolle nichts von Gregorys Weisheiten wissen. Sie gehe eine Zigarette rauchen. Sie nahm ihre Tasche und stand auf. Gregory schaute ihr nach. Sie sei schon eine tolle Person, sagte er. Er sprach wieder Deutsch. Er schaute sie an.»Amy. Amy. «sagte er. Er habe alles unternommen, es ihr begreiflich zu machen.

«Once upon a time when the dragons ruled the world, sacrifices were sacrifices. «Gregory schaute über sie hinweg. Er sprach verträumt. Nachdenklich.

«Und die Drachen setzten die Priester ein, ihnen die Opfer zu bereiten. But the dragons were a theatrical bunch and they liked to have a real big ceremony. Die Aufgabe der Priester war es deswegen, die Bedeutung der Drachen durch die Zeremonien zu erhöhen. So. If you weren’t born a dragon, the next best thing was to become a priest. Why was that. Die Drachen waren mit den Opfern nie so ganz zufrieden. Nie wurde der Durst nach Jungfrauen so vollkommen gelöscht. Und warum. Weil die Priester in der Nacht vor dem Opfer die Jungfrauen verführten. Die Priester entjungferten die Jungfrauen und wurden immer mehr wie die Drachen. Sie bekamen ja das Jungfernblut. Die Drachen bekamen nie ihre Jungfrauen und wurden immer schwächer und schwächer und brauchten immer mehr und mehr davon. Sie wussten ja nicht, dass sie noch nie das Blut einer Jungfrau bekommen hatten, weil sie die Priester immer schon in den Tempeln verführt hatten. Die Menschen, die wussten von dem allen nichts. Erst als die Drachen dann alle Jungfrauen für sich haben wollten, um ihre Kräfte zu erhalten, da wurden die Menschen wütend und begannen den Kampf gegen die Drachen. Die Priester waren klug und führten den Kampf gegen die Drachen an. Heute sind die Drachen an den Rand der Welt gedrängt. Aber die Priester führen den Kampf gegen sie weiter. Times changed and nowadays a virgin can join this battle on the side of the priest so she won’t be sacrificed. You see. You may join. It is your decision. But if you don’t, they still might throw you over the wall and leave you to the dragons.«

Die Priester. Die Priester hätten zu allen Zeiten die Welt betrogen und die Jungfrauen in der Nacht vergewaltigt, bevor sie den Drachen geopfert werden sollten. Zu allen Zeiten. Also auch heute. Das sei alles nicht zu Ende. Deshalb würde es ja nie zu Ende sein können. Mit der Gewalt. Er aber werde sie retten. Sie solle keine dieser Jungfrauen sein, sondern selbst eine Priesterin. Geschützt vor aller Gewalt und allem Missbrauch, weil sie selbst eine Priesterin geworden sei. In eine Priesterin verwandelt. Er habe sich nichts mehr gewünscht, als dass Amy seine Heldin werden sollte. Eine Priesterin. Selber eine Priesterin. Aber dazu musste man Macht wollen. Man musste die Macht lieben. Und Amy. Sie müsse das wollen. Sie müsse das richtig und wahrhaftig wollen. Sonst sei sie dann ja doch nur eine Provinzprinzessin, die sich nichts zutraue. Das mit der Macht. Da müsse man sicher sein. In sich sicher. Das wäre lernbar. Das könnte erlernt werden. Amy habe ja Anstalten gemacht. Willen dazu gezeigt. Die Geschichte in Kötzting da. Mit ihrem Spielbuben. Wie hieß der. Da hätte sie doch grandios reagiert. Danach wäre allerdings nichts mehr gekommen. Warum denn. Aber. Gregory beugte sich über den Tisch. Er griff nach ihrer Hand. Legte seine Hand über ihre. Sie würden das schon meistern. Managen. Sie beide. Gemeinsam. Er drückte ihre Hand und ließ los. Setzte sich auf die Bank zurück. Stocherte in seinen Zähnen. Er könne sich doch nicht so getäuscht haben.

Sie starrte auf ihren Teller. Sie schaute zu, wie der Teller weggezogen wurde. Der Platzteller. Wie ihre Brotbrösel mit einem silbernen Tischbesen weggekehrt wurden.

Gregory legte seinen Zahnstocher auf das Silbertellerchen zurück. Gregory richtete sich auf und deutete dem maitre d’ vorne, dass er die Rechnung haben wolle. Sie beugte sich vor und nahm den Zahnstocher. Vorsichtig. Nur an den Enden. Sie nestelte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche. Legte den Zahnstocher darauf. Wickelte ihn in das Papiertaschentuch. Dann nahm sie ihre Stoffserviette. Sie wickelte den Zahnstocher im Papiertaschentuch in die Stoffserviette. Steckte das Bündel in ihre Tasche. Gregory starrte sie an. Sie schaute zurück. Prüfend. Sie konnte fühlen, wie sie ihn prüfend ansah. Gregory wollte gerade nach ihrer Tasche greifen. Er war aufgesprungen und griff über den Tisch nach ihrer Tasche. Sie hielt die Tasche an sich gedrückt. Marina kam zurück. Der maitre d’ mit ihr. Sie redeten miteinander. Marina setzte sich.

Eine Stoffserviette käme noch auf die Rechnung, sagte sie zum maitre d’ gewandt. Der schaute erstaunt. Dann schüttelte er den Kopf und legte das Lederetui mit der Rechnung auf den Tisch. Gregory steckte eine Kreditkarte hinein. Der Mann nahm das Etui und ging. Marina saß am Rand der Bank. Sie sah müde aus. Tiefe Ringe unter den Augen. Ihr Alter offenkundig. Es sei noch heißer draußen. Sie hätte in die Bar gehen können, aber sie genieße es, wie ein Dieb draußen zu stehen und zu rauchen. Sie hätte die nettesten Kontakte gemacht. So. In ihrem Alter ein outcast zu sein. Und. Sie wandte sich an Gregory. Er könne als Double von Strauss-Kahn auftreten.

Amalia, wandte Marina sich an sie. Was solle jetzt geschehen. Ein für alle Mal. Ganz einfach, antwortete sie. Sie käme jetzt mit ihr mit. Sie führen jetzt zu Marina, Wellington Square. Ein Taxi bekäme man ja vor dem Hotel. Sie schaute Gregory an. Sie zwang sich, Gregory anzuschauen. Der strich sich über die Stirn. Sie stand auf und schaute ihn an. Sie konnte im Augenwinkel sehen, wie Marina zwischen ihnen beiden hin- und herschaute. Wie sie sich nicht auskannte. Gregorys Wut. Sie nahm ihre Tasche unter den rechten Arm. Klemmte die Tasche da fest. Sie bot Marina den linken Arm. Sie solle kommen. Sie sollten jetzt gehen. Marina schaute noch einmal zu Gregory. Dann nahm sie den angebotenen Arm. Sie gingen. Sie ließ Marina vor sich gehen. Schob die alte Frau zwischen den Tischen durch. Sie zwang sich, nicht zu laufen zu beginnen. Presste die Tasche an sich. Marina ging vor ihr. Kopfschüttelnd. Sie war verwirrt. Sie drehte sich einmal zu ihr zurück. Sie lächelte sie beruhigend an und schob sie weiter. Marina konnte es nicht begreifen, dass sie am Ziel war. Konnte es nicht glauben. Aber wie sollte sie ihr das erklären. Wie sollte sie ihr den Zusammenhang klarmachen. Zwischen dem kleinen Mädchen aus dieser Tschernobyldokumentation. Wegen Japan zeigten alle Fernsehstationen Tschernobyldokus. Damit man wusste, was auf einen zukam. Und wie sie im kleinen Gemeinschaftsraum sitzend. Am Rand von Nottingham. Ferngesehen. Wie dieses kleine Mädchen in der Nähe von Tschernobyl. Wie das auf die Kinderschwester in dem Kinderheim zulief und es erst beim Hochheben zu sehen war. Das kleine Mädchen hatte keine Beine. Die Füße waren an den Hüften angewachsen. Es waren Flossen. Entenbeinchen. Die Kinderschwester hob das Kind in die Höhe, und unter dem Nachthemdchen war es zu sehen gewesen. Nur einen Augenblick. Und alle hatten gelacht. Im kleinen Gemeinschaftsraum mit dem Fernsehapparat. Alle, die mit ihr dagesessen. Die hatten gelacht. Ned und Bennie hatten gelacht und zum Lachen ihre Zahnstocher aus dem Mund genommen. Wie sollte sie ihrer alten Großtante Marina erklären, dass sie dieses Mädchen war. Und weil sie dieses Mädchen war. Dass deshalb das alles gleichgültig. Die Anliegen von der Marina. Sie waren nicht wichtig. Sie selbst war nicht wichtig. Sie hatte keinen Augenblick mitgelacht. Sie war sofort erschrocken gewesen. Sie hatte die Hände vors Gesicht schlagen müssen. Das hatte niemand bemerkt. Die hatten gleich über die Atombombe zu reden begonnen.

Sie führte Marina durch die Lobby hinaus. Ein Taxi wurde herbeigewinkt. Sie half Marina hinein. Stieg nach. Schloss die Tür. Sie befahl sich, nicht zurückzuschauen. Marina sagte dem Fahrer die Adresse. Sie beugte sich über sie und schaute zum Hoteleingang zurück. Gregory hätte sich verabschieden können, sagte sie. Sie sagte das auf Deutsch und lachte. Sie lehnte sich zurück. Sie könne jetzt schlafen. Das sei alles so anstrengend. Diese Gefühle. Diese Aufregungen. Marina lehnte sich gegen sie und seufzte. Sie war starr. Sie hätte stundenlang mit diesem Taxi herumfahren mögen und so starr sitzen bleiben. Aber es war nicht weit bis zu Wellington Square.

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