Dezember

Es war wie im Kino. Es war dunkel. Nur vorne beim Eingang Licht und hinter den Glasscheiben der Rezeption. In der Eingangshalle. Die Sesselreihen auf die Anzeigetafel ausgerichtet. Auf der Anzeigetafel tauchten Namen auf. Die Namen waren weiß auf den schwarzen Hintergrund geschrieben. Dann wurden die Namen rot, und die Buchstaben begannen zu blinken. Dann rollte der Namenszug nach links aus dem Bild und rollte von rechts wieder herein. Rote Sternchen fassten die Namen. Immer wieder blieben die Schriftzüge stehen und blinkten. Eine der wartenden Personen schob sich durch die leeren Reihen hinaus und ging an den Schalter gleich beim Eingang. Der Mann da sagte etwas. Die Person ging davon. Nach rechts zum Lift. Einen Gang nach hinten. Einen Gang nach rechts außen. Die beiden Frauen wurden aufgerufen. Das Paar vorne blieb sitzen. Die Anzeigetafel wurde schwarz, und es begann die Werbung für eine Hustenmedizin und ein Aufklärungsvideo über Ernährung. Ein kleines Mädchen war zu sehen. Dann fast food. Schokoladetafeln. Hamburger. Pommes. Ketchup. Eis in allen Farben. Dann sah man das Mädchen wieder und konnte zusehen, wie es älter wurde und immer fetter. So würde diese Person aussehen, wenn sie 20 wäre und das alles gegessen hätte, was zu sehen gewesen war. Dann 40. Dann alt. Das Mädchen sah dann aufgequollen aus und müde. Vor allem müde. Dann kamen Obst und Gemüse und rotes Fleisch, und das Mädchen würde mit 20 strahlend aussehen. Jung. Schlank. Begehrenswert.

Sie wartete auf den Namen. Sie hatte sich Denning genannt. Sie hatte auf den Schein Emily Denning geschrieben. Und dass sie seine Ehefrau wäre. Der Mann hatte sie fragend angeschaut. Dann hatte er auf den Zettel geschaut und mit den Achseln gezuckt. Sie hatte gefürchtet, er würde einen Ausweis verlangen. Die Heiratsurkunde. Ihren Pass. Sie hatte sich beherrscht. Sie war so von Empörung und Angst erfüllt, dass sie sich vor nichts fürchtete und jede Lüge zustande gebracht hätte. Aber es wurde ihr nichts abverlangt. Sie solle warten, hatte der Mann nur gesagt. Ihr Name würde auf dem Bildschirm erscheinen. Dann könne sie in den 2. Stock. Dort würde ihr dann weitergeholfen. Und nein, er könne keine Auskunft geben.

Es war Morgen. Samstagmorgen. Über dem Bildschirm war eine Leuchttafel mit dem Tag und dem Datum. Samstag, stand da. Das Wort Samstag hielt ihren Kopf von ihrem übrigen Körper fern. Das Wort Samstag da auf der Anzeigetafel schob sich in sie hinein, zwischen sie, und ihr Kopf schien ihr weit weg von sich zu sein. Sie fühlte aber auch nichts von sich im Körper, obwohl die Sorge um ihn sie zittern ließ. Seit Kurtchen sie aufgeweckt hatte. Sie hatte gedacht, er wolle sie vertreiben. Sie hatte sich auf der Bank im Speisesaal nur ausruhen wollen, und Kurtchen wollte sie vertreiben. Sie hatte begonnen, ihn anzuschreien, und dass er sie nicht berühren solle. Aber das Gesicht von ihm. Sie war sofort weggefahren. Sie war in ihr Zimmer gerast, den Autoschlüssel holen. Da war er aber nicht, und einen Augenblick dieses Gefühl. Die Wut und die Verzweiflung. Es war nichts anderes da. Sie war zu der Wut und dieser Verzweiflung geworden. Sie war in diese Wut und Verzweiflung verwandelt, und gerade in dem Augenblick, in dem sie dachte, sie müsse zerplatzen. Sich auflösen. Kleine Spritzer von Wut und Verzweiflung in alle Richtungen sprengend, und sie nicht mehr vorhanden.

Der Autoschlüssel war im Auto gewesen. Steckte da, und sie musste sich nur hineinsetzen und losfahren. Ohne Mantel. Die Windschutzscheibe vereist und undurchsichtig, und die Heizung bis lange nach Kötzting gebraucht hatte, das Eis wegzuschmelzen. Sie hatte Antifrostmittel aufgespritzt und einen Matsch auf dem Fenster gehabt. Aber so früh am Morgen war noch niemand auf der Straße gewesen, und die Schneewehen so hoch an den Straßenrändern. Sie war immer wieder in die Spur zurückgeschoben worden, wenn sie zu weit nach außen geriet. Das Krankenhaus dann angeschrieben. Tafeln. Kreiskrankenhaus. Chirurgische Abteilung. Kreiskrankenhaus in der Kreisstadt. Es hatte sich in ihrem Kopf gedreht. 5 Uhr am Morgen. Alles dunkel. Sie war durch immer gleiche schneebegrenzte Straßen, über immer gleiche Schneehügel gefahren. Nichts am Himmel zu sehen. Nur ihr Auto durch die Landschaft. Von den Schildern geführt. Durchgezogen von den Schildern. Die Schilder entlang nach Cham. Kurtchen hatte gerade begonnen, das Frühstücksbuffet herzurichten. Deshalb hatte er das Telefon gehört. Ihr handy.

Sie griff in die Hosentaschen ihrer Adidashose. Nichts. Das handy war sonst immer da. Sie war immer erreichbar. Warum war sie nicht angerufen worden. Aber wo war das handy. Es wurde hell. 7 Uhr am Samstagmorgen. Das Licht in der Halle wurde aufgedreht. Die dritte Kerze auf dem Adventskranz brannte. Eine Glühbirne in der Form einer übergroßen Kerzenflamme. Der Adventskranz riesig. Er hing über der Wartezone.»Wartezone «stand auf einem Pfeil neben der verglasten Rezeption. Der Mann da. Er starrte auf einen Bildschirm. Sie hatte plötzlich das Gefühl. Eine Gewissheit. Sie musste nur schreien, und es ginge ihr besser. Sie würde mit dem Schreien diese Entfernung zwischen ihrem Kopf und dem Druck und Jagen in ihrer Brust schließen können. Dann wusste sie sofort, dass danach alles noch schlimmer sein würde. Man würde aufmerksam auf sie werden. Einer der Ärzte. Die Bilder der Ärzte hingen an der Wand vorne neben dem Lift. Sie konnte nur die kleinen Bildchen sehen und die Überschrift lesen.»Unser Ärzteteam «stand da. Ein Bild in der Mitte unter der Überschrift und dann drei nebeneinander und dann viele Bildchen. Sie wurden immer kleiner nach unten. Damit sie Platz hatten. Eines von diesen Bildern. Sie würde einem von diesen Bildern auffallen. Wenn sie jetzt hier zu schreien begann. Das Unglück darüber, was dann wieder geschehen würde, ließ sie wimmern. Sie hörte sich selbst wimmern. Der Mann und die Frau in der ersten Reihe drehten sich zu ihr um. Schauten sie an. Wandten sich wieder ab. Sie legte die Arme über den Sessel vor ihr und legte den Kopf auf ihre Arme. Was war los. Es stimmte gar nichts. Sie war verwirrt. Sie hatte nicht in ihr Zimmer im Hotel gehen können und daliegen. Sie saß hier im Jogger und heulte herum. Auf der Anzeigentafel war Samstag. Für sie war Freitag. Sie hätte lernen sollen. Sie hätte diese Prüfung längst machen sollen. Dann hätte sie gar nicht mehr hier sein müssen. Jetzt einmal. Wenn sie das correction officer exam abgelegt hätte. Ja. Ablegen. Das nannten die so. Ablegen. Die Unruhe in ihr. Das schaukelte. Schwappte. War es so weit. War es so weit gekommen, und sie war übergeschnappt. War sie die asoziale, verrückte Person geworden, die die Tante Marina ihr prophezeit hatte. Wegen der Betsimammi. Aber auch das Mammerl. Und alle in der Schule. In Stockerau jedenfalls. Und in England dann ja auch. War die schlechte soziale Prognose jetzt eingetroffen, und sie würde in Cham in Bayern in der Wartezone des Kreiskrankenhauses zu schreien beginnen, und eine Fotografie würde von der Wand steigen und sich ihrer annehmen. Infusionen und Tabletten. Ein Bett und alles im Schwindel verschwimmend. War das mit der Zeit. Dass sie einen Tag. Verloren. Sie hatte einen Tag verloren. Wusste nichts. Alkohol. Aber Alkohol war nur das Medium von solchen Störungen. Musste sie sich selbst einliefern. Wäre das das Richtige. Sollte sie die Gelegenheit ergreifen und sich. Ausliefern. Aber sie hätte ihre Manuskripte mitbringen müssen. Als Beweise. Wenn sie vorlegen hätte können, wie sie lernen sollte, warum sie dem Gefangenen Pedro den Gang auf die Toilette verwehren musste. Weil die Gefahr bestand, dass der Gefangene Pedro sich auf der Toilette selbst verletzen könnte und der Gefangene Pedro in die» Safariland-spit-net-transport-Kapuze «gesteckt werden musste und mit den» Hiatt-Thompson-1010-series-stainless-steel-chain-link-handcuffs «versichert in die Isolierzelle gebracht werden und sie ihn dort auf den Box-lock-Sicherheitsstuhl schnallen musste und ihn da festsperren.»Until prisoner makes eye contact and indicates subservience.«

«Das sind doch Sie!«Eine Stimme rief. Sie schaute auf. Schaute sich um. Die Frau vorne in der ersten Reihe rief ihr das zu und deutete auf die Anzeigetafel.»Sind Sie das nicht. «Der bayrische Akzent. Sie hätte lachen können. Dieser Dialekt klang immer komisch. Ja, das wäre ihr Name. Das wäre eigentlich nicht ihr Name, aber das wäre der Name, den sie angegeben habe. Sie redete vor sich hin. Versuchte die Frau dabei anzulächeln. Sie ging zum Lift und drückte auf das Feld mit dem Pfeil nach oben. Sie schaute nach der Frau. Die sah sie an. Müde. Sie saß an ihren Mann gelehnt und sah ihr zu. Sie sah ihr in die Augen. Sie sahen einander in die Augen. Die Frau nickte dann. Sie nickte ihr zu. Der Lift kam, und die Türen rauschten auf. Ein großer Lift. Ein Lift, in dem Krankenbetten transportiert werden konnten. Silbrig metallen innen. Boden. Wand und Decke. Alles silbrig metallen und ein Profil aus Pfeilen. Auch rundherum. Sie stand im Lift. Die Frau hatte sich abgewandt. Die Frau hatte ihren Kopf abgewandt und schaute wieder vor sich hin. Sie im Lift. Dass die Frau ihren Blick abgewandt hatte. Sie fühlte sich verlassen deshalb und wusste, dass es keinen Grund dafür gab und dass sie doch fast keine Luft bekam, so sehr bestürmte sie diese Verlassenheit.

Sie hatte nicht gewusst, dass Cindy da sein würde. Sie war aus dem Lift gestiegen und hatte sich umgeschaut. Rechts hinunter. Auf einem der Sessel den Gang entlang. Cindy saß weit unten. Sie saß mit den Händen vor sich auf den Knien. Sie hatte einen dunklen Mantel über die Schultern geworfen. Beim Näherkommen sah sie die Verbände. Cindys Hände waren in dicke weiße Verbände gewickelt. Cindy hatte ein Pflaster hinter dem Ohr und eines an der Stirn. Sie war im Gesicht blau und blutig, und ihre Arme und Beine waren abgeschürft. Cindy hatte ein Goldlamékleid mit Spaghettiträgern an und goldene Sandalen. Keine Strümpfe. Cindy saß in sich zusammengesunken. Sie bewegte sich nicht, und sie hatte geweint. Cindy hatte Amy kommen gehört und versuchte, den Kopf in ihre Richtung zu drehen. Amy musste vor sie hintreten und weit nach hinten, damit Cindy den Kopf nicht heben musste. Sie starrte Cindy an.

Cindy hob den Kopf dann. Es sah unendlich mühselig aus. Cindy hatte geweint. Ihr Augen-Make-up war verschmiert und die Wimperntusche auf den Wangen eingetrocknet. Cindy versuchte, etwas zu sagen. Zu grinsen. Sie verzog den Mund. Musste es dann aber aufgeben und sank wieder in sich zusammen.

Amy stand vor Cindy. Cindy verletzt. Cindy hilflos. Eine Welle fürsorglicher Zärtlichkeit stieg in Amy auf. Sie wollte sich vor die Person hinknien und sie fragen, was denn mit ihr geschehen sei. Was sie machen könne. Sie wollte ausrufen, dass sie nicht wolle, dass so etwas geschehe. Mit niemandem. Aber mit Cindy schon gar nicht. Sie hätte sie einhüllen wollen und wegtragen. Wegschweben. Cindy retten. Aber ein eiserner Ring in der Brust hielt sie entfernt. Eine Lust wallte hoch. Darüber, dass Cindy geweint hatte. Sie hätte selbst weinen mögen, dass diese starke Person weinen hatte müssen, und dann gleich eine Befriedigung, dass die nun auch wusste, was es hieß, Schmerzen zu erleiden. Eine eisige Kälte ließ Amy gerade aufgerichtet. Ein eiserner Zwang, Abstand zu halten. Sich weitab zu halten. Nicht zu berühren. Und sie konnte nur fragen, was denn geschehen sei. Cindy hob ihre hängenden Schultern. Ließ sie aber gleich fallen, und bevor Cindy etwas sagen konnte, ging die Tür hinter Amy auf. Eine Krankenschwester kam heraus. Sie sei wohl die Ehefrau. Amy nickte. Cindy riss den Kopf hoch. Ein winziger Schmerzensschrei entrang sich ihr. Amy wandte sich ihr zu. Dann fiel die Tür hinter ihr zu, und Cindy war auf dem Gang geblieben.

Sie müsse sich diesen grünen Kittel anziehen und die Hände da desinfizieren, sagte die Frau. Über dem Behälter mit Desinfektionsmittel war ein Plakat mit schematischen Zeichnungen, wie man die Hände zu desinfizieren hatte. Am Ende war vorgeschrieben, das Desinfektionsgel mit kleinen kreisenden Bewegungen in den Handflächen zu verreiben. Amy drückte mit dem Hebel das grünliche Gel auf die Hand und folgte den Anweisungen. Die Krankenschwester hatte sich zu einer anderen an einen kleinen Tisch gesetzt. Sie tranken Kaffee. Die beiden Frauen deuteten ihr, den schmalen Gang hinunterzugehen.

Sie trat in einen großen dämmrigen Raum. An einem Schreibtisch links eine Krankenschwester in einer himmelblauen Uniform. Die anderen hatten blau und weiß gestreifte Kittel angehabt. Sie schrieb unter einer Schreibtischlampe. Im Dämmer sah das tief unten aus. Zwei Betten waren beleuchtet. Drei andere standen in der Dämmerung. Sie sah sich um. Ein Pfleger kam auf sie zu.»Denning. «fragte er. Sie nickte. Er ging voraus. Ganz links unten. Das eine beleuchtete Bett. Gino lag halbaufgerichtet. Die Arme in Gips. Die Beine. Der Kopf verbunden. Das Atemgerät. Ein dicker Schlauch im Mund. Mit grünem Klebeband festgeklebt. Das Gerät sog auf und zischte Luft aus. Der Herzmonitor fiepte. Regelmäßig. Das Blutdruckmessgerät pumpte sich auf. Entließ zischend die aufgepumpte Luft. Der Pfleger ging an die Seite.»Er freut sich, dass Sie da sind. «sagte der Mann.»Sein Blutdruck ist gestiegen. «Amy konnte nur starren.»Ich weiß ja nicht einmal, dass etwas passiert ist. «Der sachliche Ton kam ihr selber komisch vor.»Reden Sie mit ihm. Das tut ihm gut. «Der Mann stellte hinten etwas ein und ging nach vorne weg. Er ging ans andere Ende des Saals. Das Bett da. Eine sehr alte Frau lag da. Aus der Entfernung konnte sie nur ein kleines verschrumpeltes Gesichtchen sehen. Die Frau hob die Hand. Der Pfleger ging auf sie zu. Was sollte sie mit Gino besprechen. Was sollte sie sagen. Was hatte Gino gemacht. Warum war Cindy draußen. Und warum war Samstagmorgen.

«Das war gestern wieder die Hölle. Und ich habe das Abendessen versäumt. Der Kurtchen. Der hat mir dann noch ein Brot gemacht. Und eine Suppe. Eine von seinen selbstgemachten Tomatensuppen. Die, die er nur uns gibt. Weil die Gäste sowieso die ›Campbell’s‹ lieber haben und die ja auch billiger ist. Der Kurtchen. Der wollte mir ein Zwiebelbrot geben. Weil er gerade Gulasch angerührt hat. Aber ein Zwiebelbrot. Das könnte ich nicht essen. Du könntest das auch nicht. Oder. Könntest du ein Zwiebelbrot essen. Du weißt schon. Ein dunkles Brot. Nicht zu dünn. Und die heißen gerösteten Zwiebeln und dann salzen. Es ist natürlich besonders gut beim Kurtchen. Weil er Schweineschmalz nimmt. Dann haben die Zwiebeln schon ein bisschen Schwein. Du weißt doch, wie er redet. Dabei bekommt er von dem Zwiebelrösten sicherlich extragroße Pickel. Das kann für die Haut nicht gut sein. Und deshalb wollte ich auch kein Zwiebelbrot von ihm. Stell dir vor. Der Dampf. Der verdampft ja dann auch von seinem Gesicht. Und es ist eine Schande, dass der Kurtchen nicht die Zeit bekommt, zu einem Arzt zu gehen. Aber er will ja auch nicht. Der Arzt würde ihn berufsunfähig schreiben. Glaubt er jedenfalls. Na, jedenfalls. Es sind ja alle da. Das Rundschwein. Die Faltenferkel. Die Biosäue. Du weißt schon. Dieses Paar, das alles nur Bio haben will und sich über das Chlor im pool aufregt. Aber mit Sauerstoffdesinfektion wird der pool auch nicht sauberer von ihrer Biologie. Es muss high life gewesen sein. Alle in der Bar. Aber das musst du ja. Also. Ich bin so schnell hergefahren, wie es ging. Ich hab den Autoschlüssel nicht gleich. Und sonst war ja niemand da. Wenn der Kurt nicht schon wieder. Der hat mit dem Frühstücksbuffet begonnen und das Telefon gehört. Und.«

Der Pfleger kam vom anderen Bett wieder herüber. Sie verstummte. Sie musste tief Luft holen. Sie hatte in einem fort geredet. Sie hatte Gino nicht einmal angesehen. Sie hatte zu ihren Schuhspitzen gesprochen. Der Mann ging um das Bett herum. Er griff nach Schläuchen und zupfte an Ventilen. Sie konnte sehen, wie bräunliche Flüssigkeit in den Urinbeutel tropfte. Sie schaute den Pfleger fragend an. Ja. Innere Verletzungen. Man müsse abwarten. Ob sie sich setzen wolle. Aber dann könnte ihr Mann sie nicht hören. Jedenfalls nicht so gut. Nein, nein, wehrte sie ab. Sie bliebe stehen. Sie stünde lieber. Aber sie wusste nichts mehr zu sagen oder zu erzählen. In ihrem Kopf taumelten Wortfetzen herum, und es ließ sich nichts zu einem Satz zusammensetzen. Sie weinte. Sie bemerkte es erst, weil die Feuchtigkeit am Hals kühl wurde. Sie begann ihre Taschen nach einem Taschentuch zu durchsuchen. Der Pfleger ging zum Tisch, an dem die Krankenschwester schrieb, und brachte ihr eine Schachtel Kleenex. Sie hielt die Schachtel und zog sich ein Tuch nach dem anderen heraus. Sie begann, gegen das Weinen zu reden. Tonlos. In Stößen. Als wäre sie schon bei der Prüfung. Sie leierte auswendig aus der Erinnerung. Sie schaute Gino an. Die Atemmaschine zischte. Das Blutdruckmessgerät pumpte sich regelmäßig auf.

«The Use of Force. — The smallest amount possible is the right amount of force. You do not need to. To go through six months of training to recognize that it is a monumental waste of effort. — To swat a fly with a ten-pound sledgehammer when a one-ounce plastic fly swatter will achieve the same result. Common sense. — Yes. — Common sense comes heavily into play in this area. — Expect to see test questions. Das steht so im Manual. Expect to see test questions that ask you what the proper amount of force is for an officer to use when physical control is necessary — and what kind of force is appropriate — from the choices you are given. Prison administrators. — Deswegen muss ich das lernen. Verstehst du. Man muss das alles wissen, damit man Sicherheit planen kann. Das kommt dir komisch vor. Ich weiß. Es ist ja auch komisch. So geschrieben. Da ist das komisch. Aber das ist nur so ein Durchgangsstadium. Ich will ja mit solchen Sachen nichts zu tun haben. Das ist nur theoretisch. — Prison administrators are always concerned about potential brutality lawsuits and do not want to hire someone who cannot exercise the appropriate amount of control. — Ich lerne das, damit ich das beurteilen kann. Wenn ich nichts darüber weiß. Wie das funktioniert. Innen. Drinnen. Was das für eine Welt ist. Ich weiß ja gar nicht, mit wem ich es zu tun habe. Insgesamt. Verstehst du. Das ist ja auch eine ganz andere Welt. Von der wissen wir alle nichts. Oder warst du im Gefängnis. Einmal. Das kann ich mir nicht denken. — Your position. — Du machst das ja auch. Auf deine Weise kannst du ja auch die Probleme beurteilen. Du solltest halt dein Psychologiestudium wiederaufnehmen. Ich würde das tun. Ich wollte, ich hätte Psychologie angefangen. Dieses blöde BWL. Da fehlt einem jede Einsicht. Deine Mädels. Du verschwendest ja sicherlich deine Potenz auch nicht so irgendwie. Oder. — Your position will require you to communicate effectively with inmates to diffuse violent situations. — Force. Force should always be your last resort. When answering judgment questions, keep in mind that the test makers know that the best officer will use the least force possible in all situations.«

Gino war mit breiten Laschen an das Bett gesichert. Sein Oberkörper schräg hochgelagert. Die Beine leicht abgewinkelt. Gino war nackt. Ein Tuch über die Hüften. Schläuche kamen unter dem Tuch hervor und hingen schwer. Das Weinen wurde aber so stark. Bei» Force«. Das Schluchzen überwältigte sie, und sie beendete den Paragraphen mit hoher quietschender Stimme.

Sie stand am Bett und bekam keine Luft und musste dann fast schreiend Atem holen. Die Krankenschwester stand auf und kam zu ihr. Sie nahm sie am Ellbogen und führte sie zum Eingang zurück. Sie wollte bleiben. Konnte aber nichts sagen. Sie wurde an den Tisch mit den zwei Frauen in den gestreiften Kitteln gesetzt und bekam einen Kaffee vorgesetzt. Milch. Sie mochte keine Milch. Das Schluchzen wurde wieder schlimmer, und sie bekam keine Luft. Sie bekam einen Kaffee ohne Milch. Aber Zucker. Und sie solle trinken. Eine Decke wurde ihr umgehängt. Der Kaffee wurde ihr eingeflößt. Die Frauen hielten sie an den Schultern, und wenn das Schluchzen die Schultern gar so hochriss, streichelten sie die Schultern und murmelten, dass alles wieder gut werden würde. Am Ende hatte sie den Kaffee getrunken. Sie hatte sich den Mund verbrannt und hatte noch einmal so schrecklich weinen müssen. Weil es aber schmerzte, konnte sie die Beherrschung langsam wiederfinden. Die Schmerzen im Mund lösten ein armseliges Weinen aus. Sie konnte ruhig dasitzen und vor sich hin weinen.

Ob sie denn dabei gewesen wäre, fragten die beiden Pflegerinnen sie dann. Es sei ja gerade so, als hätte sie einen Schock. Die Frauen musterten sie. Sahen ihren Körper entlang. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie wäre im Hotel gewesen. Sie hätte geschlafen. Die Frauen sahen einander an. Ob sie Wasser trinken wolle. Was jetzt geschähe, fragte Amy. Sie müsse sich einmal um nichts kümmern. Irgendwann solle sie in die Aufnahme gehen und die administrativen Dinge regeln. Aber normalerweise blieben die Angehörigen einmal da. Bei ihren Lieben. Die Frauen sahen sie an. Ob Ginos Mutter benachrichtigt sei. Fragte Amy. Gino habe eine Mutter. Die müsse doch geholt werden. Das sei doch wichtig. Wirklich wichtig. Ginos Mutter. Gino und seine Mutter. Die hätten ein gutes Verhältnis. Ein wirklich gutes Verhältnis und deswegen.»Gino. «fragte die Pflegerin rechts. Ja. Eigentlich Ingo. Ingo nenne sich Gino, weil er Ingo nicht mochte. Als Name. Gino sei kein Ingo, hätte Gino gesagt, aber natürlich stünde in seinen Ausweisen Ingo. Man könne sich ja in Deutschland nicht so einfach umbenennen, und das wäre das Blödeste daran, keinen englischen Pass zu haben. In England. Da könne man sich ganz einfach anders nennen. Da müsse man nicht so Dinge tun. Wie heiraten. Oder adoptieren. Es koste auch gar nicht viel. Wäre das denn so wichtig für sie, fragte die Frau links. Und sie solle einen Keks essen. Da. Sie habe sicherlich noch kein Frühstück gehabt. Die Cafeteria hätte dann um 8.00 Uhr auch wieder offen. Da könne sie dann etwas Ordentliches essen. Sie müsse sich jetzt gut um sich selber kümmern. Regelmäßig essen. Viel trinken. In diesen Räumen hier. In der Intensivstation. Da wäre die Luft sehr trocken. Sehr trocken. Die beiden Frauen lachten. Deshalb wären sie beide auch so früh gealtert.

Und das waren sie. Amy schaute den Frauen ins Gesicht. Die Haut dieser beiden Frauen war aber nicht so krümelig und faltig und bleich, weil sie in einer trockenen Umgebung arbeiten mussten. Sie konnte sehen, dass diese beiden Frauen rauchten. Wie ihre Mutter. Sie kannte das von der Betsimammi. Und das Mammerl erinnerte sie immer daran.»Rauch nicht. «sagte sie immer.»Du ruinierst dir die Haut. Wie deine Mutter. Was hat die für eine schöne Haut gehabt. Wie du. Meine Almeline. «In Wirklichkeit hoffte das Mammerl, dass sie kein Haschisch zu rauchen begann. Das Mammerl dachte, dass es genügte, nicht zu rauchen, und die Drogenkarriere war schon beendet, bevor sie beginnen hatte können. Ach. Das Mammerl. In Wien. Und die Betsimammi. Wahrscheinlich in Amsterdam. Und sie selber. In Cham. Im Kreiskrankenhaus in der Intensivstation. Und niemand wusste, wo sie gerade war. Niemand konnte ihr helfen. Nicht einmal Onkel und Tante Schottola. Die kannten sich schon gar nicht aus. Die wussten schon überhaupt nichts von der Welt. Von dieser Welt. Obwohl. Der Onkel Schottola war ja schon mit einem Herzinfarkt ins Spital eingeliefert worden. Aber es war dann nur ein Verdacht gewesen, und er war auch gleich in ein normales Zimmer gebracht worden.

Nein, antwortete sie der Frau links. Nein, sie hätte nicht gewusst, dass Gino mit dem Auto unterwegs gewesen wäre. Die Frauen schauten einander an. Das wäre er ja auch nicht. Die Krankenschwester kam in den Vorraum. Sie räusperte sich. Das alles wäre nicht interessant für die Frau Denning. Amy schaute sie fragend an. Die Frau starrte zurück. Abweisend. Dann fiel Amy ein, dass sie die Frau Denning war. Sie beugte sich vor. Sie war rot geworden. Unter dem vorwurfsvollen Blick der Krankenschwester war sie rot geworden. Sie beugte ihr brennendes Gesicht über die Kaffeetasse. Sie war sogar dazu zu dumm. Die Verzweiflung stieg wieder auf. Das Gefühl, eigentlich weit weg zu sein, aber mithören zu müssen, wie alle schlecht über sie sprachen. Böse. Vorwurfsvoll. Anklagend. Und es stimmte ja auch. Es war nicht so, wie diese Frauen das dachten. Aber es war mindestens so schrecklich. Mit ihr. Und plötzlich war sie diesen Frauen dankbar für ihre schlechte Meinung von ihr.

Sie stand auf und ging in den Saal zurück. Gino lag unverändert. Das Licht war abgedreht. Draußen. Hinter den großen Fenstern hatte der Morgen begonnen. Sie ging um das Bett herum und schaute zum Fenster. Gino würde hauptsächlich Himmel zu sehen bekommen.

«Du musst dann aufwachen. «sagte sie zu ihm. Sie stand hinter ihm und redete von da auf ihn ein.»Du musst aufwachen und denen sagen, was los war. Und warum sitzt die Cindy da draußen. Wo wart ihr denn. Ihr seid doch nicht auf dem Weg in diese Disco gewesen. Die im Internet angegeben ist. Da sind wir doch gewesen. Die haben wir doch gesucht. Da gibt es doch das Haus nicht mehr. Aber ich weiß schon, ihr seid nach Kötzting ins Casino gefahren. Oder doch nach Tschechien. Seid ihr nach Strazny gefahren. Na ja. Ist ja gleichgültig. Ich kann auch gar nicht dableiben. Ich kann mich nicht um dich kümmern. Du weißt doch. Ich muss nach London, und das ist wichtig. Und ich will natürlich gar nicht wissen, was passiert ist. Ich will nur, dass es dir gutgeht. Du bist doch der Stärkere von uns beiden. Wie kannst du hingehen und einen Unfall bauen. Ich nehme an, dass es ein Unfall gewesen ist. Ihr seid doch nicht. Sag. Das kommt davon. Wie kannst du dich mit jemandem wie dieser Cindy einlassen. Du hast nichts verstanden. Ich habe dir doch gesagt, dass das komisch ist. Das ist alles komisch da, und wenn du mit der ausgehst, dann musst du damit rechnen, dass du überfallen wirst. War es das? Seid ihr in einen Hinterhalt. Ja? Ich habe es ja gewusst. Diese Geschichte mit diesem Grotowski. Die hat dich dazu benutzt, Kontakt aufzunehmen. Das heißt, ihr wart in Strazny, und sie hat da mit irgendwelchen Russen geredet. Weil die da Kontakte haben. In Afghanistan haben die noch ihre Kontakte. Ist ja klar. Und es waren die Falschen. Ingo. Ingo. Warum hast du mich nicht gefragt. Die haben da ein riesiges Problem. Die sind verzweifelt. Da muss man sich heraushalten. Nein. Du glaubst immer, dass das eine Spielerei ist. Aber da wird nicht gespielt. Weil du mich nicht ernst nimmst. Du. Du Dummkopfi, du.«

Der Pfleger schob sie zur Seite. Der Patient dürfe nicht berührt werden. Jetzt noch nicht. Und sie solle gehen. Sie habe den Blutdruck des Patienten so erhöht, dass da eine Pause. Er stellte etwas an der Infusion ein. Die Krankenschwester kam von der Tür auf sie zu. Sie ging. Sie hätte weinen können. Aber sie weinte nicht. Sie ging an allen vorbei hinaus. Sie ging steif. Sie spürte sich selbst steif gehen. Die Gelenke widerständig. Beugten sich nicht rechtzeitig. Eine Holzpuppe. Ich bin eine Holzpuppe, dachte sie und ging. Sie machte die Tür betont leise hinter sich zu. Sie konnte noch kurz hören, wie die Frauen sprudelnd zu reden begannen. Die redeten jetzt über sie. Sollten sie doch. Die verstanden auch von nichts etwas. Solchen Leuten ging es aber ohnehin nur ums Reden. Da musste so ein Redefluss aufrecht bleiben. Das war alles.

Auf dem Gang. Cindy saß nicht mehr da. Sie war allein. Sie ging zum Lift. Geschlossene Türen. Schilder, dass der Eintritt nur Befugten erlaubt war. Einen Augenblick stellte sie sich vor, wie das mit den Befugten sein konnte. Wie so ein Arzt in Weiß mit Fugen versehen werden konnte und dann befugt war. Sie schüttelte den Kopf. Das war der Stress. Bei Stress geriet sie in solche Wörtlichkeiten. Eine von diesen überflüssigen Begabungen. Sie lachte wenigstens nicht mehr laut. Sie blieb allein im Lift. Sie konnte sich in Ruhe befugte Personen vorstellen. Es war dann wohl eine Stilentscheidung, welche Art von Fugen diese Personen wählten. Oder erwarb man da die Befugung und musste nehmen, was da kam. Dehnungsfugen. Dichtungsfugen. Anschlussfugen. Sanitärfugen. Glasfugen. Der Onkel Schottola hätte für alles die richtige Technik gewusst. Sie wären zum ÖBAU Fetter in der Horner Straße gefahren und hätten lange Gespräche über Fugen geführt und ob man sie betonen sollte oder ob man sie zum Verschwinden brachte und man sie nicht sehen musste.

In der Eingangshalle. Niemand saß mehr in den Sesselreihen. Eine Putzfrau entnestelte das Kabel eines Staubsaugers. Sie stand hinten. Im türkisfarbenen overall. Trat gegen den Staubsauger. Sie ging nach rechts zum Eingang. Was sollte sie jetzt tun. Die Türen glitten auf. Eisig kalte Luft floss herein. Der Mann an der Rezeption rief nach ihr.»Frau Denning. «rief er. Sie ging zu ihm. Es ginge um die Aufnahmeformulare. Ob sie die ausfüllen könne und die Versicherungskarte ihres Mannes. Das wäre wichtig. Sie nahm die Papiere in die Hand. Wäre es nicht am einfachsten, sie nähme das mit. Sie wäre ohnehin auf dem Weg zum Arbeitgeber ihres Mannes. Sie wohnten da. Da könne sie das alles in Ruhe. Sie lächelte den Mann an. Der stand höher und schaute auf sie hinunter. Er setzte sich. Sie konnten einander so in die Augen sehen. Das ginge nicht, sagte er. Wenn es nach ihm ginge, dann wäre das sicher das Einfachste. Sie solle einfach die Unterlagen mitbringen, wenn sie wiederkäme. Er schaute sie prüfend an. Das habe ja alles auch Zeit. Dann hielt der Mann inne. Er schaute auf seinen Bildschirm hinüber. Dann begriff sie. Wenn sie jetzt die echte Ehefrau gewesen wäre. Jetzt hätte sie zu weinen beginnen müssen. Wieder. Dieser Mann hatte gerade gesagt, dass Gino noch lange dableiben würde. Oder sterben. Und dass dann ja alle Zeit der Welt sein würde. Für die Formalitäten. Gino sterben. Das war ihr noch gar nicht eingefallen. Kalte Wut füllte sie aus, und sie musste sich abwenden und weggehen. Wie konnte dieser Mann das andeuten. Wenn sie die wirkliche Frau gewesen wäre. Sie wäre doch zerstört gewesen.

Sie ging mit großen Schritten in die Kälte hinaus. Der Mann rief ihr irgendetwas nach. Sie drehte sich draußen um. Der Mann hatte sich gesetzt und hielt seinen Kopf in beiden Händen. Sie ging zum Auto. Sie hörte eine Autotür schlagen. Ein schwarzer Schatten links weit außen. Sie riss die Autotür auf. Die Tür war angefroren, und sie musste ein zweites Mal an ihr reißen. Dann ließ sie sich auf den Fahrersitz fallen und drehte den Autoschlüssel. Sie hatte ihn stecken lassen. Wer wollte einen uralten Kia, und sie hatte es ja gestern auch so gemacht. Gestern. Das vielleicht Vorgestern gewesen war. Die Tür zum Beifahrersitz wurde aufgerissen. Der Starter gab einen dünnen Ton von sich, und der Keilriemen quietschte. Gregory ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Sie startete wieder. Diesmal funktionierte es. Der Motor sprang an. Sie wollte in den Rückwärtsgang schalten. Sie wollte weg. Ob mit Gregory im Auto oder allein. Sie wollte weg. Gregory lehnte sich gegen sie. Gregory lehnte sich gegen ihre Schulter. Er hielt seinen Arm gegen ihren Arm. Das Kaschmir seines schwarzen Mantels warm wolkig. Gregorys Arm darunter hart gegen ihren. Sie war erstarrt. Sie hatte in der Bewegung innegehalten und war gegen Gregory angelehnt geblieben. Erst ihr Kältezittern gegen ihn machte sie darauf aufmerksam. Gregory sagte nichts. Er schaute nach vorne durch die Windschutzscheibe hinaus. Die Scheibe wieder vereist.

«Would we want to be rid of this ice. «stöhnte er und blieb sitzen. Die Lüftung blies eiskalte Luft gegen die Scheibe. Sie habe das sehr gut gemacht, sagte er dann. Sie ließ den Arm sinken. Er nahm ihre Hand in seine. Er trug Handschuhe. Weiche Sämischlederhandschuhe. Er umschloss ihre Hand. Es wäre genial gewesen von ihr, sich als die Ehefrau auszugeben. Ja. Er habe das alles mitbekommen. Amy habe damit die Aufmerksamkeit von Cindy und ihm abgelenkt. Sie hätte perfekt improvisiert. Wenn sie das geübt hätten, es hätte nicht besser sein können.

Sie wollte protestieren. Sie wollte sagen, dass sie Gino mochte. Dass sie mit Gino so ein Verlorene-Kinder-im-Pfadfinderlager-Verhältnis hatte. Dass sie beide allein da gewesen wären. Die Einzigen ohne Ziel. Dass sie Gino liebte. Aber nicht so, wie Gregory sich das vorstellte. Dass es noch mehr gab als Gregorys einfache Welt von Macht und Ohnmacht. Sie konnte aber nichts sagen. Sie hielt den Kopf gebeugt. Sie hielt das Gesicht in den kalten Luftstrom von vorne. Sie konnte keinen Ton von sich geben. Sie konnte auch nur atmen, weil die Luft so kalt war. Wäre die Luft wärmer gewesen. Sie hätte keine Luft bekommen können. Ihre Brust wie verriegelt. Die Erklärungen. Die Einsprüche. Die Wahrheiten. Ihre Meinung. Es brandete gegen diese Verriegelung an. Und dann gleich die Angst wie vor Erbrechen. Dass diese tobende Masse von Sprechen-Wollen den Riegel durchbrechen und sich in einem Schwall ergießen. Sie spürte es. Sie konnte spüren, wie das sein würde. Schreien. Schreien war das. Alle diese Dinge, die gesagt werden sollten. Die gesagt werden mussten. In einem Schwall. Und Gregory sie einliefern konnte. Würde. Musste. Und sie nie sagen können würde, was geschehen war. Was wirklich geschehen war. Was sie wirklich erlebt hatte. Was die Wahrheit gewesen war. Was die Wahrheit war. Und sie nickte. Sie deutete Gregory zu gehen. Sie spielte eine Rolle und sah sich zu. Sie war die gebrochene überforderte Freundin dieses halbtoten Mannes. Gregory grinste. Sie spürte Gregory grinsen. Das mache sie sehr gut. Selbst wenn jetzt noch jemand zusähe, wäre sie glaubhaft. Sie müsse es für ihn nicht machen, aber wenn sie es für sich bräuchte, die Rolle durchzuhalten, dann solle sie das ruhig tun. Sonst wäre es ja nicht notwendig, für einen solchen toyboy Gefühle zu verschwenden. Es täte ihm ja leid, aber man müsse einfach sehen, dass es besser wäre, dieser kleine Stricher wäre drangekommen als Cindy. Cindy ginge es schlimm genug. Und sie solle diesem Ingotypen ausrichten, dass Allsecura sich erkenntlich zeigen würde. Die Kosten für das Krankenhaus jedenfalls. Sie schaute Gregory fragend an. Der wäre bestimmt nicht versichert. Das würde er jedenfalls annehmen. Aber das wäre ja gleichgültig. Es wäre nichts passiert, was nicht wieder gut werden könne, und sie. Amy. Sie habe sich bestens bewährt. Das freue ihn, dass er der lieben Tante in London Gutes berichten könne. Er habe es ja gewusst. Sie wäre ein Talent. Und wäre es nicht erstaunlich, was eine schöne Frau alles behaupten könne, ohne dass jemand nachfragte. Wie dieser Mann am Eingang ihm gesagt hatte, dass die Ehefrau schon bei Ingo Denning sei und er ihr Auto auf dem Parkplatz gesehen habe.

Gregory war in Hochstimmung. Er wetzte beim Reden und fuchtelte mit den Händen. Er riss ihre rechte Hand in seiner eingefangen mit herum. Sie wurde herumgerissen. Seine Begeisterung riss sie in alle Richtungen. Dann hob Gregory die Hand, um mit ihr abzuklatschen. Sie schaute aber weiter nach vorne. Gregory wurde ruhig und beugte sich vor. Er entließ ihre Hand. Er zog den Handschuh von der rechten Hand. Er legte den Handrücken der rechten Hand gegen ihre linke Wange. Er ließ den Handrücken an ihrer Wange liegen. Dann stieß er sie mit einem kleinen Schubs weg.»Attagirl. «sagte er. Leise. Verschwörerisch. Dann schwang er sich nach rechts und stieg aus. Er schloss die Autotür und schlug mit der flachen Hand auf das Autodach. Zweimal. Sie stieß den Schaltknüppel in den Rückwärtsgang. Stieg auf das Gas. Sie schoss auf den Parkplatz hinaus. Schaltete. Wandte den Wagen und raste davon. Ein großer dunkelgrüner SUV stand links in der Ecke des Parkplatzes. Mit laufendem Motor. Einen Augenblick der Impuls, dagegenzufahren. Einfach auf dieses Auto und hinein. Dann war sie schon auf der Straße. Sie war zu schnell um die Kurve. Sie hatte Mühe, das schleudernde Auto auf der Straße zu halten. Sie fuhr dann langsamer. Davon. Nur davon. Es war wieder dunkel geworden. Es begann zu schneien. Auf dem Weg zurück ins Hotel. Es schneite dicht. Sie fuhr zum Hotel zurück, weil sie zu müde war, gleich nach Wien zu fahren. Zum Mammerl. Oder in ihre Margaretenstraße. Zu den Schottolas konnte sie ja nicht. Die hatten ja jetzt diese Sandra. Noch einmal ein Pflegekind, hatten sie gesagt. Sie hatte nichts sagen können. Was konnte sie, das Pflegekind Nummer 3, schon sagen. Aber es würde nicht gut ausgehen. Das war traurig. Das war sehr traurig. Es war überhaupt das Traurigste, wenn es die Netten traf. Sie. Sie kannte die Welt. Sie hatte eine drogensüchtige Mutter. Mehr musste niemand von der Welt wissen. Aber die Schottolas. Oder Gino.

Sie wurde angehupt. Sie hatte das Licht nicht aufgedreht. Sie schaltete das Licht ein.

Auf dem Parkplatz des Hotels. Die Heizung hatte das Auto endlich warm gemacht. Sie hatte auf die höchste Stufe geschaltet und sich aufgewärmt. Sie blieb im Auto sitzen. Sie sah den Schneeflocken zu, wie sie auf der Windschutzscheibe auftrafen. Einen Augenblick waren sie noch Schneeflocken, dann zerrannen sie zu winzigen Tropfen. Das Schlimmste war der Kaschmir gewesen. Die Erinnerung an diesen weichen, seidig glänzenden schwarzen Stoff gegen ihre Vliesjacke. Gegen ihren Arm. Wie dieser Stoff gegen ihre kalte Hand. So leicht gelegen. Und ihr plötzlich die Tiere einfallen hatten müssen und wie sie geschoren wurden. Wie sie, an den Hinterbeinen gehalten, geschoren wurden. Wie die Wolle um sie im Abdruck ihrer Körper zu liegen kam und die bleich rosigen Körper davonsprangen.

Sie saß da. Das Auto kühlte aus. Im Motor knackte es. Sie war so ein bleich rosiger Körper, dachte sie. Aber warum sprang sie nicht davon. Was machte sie so. Drückte sie nieder. Wieder fiel ihr der Kaschmirstoff ein. Wie die Arme von ihm und ihr. Wie die Ärmel. Nebeneinander. Und wie elend sie dabei. Und jetzt. Sie blieb sitzen. Nach und nach stockten die winzigen Tropfen, und eine verschwommen schlierige Schicht Eis bildete sich.

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