«Es kränkt mich, aber ich weiß nicht, wo. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das beschreiben soll. Du weißt schon. Die Geschichte mit der Betsimammi. Ich bin so froh, dass ihr auch nichts davon gewusst habt. Jedenfalls nicht genau. Ich könnte es nicht aushalten, mir vorzustellen, ihr habt das gewusst und mir nichts gesagt, um mich zu schonen. Wenn ich nur beginne, mir vorzustellen, wie der Onkel mich anschaut und dabei weiß, dass meine Mami im 13. Bezirk lebt und bei ihren neuen Kindern zu Hause bleibt. Es gibt ihr so viel Macht. Findest du nicht. Aber ich will sie nicht verstehen. Ich verstehe, dass du das sagen musst. Aber ich will sie nicht verstehen. Ich weiß. Ich sollte. Aber die Vorstellung, ich ginge sie besuchen. Ich läute an ihrer Tür und schaue mir meine Halbgeschwister an. Glaubst du nicht, dass sie dann einen Rückfall haben müsste. Ich bin doch die Erinnerung an alles, was sie falsch gemacht hat. Ich erinnere sie an alles, was ihr passiert ist. Ich bin doch das Monster ihrer Vergangenheit. Ich bin das ganze Elend ihrer Jugend, und ich würde es ihr ins Haus bringen. Glaubst du nicht. Manchmal denke ich, dass ich zu feige bin und mich nicht traue. Aber das ist es nicht. Ich bin ja meine eigene Mutter geworden und muss mich vor gar nichts fürchten. Vor gar nichts. Wenn jetzt ein Drache über den Sand hier am Strand hergekrochen käme, ich würde ihn nur fragen, ob er sich nicht verirrt hat. Es wäre halt fair von ihr gewesen, wenn sie mir das erzählt hätte. Oder euch. Sie hätte ja einen Brief schreiben können. Denn eigentlich zwingt sie mich, mir das anschauen zu gehen und sie aus der Ruhe zu reißen. Ich bekomme immer die Rolle der Störerin. Ich kann ja gar nicht anders. Deshalb werde ich sie nicht treffen und sie strafen. Ich werde sie mit dem Geld strafen. Ich muss mich ja nur aus dieser Erbengemeinschaft raushalten, und die bekommen alle nichts. Obwohl ich es der Tante Marina zutraue, dass sie die Unterschrift fälscht und einfach weitermacht. Oder glaubst du, sie hat auch die Unterschrift von der Betsimammi gefälscht, und die lebt noch immer in Amsterdam und tut sich schwer, und ich lasse mich von der Tante Marina manipulieren. Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Aber das würde ja bedeuten, dass ich zu dieser Adresse fahren muss und nachschauen. Oder muss ich das nicht. Die Dr. Erlacher würde sagen, dass ich nicht verpflichtet bin, für meine Mutter mitzudenken. Das wäre die Sache von ihr. Aber es ist mein Leben davon betroffen. Hat mich meine Mutter verraten oder meine Großtante, und warum muss ich es zufällig herausfinden. Hat die Marina diese Dokumente absichtlich hingelegt, damit ich sie finde. Hat die Marina sich vorgestellt, dass ich das finde und mich dann in die Themse werfe oder auf dem Dachboden erhänge. Das ginge da nämlich gar nicht. Das ist alles viel zu niedrig da. Und ertrinken. Das mache ich lieber hier. Wir haben hier ein bisschen flaues Wetter, und die Wellen lassen sehr zu wünschen übrig. Dafür gibt es Sonne.«
Sie klickte auf» Alles markieren «und löschte alles. Sie ließ den laptop offen. Balancierte ihn offen auf das Badetuch. Legte sich hin. Sie lag seitlich und starrte auf den Bildschirm. Die Sonne war über dem Meer. Tief. Es gab keinen swell. Es war ihr recht. Das war falsch. Sie sollte sich hinauswünschen. Paddeln. Auf dem Brett liegend mit dem Meer verschmelzen. Love the surf and it will love you. Und das tat sie. Sie musste lächeln. Einen Augenblick. Eine Welle von Wohlgefühl. Es war alles so perfekt. Die Sonne. Für morgen war ein guter swell vorausgesagt. Stürme weit, weit draußen. Hier eine Brise und die Sonne. Sommeranfang. Der Sommer frisch. Alle sonnenhungrig und enthusiastisch. Es begann gerade. Die ernsthaften Surfer alle schon längst weitergezogen. In den winterswell auf der südlichen Halbkugel. Hier waren nur mehr die, die es schön haben wollten, und man konnte sich ohne Angst vor den Angriffen der Surfphilosophen tummeln. Ohne Angst vor den Rowdys. Den Promis. Den Pros. Draußen. Paddeln. Man wurde nicht angeschrien, wenn man eine Welle nicht sofort erkannte. Oder Platz machte. Platz machen. Die Unruhe sprang aus dem Satz. Platz machen. Sie musste sich aufsetzen. Sie dehnte den Rücken. Zog die Schulterblätter nach hinten zusammen.
«You going in. «Mort ging vorbei. Er hielt sein nosediver longboard der Länge nach. Blieb kurz stehen. Rammte das board in den Sand. Schaute auf sie hinunter.»Amy. You going slack. «Ob das eine Frage wäre oder eine Feststellung. Sie holte den laptop wieder zu sich.»Ein statement. «brummte der Mann und ging auf das Wasser zu. Die Brandung war stärker geworden. Ein dünner weißer Schaumrand rollte den Sand herauf. Es war kühler.
«Liebe Tante Trude. «schrieb sie.»Hier ist es sehr schön, und du solltest hier sein. Du solltest mit dem Onkel hierherkommen. Es würde genügen, einmal am Tag an den Strand zu gehen und am Abend zurückzuwandern. Es ist noch nicht richtig Saison und viel Platz. Wir könnten einen Sonnenschirm mieten. Oder besser zwei und einen für den Onkel. Du müsstest nichts machen, als das Meer anstarren. Ich glaube, dass das gesund macht. Das Meer anschauen. Ich bin glücklich hier. Ich bin sehr froh, dass ich hierhergefahren bin. Du musst dir aber keine Sorgen machen. Ich habe nicht gekündigt oder so. Diese Firma hatte selbst Probleme. Die sind von einer anderen Firma gekauft worden oder haben fusioniert. Deshalb muss aber alles neu organisiert werden, und die Ausbildung soll endlich professionalisiert werden. Bis jetzt habe ich aber doch erst 200 von den notwendigen 2 100 Unterrichtsstunden. Ja, du hast schon recht, es ist fast nur Sport. Aber es macht nicht so viel Spaß, wie ich gedacht habe, und es ist deshalb mehr eine Leistung. Ich mag diese Kampfsportsachen immer, solange es keinen Körperkontakt gibt oder mich niemand berührt. Wenn jemand mich angreift, dann erstarre ich und beginne zu weinen. Ich habe das kaschieren können. Ich muss dann eine Pause machen und mich niederboxen lassen oder auf den Boden werfen, und dann kann ich erst wieder beginnen. Eigentlich kümmern sich dann alle mehr um mich, als wenn ich es gut machen würde, aber mich stört das sehr. Es tut mir deshalb so gut, hier zu sein. Ich wollte, ich könnte das überall. Hinauspaddeln und im richtigen Augenblick auf das Brett hinauf und es nehmen, wie es kommt. Ich habe viel verlernt, weil ich in diesem Winter nicht zum Surfen gekommen bin, und krache bei fast jedem ride ein. Aber das macht mir nichts. Hier schlafe ich jede Nacht durch und habe keine Schweißausbrüche und muss aufstehen und herumgehen. In diesem Kaff im Bayrischen Wald saß ich dann schon jede Nacht auf dem Dach draußen, weil ich es im Zimmer nicht aushalten konnte. Seit die Firma das Hotel gekauft hat, kann ich nicht mehr in der Nacht in die Küche gehen und Kurtchen besuchen, der sowieso nie schläft und in der Nacht immer kocht. Erstens darf er nicht mehr in der Nacht in die Küche, und niemand kann mehr so einfach überallhin. Also klettere ich beim Dachfenster hinaus und sitze auf den Dachziegeln und schaue den Mond an. (Ich jaule ihn aber nicht an.) Du solltest wirklich hierherkommen. Dann würdest du sehen, was das für ein relaxtes Leben ist. Ich überlege natürlich schon, ob ich nicht einen Job hier versuchen sollte. Die suchen hier jemanden für die Saison. Im surfshop da. Da könnte ich umsonst wohnen, und ich kann ja am Morgen surfen. Dann habe ich schon alles, wenn die anderen erst am Strand auftauchen. Ich weiß schon. Ich möchte das alles ja auch fertig machen, und es sieht ja jetzt gut aus. Die theoretischen Fächer soll ich in einer richtigen Sicherheitsakademie in Deutschland machen. Oder vielleicht in England. Die schnapsen das jetzt aus. Die deutsche Ausbildung ist angeblich die beste. Das sagt der frühere branchmanager Heinz. Ich habe dir von ihm erzählt. Aber der meint noch die Ausbildung in der DDR. Die kommen ja alle von da und halten deshalb so zusammen. Diese Cindy ist aber mittlerweile richtig nett zu mir. Ich bin in den Kommunikationsübungen nicht so gut und nehme mir alles noch immer viel zu sehr zu Herzen.«
Sie löschte den Text und zog das sweatshirt an. Die aufgeraute Innenseite schmeichelnd über den Schultern. Sie konnte nicht so lügen. Sie lernte das nicht. Sie konnte sich noch so anstrengen. Sie dachte nicht strategisch. Nicht genug, jedenfalls. Und die Cindy war nicht nett. Die Cindy war nicht nett zu ihr, weil sie nett war. Oder weil sie nett sein wollte. Die Cindy hatte Sorge, dass sie nicht entsprechen würde. Sie konnten sie aber auch nicht wegschicken. Im Augenblick brauchten sie jede Person. Gleichgültig, was die konnte oder nicht lernte, und sie war ohnehin immer nur so mitgelaufen. Gregory’s girl.
«Ich heule herum. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe zu schwitzen begonnen. Ich habe noch nie geschwitzt. In meinem ganzen Leben habe ich nie geschwitzt, und jetzt muss ich mich umziehen und immer andere Kleider anziehen. Früher konnte ich vom Sport in die Klasse gehen. Jetzt stehe ich nur noch unter der Dusche. Ich laufe besonders lange Waldläufe und werde trotzdem nicht fitter. Seit der Geschichte im Jänner bin ich schwach. Ich fühle mich schwach, aber um die Taille habe ich einen Zentimeter zugenommen. Ich bin wütend. Ich bin die ganze Zeit wütend. Ich weiß aber gar nicht, auf wen oder warum ich wütend sein soll, und deshalb bin ich dann am Ende auf mich selber wütend. Ich möchte dem allen ein Ende setzen. Ich bin aber nicht suizidal. Ich will ganz einfach eine ganz andere Person sein. Ich würde gerne so einen Kurs machen wie» Germany’s Next Top Model«, wo Leute sich solche Gedanken über einen machen und dein Bestes wollen und dich dafür quälen, und am Ende ist man dann der strahlende Schwan. Ich möchte ein strahlender Schwan sein, und ich würde jedem strahlenden Schwan den Hals umdrehen. Auch mir, wenn ich einer wäre. Ich hasse dieses Getue, das keinen anderen Sinn hat, als etwas anderes aus einem zu machen, und würde nichts lieber sein. Ich werde hart. Ich kann die Geschichten schon ohne ein Zittern in der Stimme erzählen. Ich kann die Geschichten von den Gefangenen ruhig und gefasst nacherzählen, aber ich mache es dann doch immer falsch. Ich begreife nicht, was das Wichtigste ist. Ich verzettle mich. Ich bin dann unglücklich und verzettle mich noch mehr, und ich möchte nicht, dass du stirbst. Tantchen, bitte stirb nicht. Ich kann das nicht aushalten. Ich weiß, dass es nicht um mich geht, und ich werde das gleich löschen, aber ich kann es nicht aushalten, dass du sterben musst. Du darfst nicht. Ich will es nicht. Du musst auch an die anderen denken. Ich weiß, dass du das immer getan hast, aber warum hast du erst mit diesem Krebs gelernt, dass du an dich denken musst. Warum hast du den Onkel nicht gezwungen, aus der Uhlandgasse wegzuziehen, wenn dir die Umschaltanlage solche Angst gemacht hat. Du weißt, ich habe nur dich. Es gibt sonst niemanden. Auch den Onkel nicht. Sag mir, was ich tun kann, damit es dir bessergeht. Ich bin deshalb nach Kötzting zurückgefahren. Damit du beruhigt bist. Nein. Das ist eine Lüge. Es war nicht nur deswegen. Ich weiß gar nicht so genau, warum ich da weitergemacht habe. Die Tante Marina hätte drängen können, was sie wollte. Es hat halt gepasst. Es hat halt gepasst, dass es dich gefreut hat, dass ich eine Ausbildung fertigmachen werde. Dabei kann ich immer irgendwie mit dem Surfen durchkommen. Ich weiß schon, was du jetzt sagen willst. Aber ich bin doch wie meine Mutter. Ich bin doch genauso verloren wie sie, nur dass ich keine Drogen brauche. Obwohl ich trinke. Denn eigentlich bin ich selber schuld an allem. Ich war betrunken. Ich habe immer getrunken, damit ich es besser schaffe, aber es hat auch Spaß gemacht. Das Trinken war, wie wenn ich durch ein buntes Glasfenster in die Welt hinausschauen kann. Alles war viel bunter und ich viel toller. Aber ich habe meine Rechnung bezahlt. Du weißt das. Niemand sonst weiß das. Schon deshalb darfst du nicht sterben. Wer weiß denn dann etwas von mir. Tante Trude.«
Sie schaute den Bildschirm an. Sie fuhr mit dem Finger auf dem touch pad hinauf. Der Text verschwand im Blau der Markierung. Sie öffnete» Bearbeiten«. Fuhr auf» Löschen «und drückte darauf. Der cursor blinkte ganz oben unter dem Rand der e-mail. Sie schaute über den Bildschirmrand auf das Meer hinaus. Die ersten größeren Wellen rollten herein. Warum war sie nicht da draußen und wartete auf den Druck von unten. Auf diese Spannung unter sich. Diese Erfassung. Warum ließ sie sich nicht aufs Brett heben und gab sich hin. Don’t fight the waves. Go with the flow.
«Liebe Tante Trude, ich bin wie weggemauert. Ich fühle nichts, und ich habe keine Lust. Ich sitze vor den Wellen und bleibe draußen. Ich habe meinen Anzug neben mir liegen und das schickste Brett, das auszuborgen war, aber ich bin nicht am Leben. Es ist wie damals, aber heute würde es mir nicht helfen, alle Teller zu zerschlagen. Damals konnte ich dich erschrecken. Das war ein Ziel. Es war ein Ziel, dich und den Onkel Schottola dazu zu bringen, dass ich wieder zurückmusste. Damals wusste ich ja noch nicht, wie du bist. Ich wollte in dieser Wohngemeinschaft wohnen bleiben, obwohl ich da auch nicht sein hatte wollen und deshalb ja weggekommen bin. Damals wusste ich nicht, dass Dankbarkeit ein notwendiges Gefühl ist. Das waren alles Ziele damals. Das gibt es jetzt nicht. Ich finde kein Ziel für mich. Ich weiß keine Absicht. I don’t see any purpose. Vielleicht habe ich mir doch ein Kind gewünscht und wusste das nur nicht und bin jetzt traurig darüber, dass ich jetzt keines bekommen werde. Ich überlege manchmal, wie das wäre, wenn ich jetzt schwanger wäre. Ich bin eigentlich froh, dass es das Kind nicht gibt. Es wäre wieder ein Kind gewesen, das keinen Vater kennen hätte können. Dieses Kind hätte einen Vaterschaftstest als Vater gehabt und eine Gruppe von Männern, die man mit dem Test abgleichen hätte müssen. Aber das hätte auch nicht sicher ein Ergebnis gebracht. Das Kind wäre aus einer Zeit gekommen, die die Mutter vergessen gehabt hätte. Das Kind hätte ein Engel sein können oder nicht. Glaubst du, der Muttergottes Maria ist es auch so gegangen. Aber die hat nicht eine Flasche Wodka zum Frühstück getrunken. Obwohl wir das ja alles nicht wissen können. In jedem Fall wäre es ein Kind aus dem Chaos gewesen und besser nicht. Wenn ich es behalten hätte, dann wäre ich jetzt ungefähr im 5. oder 6. Monat, und mit dem Surfen wäre es total vorbei. Wenn du da wärst, könnten wir darüber lachen. Wir könnten zusammensitzen und darüber lachen. Kannst du dich erinnern, wie wir gekichert haben, weil wir beide Klavier spielen hätten wollen und uns nicht getraut haben, es zu lernen, weil wir beide Angst hatten, uns das nicht merken zu können. Deshalb haben wir gar nicht angefangen und haben es uns nur immer gewünscht. So geht es mir jetzt mit meinem ganzen Leben. Ich bin froh, wenn etwas nicht funktioniert, weil ich ohnehin sicher bin, dass ich es nicht kann. Aber ein Baby. Das kann jede. Das wäre dann dein Enkelkind gewesen, und ich hätte es nicht verlassen, wie meine Mutter das mit mir gemacht hat. Es ist aber trotzdem besser, dass es nicht funktioniert hat. Ich fühle mich ja doch überfallen, und das Baby wäre von da gekommen. Ich kann nicht so viele Gefühle nebeneinander haben. Du sagst, dass man das alles lernt, aber ich lerne das nicht so gut. Ich bin immer eingefangen in ein Gefühl, und jetzt ist es diese Ziellosigkeit. Das ist keine Sinnlosigkeit. Das habe ich von dir gelernt, dass es kein sinnloses Leben geben darf, und ich bemühe mich sehr. Vielleicht braucht das alles wirklich mehr Zeit, und ich muss noch einmal lernen, mit dem Verrat von meiner Mutter fertig zu werden. Manchmal denke ich, ich sollte doch dahin fahren und schauen, ob das alles stimmt. Die Adresse und so. Ich traue der Marina zu, dass sie das alles erfunden hat, damit sie an das Geld für die Bilder kommt. Dann wiederum muss ich denken, dass das eine Vermeidung von mir ist und dass ich lieber die Tante Marina als die Böse sehen will als meine eigene Mutter. Ich sollte mir Klarheit verschaffen. Ich weiß aber nicht, ob ich die Klarheit aushalten kann. Ich möchte noch viel weiter von diesen Dingen wegkommen. Wenn ich bei euch sein könnte und wir das gemeinsam machen, das wäre das Beste. Du musst gesund werden, damit wir das alles herausfinden können. Wir könnten als Detektivinnenduo auftreten und eine besonders sanfte Befragungsmethode entwickeln. Obwohl ich jetzt manchmal gar nichts mehr wissen will. Von niemandem und nichts. Aber ich muss das ja auch lernen. Befragen ist jetzt ein Unterrichtsgegenstand und die Befragungspsychologie Schulstoff. Ich reagiere wie immer antiautoritär und hasse es. Das ist der alte Mechanismus. Aber hat die Dr. Erlacher recht gehabt, mir diese Auflehnung abgewöhnen zu wollen. Ich muss jetzt immer gegen mich selbst vorgehen und mich zwingen. Ich verstehe schon, dass man eine Ausbildung braucht, und ich hätte bei der BWL bleiben sollen. Jetzt ist es halt so, und du hast schon recht. Jede Erfahrung ist ein Gewinn. Aber manchmal denke ich, dass das halt auch nur der Reichtum der kleinen Leute ist, die sich nichts anderes leisten können, als Erfahrungen zu machen. Ich weiß schon, dass du eigentlich deine Krankheit meinst, und ich werde das schon zu Ende bringen. Ich kann ja dann als Sicherheitsfachkraft immer noch im surfershop an der Côte d’Argent arbeiten. Gestohlen wird da auch. Sicherheit ist immer notwendig. Da hast du schon recht, dass das immer gebraucht werden wird. Ich bemühe mich auch wirklich. Versprochen. Du musst jetzt gesund werden. Du musst ganz dringend«.
Sie löschte den Text.
Sie schrieb.»Es ist auch ein Vergnügen. Das musst du wissen. Es ist vergnüglich. Ein erfahrbares Vergnügen. Dieses Schälen. Herausschälen. Je nach Schale. Das Innere bloßlegen. Ganz kurz. Das Innerste und dann wieder zumachen. Es ist fast ein Verbrechen, es meistens auf Video zu haben. Es ist fast mehr ein Verbrechen als ein Porno. Es ist ein Augenblick. Diese Blöße ist nur einen Augenblick. Gleich nach dem Geständnis ist alles wieder normal. Aber in dem Augenblick. Da gibt es eine Nähe. Da senken sich die Augen. Die Stirn wird ganz entspannt. Da gibt es ein Lächeln. Süße Hilflosigkeit. Ein Band ist das. Ein Bund wird das. Es ist ein mindfuck. Ganz richtig so. Da ist mehr ineinander verhakt als bei jedem Fick. Das ist eine Aufgelöstheit. In dem Augenblick gibt es keinen Unterschied. Keinen Täter und kein Opfer. Das ist dann gleich wieder. Weil das nicht andauert. Es hat sich eine Bindung hergestellt. Es wäre nur richtig, wenn die beiden nicht mehr voneinander ließen. Sie sind ja weit außerhalb geraten und wissen nun doch, wie die Welt funktioniert. Es ist ja auf allen Ebenen so. We are fucked. Es ist am besten, wir geben es gleich zu. Das Leben tut ja ohnehin fast immer weh. Mir tut das Leben fast immer weh. Aber ich kann mich nicht rächen. Ich muss meinen Wunsch, Amok zu laufen, in diese Augenblicke auffädeln. Eine Perlenkette von Amoklauf. Dunkle Perlen. Die äußerste Einsamkeit. Die tiefste Verwirrung. Die kürzesten Augenblicke, das aufzuheben und wieder dahin zurückzufallen. In die äußerste Einsamkeit. In die tiefste Verwirrung. Die noch weiter außerhalb liegt und noch tiefer hinunterreißt als davor. Aber ein Vergnügen. Erwartung. Macht. Macht zu haben. Eine Zigarette zu rauchen und das glühende Ende der Zigarette gegen die Stirn zu halten, bis sie erschlafft und alles gesagt werden muss. Ich bin ein schlechter Mensch, Tante Trude. Ich bin der schlechteste Mensch, und ich hoffe, dass deine Krankheit nichts damit zu tun hat, und ich möchte nie, dass du das erfährst. Aber ich bin wie entfesselt und böse. «Sie löschte die ganze e-mail.
Der Wind fast kalt. Sie nahm den laptop und ging an den Rand des Strandes. Der Sand zur Grasnarbe da steil anstieg. Das alte Gras graumodrig über die Kante hing. Das neue Gras steil grün in die Höhe wuchs. Sie lehnte sich unter die Kante. Balancierte den laptop auf den Knien. Der Wind hier fast nicht. Der Sand von der Sonne noch warm. Sie rief die e-mail von der Tante Trude auf und klickte auf» Antworten «und schrieb.
«Ich habe Angst und weiß nicht, wovor oder warum.«
Sie schaute hinaus. Es war nichts los. Sie versäumte nichts. Sie schaute auf den Satz auf dem Bildschirm. Das stimmte nicht. Sie hatte keine Angst. Sie hatte das aber geschrieben. Sie hatte alles Mögliche geschrieben. Das alles war in den Bauch dieses Geräts verbannt worden. Das alles war in einer Zwischenablage. Wiederfindbar. Sie seufzte. Das war angenehm. Das war sehr angenehm. Alles war geschrieben und aufgehoben, und sie musste nichts mehr wissen davon. Sie war traurig. Sie hätte die Tante Trude wirklich gerne hiergehabt. Sie und der Onkel hätten schon zurückgehen müssen. Ins Hotel. Für die Tante wäre es schon zu kühl gewesen. Sie hätte sie zum Abendessen gesehen. Sie wäre an den Tisch gekommen, und sie hätten gegessen, und am nächsten Tag wären sie wieder an den Strand gezogen. Das würde es nicht geben.»Du darfst das nicht denken. «befahl sie sich. Aber sie dachte es. Es gab keine Berichte mehr. Sie musste anrufen. Die e-mails von der Tante gerade eine Zeile. Der Onkel meldete sich gar nicht mehr. Er hatte wohl Sorge, sich zu verraten. Dann waren wohl die Abendessen nach den Wanderungen mit ihm. Dann waren das wohl die Erinnerungen. Die Essen in irgendwelchen Gasthäusern da, wo sie hingeraten waren. Die Tante hatte sie abgeholt, und es wurde noch dort gegessen. Weil sie so lange gegangen waren. Sonst waren Gasthausbesuche nicht erlaubt. Frivol. Kostspielig und überflüssig. Die Tante hatte gesagt, dass das Kind auch einmal etwas erleben musste. Und das war es jetzt. Das war es, was das Kind erlebt hatte. Sie konnte es nicht zurückzahlen. Zurückschenken. Die Tante entzog sich dem mit ihrer Krankheit. Das hätte sie mit dem Geld aus der Restitution gemacht. Die Schottolas ans Meer einladen.
«Warum weinst du. «Nadja und Emilio standen vor ihr. Sie holte Luft. Nadja setzte sich links von ihr. Emilio rechts. Sie schauten auf den Bildschirm. Was das bedeute, fragte Emilio auf Englisch.»She lives in fear.«übersetzte Nadja. Emilio wandte sich ihr zu.»Hey, Amy. What’s up. «Er schaute sie erstaunt an.
Er solle Amy in Frieden lassen, sagte Nadja. Sie würde schon sagen, was los sei, wenn sie dazu bereit wäre. Oder? Fragte sie.»Real Angst. «Emilio wunderte sich. Sie zog die Schultern hoch. Ihre Stiefmutter. Eigentlich ihre foster mother. Sie wäre sehr schwer krank.»Life is a shit. «Emilio nickte ihr zu. Er nahm ihre Hand und drückte sie. Seine Hand trocken und warm. Sie ließ ihre in seiner liegen. Ließ seine Wärme in ihre Hand fließen. Nadja holte tief Luft. Ja, sagte sie. Man müsse immer Angst haben, wenn man jemanden habe, den man liebe. Das sei der deal. Sie seufzte. Sie sei deshalb über die Zeiten froh, in denen sie ungebunden wäre. Unattached. Liebe. Das sei eben eine Fessel. Sie saßen. Lange.
Nadja sprang auf. Sie ginge jetzt hinein. Emilio sah zu ihr hinauf. Er bliebe noch da. Nadja nickte und ging. Sie trug ihr Brett davon und begann zu laufen. Sie lief ins Wasser. Warf das Brett vor sich auf das Wasser. Schwang sich auf das Brett. Paddelte hinaus. Sie war auf Wellenbergen zu sehen. Verschwand hinter den Wellen. Ob sie Hilfe bräuchte, fragte Emilio. Er hielt ihre Hand. Sie schauten hinaus. Sie hatte die Beine ausgestreckt, und der laptop lag warm summend auf ihren Oberschenkeln. Sie dachte nach. Konnte sie Hilfe brauchen, und was wäre Hilfe gewesen.»No. «Sie schüttelte den Kopf. Nein. Es ging nicht um Hilfe. Hilfe, das hätte sie im Übermaß bekommen. Alle hätten ihr immer helfen wollen. Sie war eine einzige Hilfsmaßnahme. Und er solle nicht glauben, sie wäre nicht dankbar. Dieser foster mother. Der habe sie alles zu verdanken. Alles. Und dem Mann von der auch. Das wären Menschen gewesen, die beschlossen hatten, das Richtige zu tun. Die hatten mit ihr das Richtige getan, und das hatte gestimmt. Sie wüsste auch nicht, was sie bräuchte.»Ah. You are in transition. Good luck with that. «Er drückte ihre Hand. Er stand auf. Beugte sich zu ihr. Drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Fest. Bestimmt.»See you back at dinner. «Sie nickte. Sie sah ihm zu. Er hob sein board auf und ging auf das Wasser zu. Sein Neoprenanzug hatte weiße und rote Streifen über den Rücken. Er ging auf das Wasser zu. Die Sonne tief über dem Wasser. Er ging in die Sonne. Seine Silhouette vom Sonnenlicht und dem Widerschein vom Wasser umspielt. Löste sich auf. Er watete tief ins Wasser vor. Warf sich mit einem Sprung auf das Brett. Verschwand.
Sie lehnte sich zurück. Solange griechische Götter einen fragten, ob man Hilfe brauchte. Sie atmete tief. Der Himmel wolkenüberzogen. Die Wolken. Rundwolkig verspielt in den Himmel hinauf. Die Unterseite. Glattgeweht vom Wind. Segelten schnell herein. Vom Meer aufs Land. Die Sonnenstrahlen fielen schräg darunter. Das Wasser glitzernd grüne Berge. Löste sich in Schaum auf. Die Wellen donnernd. Lauter geworden. Sie hörte zu. Sie hatte das Gefühl, neu zu hören. Neu zu hören, nachdem sie taub gewesen war. Sie hatte nicht gehört. Während sie die e-mail an die Tante Trude schreiben hatte wollen. Sie hatte nichts gehört. Es war wie Aufwachen. Das Donnern der Wellen am Strand unten weit vorne. Der Wind im Gras. Raschelnd. Die Sonne noch auf der Haut. Die Kälte des Abends aber schon stärker als die Sonnenwärme. Die Köpfe der Surfer in den Wellen.
«Liebe Tante Trude. «schrieb sie.»Wie geht es dir. Wie geht es dem Onkel. Ich hoffe, es ist nicht zu viel Arbeit im Garten und ihr könnt die schöne Zeit auch genießen. Hier ist sehr schönes Wetter, und auch das Surfen geht sehr gut. Leider habe ich nur mehr ein paar Tage. Dann muss ich nach England zu einem Spezialseminar. Ich kann da auch gleich mit Tante Marina in London reden, und ich werde alle Ratschläge beherzigen, die du mir gegeben hast. Ich erzähle dir dann, was da herausgekommen ist. Pass bitte auf dich auf. Ich umarme dich. Immer deine Mali.«
Sie las die mail durch. Schüttelte den Kopf. Löschte sie.
«Liebe Tante Trude, ich bin hier gut aufgehoben, und es beginnt, mir besserzugehen. Love you, Mali.«