August

Sie saß auf dem Bett. Das Fenster. Die nächtliche Stadt. Lichter. Ein dunkel wolkiger Himmel. Keine Sterne. Die Flugzeuge aus dem Westen unter den Wolken zu sehen. Es musste Ostwind sein. Die Flugzeuge flogen den Flughafen vom Westen an. Überflogen die Stadt. Sie zählte die Flugzeuge. Sie kam aber gleich durcheinander. Sie hatte sich umgedreht. Es waren Schritte auf dem Gang zu hören gewesen. Sie hatte sich umgedreht, um zu sehen, ob man die Füße sehen konnte. Unter der Tür ein breiter Spalt. Das Licht fast eine Handbreit. Sie hatte sich gewünscht, diese Füße gehen sehen zu können. Sie hatte sich gewünscht, eine Person draußen zu wissen. Die Schritte. Sie hatte gehofft, es käme jemand ins Zimmer. Irgendjemand. Sie war allein. Nach einer Viertelstunde. Es konnte nicht viel länger gewesen sein. Sie fühlte sich einsam, als wäre sie die letzte Person auf der Welt. Sie sehnte sich nach einer Person. Nur irgendeine Person, die ins Zimmer kam. Die das Licht aufdrehte. Die sich vergewisserte. Die sah, dass sie da war. Die ihr zunickte. Sie etwas fragte. Die etwas holte. Etwas brachte. Die nachsah. Jedes Wort hätte ihr geholfen. Der Anblick einer anderen Person. Die Anwesenheit.

Es konnte noch nicht lange sein. Sie verbat sich, auf die Uhr zu schauen. Dazu hätte sie das Licht über dem Bett einschalten müssen. Kurz. Wenigstens. Das Licht über dem Bett schaltete sich mit einem Geräusch ein. Ein klickendes Geraschel, bis die breite Leuchtröhre zu strahlen begann. Das war dann gedämpft. Aber das Geräusch weckte auf. Die regelmäßigen Atemzüge. Sie würden ins Taumeln kommen. Es war zu sehen. Wenn die Tante Trude aus dem Schlaf gerissen wurde. In ihrer Vorstellung war sie vor etwas davongelaufen und hatte mit den Armen um ihre Balance gerudert. Erschöpft und verwirrt. Als wäre sie gelaufen und hingefallen und wieder aufgetaumelt. So wachte sie auf.

Später in der Nacht. Die Tante Trude. Sie begann dann zu reden. Stöhnte. Seufzte. Greinte. Sie greinte trostlos. Ein zweijähriges Mädchen. Dann wollte sie auch reden. Am Anfang der Nacht. Am Anfang der Nacht schlief sie tief. Man war überflüssig. Noch. Sie hätte den Rat der Krankenschwester befolgen sollen.»Setzen Sie sich in die Ecke und lesen Sie. Das Licht wird Ihre Mutter nicht stören. Im Gegenteil. Und Sie können sich beschäftigen. Nächte sind lang. Ich weiß das.«

Es waren 15 Minuten gewesen. Sie hatte ihr handy aus der Tasche gefischt und unter das Bett gehalten. Das bläuliche Licht des displays unter dem Bett. Es waren genau 15 Minuten vergangen, seit die Nachtschwester das Licht abgedreht hatte. Sie konnte nicht hier sitzen. Es ließ sich nicht machen. Ruhig sitzen. Sie stand auf. Ging zur Tür. Sie horchte. Die Atemzüge gleichmäßig. Sie ging an die Tür. Sie wartete wieder. Horchte. Sie zog die Tür auf und drängte sich aus dem Krankenzimmer hinaus. Schloss die Tür hinter sich.

Die Station war schon geschlossen. Die Tür zum Liftfoyer hinaus zu. Ein Schild.»Geschlossen. Bei Wiedereintritt bitte klingeln. «Sie stand auf dem Gang. Eine Frau weit unten. Da, wo das Mineralwasser zu holen war. Sie ging dahin. Sie hatte die falschen Schuhe an. Jeder Schritt. Die Absätze. Sie ging. Kam an den Tisch. Kekse. Mineralwasser. Äpfel. Tee. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser und ging zurück.

Sie hatte gehofft, hinausgehen zu können. Im Liftfoyer zu sitzen. Andere Personen kommen und gehen sehen. Den Lift klingeln hören und sich fragen, wer da aussteigen würde. Den Krankentransporten zusehen. In die Halle fahren. Mit den Schlaflosen da. Auf einer Bank sitzen. Hinausgehen. Die Abendluft. An den Rauchern vorbei in den Garten. Tief atmen. Die Abende waren schon wieder kühl.

Aber es war nicht möglich. Sie konnte die Nachtschwestern nicht anklingeln, und sie konnte hier nicht auf und ab gehen. Sie war zu laut dafür. Warum hatte sie nicht irgendwelche sneakers angezogen. Warum hatte sie diese pumps an. Tante Trude freute sich, wenn sie hübsch aussah. Aber es war ihr jetzt. Jetzt war es ihr gleichgültig. Sie konnte es nicht einmal sehen. Wenn sie einen ansah. Sie dachte, dass der Tante Trude schwindelig sein musste. Dass es sie im Kopf herumdrehte. So wie sie einen ansah. So bemüht, einen zu fixieren. Sie streckte den Kopf vor, genauer zu sehen, wer da war, und ließ sich auf die Pölster zurückfallen. Erschöpft und verwirrt. Das wäre mehr die Wirkung der Chemotherapie. Der Onkel Schottola wiederholte ihr das, was die Ärzte ihm gesagt hatten. Er sagte es ihr beschwörend. Es ihr zu sagen machte es ihm glaubhafter. Aber.

Sie konnte das nicht glauben. Sie konnte nur sehen, dass die Tante Trude gequält war. Gequält wurde. Dass sie alles verloren hatte, was ihr wichtig gewesen war. Klarheit. Übersicht. Ruhe. Die Tante Trude. Sie war ja auch fahrig geworden. Ängstlich. Weinerlich. Verändert. Vollkommen verändert. Das konnten sie gar nicht besprechen. Der Onkel und sie. Wie verloren sie war. Wie jeder Souveränität beraubt. Wie sich alles verkehrt hatte. Wie sie alles zurückgeben mussten, was sie von der Tante Trude bekommen hatten. Es war, als sammelte sie alles wieder ein. Sie musste das als ein Privileg ansehen. Sie musste das als Geschenk nehmen. Dass sie zurückgeben durfte, was sie bekommen hatte. Aber sie hätte schreien können. Sie hatte nichts herzugeben. Sie fand gar nichts. Sie war entsetzt. Sie war entsetzt, weil sie so leer war. Leer und trocken. Sie musste die Liebe spielen. Sie trat als ihre eigene Schauspielerin auf. Sie hätte darüber laut brüllend heulen können. Sie hatte keine Gefühle für diese Frau. Für die ihr liebste Person. Die in Not war. Und sie war nur trocken und leer. Sie bekam nicht einmal feuchte Augen, wenn sie an das Bett trat. Die gelbgraue Haut. Das verschrumpelte Gesichtchen. Die dünnen Härchen. Die winzigen Händchen. Der Geruch. Ihr wurde nur der Hals trocken, und sie verschluckte sich an der Trockenheit tief im Rachen. Sie war eine schreckliche Person. Dabei hätte sie diese Personen. Die Tante Trude und den Onkel Schottola. Sie hätte diese Personen so gerne geliebt. Umfangen und geliebt. Gerettet. Sie hätte sie einsammeln wollen und wegführen. Wegfahren. Auf eine griechische Insel. Eine Insel schien ihr der richtige Ort. Vom Meer umspült und sicher. Auf eine Insel gerettet. Aber die griechischen Inseln waren von Erdbeben bedroht und glühend heiß. In den Norden. Das wäre besser gewesen.

Sie konnte nicht in das Zimmer zurück. Sie stand mit der Flasche Mineralwasser im Arm da. Alle Zimmertüren geschlossen. Das Schwesternzimmer um die Ecke. Sie konnte da einmal vorbeigehen. Auf dem Weg zur Toilette. Sie konnte da die beiden Nachtschwestern sehen. An den Schreibtischen. Vor den Bildschirmen. Aber das konnte sie nicht öfter machen. Sie war keine Katze. Sie konnte nicht diesen Krankenschwestern um die Beine streifen. Nur um zu wissen, dass sie nicht allein war. Mit der Tante Trude. Dass es Menschen gab, die normal atmeten. Deren Atem selbstverständlich nebenbei vor sich ging. Deren Atem sich nicht abgetrennt hatte und mit jedem Einatmen in die Frage geriet, ob es weiterging. Weitergehen sollte. Zögernd. Vor dem Ausatmen ein langes Zögern. Vor dem Einatmen ein Abwarten.

Das Mineralwasser. Die Glasflasche kühl gegen die nackten Arme. Sie stand da. Sie wollte gehen. Laufen. Sich bewegen. Die Unruhe wenigstens herumtragen. Mit der Unruhe in Bewegung. Die Unruhe nicht so vollkommen gegen sich. Sie zog die Schuhe aus. Sie trug die pumps und das Mineralwasser. Stellte alles neben die Zimmertür. Ganz unten am Gang. Und begann zu gehen. Lautlos. Manchmal ein Tappen. Das Licht. Eine Kette von Leuchtröhren hinter eckigem Glas. Ein Glaskanal von Licht an der Decke oben. Kein Schatten. Sie wanderte unter diesem Licht. Ging. Sie ging in der Mitte des Gangs. Keine Sehnsucht bei anderen auszulösen. Hier waren nur sehr schwer kranke Frauen. Sie alle lagen mit dem Blick zur Tür. Alle mit der Hoffnung, die Tür ginge auf und die Retter träten ein und sie würden noch einmal etwas gefragt. Was es ergeben hatte. Eine Weisheit. Einen dieser Sätze, die so hingesagt dann doch Zusammenfassungen waren. Wofür es sich ausgezahlt hätte. Wofür gelohnt. Wofür nicht. Aber das wäre eben erst jetzt zu wissen.

Sie ging. Sie hätte ein Amt für letzte Fragen einrichten wollen. Alle diese Personen. Unter ihren Schlaftabletten begraben. Beruhigt und begraben. Aber vorher. Es musste doch etwas hinterlassen werden. Das Gesicht von der Tante Trude zerfiel in Mitleid, wenn sie sie so sah. Sie hob dann die Hand. Die Hand fiel aus Schwäche auf die Decke zurück. Aber das war die Wiederholung.»Meine arme Mali. «hatte sie gesagt. Da war sie noch nicht so schwach gewesen.»Meine arme Mali. «Wenn man so jung wäre wie sie. Die Mali. Dann wäre das mit dem Sterben. Das wäre so unvergleichlich viel schwieriger. Sie. Die Tante Trude. Sie habe die meiste Angst vor dem Sterben gehabt, da wäre sie etwa in dem Alter gewesen wie sie jetzt. Und es tue ihr so leid, dass die Mali das nun auch lernen musste. Sie hätte sich so sehr gewünscht, dass sie das. Dass sie beide das ihrer Mali hätten ersparen können.

Sie ging. Eine Krankenschwester kam um die Ecke. Ging in ein Zimmer. Ein grünes Licht ging an. Über der Tür. Sie wanderte weiter. An einer Tür weiter oben begann das rote Licht zu blinken. Weit entfernt war der Alarmton im Schwesternzimmer zu hören. Es kam niemand. Sie ging an die Ecke. Die Schwester da telefonierte. Sie ging zurück. Die Tür stand offen. Das Licht brannte im Zimmer. Sie hörte Stimmen. Sie ging an der offenen Tür vorbei. Zur Stationstür. Sie drehte dort um. Sie wollte nicht an der offenen Tür noch einmal vorbei. Die zweite Krankenschwester kam den Gang herunter. Verschwand in der offenen Tür. Der Druck auf ihrer Brust wurde unerträglich. Sie nahm ihre Schuhe und das Mineralwasser vom Boden und schlüpfte in das Zimmer der Tante Trude.

Sie stellte die Schuhe neben die Tür. Der Boden klebrig. Putzmittel und ihr Schweiß. Sie schlich ans Fenster. Drehte die Flasche auf. Langsam. Das Zischen der Kohlensäure so leise wie möglich. Sie trank. Das Wasser lauwarm. Die Kohlensäure bitterscharf. Sie schaute hinaus. Horchte. Das Summen der Klimaanlage. Der Atem. Draußen. Der Verkehr am Gürtel. Der Lärm kein Geräusch. Mehr eine Kulisse.

Am Fenster stehend. Sie flüsterte. Sie begann zu flüstern. Dass sie reden solle. Mit ihr. Dass die Krankenschwestern gesagt hatten, das beruhige. Jemand am Bett sitzen und reden. Vor sich hin erzählen. Die Stimme allein wäre schon eine Beruhigung. Aber Flüstern. Das Flüstern machte die Sätze scharf. Schneidend. Das Flüstern. Ihr Reden wurde zu einem Zischen. Ein langes, scharf schneidendes Zischen. Gegen das Fensterglas. Sie hielt inne. Sah den Autos zu. Wie sich die Lichter vor der Ampel unten versammelten. Wie die Horde der roten Rücklichter dann wieder um die Kurve zur Volksoper verschwanden. Die Straße leer. August. Die Wiener nicht in Wien. Wer nicht musste, war nicht in der Stadt. Die Touristen. Die kamen nicht an den Gürtel. Nicht an diesen Teil. Die Rotlichtbezirke alle nach links hinüber. Kaum Licht in den Häusern auf der anderen Seite.

In den Bergen. Man sollte in den Bergen sein. Sie begann zu murmeln. Tief in der Kehle. Die Töne in die Brust zerfließend. Man sollte in den Bergen sein, sagte sie. Da wäre es jetzt kühl. Man könnte nur mit einer Strickjacke noch auf der Veranda sitzen. Oder am Toplitzsee. Im Garten am Wasser. In der Fischerhütte. Salzkammergut. Mit dem Mammerl. Sie sollten alle dahinfahren. Da konnte man gut schlafen. Da kühlte es ab. Am Abend. Da musste man dann schnell gehen. Vom Toplitzsee zum Parkplatz. So kühl war das.»Dir würde das guttun. Die gute Luft. Die schönen Tage und die Hitze. Es ist sicher schon dieser Herbstschleier in der Luft. Am Nachmittag. Die Sicht schon nicht mehr Sommer. Nicht mehr ganz Sommer. Die Abende. Wenn die Felsen knacken und stöhnen. Von der Abkühlung. Da würdest du gut schlafen. Weit weg. Hinter den Bergen. Hoch droben. Wenn wir da wären. Da, denke ich. Dort könnte man alle Probleme vergessen. Das wäre ja auch das Beste. Weggehen und alles vergessen. Es war dann ein Märchen. Ein Märchen. Das hängt dunkel weit hinten in der Erinnerung. Ein Märchen. Das muss nicht einmal vergessen werden.«

Sie lehnte die Stirn gegen die Fensterscheibe. In den Kursen hatte es geheißen, dass ein Verdacht als ein set unvollständiger Daten anzusehen war. Dass es darum ginge, die Umstände in diese Daten umzudenken. Die Ergänzung von Daten wäre ein weitaus einfacherer Vorgang als das Ausdenken einer Geschichte. Ein vollständiger Datensatz, der war in vielen Formen lesbar. Rechtlich. Psychologisch. Sozial. Technologisch. Medizinisch. Sicherheitstechnisch. Militärisch. Ihre Daten waren vollständig. Mittlerweile. Medizinisch. Genetisch. Die Beweise lagen vor. Der Zahnstocher und ihr Bindegewebe. Oder gehörte dieses Bindegewebe dem Kind, das dann nicht. Gehörte das schon nicht mehr ihr. War das noch sie oder nicht.

«Du kennst das ja. «sagte sie. Sie trat vom Fenster zurück. Schaute hinaus.»Du kennst das ja. Das ist allein schon eine Katastrophe. Ich wusste aber gar nicht, dass ich ein Kind bekomme. Wenn ich das gewusst hätte. Vielleicht hätte es keine Fehlgeburt gegeben. Vielleicht hätte ich das verhindern können. Aber was hätte ich gemacht, wenn ich dieses Kind bekommen hätte. Ich wäre zu euch geflüchtet. Ich hätte nicht mit diesem Mann in London gegessen und wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er. Dann hätte ich ein Kind, von dem ich nichts wüsste. Ich wüsste nicht einmal, wie es zustande gekommen war. War ich einverstanden. War ich dagegen. Ich war wahrscheinlich so besoffen, dass man mit mir machen konnte, was man wollte. Ein bisschen Dormalon. Dormikum. Eatan. Imeson. Novanox. Oder so. Das Pflaster von der Injektion hatte ich ja noch in der Armbeuge. Aber ich hätte es dann genauso gemacht wie meine Mutter. Es hätte zumindest genauso ausgesehen. Das macht mich mehr fertig als alles andere. Diese Frage. Am Ende steigt einem dann auch noch die Sorge auf, dass dieser Mann der unbekannte Vater sein könnte. Der von mir. Das immerhin nicht. Das wissen wir jetzt genau. Das wäre dann so schlimm gewesen. Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Aber die Angst. Die hatte ich schon.«

Sie lehnte mit dem Rücken gegen das Fenster. Sie hatte geschwitzt. Trotz der Klimaanlage. Die Scheibe drückte den feuchten Stoff ihres Sommerkleids gegen die Haut. Sie ging zur Tür. Stand da. Horchte. Stille. Sehr weit weg Geräusche. Aber ungenau. Nur die Welt.

Sie setzte sich wieder. Der Widerschein von draußen. Die Gestalt der Frau im Bett schattig. Sie atmete leiser. Sie dachte, die Tante Trude atmete leiser. Selbstverständlicher. Sie beugte sich vor.

«Das Schönste war das Nachhausefahren. Wenn du dann wieder da warst und wieder geredet wurde. Der Onkel. Der hat ja nichts gesagt. Wenn du weg warst. Dann ist der verstummt. Wir sind da gegangen und haben nichts geredet. Das war auch schön. Versteh mich richtig. Es gab nur so ein Gegrunze. Ein Grunzer, und wir wussten, dass wir eine Pause machen sollten. Jausnen. Und ein Grunzer, wenn es weitergehen sollte. Weißt du, du kannst nicht aufgeben. Der Onkel kann ja nur reden, wenn du dabei bist. Er hat zu reden begonnen, wenn er dich angerufen hat. Und wenn du dann gekommen bist und uns abgeholt hast. Dazwischen war es, als könnte er gar nicht sprechen. Für mich war das sehr gut. Ich muss so etwas wie ein kleines Hündchen gewesen sein. Am Anfang. Ein kleiner Hund, dem man Vertrauen beibringen muss. Ich durfte ja die Richtung bestimmen. Den ersten Schritt durfte ja ich bestimmen, und danach bin ich hinter dem Onkel hergelaufen. Trotzig. Immer trotzig. Bis der Trotz vor Müdigkeit vom Gehen keinen Platz mehr hatte. Und dann kamst du, und das war wie eine Erlösung. Reden und lachen und essen.«

Die Stimme erstarb ihr. Sie hätte weinen können. Sie setzte sich auf. Sie hätte um sich geweint. Um die Person, die hinter diesem Pflegevater hinterhergetrottet war. Die alles gehasst hatte. Damals. Die nicht erwachsen werden hatte wollen, und warum auch. Sie hatte es der Tante Trude sehr schwergemacht.

Sie stand auf. Holte das Mineralwasser vom Fensterbrett. Hielt die Flasche. Setzte sich wieder. Stand auf. Ging an die Tür. Singen. Sie hatte ein Bedürfnis zu singen. Sie hätte gerne etwas Beruhigendes gesungen. Es war ein schönes Bedürfnis. Sie setzte sich. Sie stellte die Flasche unter das Bett. Nahm die Hand der Tante und stellte sich vor zu singen. Ein Schlaflied. Ein Kinderlied.

Musik. Das war nun auch ein Versäumnis. Die Umstände und das, was sie aus den Umständen mit sich machen hatte lassen. Es hatte nie zu regelmäßigen Klavierstunden geführt. Sie war eingeschrieben gewesen. In der Musikschule Stockerau. Sie hatte begonnen. Die Schottolas hatten ein Klavier ausgeborgt. Das Klavier war in das Wohnzimmer gestopft worden. Aber sie hatte nicht geübt. Warum hatte sie nicht geübt. Was war das gewesen. Sie hatte spielen können wollen. Es war auch klar gewesen, dass man dazu üben musste. Dass dieses komplizierte Ding gelernt werden musste. Sie hatte es sich sogar sehr gewünscht. Aber sie hatte nicht geübt. Sie war vor dem Klavier gesessen. Aber sie hatte nicht geübt. Was hatte sie davon abgehalten. Warum hatte sie sich um dieses Vergnügen gebracht. Um dieses Können. Nichts als Verschwendung. Und wie lange ging das noch. Wie lange musste sie nun vor den Klavieren sitzen und ihrer Behinderung zusehen. Ihrer Hemmung. Ihrem Nichtkönnen. Ihrer Leblosigkeit.

Sie zog den Sessel hinauf. Näher zum Kopfende des Betts. Sie lehnte sich im Sessel zurück. Hielt die Hand der Tante. Schaute zum Fenster hinaus. So war das also. Sie war müde. Ausgelaugt. Das war das richtige Wort. Ausgelaugt. Es war nichts in ihr drinnen als so eine Blässe. Eine nebelig schmutzige Blässe. Draußen. Am Himmel. Ganz weit am Ende im Westen. Ein dünner heller Streifen. Allerletzte Reste von Sonne. Sie blieb sitzen. Die zwei Schritte ans Fenster hätten sie nicht näher gebracht. Wenn man rechtzeitig wegfuhr. Mit dem Auto. Mit dem Auto von Wien weg. Wenn man schnell vorankam. Dann konnte man dem Sonnenuntergang nachfahren. Bis München ging das gut. In München erreichte einen dann die Nacht ja doch. Aber der Streifen am Himmel vorne. Der war die ganze Zeit gleich breit. Eine Jagd nach dem Sonnenuntergang war das. Im Flugzeug ging das nicht. Da saß sie ja nicht im Cockpit. Seit sie nur noch Gangplätze vertrug, konnte sie im Flugzeug gar nichts mehr sehen.

Sie schloss die Augen. Hielt die Hand. So war das alles. Weißtrübe Flecken. Dann Dunkelheit. Das Summen all der Maschinen rundherum. Ein vielstimmiges feines Gesumme rundherum. Das Atmen der Kranken. Ihr eigenes Atmen. Es passte sich dem Atem der Kranken an. Sie fand sich tief Luft holen. Die Helligkeit im Kopf verschwommener. Leichter. Die Hand in ihrer. Wenn es so sein musste. Sie war gekommen. Sie hatte die Tante erreicht. Das war das Wichtigste. Die Umstände. Darüber konnte sie sich später Gedanken machen. Erstaunlich war, dass sie das konnte. So einfach. Dass sie keinen Augenblick überlegen hatte müssen. Sie hätte gedacht, dass sie Ausflüchte finden würde. Dass sich ihr Ausflüchte anbiedern würden. Andere Verpflichtungen. Der Kurs in Nottingham. Die Marina in London. Sie hätte von sich gedacht, dass sie vor dem Sterben einer Person davonlaufen würde. Müsste. Dass sie dieses Leid vermeiden würde. Aber es war keinen Augenblick eine Frage gewesen. Ja. Sie dachte jetzt erst darüber nach. Sie öffnete die Augen. Schüttelte den Kopf. Die psychologische Evaluation. Ihre eigene psychologische Evaluation war nicht richtig gewesen. Sie schloss die Augen wieder. Das kam alles, weil sie keinen Grundkurs besucht hatte. Das kam alles davon, dass sie eine Surfermentalität hatte. Zu individualistisch. Die Ausbildner nannten es wahrscheinlich faul. Faulheit. Faul. Lazy. Sie war lieber lazy als faul. Lazy. Mit dem Wort. Da saß sie schon am Strand. Der heiße Sand oben. Das Hinterteil in die feuchte Kühle darunter eingegraben. Und hinausschauen. Die Wellen anschauen. Sich bei jeder Welle vorstellen, wie sie zu surfen wäre. Sie war eine Conceptsurferin. Sie stellte sich das mehr vor. Die anderen da. Die nannten sie auch lazy. Aber die konnten nicht wissen, dass sie selbst vom Meer nichts erwartete. Die waren alle so sicher, dass das Meer ihnen zu Verfügung sein musste. Dass es eine Welle gab, die ihnen gehörte. Das konnte sie sich nicht vorstellen. Deshalb ließ sie so viele aus. Aber deshalb konnte sie hier sitzen und musste nicht in Cape St. Francis abhängen. Oder in Jeffreys Bay. Mit Nadja und Emilio. Oder mit Mort.

Fit wäre sie ja gewesen. Das immerhin. Sie musste laufen gehen. Am besten noch in der Nacht. Wenn der Onkel sie abgelöst hatte. In Wien konnte man in der Nacht laufen gehen. Das ging sonst nirgends. Sie konnte nach dem Laufen nicht schlafen. Aber sie war allein in der Wohnung. Der Onkel übernachtete manchmal da. Die Studenten waren alle irgendwo. Bei den Eltern. In Praktika. Ferien. Die Wohnung roch schon nicht mehr nach ihnen. Der Turnschuhgeruch weg. Im Auto. Hatte sie nicht Laufschuhe im Auto. Der Onkel meinte, sie solle das Auto noch mindestens ein Jahr fahren. So lange würde es halten. Ohne große Reparaturen. Abwarten, hatte er gesagt. Sie solle abwarten, was die Autoindustrie sich ausdenken würde. Wegen der Benzinkosten. Sie solle froh sein, ein kleines Auto zu fahren. Er. Mit diesem Range Rover. Den niemand haben wolle. Er könne sich das nicht mehr leisten. Was das Benzin koste. Aber jetzt einmal. Jetzt könne er so etwas nicht regeln. Und die Tante Trude. Die wolle sicherlich mit dem Range Rover nach Hause gebracht werden. Sie konnte sich das nicht vorstellen. Dass die Tante Trude wieder aufstehen konnte. Aber sie war eine Hysterikerin. Sie stellte sich gerne das Schlimmste vor. Sie musste sich das Schlimmste vorstellen und dann Weinkrämpfe haben. Fieber und Weinkrämpfe. Sie nahm die Dinge zu ernst. Zu einseitig. Sie musste das lernen. Obwohl das auch eine Fähigkeit war. Für die Planung der Sicherheit von einem Forschungslabor. Da war das ein Plus, sich das Schlimmste vorstellen zu können. Für Einsparungen in Gefängnisräumlichkeiten. Da war das nicht so brauchbar. Da war ihre Einfindung in die Situation kontraproduktiv gewesen. Sie hatte sich Einzelhaft nicht vorstellen wollen und die facilities dafür nicht vorgesehen. Verdrängt. Die Seminararbeit ein C minus. Bad. Aber auch gleichgültig. Jetzt musste die Tante Trude gesund werden. Besser. Irgendwie. Dann würde man schon weitersehen. Am Ende. Ein surfshop irgendwo. Das würde ihr Schicksal sein. Am Rand stehen und zuschauen. Nur am Rand. Dazugehören. Das mit dem Dazugehören. Das passierte irgendwie anders. Früher. Das lernten die Dominik Ebners. Sollte sie so jemanden heiraten. Das gab es ja auch noch. Aber jetzt einmal nicht. Jetzt ging es von Tag zu Tag. Die Nächte. Jetzt einmal. Sie konnte gar nichts planen. Hatte es nicht in der Hand. Sie konnte nur die Hand halten. Und wie hielt man Augenblicke fest.

Sie fühlte die Hand der Kranken. Konnte sie sich dieses Gefühl merken. Würde sie sich erinnern können, wie pergamenten sich die Haut der Kranken auf ihrer Haut angefühlt hatte. Wie trocken beweglich über den Knochen. Sie seufzte. Wahrscheinlich nicht. Erinnern. Ihr Problem fiel ihr ein. Kam zurück. Überfiel sie. Sie beugte sich vor. Holte tief Luft. Das war jetzt nicht wichtig. Es war bitter. Ihr Problem hatte sie in die Uhlandgasse zurückgejagt. Es war ihr Problem gewesen, das sie zu der Familie gemacht hatte, die sie jetzt waren. Sie kämpfte gegen ein Schluchzen. Die Erzählungen der Tante. Von den 7 Fehlgeburten. Von den 7 Prüfungen. Und wie schwer das alles gewesen. Und dass sie ins Haus genommen worden war. Das war schon aus diesen Katastrophen gekommen. Dass sie jetzt hier saß. Und dass das richtig war. Das kam aus diesen Katastrophen. Wie sollte man das ertragen. Der Onkel Schottola hatte es leicht. Der beugte seinen Kopf in seine Religion und seine Verfolgtheit. Den Ausschluss der Evangelischen. Wenn das immer gesagt werden musste. Die sind Evangelische, wissen Sie. Der Onkel Schottola war gewappnet. Die Tante Trude hatte das auch erst lernen müssen. Die Tante Trude war übergetreten. Zur evangelischen Kirche H.B. Aber sie hatte sich zu ihr gebeugt und ihr zugeflüstert, dass sie immer noch nicht alles gelernt hätte. Die Tante Trude hatte gekichert dabei und den Onkel angelächelt. Der war gegangen und hatte den Rasen gemäht. Zum zweiten Mal in der Woche. Und die Tante Trude hatte ihr gestanden, dass sie ja nur bestraft würde. Sie hätte die Angst vor der Umspannanlage gleich um die Ecke von der Uhlandgasse. Sie hätte diese Angst nur vorgeschützt. Sie hätte nie Angst vor dieser Umspannanlage gehabt. Aber sie hätte weggewollt. Weg aus Stockerau. Weg aus der Uhlandgasse. Sie hätte nach Wien gewollt. Der Onkel Schottola hätte auch jeden Tag in die Werkstatt in Stockerau fahren können, und Spezialisten wie er. Er hätte auch in Wien eine Stelle finden können. Beinprothesen wurden überall gebraucht, und er war gesucht. Ihre Krankheit wäre die Bestrafung für ihre Lüge. Wegen der Umspannanlage. Jetzt habe die Umspannanlage sie wirklich krankgemacht. Die Sache mit der Sandra. Das könne sie einfach vergessen. Ihre Mali sei wieder da, und alles habe seinen Sinn. Dann war die Tante eingeschlafen und nur der Rasenmäher draußen zu hören.

Einzeln waren diese Geschichten nicht schwierig. Das Gewebe war so schwer begreifbar. Wie das ineinandergriff. Sich verstrickte. Und dann abglitt. Sich abstieß. Aber ein Gewebe blieb. Sie stieß die Luft aus. Das war sehr anstrengend. Sie verstand Einzelgänger. Sie verstand die STEERO-Weisung, Gruppen nach 3 Monaten aufzulösen. Attachment. Das war anstrengend. Das wurde immer anstrengender. Das war Schwerarbeit. Das kostete alle Kraft.

Einen Augenblick. Sie konnte die Blutplättchen in den Adern der Tante Trude sehen. Wie die weißen Plättchen der STEERO-Weisung folgten. Wie sie mehr und immer mehr wurden, um die Tante Trude wegzuholen. Die Gruppe aufzulösen. Das attachment zu kappen. Die weißen Plättchen hatten» STEERO «aufgedruckt und rollten eifrig über alles hin. Eifriger und eifriger. Bis nur mehr die STEERO-Blutplättchen durch die Adern rollten und die Tante keine Luft mehr bekommen konnte. Die STEERO-Blutplättchen würden mit der Tante sterben und wussten das nicht. Wie die operatives von der STEERO-Organisation. Die wurden von aller Kameradschaft getrennt und starben allein. Unbeweint. Kosteten keine Kraft. Hinterließen keine Traumen. Die Versicherungssumme wurde bezahlt. Sonst musste es niemand bemerken.

«Husch. Weg. «sagte sie laut.

«Wer soll weg. «Die Nachtschwester war ins Zimmer gekommen. Mit ihrer Frage drehte sie das Licht auf. Hinter ihr kam der Onkel Schottola herein. Alle schauten auf die Tante Trude. Die lag still da. Die Krankenschwester begann, den Blutdruck zu messen. Sie stand auf. Schaute auf ihr handy. Es war lang nach Mitternacht. Ob sie bleiben solle, fragte sie. Der Onkel schüttelte den Kopf. Er stellte eine Thermosflasche auf den Nachttisch. Er nahm ein Buch aus einem Plastiksack. Legte es neben die Thermosflasche. Er ging zum Fenster. Die Krankenschwester war fertig. Sie trug die Daten in die Krankengeschichte ein. Klappte den Metalldeckel über das Papier. Ob sonst etwas gebraucht würde. Sie schaute sie beide an. Nickte und ging.

Solle sie das Licht ausschalten. Die Krankenschwester schaute durch die Tür. Nein. Nein. Der Onkel stand da. Überlegte. Dann setzte er sich in die Ecke. Schaltete die Leselampe ein. Holte sein Buch und die Thermosflasche. Er würde einmal lesen, sagte er. Dann umarmte er sie. Er sei sicher, allein bleiben zu wollen. Ja. Er riefe sie an. Aber. Der Onkel ging ans Bett. Sie sähe doch fast gesund aus. Viel besser. Jedenfalls. Es würde besser. Er nickte auf die Schlafende hinunter. Sie ging ans Bett. Beugte sich über die Tante. Küsste sie auf die Stirn.»No steero. You understand. «Sie flüsterte das neben das Ohr. Küsste die Wange. Richtete sich auf. Der Onkel sah sie fragend an.»Abergläubisches Zeug. «sagte sie. Er nickte. Sie ging zur Tür. Hob ihre Schuhe auf. Sah sich um. Sie drückte den Schalter. Das Licht ging aus. Klickend raschelnd. Sie schlüpfte hinaus. Sie drehte sich nicht um. Sie dachte, wenn sie sich jetzt umdrehte, dann wäre das ein Zeichen, dass sie nicht erwartete, die Tante wiederzusehen. Lebend.

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