Alles grau. Seit sie in der Uhlandgasse angekommen war. Es war nur der erste Tag so ein heller Wintertag gewesen. Blauer Himmel. Wolken. Die Sonne. Schneetreiben. Aprilwetter im Winter. Es hatte fröhlich gemacht, wie die Schneeflocken in der Sonne vom Himmel heruntertanzten. Dann wieder trüb. Schon am nächsten Tag. Der Himmel bedeckt. Nebelig. Feucht. Raureif am Morgen. Aber keine Sonne, dieses Glitzern auszulösen. Der Raureif taute weg. Der Boden nass. Am Abend dann Glatteiswarnungen in den Wetterberichten. Und keine Änderung in Sicht. Ein massives Hochdruckgebiet über Russland. Dort war minus 15 Grad die Höchsttemperatur. Ein Tief über dem Atlantik. Das schob die Wolken gegen Osten, und die Kälte hielt sie über Europa fest. Bis nach Afrika. Regen im Mittelmeer.
Sie hatte einen Parkplatz am Anfang der Bahnhofstraße gefunden. Gleich nach der Ampel zur Hauptstraße. Sie konnte zum» Heiner «gehen. Die Mandeltüten für die Tante Trude besorgen. Solche Sachen äße sie noch gerne. Pariser Creme. Schokolade und Butter. Die Besorgungen ins Auto legen und eine Runde gehen. Auf dem Verkehrsschild stand» kostenpflichtige Kurzparkzone«. Sie beugte sich vor und schaute sich nach einem Automaten um. Sie sah keinen. War das wie in Wien. Man musste Scheine besorgen und ausgefüllt unter die Windschutzscheibe legen. Sichtbar. Die Scheine aber bekam man in der Tabak-Trafik und nur in den Geschäftszeiten. In so kleinen Orten wie Stockerau. Die stellten doch normalerweise Automaten auf. Sie öffnete das Handschuhfach, ob da irgendetwas herumlag. Formulare. Scheine. Eine Parkuhr. Nichts. Sie stieg aus und schaute sich um. Sie ging ein paar Schritte in Richtung Bahnhof. Kehrte wieder um. Ging zum Karl-Renner-Platz. Sie hätte auch da parken können. Aber der Range Rover war ihr zu groß für aufwendige Parkmanöver. Sie war dieses Auto nicht gewohnt. Sie hatte die letzten Tage nur Ausfahrten in die Hügel gemacht. War an die Donau gefahren. In die Wachau. Dahingefahren und geschaut. Die Donau. Das rechte Ufer hinauf. Bei Krems. Die Donaubrücke bei Melk und das linke Ufer hinunter. Die Donau immer rechts. Halbe Tage war sie nur mit diesem Auto gefahren und war dem Onkel Schottola dankbar gewesen. Dass er dieses riesige Auto fuhr. Dass er mit den Autos nie genügsam gewesen war. Das lag vor allem am Dr. Singer. Der Dr. Singer hatte als Steuerberater dem Onkel vorgeschrieben, ein ordentliches Auto für den Betrieb abzuschreiben, und das Auto war übriggeblieben. Nach dem Verkauf. Man saß hoch über der Straße in diesem Auto. Man segelte über die Landschaften hin. Es war auf eine erhebende Art befriedigend, so ruhig sitzend die Landschaft hinter sich liegen zu lassen. Erobernd. Es hatte etwas Eroberndes. Nur geparkt hatte sie kein einziges Mal. Irgendwo. Sie war vom Haus weggefahren und in die Garage zurück. Kein Aufenthalt. Keine Unterbrechung des Fahrens. Und wenn der Onkel ins Spital fuhr. Er hatte sie dahin nicht mitgenommen. Die Trude würde sowieso gleich nach Hause kommen. Sie sollte diese Umgebung nicht. Das würde ihr nicht guttun. Sie müsste erst wieder Ruhe finden. Sie habe mit sich selber genug zu tun. Und dann waren zwei Wochen vergangen. Die Tante Schottola wollte sie nicht dahaben. Wollte nicht, dass sie sie im Spital sehen sollte. Aber sie sollte heute nach Hause kommen. Deshalb sollte sie in einer Stunde zurück sein. In der Uhlandgasse. Mit dem Auto. Damit er sie holen fahren konnte. Nach dem Mittagessen in der Klinik. Die Schottolas verschwendeten keinen Cent. Wenn das Mittagessen in der Klinik von der Krankenkasse bezahlt wurde, dann musste das gegessen werden.
Sie ging durch den falschen Eingang in die Bäckerei-Konditorei. Sie ging bei der Bäckerei in das Geschäft. Sie war die einzige Kundin, und die Verkäuferin fragte sie schon beim Eintreten, was sie wolle. Sie schaute sich um. Brot und Gebäck. Nein. Sie bräuchte hier nichts. Sie müsse nach rechts. In die Konditorei. Die Frau hatte sich längst abgewandt und leerte Semmeln aus einem Riesenkorb hinter das Glas der Vitrine. Das Geräusch. Ein hohles Reiben und Rascheln. Sie schaute zu. Wie die Semmeln übereinanderpurzelten. Einen spitzen Berg bildeten und dann das Fach ausfüllend auseinanderrutschten. Die Verkäuferin schaute wieder auf. Fragend. Sie ging schnell nach rechts. Der Geruch der Semmeln. Des Brots.
In der Konditorei war sie wieder alleine. Sie schaute die Kuchen und Torten hinter dem Glas der Theke genau an. Würde die Tante Trude wirklich Mandeltüten wollen. Es gab Sachertorte. Haustorte. Trüffeltorte. Esterhazytorte. Dobostorte. Topfentorte. Nusstorte. Schwarzwälder Kirschtorte. Malakofftorte. Wiener-Mädl-Torte. Punschtorte. Schokoladencremetorte und Sacherpunschtorte waren auf einer Werbeschrift abgebildet. Diese Torten gäbe es nur auf Bestellung, stand neben den Bildern.
Was es sein dürfte. Die Verkäuferin war an die Theke gekommen. Oder eigentlich eine Kellnerin. Sie hielt ein Tablett mit einer Melange in der Hand und holte einen vorbereiteten Kuchenteller. Dobostorte. Sie solle sich ruhig Zeit lassen, sagte sie zur Kellnerin. Sie wolle dann 3 Mandeltüten. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie 5 Mandeltüten gekauft. Sie war verschwendungssüchtig. Das war sie wirklich. Unbestreitbar war sie eine verschwendungssüchtige Person, die den Umgang mit Geld nicht gemeistert hatte. Die den Umgang mit den Dingen nicht gemeistert hatte. Aber gegen die Schottolas. Wie die ihr Leben führten. Dagegen waren alle anderen verschwendungssüchtig. Jeder. Sie hatte erst sehr spät begriffen, dass die Sparsamkeit der Schottolas. Dass das einfach die Umkehrung gewesen war. Und dass Zieheltern wie alle Eltern waren und wollten, dass die Kinder ihnen ähnlich wurden. Es war schrecklich gewesen. Diese Gespräche über ihre Verschwendungssucht. Und dass das Sucht sei. Dass sie besonders gefährdet wäre. Dass sie suchtgefährdet sei. Wegen ihrer Mutter. Und dass sie sich überwinden musste. Deswegen. Sie musste sich nur in den Griff bekommen und überwinden.
Die Kellnerin kam zurück. Sie bestellte die 3 Mandeltüten. Die Frau zog den Glasteller mit den Mandeltüten aus dem Regal. Ob noch etwas dazukäme. Sie sagte nein. Die Frau hob die 3 Mandeltüten auf einen viereckigen Pappendeckelteller. Legte ein Cellophanblatt auf die Stanitzel. Faltete das Papier darüber. Rollte ein Bändchen ab.
«Das kann ja nicht wahr sein. «Sie wurde von der Seite umarmt. Der Mann umfing sie von der Seite und küsste sie auf die Wange. Er hielt sie fest. Drückte sie an sich. Hob sie kurz vom Boden auf. Er rief der Frau hinter der Theke zu, dass sie diese Mehlspeisen auf seine Rechnung setzen sollte.»Mali Schreiber. Wie kommst du hierher. Ich fass es nicht. Du bist es wirklich. Wir waren in der Schule. Zusammen. «Er erklärte das der Kellnerin und lachte. Die Frau lächelte ihm zu und schüttelte den Kopf. Nachsichtig. Er drehte sie herum und schob sie in das Café.
«Mali. Mali. Mali. «Er sagte das laut. Verwundert. Alle schauten zu ihnen hin. Er deutete auf einen Tisch am Fenster. Sie könne jetzt nicht einfach davon. Sie wollte ablehnen, aber er griff nach ihrem Mantel. Habe sie den nicht schon in der Schule gehabt. Er könne sich an so einen Mantel erinnern. Sie musste lachen. Nein. Das wäre schon ein anderes Modell. Aber es sei richtig. Sie trüge Dufflecoats. Das müsse eine frühe Fixierung auf Paddington Bear sein, sagte er. Das brächte ihre englische Seite zum Ausdruck. Dass er sich daran erinnern könne, sagte sie. Verwundert. Er nahm ihr den Mantel ab, und sie setzte sich. Von ihrem Platz aus konnte sie auf die Straße hinausschauen. Die Stiege zur Stadtpfarrkirche hinauf. Die Buchhandlung an der Ecke gegenüber. Der Platz verparkt. Was sie bestellen wolle, fragte er. Die Kellnerin war an den Tisch gekommen und hatte das Päckchen mit den Mandeltüten gebracht. Sie schaute ihn fragend an. Er würde meinen, dass diese schöne Frau mittlerweile nur noch Espresso trinken würde. Oder lieber etwas Schaumiges. Einen Latte.»Nein. «sagte sie und schaute die Kellnerin an. Sie wolle eine Melange. Die Kellnerin sagte:»Ja. Gerne. «und ging. Er sei hier wohl der Hahn im Korb, meinte sie. Wie sie denn darauf käme. Sie musste lachen. Die Kellnerin habe nur ihn angesehen, während sie bestellt habe. Während sie diese Frau angesprochen hatte. Er lachte verschämt. Das müsse sie verstehen, er sei hier eben Stammgast. Immer wenn er hier bei Gericht zu tun habe, dann käme er hierher. Frühstücken. Und er käme oft hierher, weil er diese Bezirksgerichtssachen erledigen müsse. Als Jüngster in der Kanzlei. Er müsse noch diese Blut-und-Boden-, Butter-und-Brot-Fälle erledigen. Was das sein könnte. Sie schaute ihn an. Er sah gut aus. Dominik Ebner hatte immer gut ausgesehen. Frisch. Sportlich. Groß. Immer gut aufgelegt und sicher. Dominik Ebner hatte nie Zweifel gehabt. An nichts. Er hatte immer gewusst, was richtig war, und sie musste zugeben, dass es auch gestimmt hatte. Sie hatte ihn gehasst. Damals. Sie hatte ihn ziemlich gehasst. Seine Freude über das Wiedersehen. Über dieses zufällige Treffen. Sie konnte es nicht verstehen. Sie hatten nichts gemeinsam gehabt. Nichts. Im Gegenteil.
Er sei also mit dem Studium fertig, stellte sie fest. Und er sei also in die Kanzlei seines Vaters eingetreten.»Meiner Familie. «korrigierte er. Es sei ja seine ganze Familie in dieser Kanzlei. Sein Vater und seine Mutter und er. Sein Onkel und dessen Familie. Ein paar Cousins und Cousinen. Der Großvater und der Großonkel hätten die Sache aber immer noch fest im Griff. Er lächelte. Er wäre da ein kleiner Lehrling. Wie jeder andere Konzipient eben. Was das für Fälle wären, die da anfielen, fragte sie. Die Kellnerin brachte den Kaffee. Ob sie nicht etwas anderes noch haben wolle. Ein Frühstück. Es gäbe hier ein hervorragendes Frühstück. Die Kellnerin schaute sie abschätzig an. Die Kellnerin wusste gleich, dass sie nichts bestellen würde. Sie drehte sich schon weg, bevor sie noch etwas gesagt hatte. Aber sie wollte wirklich nichts. Dominik lächelte die Kellnerin an und hob bedauernd die Schultern.»Scheidungen. Nachbarschaftsstreitereien. Grundstücksangelegenheiten. Erbschaften. Vertragsprobleme. «Er leierte die Aufzählung vor sich hin. Das wären alles Fälle, in denen man die Betroffenen treffen müsste und mit Tränen rechnen. Deshalb würden diese Fälle den Jüngsten in den Kanzleien übertragen. Damit sie hartherzig wurden. Werden mussten. Weil das Elend ja wirklich groß wäre. Und wirklich wirklich. Er schaute sie an. Er war amüsiert. Sie rührte Zucker in die Melange. Das klinge alles so erwachsen. Er sei sicher verheiratet und habe Kinder. Er grinste sie an. Nein. Er sei nicht verheiratet, und er habe eben erst eine eigene Wohnung bezogen. Ein Zimmer. Eigentlich ein Zimmer. Aber er fand es nun mit 25 doch besser, sich von der Familie abzusetzen. Was sie denn mache. Gemacht habe. Machen werde. Sei sie denn verheiratet oder so etwas Ähnliches. Wo lebe sie denn überhaupt. Ihre Pflegeeltern. Ihr Pflegevater. Der hätte ja wirklich Glück gehabt. Dass der den Betrieb noch vor der Krise losgeworden war. Dass der verkauft habe. Damals. Das wäre ja absolut genial gewesen. Denen wäre zu gratulieren gewesen.
Sie lehnte sich zurück. Sie durfte jetzt nichts sagen. Sie wusste ja auch nichts. Aber das Geld war weg. Offenkundig. Wenn die Schottolas überlegten, das obere Stockwerk zu vermieten. An so etwas hatte vor 2 Jahren niemand gedacht. Oder war es die Sorge um die Tante Trude. Und die Kosten. Gab es Kosten, bei so einer Krankheit. Sie hatte gedacht, in Österreich zahle die Krankenkasse die Kosten einer Krebserkrankung. Aber sie wusste nicht, wie das dann wirklich war. Sie überlegte, Dominik zu fragen. Diesen offenen, freundlichen, weltgewandten Dominik, der ihr gegenübersaß. Der offenkundig nicht so viel zu tun hatte. Der dasaß, als würde er noch Stunden mit ihr reden wollen. Seine Ruhe machte sie unruhig. Sie musste zurück. Das Auto.»Nein. Ich will dich nicht ausfragen. «sagte er und legte seine Hand auf ihre. Er wüsste ja von ihrer Pflegemutter. Von deren Krankheit. Und er fände es toll, dass sie die besuche. Sie hätte ja sicherlich andere Möglichkeiten. Andere Gelegenheiten. Eine Frau, die so aussähe wie sie. Die in Kürze auch noch reich sein würde. Man beobachte diese Situation mit der Restitution sehr genau in seiner Familie. Sein Großonkel hätte damit direkt zu tun gehabt. Aber ebendeshalb fände er es großartig von ihr, dass sie bei den Schottolas zu Besuch sei.»Großartig. «Er sagte das dreimal. Großartig. Großartig. Wirklich großartig.
Sie musste lachen. Das war Stockerau. Jeder wusste alles. Sie nicht. Aber sie hatte das nie gelernt. Sie hatte es nie begriffen, wie das ging. Der Dominik Ebner wusste schon wieder, dass sie beim Onkel Schottola wohnte. Sie schaute ihm in die Augen. Sie zog ihre Hand nicht weg. Was wusste er sonst. Es wäre alles ganz anders, sagte sie. Sie sei zu den Schottolas geflüchtet. Sie fiele denen nach wie vor zur Last.
Dominik zog seine Hand zurück. Er setzte sich auf und verschränkte die Arme. Er schaute sie an. Prüfend. Dann beugte er sich ihr zu. Mit den Schottolas habe sie einen harten deal gehabt. Die Schottolas wären ja Angehörige einer Minderheit in der Minderheit gewesen. So etwas wirke sich aus. Die einzigen Evangelischen H.B. unter den 500 Evangelischen A.B. gegen die 10 000 Katholiken in so einer kleinen Stadt. Das wäre die Härte pur. Er sagte das nachdenklich. Sie schaute in ihren Kaffee. Was wusste so ein verwöhnter Fratz wie der Dominik schon. Die Schottolas. Das waren ihre Eltern. Das waren die Personen in ihrem Leben, die am ehesten Eltern gewesen waren. Sie konnte hierher zurückkommen. Immer und jederzeit. Wenn man wie sie immer schon entscheiden hatte müssen, was gut für eine war. Sie schaute weiter in ihren Kaffee. Dann. Die Schottolas wären das Beste für sie gewesen, was sie gefunden habe. Dominik beugte sich über den Tisch herüber. Genau das hätte er gemeint. Er wolle nichts gegen diese Leute sagen. Er könne von Glaubenszugehörigkeiten absehen. Er habe nur sagen wollen, dass in so einer Kommune das immer noch die Grundlage der Beurteilung abgäbe.»Du willst sagen, dass sie. «Sie schaute auf. Er sah zum Fenster hinaus. Ja. Man könne sagen, dass sie anders bemessen würden. Er habe das also nicht negativ gemeint, dass der Hermann Schottola seinen Betrieb gerade rechtzeitig verkauft hätte. Er wäre nicht neidisch, deswegen. Aber sie könne sich ja vorstellen, wie das so liefe. Wie da geredet würde. Eingeschätzt. Beurteilt. Ja, das könne sie. Und das wäre dann auch der Grund, nicht lange hierzubleiben. Hierbleiben zu wollen.
«Nein. «rief er laut. Wieder hielten alle inne und schauten zu ihrem Tisch hin. Eine Gruppe Frauen war hereingekommen und setzte sich gerade nieder. Weiter unten im Lokal. Sein lautes» Nein«. Alle hatten sich ihnen zugewandt. Zwei Frauen nickten Dominik zu. Er winkte den Frauen zurück. Lächelte strahlend. Währenddessen sagte er zu ihr, dass das Professorinnen vom Realgymnasium seien, die im Tennisclub wichtig wären.»Leider beide eine banale Rückhand. «flüsterte er ihr über den Tisch zu. Vertraulich. Vom Tisch dieser Frauen aus musste es aussehen, als wäre er sehr vertraut mit ihr. Sie richtete sich auf. Das war es, was sie hier so müde machte. Jeder Augenblick. Jede Geste. Alles war bedeutsam. Allen anderen war alles bedeutsam. Und ihr. Ihr war alles gleichgültig. Vollkommen gleichgültig. Es war ihr mit einem Mal alles so gleichgültig. Alle diese Schuljahre hier. Sie hätte gestehen mögen. Sie hätte aufstehen mögen und alles gestehen. Sie hätte Lust gehabt, so ein Geständnis in den Raum zu schleudern. Sie war ja eine Schlampe. Es hatte sich nichts verändert. Dominik Ebner. Die Professorinnen. Die Kellnerin. Die lebten geordnete Leben. Übersichtliche Leben. Sie war die Schmutzige. Immer war sie die Schmutzige gewesen. Mit einem ungenauen Leben. Auch hier. Die Schottolas hatten ihr helfen wollen. Aber ihr war nicht zu helfen gewesen. Immer war etwas aufgetaucht. Aus der Vergangenheit ihrer Familie. Sie hätte sagen müssen, dass sie eine Schlampe war. Ein Versager. Eine Versagerin. Der Dominik Ebner. Für den war sie. Sie schaute ihn an. Was konnte sie für so jemanden sein. Jemanden, der so gut aufgehoben war. So sicher. So versorgt. Eine interessante Abwechslung war sie für so jemanden. Eine interessante Abwechslung. Sie war eine Fremde hier. Exotisch. Bitterkeit stieg in der Kehle auf. Sie musste schlucken, die Bitterkeit zu unterdrücken.»Sollten die nicht unterrichten. «fragte sie und schaute zu den Frauen. Den Gang hinunter.»Geh noch nicht. «sagte er ruhig. Es klang flehentlich.
Sie schaute auf den Tisch. Auf das Tischtuch. Er hinaus. Er hatte die Pfarrkirche im Blick, und er schaute auf den Turm hinauf. Ob sie Zeit hätte. Er habe nichts mehr zu tun. Ja. Ja. Er könne immer ins Büro und etwas machen. Aber für heute war kein Termin mehr vorgesehen.»An Tagen mit Gerichtsterminen ist das so. «Weil man nie wissen könne, wie lange so eine Gerichtsverhandlung dauern würde.»Oder wie kurz. «sagte sie. Er schaute auf den Kirchturm hinauf und nickte.»Und wie kurz. «wiederholte er. Sie schaute ihm ins Gesicht, wie er, den Kopf zurückgelegt, zur Kirchturmspitze hinaufstarrte. Sie musste aufstehen. Sie rutschte an den Rand der Bank und hatte die Beine unter dem Tisch hervorgezogen. Sie schaute sich um, wo ihr Mantel sein könnte. Sie musste weg. Sie musste hier weg. Wenn sie noch einen Augenblick an diesem Tisch sitzen blieb. Es würde. Nein. Es war nicht so einfach. Aber dann doch. Irgendwie war es klar, wie das weitergehen würde. Wie das weiterging. Wenn man so im Kaffeehaus saß und nicht flüchtete. Man ging dann mit. Schon mit dem Dasitzen war man mitgegangen. Die Panik aus dieser Vorstellung. Die Panik darüber raste ihr in den Ohren. Rauschend. Sie konnte ihn gar nicht mehr richtig hören. Sie konnte es sehen. Wie sie hinter ihm herfuhr. Wie sie in sein kleines Apartment gehen würden. In einem dieser Neubaublocks. Hier. In der Umgebung. Anlagewohnungen. Noch zu besseren Zeiten geplant. Jetzt billig zu haben. Da deckte man sich in so einer Familie wie den Anwaltsebners ein. Vielleicht waren sie auch die Investoren, und ihr Neid auf den Onkel Schottola kam davon. Dass ihre Immobilien nichts mehr wert waren. Nicht mehr so viel. Und in der Wohnung. Sie konnte es vor sich sehen. Wie das aussah. Wie er sich nähern würde. Und es war nicht alles gelogen. Er war auch freundlich. Aber es war langweilig. Es war vor allem langweilig. Diese Langeweile versammelte sich in ihrem Bauch. Es begann auch wieder dieser ziehende Schmerz da. Dieser Schmerz, bei dem sie sich im Bett zusammenrollen musste und wimmern. Sie wusste jetzt, was wimmern war. Warum es wimmern hieß.»Ich finde es toll, dass du dich nicht mehr schminkst. «sagte er. Sie stieß sich von der Bank ab. Sie müsse jetzt weiter. Das Auto. Sie müsse das Auto zurückbringen. Die Tante Trude. Sie käme zurück. Aus dem Spital.»Ach ja. «sagte er. Er habe davon gehört. Sie stand vor dem Tisch. Er schaute von unten zu ihr auf. Er würde sie gerne wiedersehen. Ob das nicht ginge. Er sagte das besorgt. Mit Sorge für sie. Dann sprang er auf. Holte ihren Mantel. Er legte 30 Euro auf den Tisch. Zog den eigenen Mantel an. Sie gingen hinaus. Sie konnte im Augenwinkel sehen, wie die Professorinnen ihr Gespräch über die Englischexkursion unterbrochen hatten und ihnen zusahen. Dominik legte seine Hand auf ihren Rücken und führte sie so. Er schob sie zur Tür hinaus. Er ging schräg hinter ihr, damit die automatischen Türen offen blieben. Für sie. Er trug das Päckchen mit den Mandeltüten.
«Herr Doktor. Herr Doktor. «Die Kellnerin kam auf den Platz nachgelaufen. Er bekäme noch 9 Euro Wechselgeld. Sie hielt ihm das Geld auf der flachen Hand hin. Die Münzen glänzend in ihrer Handfläche. Er nahm die Hand der Frau und schloss ihr die Finger über den Münzen. Das solle sie so lassen. Die Frau begann zu protestieren. Er schüttelte den Kopf, und die Frau wandte sich ab. Sie ging in die Bäckerei zurück. Sie konnte die Türe hören. Aufgleiten. Zugleiten. Die Frau hatte die Schultern hängen lassen. Sie schaute ihr nach. Warum freute diese Frau sich nicht über das Trinkgeld. Über dieses hohe Trinkgeld. Hatte sie es nicht verdient. Hatte sie das Gefühl, es nicht zu verdienen. Die Frau war weggegangen wie besiegt.
Sie gingen zur Kreuzung. Das da. Der Range Rover. Ach ja. Der Schottola habe immer so ein großes Geländefahrzeug gefahren. Obwohl er kein Jäger gewesen war.»Nein. «sagte sie. Sie fühlte ihre Lippen steif werden. Der Onkel Schottola wäre nie auf die Jagd gegangen. Dem Onkel Schottola. Dem wäre Leben eben heilig. Er selber. Er wäre ja auch kein Jäger, sagte Dominik. Er verstünde das sehr gut.
Sie klickte das Auto auf. Dominik öffnete ihr die Autotür. Er beugte sich in das Auto und legte das Päckchen auf den Beifahrersitz. Sie schaute seinen Kopf an. Die dunklen Haare. Er würde nie eine Glatze bekommen. Er würde immer erfolgreich sein. Und er würde nie von hier wegkommen. Wegen der Langeweile. Weil er nichts wusste außer sich. Während er die Autotür öffnete und so sorgfältig die Mehlspeisen auf dem Beifahrersitz deponierte. Sie hatte ihn mitleidig beobachtet. Es war Mitleid. Sie wusste genau, wie er diese Leere vor sich hatte und sie nur mit Tennisterminen und Fernreisen füllen konnte. Konzerte in Wien. Oper. Theater. Vielleicht hatte er ein Hobby. Sie verstand plötzlich die Jagd. Dieses Töten. Das arbeitete gegen die Langeweile an, und der Onkel Schottola hatte keine Langeweile, weil er in den Regeln seiner Religion gefangen war. Da wurde alles schwer und bedeutsam. Ohne solche Regeln. Sie schüttelte den Kopf, all diese Vorstellungen loszuwerden. Sich loszureißen davon, wie sich hier alle fühlten.
Dominik stand vor ihr. Sie stieg vom Gehsteig auf die Straße hinunter. Sie war trotzdem nicht viel kleiner als er.»Du weißt, dass du die schönste Frau bist, die ich kenne. «Er sagte das wieder vorwurfsvoll. Bedauernd. Sie schaute vor sich hin. Ihm auf die Mantelbrust. Er trug einen dunkelblauen Kaschmirmantel. Klassisch geschnitten.»Na ja. «sagte er. Er würde versuchen, sie zu erreichen. Die Schottolas stünden ja sicher noch im Telefonbuch. Sie stieg in das Auto. Er warf die Tür hinter ihr zu. Sie schnallte sich an. Er stand am Auto. Hob die Hand. Sie startete. Sie musste warten, bis sie in den Verkehrsstrom einbiegen konnte. Er wartete so lange. Dann blinkte sie. Er hob noch einmal die Hand. Dann wandte er sich ab. Sie fuhr an. Sie gab Gas. Raste die Bahnhofstraße hinunter. Sie fuhr davon. Sie war schon fast auf der Autobahn, da fiel ihr ein, dass sie das Auto zurückbringen musste. Sie fuhr nach rechts in die Hauptstraße zurück und dann hinauf. In die Siedlung. Sie wurde wieder weinerlich deswegen. Sie hätte wegfahren wollen. Fliehen. Flüchten. Davon. Eilen. Stürmen. Ihre Situation kam ihr inmitten dieser Menschen noch unerträglicher vor. Sie war abgetrennt von diesen Personen. Die wussten das aber nicht. Das wusste nur sie. Das durfte nur sie wissen. Es war eines von ihren Geheimnissen. Sie lebte gar nicht. Wahrscheinlich lebte sie gar nicht. Sie tat nur so. Sie machte das nach. Faking, dachte sie. You are faking. Es war das Autofahren, das existierte. Sie war der Schatten davon.
Und dann war es ein Glück, dass ihr bei seinem Vorschlag, mitzukommen, gleich der Ausfluss eingefallen war. Bräunlich rot. Dünnflüssig. Stark riechend. Ein heller, widerlicher, starker Geruch. Sie roch lange daran. Wenn sie die Einlagen wechselte. Sie roch dann an der alten. Sie legte die alte auf dem Behälter für das Klopapier ab und nahm sie dann wieder. Sie stand vor der Toilette. Drückte die Spülung und roch an der alten Binde. Wenn die Spülung der Toilette dann langsam verstummte. Sie rollte die Binde zusammen und steckte sie ein. Sie hatte eine Rolle Plastiksäcke fürs Einfrieren in ihrem Zimmer. In die tat sie die zusammengerollten Binden und warf sie so in der Küche in den Müll unter dem Abwaschbecken. Während des Riechens dieses Geruchs. Sie musste nichts denken. Währenddessen. Gar nichts. Während sie diesen Geruch roch, war sie ruhig. Und konzentriert. Erst außerhalb des Badezimmers dann wieder die Wirklichkeit. Sie konnte sich den Geruch vorstellen. Während des Fahrens. Sie schnitt einen alten Volkswagen und bog in die Senningerstraße ab. Links die Umspannanlage. Sie fuhr sehr schnell. Sie bremste in die Uhlandgasse und kroch dann dem Haus zu.
Sie ließ das Auto draußen. Vor dem Gartentor. Stieg die Stufen zum Haus hinauf. Der Onkel öffnete die Tür.»Gerade pünktlich. «sagte er lächelnd. Dann erstarrte er. Ging durch die Tür. Sie trug die Mehlspeisen in die Küche. Was die Familie Ebner mache, rief sie dem Onkel ins Vorzimmer zu. Es kam keine Antwort. Sie ging ins Vorzimmer zurück. Die Tür stand offen. Der Onkel stand am Gartentor. Ein Polizist stand da. Eine Polizistin stieg gerade aus dem Polizeiauto, das hinter dem Range Rover parkte. Sie war zu schnell gefahren. Sie hatte die Polizei aber nicht gesehen. Wieso hatte sie die nicht gesehen. Wo waren die gewesen. Sie lief die Stufen zum Gartentor hinunter. Was denn los sei, rief sie. Dann verstummte sie.»Immer warten, was die andere Person zu sagen hat, und dann die taktische Einrichtung darauf. Nie spontan reagieren. Man kann sich nur verraten dabei. Es ist zunächst das Problem der anderen Person, und wir wollen der das Problem nicht abnehmen. «Das spöttische Grinsen von Cindy dazu. Sie stellte sich neben den Onkel Schottola.
Es ginge um sie. Der Onkel schaute sie an. Es war dieser Blick. Wie damals. Immer.»Onkel Schottola. «sagte sie und wollte es ihm erklären. Sie hatte eine Geschwindigkeitsüberschreitung gemacht. Er machte so etwas nicht. Nie. Aber es war keine Todsünde. Oder. Sie holte Luft und wandte sich an die Polizisten hinter dem Gartentor. Der Onkel legte ihr die Hand auf die Schulter. Das wäre die Person, die sie suchten. Er drückte ihr die Schulter, still zu sein. Nicht zu reden. Würde es reichen, wenn sie ihren Pass holen würde und ihnen den zeigen. Der Polizist hielt ein Blatt Papier in der Hand. Er schaute darauf. Das würde reichen, sagte er.»Komm. Geh. Hol deinen Pass. Kinderl. «Der Onkel drehte sie an den Schultern und schubste sie die erste Stufe hinauf. Sie drehte sich zurück. Warum, wollte sie wissen. Was denn los sei. Warum ihren Pass.»Es liegt eine Vermisstenmeldung vor. Amalia Schreiber.«»Eine Vermisstenmeldung. «Sie ging an das Gartentor. Hielt ihre Hand aus. Der Polizist ließ die Hand mit dem Papier sinken. Sie starrte diesen Mann an. Er war nicht sehr groß. Sie war größer als er und stand eine Stufe höher. Jung. Er war jung. Auch die Polizistin war jung. Die Frau blondgebleichte Haare in einem Pferdeschwanz unter der Kappe. Der Mann gebräunt. Stark gebräunt. Eine gebräunte Haut ist eine kranke Haut. Der Satz ging ihr durch den Kopf. Und wer konnte nach ihr suchen. Dann sagte sie es.»Wer will nach mir suchen. «Der Polizist sagte nichts.»Na komm. Hol den Pass. «Der Onkel drängte.»Wir verkühlen uns hier nur. «Sie seufzte.»Ich habe alles in der Wiener Wohnung. «sagte sie. Sie hatte sich an den Onkel gewandt.»Alles.«, fragte er.»Ich habe meine e-card mit. Die habe ich. «Dann sprach sie nicht weiter. Sie hätte sagen wollen, dass sie die im Spital gebraucht hatte. Was ging das dieses Polizistenpärchen an.»Würde es ausreichen, wenn ich ihnen einen Ausweis zeige und dafür einstehe, dass diese Person hier Amalia Schreiber ist. «Der Mann schaute den Onkel an. Dann zu ihr. In welchem Verhältnis er zu Frau Schreiber stünde, fragte die Polizistin. Der Onkel schaute die Frau lange an. Er hole jetzt seinen Führerschein. Das genüge ja. Und er sei ein Verwandter. Dann drehte er sich weg und stieg die Stufen hinauf. Sie stand da. Sie zog den Mantel um sich. Die Polizisten hatten dunkelblaue Parkas an. Es war ihnen aber kalt. Die Frau hatte begonnen, mit den Füßen zu stampfen, um sich warm zu halten. Der Mann schlug die Hände gegeneinander. Das Papier wurde dabei geknickt. Ein Wind kam von den Hügeln herunter. Der Onkel stürmte aus dem Haus. Er hielt seinen Führerschein über das Gartentor. Der Polizist nahm ihn. Schaute ihn an. Gab ihn der Polizistin. Die nahm ihn und ging zum Auto. Sie standen schweigend da. Sie konnten die Polizistin hören. Sie hatte sich ins Auto gesetzt und sprach von da. Der Name war zu hören. Murmeln. Der Polizist schaute das Haus an. Musterte es. Die Frau stieg wieder aus und kam an das Gartentor zurück. Sie reichte dem Onkel den Ausweis. Ob Frau Schreiber mit einem Ausweis in der Dienststelle vorbeikommen könne. Nur zur Klärung. Und es ginge eigentlich darum, dass Frau Marina Schreiber-MacDuff einen Unfall gehabt habe und um einen Anruf bitte. Es wäre dringend. Die Polizistin schaute ihr in die Augen. Hielt sie mit den Augen fest.»Antworten. Mit den Augen antworten. Den Blickkontakt halten. Das ist wichtiger als ein Lügendetektortest. «Die Lektionen von Heinz. Sie schaute also dieser Polizistin in die Augen und verbot sich, irgendetwas zu sagen.»Ich werde sofort anrufen. «sagte der Onkel. Er werde sofort in London anrufen und alles klären. Ob man jetzt fertig sei, fragte er. Ruhig. Er hielt seinen Führerschein. Er habe nämlich einen wichtigen Termin. Er betonte das wichtig. Der Polizist nickte. Die Polizistin löste ihren Blick und schaute ihren Kollegen an. Sie wandten sich ab. Grüßten.»Grüß Gott. «sagten sie. Im Chor.
Sie nahm den Onkel am Arm und zog ihn ins Haus hinauf. Grüß Gott. Das war die größte Provokation. Der Onkel grüßte Gott nicht. Das stand ihm nicht zu. Das stand niemandem zu. Schon gar nicht den Vertretern der Staatsmacht. Den Vertretern der Staatsgewalt. Den Vertretern der falschen Staatsmoral. Es war dem Onkel immer schwergefallen, sich mit Beamten zu arrangieren. Das hatte die Tante Trude gemacht. Das war ihre Aufgabe gewesen.
Im Haus. Er müsse jetzt weg, sagte der Onkel und zog seinen Mantel an. Sie brachte ihm den Autoschlüssel. Was die Marina denn habe. Was passiert sei. Aber es wäre jetzt einmal nicht wichtig. Sie solle niemandem aufmachen. Sie solle im Haus bleiben. Und sie solle die Marina anrufen und das alles klären. Aber er wisse ja, dass es der nur um das Geld ginge. Sie habe den Dominik Ebner getroffen, sagte sie. Ob sie sich bei dem erkundigen sollte, was ihre Situation sei.»Ach. Die Ebners. «Er wickelte den Schal sorgfältig um den Hals. Da hätte es einen Skandal gegeben. Die wären irgendwie an diesem Bankendeal beteiligt gewesen, der jetzt die Staatsanwaltschaft interessiere. Er glaube nicht, dass man noch einmal etwas davon hören würde. Aber die Klienten hätten reagiert, und da hätte es noch einmal Schwierigkeiten gegeben. Krisen halt. Aber sie wisse ja, wie wenig ihn das interessiere. Jedenfalls glaube er nicht, dass sie einen Rechtsanwalt bräuchte. Er käme in 2 Stunden spätestens. Sie küsste ihn auf die Wange.»Und. «sagte er.»In Österreich herrscht Ausweispflicht. Du musst immer einen Ausweis bei dir haben. Da sind wir noch gut davongekommen, dass die dich nicht mitgenommen haben. Dann hätten wir zum Dr. Seidler gehen müssen. Deinen Freund Ebner. Den brauchen wir hier nicht. «Er schüttelte den Kopf. Angewidert.
Er solle vorsichtig fahren. Der Onkel blieb in der Tür einen Augenblick stehen. Er dachte nach. Wollte etwas sagen. Dann lächelte er ihr zu und ging hinaus. Sie konnte ihn sehen, wie er im Auto den Sitz zurückschob. Sie ging ins Wohnzimmer und schaute in den Garten hinaus. Sie stellte sich an das Fenster. Sie setzte sich auf die Couch. Sie setzte sich in einen Fauteuil. Stand wieder auf. Ging auf und ab. Die Unruhe um ihren Nabel tobend. Sie konnte nicht stillsitzen. Das Wohnzimmer. Unverändert. Alles genauso wie damals. Als sie das Kind im Haus gewesen war. Die venezianische Gondel im Bücherregal. Die Puppensammlung. Die» Reader’s-Digest«-Hefte. Die» Time-Life«-Bücher über ferne Länder, Wissenschaft und Kunst. Über die Eroberung des Nordpols und des Südpols und des Himalaja. Über Krankheiten und den menschlichen Körper. Aber sie hatten das nie gelesen. Diese Bücher waren angekommen, und sie waren von außen bewundert worden. Gelesen wurden sie nicht. Der Onkel las nur die Bibel, und die Tante hatte diese anderen Bücher bestellt. Aber das war ihr genug gewesen. Sie hatte sie dann nicht gelesen. Die Bücher standen in den Bücherregalen der Wohnwand. Die Puppen dazwischen. Alles die Tante Schottola. Ihre Verschwendung, und viel darüber geredet werden hatte müssen. Diese Bücher. Eines von diesen Büchern zu lesen. Wenn sie eines dieser Bücher aufmachte. Sich hinsetzte und zu lesen begänne. Sie blieb am Fenster stehen. Da konnte sie sich gleich erschießen. Sie konnte sich sehen. Das Einschussloch in der Schläfe. Sie hätte sich nie in den Mund schießen mögen. Aber in die Schläfe. Und wie sie hinfiel. Wie sie da hingefallen wäre, in dasselbe Nichts wäre sie mit so einem Buch gefallen. Sie wäre in diesem Text zu liegen gekommen. Wie tot. Sie hätte über die Schwierigkeiten gelesen, wie so eine Polarexpedition auszustatten wäre, und wäre tot gewesen. Hätte sich totgelesen. Wenn sie nur eines der» Reader’s-Digest«-Heftchen öffnete und einen dieser Ratschläge läse, wie sie ihrem Leben einen Sinn verleihen könnte. Sie hätte sich liegend in der vollkommenen Sinnlosigkeit gefunden. Und es war nicht ihre. Es war nicht ihre Sinnlosigkeit. Sie war lebenslustig. Gerade in diesem Haus hatte es sich herausgestellt. Die Schottolas hatten den Kopf geschüttelt darüber. Sie hatte Kraft. Sie hatte immer Kraft gehabt. Sie hatte ihre Mutter überstanden. Sie hatte sich freiwillig von ihrer Mutter getrennt. Sie hatte ihre Großmutter überstanden. Das Mammerl ja wahrscheinlich die nächste Ursache von allem. Aber beim Blick hinaus in den Garten. Auf die Tanne hinten neben dem Haus. Es war ein Geschmack. Ein Geschmack tief in der Kehle. Schmeckte Verzweiflung so. Platzend wirbelnd und im ganzen Körper.
Wodka. Fiel ihr ein. Wodka würde helfen. Sie konnte den Wodka in sich spüren. Wie die Unruhe verebbte. Ruhig. Gelassen. Wenn sie Wodka bekommen konnte. Oder irgendetwas. Dann konnte sie ruhig warten. Gelassen dasitzen und die Tante erwarten. Und das war es. Sie hatte Angst. Zu allem anderen hatte sie auch noch Angst. Vor dem Anblick. Davor, wie sie aussehen würde. Es waren ja nur Bemerkungen gewesen, die der Onkel Schottola gemacht hatte. Aber die Tante musste sehr verändert aussehen. Sie setzte sich. Schaute auf das handgestrickte Tischtuch auf dem Couchtisch. Ließ den Kopf hängen. Bekam feuchte Augen. Dann stand sie wieder auf. Richtete sich auf. Ging in die Küche. Sie begann zu putzen.
Sie räumte die oberen Küchenkästchen aus. Wischte die Böden mit nassem Wettex. Wischte sie trocken. Sie schaute die Ablaufdaten der Packungen an. Reis. Nudeln. Polenta. Linsen. Stellte Abgelaufenes zur Seite. Staubte Gläser und Dosen ab. Sie stieg auf einen Küchensessel und wusch die Oberseite ab. Eine dicke Schicht von Staub und Fett oben auf den Kästen. Neglected. Das hier war vernachlässigt. Die Küche. Das war das Zentrum des Lebens gewesen. Blitzsauber und immer Vorräte. Blumen an den Fenstern. Es war nicht schmutzig. Jetzt. Nicht richtig. Aber unbenutzt. Ungepflegt. Als wohne hier nur manchmal jemand. Der Onkel Schottola aß Ravioli aus der Dose. Bohnen. Gulasch. Sie hatte die Dosen wenigstens gewärmt. Sie hatte ja selbst keinen Appetit gehabt und lieber eine Pizza geholt. Sie ordnete die Vorräte wieder ein. Begann mit dem Geschirr. Teller. Teetassen. Kaffeehäferln. Untertassen. Gläser. Eierbecher. Kompottschüsselchen. Salatschüsselchen. Dann die Unterschränke. Die Töpfe und Reindln. Die Pfannen. Die Tortenformen. Die Backformen. Die Bratenformen. Die Auflaufformen. Sie rieb die Fächer aus. Wusch das Geschirr. Die Backbleche. Die Schienen des Backrohrs. Den Herd. Sie verbog sich und putzte die Unterseite der Oberkästen. Die Dunstabzugshaube. Die Kacheln an der Wand. Sie holte den Schrubber aus dem Wandschrank und machte sich an den Boden. Sie schrubbte mit Cif und dann mit Spülmittel und zweimal mit klarem Wasser. Der Boden wurde wieder hellgrau. Die Fugen zeichneten sich ab. Aber es war auch das Alter deutlicher zu sehen. Es waren die Einrisse an den Kanten der Kästchen deutlich. Die Verfärbungen, wo die Sonne hinkam und der Lack ungebleicht hellbraun geblieben war. Die Brandmale auf der dunkelbraunen Arbeitsplatte zeichneten sich klar ab. Die Risse in den Kacheln. Die Dellen im Email des Herds. Die Trittspuren vor den Arbeitsflächen. Sie konnte die Tante Schottola hören, wie sie immer gesagt hatte, dass die Küche frisch gestrichen werden müsse und dass man dann gleich neue Küchenschränke kaufen sollte und mit Induktionsstrom kochen. Aber der Onkel Schottola hatte nicht einmal einen Mikrowellenherd erlaubt. Und jetzt musste er die Dosen kalt essen. Aber es war auch, weil er es nicht gut haben wollte, wenn sie es nicht gut hatte. Sie wusch sich die Hände und ging ins Wohnzimmer zurück. Wenn sie das Geld bekam. Wenn sie dieses Geld wirklich bekommen sollte. Dann konnte sie der Tante Schottola eine neue Küche schenken. Sie stellte sich die Küche für sie vor. Die Tante Trude war eine dunkle Person. Ein Persönchen. Eine helle grüne Küche, in der die Arbeitshöhe für sie stimmte und nicht so hoch wie jetzt war. Mikrowelle. Induktionsherd. Elektrobackrohr. Und alles neu und glatt und glänzend.
Sie hörte das Auto. Sie ging an das Eckfenster. Man musste ganz an die Scheibe heran, damit man auf die Stufen vor dem Haus sehen konnte. Und auf das Gartentor. Die Büsche verdeckten sonst die Aussicht. Sie stand auf den Zehenspitzen und lehnte ihre Stirn an das kalte Glas der Fensterscheibe. Sie konnte den Onkel Schottola sehen. Er ging um das Auto. Vorne herum, und er schaute die ganze Zeit auf den Beifahrersitz. Dann ging die Tür auf. Sie konnte das durch das Auto hindurch nur ungenau sehen. Eine Person. Schattig. Verschwand. Der Onkel kam wieder um die Kühlerhaube herum. Er beugte sich hinunter. Beugte sich weit hinunter. Sie hob den Kopf vom Fenster weg. Der Onkel und die Tante verschwanden einen Augenblick hinter dem Busch neben dem Gartentor. Die Gartentür knarrte. Dann nichts. Dann langsam. Die Tante hatte sich bei ihrem Mann eingehängt. Er hielt den Arm angewinkelt und schaute hinunter. Die Tante Schottola. Die Tante Trude. Sie war kleiner geworden. Sie musste kleiner geworden sein. Eine winzige Person. Das Gehen eine große Mühe. Es war zu sehen. Es war daran zu sehen, wie sie an seinem Arm hing und sich festhalten musste. Die Füße wurden geschoben. Sie konnte die Füße nicht heben. Sie schob sie über den Betonweg. Vor den Stufen. Eine Pause.
Sie. Hinter dem Fenster. Sie merkte, dass sie den Atem angehalten hatte. Die Tante schaute auf die Stufen und dann zur Haustür hinauf. Dann hob sie den Kopf und wandte ihr Gesicht ihrem Mann zu. Er nahm ihren Arm mit der anderen Hand, hielt ihn fest und beugte sich zu ihr hinunter. Er umfing ihre Mitte und hob sie die Stufen hinauf. Er blieb unten stehen und stellte sie auf die oberste Stufe. Wie ein ganz kleines Kind. Die Frau lächelte. Er stieg zu ihr hinauf und ging auf die Tür zu. Sie lief vom Fenster weg in das Vorzimmer. Die Tante stand in der Eingangstür. Sie hatte innegehalten, zu Atem zu kommen. Sie schaute auf.»Ach mein armes Kind. «flüsterte sie.»Meine arme kleine Mali. «sagte sie und hielt die Arme auf.