Hell, und vom Bett nur der Himmel. Ein bedeckter Himmel. Eine dünne Wolkendecke. Das Licht gefiltert. Studiobeleuchtung für die Welt. Sie lag. Lang ausgestreckt. Das Fenster im Blickfeld. Rechts. Sie musste den Kopf nicht einmal richtig drehen. Die Wand. Braunrosabeige. Die Trageelemente beige. Jedes Spital hatte einen eigenen colour code. Es war nichts mehr weiß in Spitälern. Die Decke niedrig und braunrosabeige. Sie dachte, sie lag genauso da, wie sie sich hingelegt hatte. Lang ausgestreckt auf dem Rücken und den linken Arm gerade neben dem Körper, damit die Infusionskanüle nicht einschnitt.
Sie hatte geschlafen. Sie hatte lang geschlafen. Die Uhr an der Wand vorne. Eine große Uhr und ein leises Ticken. Die ganze Zeit in leises Ticken zerteilt. Die Uhr war aber tröstlich gewesen. Beim Warten auf das Abgeholtwerden. Sie hatte dem Zeiger zugesehen und hatte sich mit allen verbunden gefühlt, die je einem Uhrzeiger so zugesehen hatten. In Erwartung eines Eingriffs. Sie müsse sich keine Sorgen machen, es handle sich nicht einmal um eine Operation. Es handle sich um einen Eingriff, und sie müsse im Spital bleiben, weil sie nicht gleich am Morgen drangekommen wäre. 12 Stunden müsse man sie schon beobachten, und dann könne sie sich ausschlafen. Das könne nie schaden. Die Ärztin hatte sie noch kurz prüfend angesehen. Das könne sie sicherlich brauchen. Es wäre doch immer ein Schock.
Sie musste fürchterlich ausgesehen haben. Alle hatten sie mitleidig angeschaut. Am Ticketschalter in Heathrow. Beim Gepäck-drop-off. Ob sie das wirklich einchecken wolle, hatte der Mann sie gefragt. Sie hatte nur nicken können. Wie hätte sie diesem frischen jungen Mann erklären sollen, dass sie die Prada-Tasche eincheckte, weil sie eine Tupperware-Dose aus Glas mit einem Spurenträger transportierte. Einem Klumpen blutiges Gewebe, den sie eigentlich trocknen lassen sollte. Den sie aber zur Analyse bringen wollte. Und wie sollte sie bei der Sicherheitskontrolle erklären, was das war. Hätte sie diesen Klumpen Gewebe und Blut als» liquids «deklarieren müssen.»My shampoo. «hätte sie dann flüstern müssen.
Ihr angegriffenes Aussehen. Es hatte ihr die Untersuchung bei der Dr. Immervoll eingetragen. Der Mann, der dann im Laboratorium für Kriminaltechnik und forensische Chemie geholt werden hatte müssen. Der hatte sie ganz vorsichtig behandelt. Er hatte auf die Dose gestarrt. Der weiße Plastikdeckel machte das Ding drinnen unsichtbar. Man müsse von ihrer DNA eine Probe nehmen. Für das Ausschlussverfahren. Ob sie in der letzten halben Stunde etwas gegessen habe. Sie hatte da zwei Tage schon nichts gegessen gehabt. Der Mann hatte Gummihandschuhe angezogen und den Abstrich genommen. Die Innenseite der linken Wange. Ein Auftragsformular. 500 Euro in bar. Man konnte nicht mit Kreditkarte bezahlen. Im Kriminaltechniklabor. Ein Bankomat wäre vorne. Da. Bei der U-Bahn-Station. Der sorgenvolle Blick von der Immervoll. Sie müsse sich selber einliefern. Am Morgen. Um 7.00 Uhr. AKH. 2. gynäkologische Abteilung. Ob sie das schaffen würde. Und nein. Man könne nicht warten. Sie könne zwar eine Tubenschwangerschaft ausschließen, aber nichtbetreute Fehlgeburten wären die Todesursache Nummer 2 für Frauen ihrer Altersgruppe. Sie müsse das ernst nehmen. Hier. In Wien. In Österreich. Da würde das ernst genommen werden. Ohne curettage. Unvorstellbar. Das Risiko reiche von Unfruchtbarkeit bis zu Sepsis, und sie wolle da jetzt gar nicht mehr diskutieren. Und jetzt war ja auch schon alles vorbei. Sie konnte sich kaum an den Tag erinnern. Sie hatte nur geschlafen. Mit Narkose und ohne, und die Klarheit innen war weiter da. Und alle sagten ihr ja, sie solle nicht traurig sein. Sie wäre ja jung, und da könne sie jederzeit wieder schwanger werden, und jede 5. Schwangerschaft ende mit einer Fehlgeburt. Es wäre also alles ganz normal.
Dann hatten sich alle abgewandt. Nachdem sie diesen Satz gesagt hatten, hatten sich alle weggedreht. Wahrscheinlich hatte sie so pathetisch dreingeschaut, und die dachten, sie wäre zerstört und verzweifelt, weil sie das Kind nun nicht bekam. Wie hätte sie denen sagen sollen, dass sie kein Kind verloren hatte, weil sie keines erwartet hatte. Aber, dass das das Rätsel war. Das schreckliche Geheimnis. Ihr schreckliches Geheimnis. Ihr schreckliches Wodkageheimnis, und dass sie froh war. Dieses Geheimnis war aus ihrem Körper verschwunden. Von ihrem Körper abgestoßen. Sie konnte nicht weinen darüber. Irgendjemand hatte ihr geraten zu weinen. Die Frau im anderen Bett. Oder eine Krankenschwester. Die Frau im anderen Bett. Sie drehte sich nach links. Sie bewegte sich vorsichtig. Als wäre ihr der Bauch aufgeschnitten worden. Es tat aber nichts weh. Sie hatte genügend Medikamente bekommen.
Die Frau im anderen Bett schlief. Sie war älter. Wie alt, konnte sie sich nicht vorstellen. Die Frau trug eine Mütze. Wegen der Haare. Wahrscheinlich. Das Gesicht war braunfleckig. Die Frau hatte geschlafen, wie sie nachher ins Zimmer zurückgekommen war, und sie schlief noch immer. Sie setzte sich auf. Die Klimaanlage summte, und ein Lufthauch strich über sie. Im Sitzen konnte sie auf den Wilhelminenberg schauen. Der Wienerwald. Wie die Häuser sich hinauffraßen in die waldigen Kuppen. Straßen. Alles durchsichtig ohne Blätter. Wintergrau und bleich. Hier wäre Schnee schön gewesen. Sie sah die Fuchsspuren im Schnee auf dem Rasenstück in London vor sich. Sie musste ganz still sitzen und sich rechts und links am Bettrand festhalten. Festklammern. Etwas drehte sich rund um sie und wollte sie mitreißen. Sie musste Starre bewahren. Gerade in der Mitte sitzen. Eine Bewegung. Sie hätte erbrechen müssen. Sie hätte einen unendlichen Schwall von sich. Gestoßen. Und sie hatte Angst davor. Als würde sie mit diesem Schwall ihr Innerstes von sich geben und dann nicht mehr sein. Sie riss das Pflaster über dem dünnen Infusionsschlauch in ihrer linken Vene unter dem grünen Plastikdeckel weg. Dann zog sie diesen dünnen Schlauch heraus. Ein kitzelndes Gefühl in der Magengrube. Sie legte diesen Schlauch mit dem Verschluss auf das Nachtkästchen. Kaum Blut.
Sie konnte dann aufstehen. Sie schob erst das linke Bein über den Bettrand. Dann das rechte. Sie ließ die Beine hinunterhängen. Das half. Sie konnte tief Luft holen. Die Angst schien gleich lächerlich. Sie stand auf. Ließ die Füße auf den Boden gleiten und stellte sich auf. Sie hielt sich am Nachtkästchen fest. Es ging. Es war zwar, als wäre sie in ihrem Leben noch nie gegangen. Als lernte sie das gerade. Aber sie würde hier wegkommen. Es war sehr wichtig. Es war dann mit einem Mal das Wichtigste. Sie ging zum Kasten. Der Schlüssel für ihre Kastentür steckte. Sie schlurfte auf den Schrank zu. Es war schwierig, die Füße zu heben. Sie riss ihre Kleider aus dem Kasten und kehrte zum Bett zurück. Sie musste sich hinsetzen und warten. Sich zu bewegen. Das war mühselig. Langsam. Ganz langsam begann sie, sich anzuziehen. Sie ließ die Unterwäsche weg. Sie zog die Strumpfhose über das Netzhöschen mit der dicken Binde. Den Rock. Das dunkle shirt über die nackte Haut. Das Spitalshemd war nach vorne abzustreifen, und sie musste nichts über den Kopf ziehen. Sie war dankbar dafür. Die Vorstellung die Arme in die Höhe und an einem Kleidungsstück zerren. Die Vorstellung ließ ihre Schultern in Erschöpfung sinken. Die Jacke. In Strümpfen ging sie ins Badezimmer. Auf der Toilette. Sie starrte das helle Blut an. Ein langer Streifen dickfeuchter Watte und hellrot. Das Dunkelbraun des Dings in der Glasdose fiel ihr ein, und sie wurde noch müder. Dann nahm sie eine neue Binde. Ein Stapel davon vor dem Badezimmerspiegel. Sie zog sich an. Fuhr sich mit dem Handtuch über das Gesicht. Trocken. Sie konnte sich nicht waschen. Sie hatte einen ungeheuren Abscheu gegen die Nässe davon. Wasser. Auf den Händen. Im Gesicht. Der Abscheu löste ein Schluchzen aus. Einen einzigen Schluchzer. Sie warf die blutige Binde in den Abfallkübel. Sie hob den Deckel mit der Hand und hielt die Binde noch lange. Das war es also, dachte sie. So sah das aus. Der Schneewittchen-Fleck im Schnee. So rot wie Blut. Aber ihre Mutter war nicht gestorben. Ihre Mutter war zu ihrer bösen Stiefmutter geworden. Sie. Sie war nun keine Mutter geworden. Ohne von der Möglichkeit zu wissen. Überhaupt. Das war traurig, wie alles traurig war und wie alles nichts mit ihr zu tun hatte. Mit ihr persönlich. Sie ließ den Kübeldeckel über der Binde zufallen. Sie sah sich kurz im Spiegel. Beim Vorbeigehen. Sie hatte den Kopf gebeugt. Ihr Kopf war gesenkt, und sie sah sich selbst von unten. Darüber hätte sie weinen mögen. Wenn sie die Kraft gehabt hätte.
Im Zimmer stand eine Krankenschwester. Sie trug eine Mappe.»Frau Schreiber. «sagte sie. Das wäre ja schön, dass sie schon auf sei. Dann könne sie ihre Abmeldung gleich erledigen. Sie müsse nur hinunterfahren in die Halle und in die Aufnahme gehen und wieder zurückkommen. Die Frau drückte ihr die Mappe in die Hand, warf einen Blick auf die schlafende Frau in dem anderen Bett und ging. Mit einer energischen Drehung rannte sie aus dem Zimmer. Das Frühstück käme dann auch gleich, rief sie noch ins Zimmer zurück. Und die Visite. Die müsse sie abwarten.
Sie zog ihre Handtasche aus dem Fach des Nachtkästchens unter dem heruntergeklappten Tischchen. Das war ihre Sicherheitsmaßnahme gewesen. Sie hatte gedacht, dass sie aufwachen würde, wenn jemand diese Tischplatte hochklappen würde und die Tür des Nachtkästchens aufzerren, um an ihre Handtasche zu kommen. In der Handtasche war der Abholschein für das Kriminallabor. Sonst war da nichts Wertvolles. Aber so weit war die Ausbildung an ihr erfolgreich gewesen. Und es war alles da. Sie stellte die Tasche auf das Bett. Der grüne Zettel war im Seitenfach eingezippt. Dieser grüne Zettel würde sie zum großen bösen Wolf führen.
Sie ging auf den Gang. Das war alles lächerlich. Sie verstand, was Alter war. Erschöpfung. So musste es sein mit 90 Jahren. Geh schneller, sagte sie sich. Und nichts passierte. Der Befehl kam nirgends an. Sie schlurfte nach rechts auf den Gang und in die Halle mit den Liften. Schon auf dem Gang Leute. Vor den Liften. Viele. Sie konnte nicht Lift fahren. Sie konnte Lift fahren, aber sie konnte keine Person nahe haben. Sie konnte niemanden nahe vor ihrem Bauch haben. Sie wollte zu Fuß gehen. Sie schaute sich nach der Stiege um. Sie war im 16. Stock. Ein Lift kam. Der Pfeil über der Lifttür am anderen Ende leuchtete auf. Es ging hinunter. Sie ließ alle Leute einsteigen. Dann schob sie sich in den Lift. Knapp an der Tür. Gleich bei den Schaltknöpfen. Sie drehte sich der Tür zu. Drehte allen Personen in dem Lift den Rücken zu. Der Lift blieb dreimal stehen, und Leute stiegen zu. Sie musste jedes Mal dagegen ankämpfen, auszusteigen. Sich davonzumachen. Und sie fühlte, wie ihr Genick sich zusammenkrampfte und sie den Kopf nicht mehr heben konnte. Den Kopf nicht mehr tragen. Es war dann aber keine Erleichterung, in die Halle zu gehen. Es schienen ihr alle Leute auf sie zuzusteuern. Auf sie zuzulaufen. In sie hineinzulaufen. Sie hielt diese Mappe an sich gepresst. Die Tasche unter den Arm geklemmt.
In der Aufnahme. Sie ging an den Schalter mit der Aufschrift» Entlassung«. Sie schob die Mappe unter dem Glas durch. Die Frau verlangte ihre e-card. Sie suchte die Karte aus dem rotledernen Etui heraus. Schob die e-card unter dem Glas durch. Die Frau steckte die Karte in ein Gerät. Schrieb etwas in ihren Computer. Dann schob die Frau alles unter dem Glas durch zu ihr zurück und wandte sich ab. Die Frau stand auf und ging nach hinten weg. Sie nahm die Mappe und ihre e-card und ging hinaus. In der Halle. Es roch. Es roch nach Kaffee und Kebab und Pommes frites. Es war gerade 8 Uhr. Pommes frites. Vor der Information stand eine lange Schlange Wartender. Menschen kamen durch die Eingangstüren. Kamen von den Liften. Fuhren mit den Rolltreppen in die oberen Stockwerke hinauf. Gingen in den Supermarkt. Standen an der Kassa da an. Ein Getöse. Das Gehen und Sprechen. Ein Summen und Tosen.
Sie ging zu den Liften zurück. 16.Stock. Sie musste in den 16.Stock. Die Wartenden standen vor den Liften. Sie konnte nicht einsteigen. Es waren zu viele. Aber sie musste hinauf. Sie überlegte, ob sie musste. Sie hatte ihre Handtasche mit. Was brauchte sie von oben. Sie konnte die Mappe in der Aufnahme abgeben und abhauen. Weggehen. Sie musste da nicht mehr hinauf.
Sie schaffte es dann doch. Sie wartete so lange vor einem der Lifte, bis der ankam. Sie drückte 16 und stellte sich nach hinten in die Ecke. Der Lift fuhr zuerst ins Parkhaus. Erstes Untergeschoss. Zweites Untergeschoss. Dann war sie allein im Lift bis zum Erdgeschoss. Dann strömten die Menschen in den Lift. Bis zum 16.Stock waren die meisten wieder weg. Sie ging zuerst in die falsche Richtung. Sie war in der 2. gynäkologischen Abteilung. Sie fand sich in der 1. Sie musste an den Liften vorbei. Alles sah genauso aus wie in der anderen Abteilung. Sie sah dann ihren Namen an der Zimmertür. Sie zog das Namensschild aus dem Rahmen. Es war widersinnig. Niemand suchte sie. Niemand wusste, dass sie hier war. Sie wollte nicht benannt werden. Sie wollte ihren Namen nicht lesen.
Im Zimmer. Die Frau im anderen Bett schlief. Das Tischchen an ihrem Nachtkästchen war aufgeklappt. Ein Tablett stand da. Eine Tasse Kaffee. Joghurt. Ein Kipferl. Butter. Marmelade. Sie setzte sich auf das Bett und schaute das Essen an. Sie musste sich zurücklehnen.
Die Krankenschwester kam ins Zimmer und lief gleich wieder hinaus. Sie kam zurück und sagte ihr, sie solle den Mund aufmachen. Sie solle den Mund aufmachen und die Zunge zurückbiegen. Die Krankenschwester tropfte ihr etwas in den Mund. Kalt. Dann nahm sie ihr Handgelenk und fühlte den Puls. Wie elend ihr denn sei, fragte sie. Die Visite käme nämlich gleich. Die wären heute früh dran. Aber. Wenn der Professor sie so vorfände. Sie würde dabehalten werden. Mit solchen Kreislaufproblemen. Die wollten sie sicher dabehalten. Sie habe ja einen richtigen Kollaps. So. Wie das aussah. Und dann behielten die die Frauen noch einen Tag länger. Das wollte sie doch sicher nicht. Sie wolle doch sicherlich nach Hause gehen. Nicht hier noch einen Tag. Die Krankenschwester beugte sich über sie. Schaute ihr in die Augen. Sorgenvoll und verschwörerisch. Nein, schüttelte sie den Kopf. Nein. Sie wolle nicht hierbehalten werden. Sie hielt der Krankenschwester die Mappe hin. Sie müsse hier weg. Die Frau nahm die Mappe. Es würde wieder gut, sagte sie. Beim Weggehen. Es würde alles wieder gut werden. Sie sei ja so jung. Sie habe noch alles vor sich. Die Krankenschwester blieb einen Augenblick am Bett der anderen Frau stehen. Dann ging sie davon.
Sie lag da und zitterte. Sie hatte einen Zitteranfall. Sie konnte nichts dagegen tun. Es wurde dann ein Scheppern. Im Liegen klapperten ihre Zähne, und ihre Knie flatterten. Als wäre ihr eiskalt. Ihre Gliedmaßen schepperten, und es wäre unmöglich gewesen, vom Kaffee zu trinken. Sie lag da und schaute die Decke an. Machte die Augen zu. Konnte den Kopf nicht bewegen. Wieder diese wilde Übelkeit. Kurz. Dann. Sie fand sich ruhig liegen. Gelassen und in Ordnung. Innen.
Die Tür wurde aufgerissen. Eine Gruppe kam herein. Alle in weißen Mänteln. Der wichtige Mann. Es war sofort klar, dass er der wichtige Mann war. Die Gruppe schob ihn in die Zimmermitte. Eine junge Frau reichte ihm ein clipboard. Er schaute drauf. Dann auf sie im Bett. Er wandte sich an die Gruppe zurück. Ob die junge Dame da unterwiesen sei. Die Ärztin, die sie operiert hatte, sagte» Ja. «und» Selbstverständlich«. Dann wandte der Mann sich der anderen Frau zu. Die lag in tiefem Schlaf. Er schaute auf das clipboard und nickte. Dann verließ er das Zimmer. Die Gruppe schob sich hinter ihm her. Ihre Ärztin kam zurück. Wie es ihr ginge. Ob die Blutungen stark wären. Und sie solle zur Nachversorgung zu ihrer Gynäkologin gehen. Und alles Gute.
Sie lag auf dem Bett. Es schien ihr alles eine Erscheinung zu sein. Ein Film. Sie lächelte die Ärztin an. Und ihr ginge es gut. Danke. Dann lag sie da. Sie konnte jetzt gehen. Offenkundig. Sie musste lachen. Ein bisschen musste sie lachen. Die Ärztin war wirklich nett gewesen. Sie hatte versucht, so freundlich wie möglich zu sein, aber sie war dann doch sehr froh weggelaufen, den anderen nachzukommen. Sie schätzte das. Sie konnte das schätzen. Sie blieb liegen. Es gefiel ihr, wenn jemand versuchte, nett zu sein. Es half. Sie konnte sich aufsetzen und überlegen. Sie sollte etwas trinken. Sie nippte am Kaffee. Sie war froh, nicht mit dem Auto hierhergefahren zu sein. Ein Taxi. Es gab Taxis unten. Am Haupteingang. Sie musste Geld abheben. In der Halle ein Bankomat. Sie konnte auch gleich etwas zu essen einkaufen. In der Halle. Sich versorgen und dann in die Margaretenstraße. Es war wahrscheinlich sogar ein Glück, dass keine Ferien waren. Dass ihre Mieter noch nicht in die Semesterferien geflüchtet waren. Sie hatte sie nur gehört. Sie hatte niemanden getroffen. Die waren alle den ganzen Tag unterwegs. Aber in der Nacht. Wenn etwas war. Der eine studierte sogar Medizin. Die anderen zwei waren Physiker. Die würden ihr auch etwas bringen. Sie brauchte nichts einzukaufen. Sie konnte vom Lift direkt zu einem Taxi und in die Margaretenstraße und dort schlafen. Wieder schlafen. Sie hatte noch die Tabletten von der Immervoll. Wenn etwas weh tat. Sie würde die dreifache Dosis nehmen und schlafen.
Die Frau im anderen Bett drehte sich zur Wand. Die Frau hob den rechten Arm und zeigte gegen die Decke. Sie dachte, die Frau wachte auf und wollte etwas sagen. Dann legte die Frau den Arm auf die andere Seite und rollte sich dem Arm nach zur Wand.
Sie war erschrocken. Die Frau war nicht aufgewacht. Es musste aus einem Traum gekommen sein. Diese Geste der Anklage. Sie schob das Tischchen weg und stand auf. Sie schaute in das Fach unter dem Tischchen. Zog die Schublade heraus. Ging zum Kasten. Holte den Mantel. Nahm die Taschen. Sie schaute das Bett noch einmal an. Schaute zum Fenster hinaus. Blauer Himmel zwischen dünnen Wolkenstreifen. Alles sonnig.
Sie schaute die Frau im anderen Bett nicht mehr an. Sie hätte sich gerne von ihr verabschiedet. Diese Frau war freundlich gewesen. Sie hatte ihr gleich gesagt, dass sie dann schlafen würde, und ihr alles Gute gewünscht. Weil sie dann schon entlassen sein würde, wenn sie wieder aufwachte.»Wissen Sie. «hatte sie gesagt.»Diese Chemo. Das ist eine Übung. Und wenn das Sterben dann so ist, wie dieses Einschlafen bei der Chemo. Dann soll es mir recht sein. «Das wirklich Schwierige bei Krebs wären nämlich die Bestrahlungen. Die Chemo, das sei belastend. Ja. Aber die Bestrahlungen. Da wüsste man dann schon viel zu viel. Vom Ende. Sie war dann abgeholt worden. Sie war ewig in einem Vorzimmer zum Operationssaal gelegen und hatte warten müssen. Aber vielleicht war das nur ihr Gefühl gewesen. Vielleicht war sie gleich drangekommen, und es war nur für sie so lange gewesen. Sie konnte sich kaum noch an den Aufwachraum erinnern. Nichts. Die Zeit nicht vorhanden. Diese Stunde oder wie lang das gewesen war. Nichts. Nicht einmal Nebel. Dieser Vorraum. Dann der Aufwachraum. Dazwischen. Leer. Und. In diesen Räumen. Sie ging auf den Gang hinaus. Schloss die Tür vorsichtig. In diesen Räumen verloren sich die Grundlagen. Wahrscheinlich hing deshalb eine Uhr in jedem Zimmer. Dann fiel ihr ein, dass man diese Uhren sicherlich zentral umstellen konnte, und sie musste lächeln. Sie konnte doch hintergründig denken. Gregory hatte keinen Grund, sie als kleines braves Mädchen hinzustellen. Sie konnte in Gesamtzusammenhängen denken. Sie war misstrauisch. Sie konnte sich vorstellen, wie man einen ganzen Komplex nur über die Uhren manipulieren konnte. Jedenfalls innerhalb. Blöder Gregory. Eine Welle Wut. Eine große Welle Wut.»Ah. Da ist sie ja. «Sie schaute auf. Der Onkel Schottola kam vom Schwesternzimmer her auf sie zu. Die Krankenschwester, die ihr die Tropfen gegen die Kreislaufprobleme eingeträufelt hatte, hinter ihm. Dann sei ja alles in Ordnung, sagte sie. Sie hätten eigentlich Namensschilder an den Türen, und sie könne sich nicht erklären, warum das für die Frau Schreiber nicht vorhanden sei.»Ihr Vater hat sich jetzt schon Sorgen gemacht. «sagte die Krankenschwester zu ihr gewandt. Vorwurfsvoll. Dann drehte sie sich um und ging zum Schwesternzimmer zurück.
«Onkel Schottola. «Sie musste lachen. Sie konnte ihre Freude nicht verbergen, obwohl sie wusste, dass ihm das Schwierigkeiten machte. Er schaute auch gleich zu Boden. Das sei doch selbstverständlich, murmelte er. Dann nahm er ihr die Prada-Reisetasche aus der Hand und hängte sich bei ihr ein. Er habe das Auto in der Garage unten. Enge Stellplätze wären das. Und ob sie noch etwas holen musste. Aus ihrer Wohnung. Ein paar von ihren Sachen gäbe es ja im Haus.
Sie lehnte sich in seinen Arm. Sie lächelte ihn an. Das wäre die schönste Überraschung. Sie standen vor dem Lift und warteten. Sie musste sich keine Gedanken machen, wie sie in diesen Lift einsteigen konnte und wo sie stehen musste. Sie lehnte sich gegen den Onkel Schottola. Sie merkte, wie ihre Fassung zerbröselte. Sie musste grinsen. Mit dem Onkel Schottola. Da musste sie es gar nicht so weit kommen lassen. Neben ihm. Da reichte dieses Gefühl aus. Dass sie am Ende war. Das Ende musste dann gar nicht ausbrechen. Sie war sicher vor sich selbst. Bei denen. Und wahrscheinlich war das besser als bei leiblichen Eltern.»Gut, dass du angerufen hast. «sagte er. Sie trat einen kleinen Schritt zur Seite und zog ihren Arm aus seinem. Sie stand neben ihm. Sie stieg in den Lift. Sie fuhr mit ihm in die Garage. Ins zweite Untergeschoss. Es wäre schwierig gewesen, einen Parkplatz zu finden.»Ja, weil du so ein Riesenauto fahren musst. «sagte sie. Sie lachten beide. Er ging an den Kassenautomaten. Sie wartete. Sie gingen zum Auto. Er klickte das Auto von weit weg an, damit sie sahen, wo es stand. Im Auto. Sie schnallte sich an. Die Panik war verschwunden. Diese Welle von Elend und Angst und Schmerzen und Sorgen. Abgeflaut. Abgeklungen. Sie saß im Auto und schnallte sich an. Woher er gewusst habe, dass sie nach Hause gehen könne. Der Onkel steckte gerade die Parkkarte in den Automaten und wartete darauf, dass die Schranke aufging. Man musste aber die Parkkarte erst abziehen. Dann erst öffnete sich die Schranke. Er zog die Karte ab und warf sie in den Papierkorb neben dem Automaten. Die Schranke hob sich. Sie musste an den Arm der anderen Frau im Zimmer oben denken. Das Zimmer war aber schon weit weg. Alles in diesem Gebäude war schon gleich weit weg. Sie lehnte sich zurück. Der Sitz kalt. Das Auto kalt. Das Gebläse voll aufgedreht, aber es kam erst noch eiskalte Luft heraus. Sie steckte die Hände in die Manteltaschen.
Der Onkel fuhr die steile Rampe zur Straße hinauf. Man musste nach rechts einbiegen. Wo sie da herauskämen, fragte er. Sie zuckte mit den Achseln. Sie wusste es nicht. Er beugte sich weit vor und schaute sich um. Dann bog er in die Straße nach rechts. Er habe telefoniert, sagte er dann. Und er habe sich als ihr Vater ausgegeben. Es tue ihm leid, aber diese Lüge sei notwendig gewesen. Er hätte sonst keine Auskunft bekommen. Sie nickte. Das sei schon in Ordnung. Das wäre schon richtig. Sie wäre ja froh. Der Onkel schaute gerade vor sich hin. Lenkte. Bog in den Gürtel ein. Er habe nicht gelogen, sagte sie dann, und er nickte.
Sie fuhren. Währinger Gürtel. Döblinger Gürtel. Brigittenauer Lände. A22. In Richtung Krems. Die Sonne schien. Ein blauer Himmel mit Wölkchen. Die Donau nach rechts. Blau. Nach links hinauf. Dunkelgrau. Der Leopoldsberg. Die Kirche oben thronend. Auf der Nordbrücke. Es war, als würde sie wegfahren. In den Urlaub fahren. In die Ferien. Dann fiel ihr der Abholschein ein. Gleich hier in dem Gewirr von Gewerbebetrieben und Lagerhallen rechts von der Autobahn das Labor.»Unbekannte Substanzen«, fiel ihr ein. Die Prüfung hatte sie schon gemacht. Multiple choice war das gewesen, und sie hatte kaum etwas gelernt. In der Rezeption. Gregory hatte sie in die Rezeption gesetzt, und Gertrud sollte ein Auge auf sie haben. Gertrud hatte nur auf ihr Telefon vor sich gestarrt und sie keines Blickes gewürdigt. Aber die Prüfung war total leicht gewesen. Man musste fast alles trocknen lassen. Unbekannte Substanzen: Flüssigkeiten in einer verschlossenen dunklen Flasche lagern bzw. im Originalgebinde. Feststoffe (Pulver, Pasten) in einer verschlossenen Pulverdose bzw. im Originalgebinde aufbewahren. Speichel, Schweiß, Nasensekret, Sperma, Blut: Mit einem sterilen Tupfer (Wattestäbchen) die Substanz aufnehmen. Die Substanz trocknen lassen und den Tupfer danach in eine Papier- oder Plastiktüte geben. Bei Spuren auf einem größeren Spurenträger (Polster, Leintuch) den betreffenden Teil ausschneiden, ihn gegebenenfalls trocknen lassen und ihn anschließend in einer Papier- oder Plastiktüte lagern. Alles trocknen lassen. Sie fühlte einen Schwall Blut durch ihre Scheide fließen. Ein Ziehen im Bauch. Dann wieder nichts. Die Feuchtigkeit zwischen den Beinen. Die Wattebinden zogen die Feuchtigkeit nicht in sich hinein. Die Feuchtigkeit zwischen den Beinen. Das war o.k. Das war nicht angenehm. Aber es war auch irgendwie gut. Es fühlte sich sauber an. Es wäre jetzt alles draußen, hatte die Ärztin im Aufwachraum gesagt.
Der Onkel fuhr. Der Range Rover surrte dahin. Wie immer fuhr der Onkel Schottola genau so schnell, wie es erlaubt war. Er überholte und ordnete sich ein. Die Donau links. Dann die Auwälder. Die hohen Schallschutzwände. Die Burg Kreuzenstein. Ob man diese Zwillinge gefunden habe, fragte sie. Diese Zwillinge in Italien. Diese 6-jährigen kleinen Mädchen. Der Onkel schüttelte den Kopf.»Es hätte ja sein können. «sagte sie. Während sie auf dem Operationstisch festgeschnallt gewesen war. Während man in ihrem Uterus gewühlt hatte. Gekratzt. Geschabt. Während sie in Lalaland geweilt und von nichts und von sich nichts gewusst hatte. Die beiden kleinen Mädchen hätten hinter einer Hecke hervorkommen können und nach ihrer Mama rufen.»Wie heißen die. «fragte sie.»Livia und Alessia. «sagte der Onkel.»Livia und Alessia. «wiederholte er. Er schaute nach vorne. Er griff unter die Sonnenblende und holte eine Sonnenbrille hervor. Klappte sie auseinander und setzte sie auf.»Livia und Alessia. «murmelte er noch einmal. Er seufzte. Sie schaute zu ihm hinüber.»Warum habt ihr mich eigentlich nicht adoptiert. «sagte sie. Er schaute weiter geradeaus auf die Autobahn.»Du hast eine Familie. «sagte er.»Hättest du dir das gewünscht?«Sie schüttelte den Kopf.»Manchmal schon.«»Ja. «sagte er.»Wenn das Selbstmitleid besonders groß war, dann wahrscheinlich. «Nach langem.»Weißt du. «sagte er.»Ich habe mir immer gedacht. Wir. Wir haben immer gedacht, dass es wertvoller ist, wenn es eine freie Entscheidung bleibt. Auch für dich. Ich hätte auch nicht gewusst, wie das dann mit der Religion sein sollte. Ein Kind. Ein eigenes Kind. Ich wäre verpflichtet gewesen, eine religiöse Erziehung. Zu. Erzwingen. Verstehst du. Es ist eigentlich die Achtung vor dir und was vorher schon war, dass du unser Pflegekind geblieben bist. Glaubst du, wir wären näher. Sonst. Ich kann mir das nicht vorstellen. Und übrigens. Die Sandra haben wir auch nicht. Nicht adoptiert. Ich hätte halt gehofft, dass wir dir genügend Vertrauen. Selbstvertrauen. Aber das läuft nicht immer so. So einfach. Es hat sich viel verändert. Du wirst sehen. Aber wir sind alle die Alten geblieben. Die Trude kommt in ein paar Tagen zurück, und sie freut sich auch, wenn du da bist. Du erholst dich, und dann erzählst du uns alles. Wenn du magst. «Er schaute sie kurz an.»Ich bin froh, wenn die Trude dich zum Reden hat. Du kennst mich ja.«»Werdet ihr jetzt ausziehen. Weil du sagst, es hat sich viel verändert.«
«Nein. Es wäre doch sinnlos. Jetzt. Jetzt sind wir ja schon krank. Aber vielleicht. Wir überlegen, ob wir den oberen Stock vermieten sollen. Wenn sich ein Käufer für das ganze Haus findet. Die Trude will noch immer nach Wien. Fast 50 Jahre war sie jetzt da. In der Uhlandgasse und will immer noch weg.«
«Hast du gewusst, dass die Betsimammi in Hietzing wohnt?«
Der Onkel Schottola verzog den Mund. Er habe vermutet, dass ihre Mutter wieder in Wien lebte. Aber er hätte es nicht genau gewusst. Seit sie, Amalie, 18 Jahre alt geworden wäre, war für das Jugendamt alles vorbei gewesen, und es habe keine Informationen mehr gegeben. Er habe aber seine Vermutungen gehabt, weil die Marina nicht mehr nach Amalies Mutter gefragt habe. Von einem Tag auf den anderen habe es keine Anfragen von Marina mehr gegeben, und das Mammerl habe dann auch einmal eine Bemerkung gemacht. Woher sie das denn wisse.
Sie lehnte sich zurück. Es wäre ein Zufall gewesen. Es ginge um diese Geschichte. Wie immer. Es ginge ja immer um diese Geschichte von der Erbengemeinschaft. Der Onkel wandte sich ihr zu. Sie solle das ernst nehmen. Das Geld aus dieser Sache. Das würde ihr eine Grundlage geben. Das wäre gut für sie. Sie könne dann noch einmal überlegen, was sie aus ihrem Leben machen wolle. Dann müsse sie nicht so eine windige Ausbildung machen wie die da. Die sie jetzt mache.
Sie habe gedacht, er wäre gegen diese Ausbildung bei Allsecura, weil die Marina das eingefädelt hätte. Er schüttelte den Kopf. Das sei nichts. Diese Ausbildung da. So eine Arbeit. Sie könne nicht lernen, wie Gewalt angewendet würde. Das könne man nicht. Und es koste ja auch sehr viel. Sie kenne seine Einstellung. Er lehne das alles ab. Er versuche ja, sie zu verstehen. Aber es fiele ihm sehr schwer, sich das vorzustellen. Was sie da mache. Was sie da machen müsse. Deshalb hoffe er ja, dass die Sache mit der Restitution dieses Bildes. Dass die bald erledigt sei und sie ihren Anteil bekäme und damit neue Perspektiven.»Du glaubst doch nicht, die Marina rückt das Geld heraus. «Sie musste lachen. Er kenne die Marina doch. Die würde das Geld einstecken. Das Mammerl habe sie schon in der Tasche. Die hatte schon gesagt, dass die Marina ihren Anteil verwalten würde, weil sie doch nicht mit Geld umgehen könnte. Und er wisse doch, wie die Marina das Mammerl. Und die wäre ihre Halbschwester. Immerhin. Wie sie die immer übers Ohr gehauen habe. Mit diesem Argument. Aber manche Dinge blieben eben gleich. Unverändert. Unveränderbar. Die Marina würde die Kosten für die Ausbildung abziehen. Das war sicher.
Der Mann fuhr dahin. Sie saß in ihren Sitz gelehnt. Alle Ruhe war verschwunden. Die Familie. Die Großmutter. Die Großtante. Ihre leibliche Mutter. Wie die mit ihr redeten. Auf sie einredeten. Wie die sie anschwiegen. Wie sie sich abwandten. Sie umarmten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, alle zu spüren. An sich zu spüren. Umarmt zu sein. Umfangen. Aber eng, und nichts zu sehen. Ihr Kopf in die Brüste gerammt bei diesen Umarmungen, und sie musste den Stoff spüren. Sie hatte gelernt, den Kopf rasch zur Seite zu drehen, nicht in die Stoffe beißen zu müssen. Wenn sie so von einer dieser Frauen an sich gezogen worden war. Heute nicht mehr. Heute war sie größer als alle diese Frauen. Sie ließ sich nicht mehr umarmen. Sie schaute diesen Frauen in die Augen und verbot ihnen das. Näher zu kommen. Sie wurde schwierig genannt. Deswegen. Aber schwierig war besser als Stoffe fressen müssen. Vor allem wenn das Stofffressen das Einzige war, was man von denen bekam.
Ob sie Schmerzen habe, fragte der Onkel. Nein, warum frage er. Weil sie so unruhig geworden wäre. Nein, sagte sie. Es wäre wegen der Verwandten gewesen. Sie habe sich plötzlich erinnert. Der Onkel kniff die Lippen zusammen und schaute starr nach vorne. Dann nickte er. Sie würden sich jetzt ein paar schöne Tage machen. Wenn es ihr besserginge. Könnten sie dann nicht wieder einmal eine Wanderung machen. Sie nickte. Ja. Eine Wanderung. Sie waren aufgebrochen und mit Bussen oder der Bahn und dann zu Fuß oder manchmal mit den Fahrrädern. Sie hatte sagen können, in welche Richtung es gehen sollte. Nach rechts. Nach links. Geradeaus. Sie waren dann den ganzen Tag unterwegs gewesen. Weit waren sie gekommen. Durch das weite leere Land rund um Stockerau oder nach Wien hinein. Am Abend riefen sie dann die Tante Schottola an, und die kam mit dem Auto und holte sie. Hatte sie geholt. In zwei, drei Tagen könnten sie das schon machen, sagte der Mann. Woher er das wissen wolle. Er schaute sie kurz an. Er fuhr dann wieder. Die Trude habe Fehlgeburten gehabt. Ob sie das nicht wisse. Mehrere. Deshalb wisse er, wie das ginge. Er schwieg dann. Machte einen schmalen Mund.
Sie saß da und schaute auf die Autobahn hinaus. Ließ die Straße auf sich zukommmen. Sie fühlte sich wieder sicher. Sie hatte das mit den Fehlgeburten von der Tante Schottola vergessen gehabt. Sie war der Ersatz für diese Kinder gewesen. Aber so eine verlassene Person wie sie. Die musste nehmen, was sie bekam. Und mit Onkel und Tante Schottola. Sie hatte es besser gehabt als mit der Betsimammi. Eine Giftlerin. Es hätte sicher nie Wanderungen gegeben, die nur in ihre Richtung geführt hatten. Bei denen sie die Richtung alleine bestimmt hatte. Sie saß im Fahren. Schläfrig. Es wäre schön gewesen, wenn diese Zwillinge gefunden worden wären. Sie konnte sich zu gut erinnern, wie das gewesen war. Allein. Und niemand da. Zu sagen, wohin. Die Mutter nur dagelegen und der Speichel aus ihrem Mund geronnen. Aber nach den statistischen Daten. Die lebten nicht mehr. Ziemlich sicher hatten diese beiden kleinen Mädchen es hinter sich. Waren in Sicherheit. Irgendwie.
Sie wachte erst vor dem Haus wieder auf. Das Auto stand vor dem Haus in der Uhlandgasse. Sie solle sich hinlegen, sagte er, er müsse noch einkaufen. Es gäbe aber Kaffee im Thermos, und er zwinkerte ihr zu. Der Onkel Schottola war evangelisch H.B. und er sollte eigentlich keine Genussmittel zu sich nehmen. Kaffee war eine Sünde für ihn. Eigentlich. Aber sie waren sich in dieser Sünde einig. Die Tante Schottola trank Kakao. Diese Sünde teilten nur sie beide. Sie stieg aus und ging ins Haus. Der Onkel sperrte ihr die Tür auf und ging zum Auto zurück. Sie trat ins Haus. Es roch wie immer. Sie begann zu weinen.