Jänner

Sie wusste nicht gleich, dass sie in London war. Wellington Square. Im Haus von Marina. Sie lag in einem kleinen Zimmer mit sehr niedriger Holzdecke. Das Holz weiß gestrichen. Eine gestreifte Tapete an den Wänden. Himmelblau und weiß mit einer Rosengirlande. Auf weißem Untergrund waren die Rosen rosenrot. Auf dem blauen Untergrund waren sie weiß. Das war das andere Dienstmädchenzimmer auf Wellington Square. Melvin wohnte im anderen. Melvin, der schwedische Au-pair-Boy.

Es war kalt im Zimmer. Sie griff unter der Decke heraus nach der Heizung. Lauwarm. Gerade nicht kalt. Sie zog die Hand zurück. Die Tante Marina hatte die Heizung so sparsam eingestellt, dass hier oben gerade nichts einfror. Sie setzte sich auf und schaute nach. Der Heizungsschalter war auf die höchste Stufe gestellt. Die Heizung war einfach schwach. Sie musste ins Badezimmer laufen und dann gleich die Dusche aufdrehen und das Badezimmer mit dem Wasserdampf aufheizen. Dann konnte sie sich nicht im Spiegel sehen, aber wenigstens war es im Badezimmer dann angenehm. Angenehmer.

Aber sie fühlte sich wohl. Sie lag still. Ja. Sie fühlte sich wohl. Klar. Innen war alles klar. Diese Magenverstimmung oder was das gewesen war. Dieses Elend tief in der Mitte. Es war weg. Sie hatte Hunger. Sie würde heute frühstücken. Sie würde zu» Whole Foods «wandern und dort ein riesiges, gesundes Frühstück essen. Obstsaft. Porridge. Kaffee. Alles frisch und bio. Und dann in den Park. Und dann. Was dann.

Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Was sollte sie dann tun. Sie hatte in Wien sein wollen. Mit dem Mammerl zum Ausverkauf. Sie war aber gefangen. Gefangen in London. Die Marina hatte aus Italien nicht zurückkommen können. Wegen des Schnees. Kein Flugverkehr wegen des Schnees. Dabei war es nicht so viel. Hier. In der Stadt. Da lag Schnee nur noch auf den Grasflächen. Überall sonst war er vom Wind fortgeblasen oder geschmolzen. So kalt war es dann doch nicht. Es reichte nur dazu, dass dieses Zimmer eiskalt war. Sie zog die Decke bis zum Mund herauf. Drehte sich auf die Seite. Dann schlug sie die Decke weg und stand auf. Sie war taumelig und ging schnell zur Toilette. Sie musste auf den Gang hinaus und in das Badezimmer zwischen den beiden Zimmerchen. Sie gähnte noch an der Tür und wollte die zwei Schritte über den Gang machen. Sie blieb stehen. Musste stehen bleiben. Ein schneidendes Gefühl in der Scheide. Glatt. Schneidend. Ganz kurz. Dann war ihr Slip feucht, und es rann Blut den rechten Schenkel hinunter. Warm und klebrig. Sie raffte das Nachthemd zwischen die Beine und ging ins Badezimmer. Sie horchte noch, ob sie etwas von Melvin hörte. Sie versperrte die Tür hinter sich. Leise. Melvin nicht aufzuwecken. Sie stand da. Hielt mit der rechten Hand das Nachthemd zwischen die Beine. Es rann nicht mehr. Aber es war etwas Festes durch ihre Scheide gerutscht. Etwas Festes, das einen scharfen Rand haben musste. Nicht scharf genug für einen richtigen Schnitt. Aber scharf genug, in Erinnerung zu bleiben.

Sie stellte sich dann in die Dusche. Der Boden da noch kälter, und sie begann zu zittern. Im Badezimmer war es richtig kalt. Der kleine Heizkörper unter der Dachluke auf null gestellt. Sie konnte es von der Dusche aus sehen. Sie hatte gestern aufgedreht. Melvin musste wieder abgedreht haben. Wahrscheinlich hatte Melvin den strengen Auftrag, keinerlei Energiekosten zu verursachen. Sie musste ja auch in der Küche ganz unten bleiben. Alle übrigen Räume waren ungeheizt.

Sie zog das Nachthemd weg. Es war nicht so viel Blut. Sie versuchte zu glauben, dass das alles normal war. Der Versuch gelang nur kurz. Die Regel. Eine Menstruation. Menses. The Days. The Cycle. The Period. Der Besuch. Die Regelblutung. Monatsblutung. Blutung. Das war längst fällig gewesen. Sie hatte nicht genau gewusst, wann. Sie hatte nur gewusst, dass es ausgeblieben war. Sie hatte sich aber keine Sorgen gemacht. Sie hatte keinen Sex gehabt. Seit dem surfcamp im Sommer nicht mehr. Es konnte nichts sein, und sie hatte es genossen. Keine Verhütung. Keine Anstrengung. Kein Gedanke an das alles. Sex, das hatten alle anderen, und sie hatte sich abgewendet. Aber während sie das Nachthemd auseinanderfaltete und das Höschen hinunterzog. Das hier. Das war etwas anderes. Sie wusste nicht, was. Aber normal war da nichts. Das ließ sich nicht glauben. Sie ließ den Slip auf den Boden der Dusche gleiten und hockte sich auf den Rand der Duschtasse.

Es sah aus wie ein Stück Leber. Es war glattes Gewebe. Dunkelbraunrot. Glänzend. Und etwas hing weg. Sie hob dieses Ding auf. Beim Angreifen. Wie Leber. Es war warm und rutschig. Sie schaute genau. Dann war das Zittern zu stark. Sie musste wieder aufstehen. Sie wollte das Ding in die Toilette werfen. Sie hatte ein Handtuch zwischen die Beine geklemmt und stand vor der Toilette. Starrte in die Toilette. Dann nahm sie die Seifenschale vom Rand der Waschmuschel. Sie kippte die Seife in die Toilette. In der linken hielt sie das Ding. Vorsichtig. Auf der Handfläche. Sie konnte sich im Spiegel sehen. Ihre Haare wirr um den Kopf und die Schultern. Das graue Nachthemd vorne verballt und fleckig. Sie. Die linke Hand verdreht. Sie hielt die linke Hand ihrem Spiegelbild hin. Aber sie wusste nichts. Ihr war elend. Aber anders. Anders elend als in den letzten Wochen. Sie ließ Wasser über die Seifenschale rinnen. Die Seifenschale oval mit einem Blumenkränzchen am Rand. Blitzblaue Blümchen. Sie schaute dem Wasser zu, wie es sich in der Seifenschale fing und drehte und dann über den Rand davonrann. Das Wasser wurde dann heiß. Der Dampf in der kalten Luft. Stieg auf und begann, den Spiegel zu beschlagen. Sie drehte ab. Trocknete die Seifenschale mit einem Handtuch ab. Legte das Ding hinein. Sie ging in ihr Zimmer zurück. Stellte die Seifenschale mit dem Ding auf das Fensterbrett. Es gab sonst nichts, etwas abzustellen. Bett. Sessel. Kasten. Nicht einmal ein Nachtkästchen. Sie musste telefonieren. Sie musste mit jemandem reden. Sprechen. Beraten. Fragen. Sie nahm die Daunendecke um den Leib und lief hinunter. An Selinas Apartment vorbei die Stiegen hinunter. Marinas Schlafzimmer im nächsten Stockwerk. Marinas Studio. Noch ein Stockwerk tiefer. Sie riss die Tür auf. Es war warm hier. Hier war die Heizung voll aufgedreht. Sie ging an den Schreibtisch zum Telefon. Sie setzte sich in den breiten Chefsessel da. Die Tuchent rund um sich. Wen sollte sie anrufen. Sie fühlte Blut warm und klebrig zwischen den Beinen. Angst überfiel sie. Sie bekam keine Luft. Konnte sich nicht bewegen. Sie hätte nicht schreien können. Die Angst hämmerte in ihrem Kopf und in der Brust. Schlug gegen die Brust innen. Tobte bis in die Fingerspitzen. Sie starb. Sie war sicher. Wusste. Klar und eindeutig. Sie starb jetzt.

Der Schreibtisch stand an den französischen Fenstern zu Wellington Square. Die grünen Samtvorhänge mit Goldkordeln zusammengerafft. Draußen. Grau. Die Häuser gegenüber. Weiß. Alle gleich. Die Geländer an den Stufen zu den Türen. Goldglänzend. Die Türen. Schwarz und weiß. Die Säulen neben den Aufgängen. Weiß kanneliert. Und sie starb jetzt. Starb. Jetzt gerade. In diesem Augenblick. Und alles war still. Niemand da. Nicht einmal auf der Straße ein Mensch.

Sie zog das Telefon zu sich. Die Daunendecke rutschte davon. Sie zerrte sie wieder hinauf. Sammelte die Wärme um sich. Das Mammerl war nicht da. Oder hob nicht ab. Weil sie an der ID-Kennung gesehen hatte, dass Marina anrief, und sie nicht mit ihr reden wollte. Es kam aber auch kein Anrufbeantworter. Nichts. Nur der Anrufton aus Österreich. Ein schriller Ton. Ausklingend und dann Pause. Sie legte auf und wählte wieder. Der Onkel Schottola war sofort am Telefon, und sie solle sich beruhigen. Sie solle ruhig atmen. Er könne sie nicht verstehen, wenn sie so hastig redete. Wolle sie nicht erst weinen und ihn dann wieder anrufen. Oder wolle sie am Telefon weinen. Das sei doch sicherlich sehr teuer für sie, und dann konnte sie wenigstens sagen, dass sie vom Apparat der Aunt Marina anriefe und dass es sie nichts kosten würde.»Na dann. «sagte er, und sie solle sich Zeit lassen. Solange sie telefonieren könne, würde sie nicht sterben. Sie konnte Luft holen. Sie war gleich böse auf den Onkel Schottola. Es ginge ihr schlecht. Wirklich schlecht. Und nein. Sie wisse auch nicht, was los sei. Das sei jetzt schon länger so. Und nein. Sie tränke keinen Alkohol. Nein. Schon länger nicht. Ganz sicher. Aber sie verstand die Panik schon nicht mehr so gut, während sie mit ihrem Pflegevater sprach. Sie beklagte sich über London und dass sie eingesperrt wäre. Dass sie hier das Wochenende verbringen müsste. Dass das Schlafzimmer nicht geheizt wäre. Dass sie ein schlechtes Gewissen hätte. Weil sie Gino in Cham allein gelassen hätte und nicht da wäre, seine Mutter zu trösten. Dass Melvin kontrolliere, was sie im Haus von der Marina täte. Dass sie nur wegen dieser blöden Restitutionsangelegenheit nach London gekommen wäre, und was solle sie nun tun.

Der Onkel Schottola sagte, sie solle doch im Schlafzimmer von der Marina schlafen. Wenn die nicht da sei. Niemand müsse in einem kalten Zimmer übernachten. Das könne ihr dieser Melvin auch nicht verbieten. Sie solle sich etwas zum Essen besorgen und eine Flasche Wein und dann fernsehen. Natürlich wäre lesen noch besser, aber er wüsste ja, wie wenig sie das interessierte. Und ihn hätte dieses Victoria and Albert Museum sehr interessiert. Das wäre doch etwas für so einen Samstag allein. Ein Museum. Da könne man in Ruhe allein sein, und jeder fände es richtig. Er habe Leute in Museen allein immer beneidet, wenn er mit der Trude da gewesen wäre. Das habe nichts mit Trude zu tun. Es sei ihm immer cooler erschienen, da allein herumzugehen.

Sie saß in die Daunendecke gewickelt. Es blutete nicht weiter. Nicht sehr. Sie redete mit dem alten Mann. Er sei ja auch allein. Er ginge ins Spital und nähme einen kleinen Kuchen dahin mit. Die Trude habe ja Geburtstag. Aber keine Kerzen. Das sei verboten. Er habe einen kleinen, trockenen Kuchen besorgt. Das müsse reichen. Das mit den Geburtstagen. Auch ihr eigener. Das wäre ja alles die Angelegenheit der Trude gewesen. Da habe er keine gute Hand. Sie hatte den Geburtstag von der Tante Schottola vergessen gehabt. Sie wünschte alles Gute. Sie tat so, als wäre der Geburtstag von der Tante Schottola der eigentliche Grund des Anrufs. Sie käme, sobald es ginge. Irgendwann würde ja auch England mit dem Schnee fertig werden und wieder Flugzeuge starten lassen. Sie wollte nicht auflegen. Sie fragte ihn, was er denn als Abendessen haben werde. Was würde er denn essen, wenn er allein wäre. Ja, so wie es gewesen wäre, als sie noch im Haus gewesen war. So würde es nun nicht wieder sein. Wenn sie alle zu faul gewesen waren, etwas zu kochen, und zum Heurigen gegangen waren und sich mit Schweinsbraten vollgestopft hatten. Das könne er doch immer noch machen.»Kind. «sagte er.»Kind. «Sie hasste diese Sandra. Die Sandra hatte diese Personen verletzt. Die Sandra hatte diesen beiden Menschen nachgewiesen, dass sie alt waren und als Pflegeeltern nichts mehr taugten.»Kinderl. «sagte der Onkel Schottola. Es sei nun wirklich an der Zeit, dass sie Hermann und Trude zu ihnen beiden sagte. Dass sie nicht mehr Onkel und Tante Schottola sagen müsse. Sie sei jetzt eine Erwachsene. Er und seine Trude. Sie solle doch wirklich nicht mehr als das kleine Kind auftreten, das sie gewesen war, als sie zu ihnen gekommen sei.»Weißt du. Angesichts der Ereignisse der letzten Zeit. «sagte er. Er musste eine lange Pause machen. Er und die Trude hätten erst jetzt begriffen, was das für eine Leistung gewesen war, die sie da vollbracht habe. Vollbracht. Er sagte, vollbracht.

Sie lehnte sich in dem breiten Lederdrehsessel zurück. Im Haus war es vollkommen still. Von draußen Autos. Aber weit weg. Die Fenster schalldicht. Sie schob das Bronzepferd vorne auf dem Schreibtisch zur Seite. Und wieder zurück.

Er müsse aufhören, sagte der Onkel Schottola. Er müsse noch einkaufen. Milch und Brot. Er habe nichts zu Hause. Und dann wolle er den ganzen Nachmittag bei Trude bleiben. Sie habe heute keine Chemo, und er würde ihr vorlesen. Was er ihr denn vorläse, fragte sie.»Don Quixote. «antwortete er und lachte leise. Ob es ihr wieder gutginge. Und ja. Sie konnte das bejahen. Sie glaubte nicht mehr, dass sie sterben müsse. Das sagte sie aber nicht. Sie schickte ihm Bussis, und dann legten sie auf. Sie wusste jetzt auch, was das war. Sie hatte eine Fehlgeburt.

Das, was sie da in der Seifenschale auf das Fensterbrett in ihrem Zimmer oben gestellt hatte. Das musste eine Fehlgeburt sein. Es gab keine andere Erklärung. So, wie das aussah. Wie sich das angriff. Wie sie sich gefühlt hatte. Das Unmögliche war nur, dass sie mit niemandem geschlafen hatte. Seit dem August in Soulac-sur-Mer hatte es niemanden gegeben. Wenn sie davon schwanger gewesen wäre, dann wäre sie im 5. Monat gewesen, und das war nicht möglich. Sie hatte dazwischen die Regel gehabt. Oder doch. War das doch möglich, und sie würde in der nächsten Stunde einen Blutsturz haben und hier in diesem Haus verbluten. Sie hatte heute noch nichts von Melvin gehört. Der war gar nicht zurückgekommen. In der Nacht. Der feierte durch, und sie war allein. Ganz allein. Allein mit ihrem toten Kind. Schon während sie das zu denken begann. Während sie das Wort» totes Kind «zu denken anfing, musste sie den Kopf auf den Tisch legen. Sie legte die Arme auf den Schreibtisch und den Kopf auf die lederne Schreibunterlage. Sie lag so über den Tisch geworfen und fühlte die Kühle des Leders und die Kälte des Holzes gegen das Pulsieren ihres Blutes unter der Haut. Ihr totes Kind. Das Vorwerfen ihres Körpers hatte einen Schwall Blut austreten lassen. Sie musste zu einem Arzt. Sie musste versuchen, ob etwas zu retten war. Aber was sollte gerettet werden. Es konnte nichts geben. Es konnte kein Kind geben. Es konnte keine Schwangerschaft geben. Aber sie wusste es ganz genau. Während des Gesprächs mit dem Onkel Schottola. Während sie ihn über seine Wochenendpläne ausgefragt hatte. Während er über die Krankheit von der Tante Schottola geredet hatte. Es war aus sich heraus klargeworden. Das war eine Fehlgeburt. Ihr Körper wusste das ganz genau. Sie war unsicher. Es tat nichts weh. Jetzt nicht. Es war leer. Tief im Bauch war es leer. Ihre Wange lag auf dem Leder. Das Leder erwärmte sich, und sie begann zu schwitzen. Sie konnte spüren, wie ihre Haut feucht wurde und das Leder an der Haut zu kleben begann. Klebrig. Die Haut wurde klebrig. Die weitausgestreckten Arme. Das Holz blieb kalt. Unerträglich. Alles unerträglich. Warum war sie nicht gestorben. Sie wollte nicht weiter.

Es war dann, weil sie erstaunt war. Sie schüttelte den Kopf. Vor Staunen. Was ihr da geschah. Geschehen war. Geschehen würde. Das passierte ihr nicht. Das konnte ihr nicht passieren. So etwas passierte nicht. Ihr nicht. Und beim Schütteln blieb das Leder an der Wange kleben. Sie hob den Kopf. Die Schreibunterlage verrutschte. Papier kam zum Vorschein. Sie schob die Schreibunterlage zur Seite. Sie kannte den Briefkopf. Das war der Anwalt, der die Sammelklage organisiert hatte. Wegen dieser Sammelklage saß sie hier. In London. Weil die Marina ihre Unterschrift brauchte. Weil sonst der österreichische Staat nicht über die Rückgabe des Bilds weiterverhandeln würde. Wenn nicht alle Erben in einer Erbengemeinschaft zusammengefasst aufträten, dann würde es keine Restitutionsverhandlungen geben. Es sollten alle Forderungen gebündelt vertreten werden. Der Anwalt hatte sie mit Briefen verfolgt. Die Marina war sogar zum Mammerl nach Wien gekommen, und die hatte brav unterschrieben. Wie immer. Das Mammerl war der Marina noch nie gewachsen gewesen. Dabei war die Marina die jüngere Halbschwester. Um 15 Jahre jünger, aber trotzdem selber uralt. Sie hatte sich geweigert. Sie hatte sich geweigert, weil die Betsimammi nicht vertreten gewesen wäre. Sie hatte ihrer leiblichen Mutter die Treue gehalten. Ihretwegen konnte die ganze Geschichte mit diesem blöden Bild ins Wasser fallen. Wenn ihre Mutter nicht beteiligt war, dann war das nicht die vollständige Erbengemeinschaft, und das galt alles nicht. Das konnte alles nicht gelten. Aber da war ihre Unterschrift. Sie kannte diese Schrift. Krakelig, eckig. Elisabeth Armbruster, geborene Schreiber. Adresse. 1130 Wien, Auhofstraße 56.

Sie nahm die Papiere. Stapelte sie vorsichtig. Sie öffnete die einzelnen Laden. Sie fand keine Plastikmappe. Kuverts. Aber nur in der halben Größe. Sie faltete die Papiere und steckte sie in ein Kuvert. Sie schob die Schreibunterlage zurecht. Stand auf. Wischte den Sitz des Ledersessels mit der Daunendecke ab. Sie warf sich die Daunendecke über die Schultern und ging in ihr Zimmer. Die einzige freie Zeile war neben ihrem Namen. Sie war die Letzte, die von der Marina eingefangen werden musste.

Im nächsten Stockwerk. Sie stand auf dem dunkelrot-schwarzen Spannteppich und schaute die Stiegen hinauf. Sie rief nach Melvin. Sie schrie» Melvin«. Irgendjemand sollte da sein. Sie wollte ihn auch nur sehen. Sie wollte nur die Gewissheit, dass überhaupt noch jemand anderer existierte. Sie schrie noch einmal und löste wieder einen Schwall Blut aus. Das Blut lief die Beine hinunter. Tropfte auf den Teppich. Es kam keine Antwort. Melvin war nicht da. Es war niemand da. Sie ging in Marinas Schlafzimmer. Auch hier lief die Heizung. Sie ließ sich auf Marinas Bett fallen. In Marinas Schlafzimmer war alles golden und pfirsichfarben mit scharlachroten Akzenten. Sie ließ sich auf das Bett fallen. Auf die Daunendecke und stand dann schnell wieder auf. Sie ging in Marinas Ankleidezimmer und schaute sich um. Sie fand keine Binden oder Tampons. Das würde es bei Selina geben. Sie nahm ein Prada-Wochenendcase aus dem Kasten mit den Koffern und Taschen und einen hellgrauen Schal. Ein spinnwebfeines Gewebe.

Bei Selina versorgte sie sich mit allem. Sie duschte in Selinas Badezimmer. Türkis und dunkelblau. Sie zog ein Paul-Smith-Kleid an und nahm dunkelbraune Stiefel. Mantel. Die Mäntel von Marina und Selina waren alle zu madamig. Wirkten ältlich. Upperclass. Spießig. Sie stieg zu ihrem Zimmer hinauf. Stopfte ihre Sachen in die große Prada-Tasche. Sie rollte die Daunendecke zusammen. So klein es ging, und rammte sie in die Plastiktasche vom Flughafen München, in der sie die Handcreme aus dem duty free transportieren hatte müssen. Die Daunendecke passte nicht ganz hinein. Außerhalb der Plastiktasche sprang sie auf. Braunblutige Schmierer zeigten sich. Sie trug ihre Taschen. Nahm die zusammengerollte Daunendecke unter den Arm. Balancierte die Seifenschale und ging hinunter. Sie ließ alles im Salon zurück und ging in die Küche. Sie hielt die Seifenschale weit von sich weg.

In der Küche musste sie sich setzen. Die Seifenschale stand auf der Frühstückstheke am Fenster. Der Terrassenboden gleich vor der breiten Schiebetür nur noch am Rand feucht und Schneereste. Auf dem Rasenstück bis zur Hecke lag der Schnee nass glänzend und dünn. Spuren im Schnee. Kreuz und quer. Die Füchse.

Sie saß auf der schwarzgraufleckigen Steinplatte der Frühstückstheke am Fenster und schaute auf die Gärten hinaus. Weiß und schwarz. Der Schnee am Boden. Die nackten Äste der Bäume und Sträucher feucht glänzend. Es war nicht kalt genug. Der Schnee blieb nur auf den Rasenstücken liegen. Die schmalen Gärten. Immer ein kleines Rasenstück und Hecken rundherum. Bäume an der Mittelgrenze. Sie schaute hinaus. Sie wollte wissen, wo die Füchse wohnten. Die Füchse waren in der Nacht zu hören und ihre Schatten zu sehen, wenn sie über die Schneeflecken huschten. Die Füchse husteten. Sie hatte sich gefürchtet. Die ersten beiden Nächte. Dann hatte sie Melvin gefragt. Melvin hatte lachen müssen. Foxes. Das wären die Füchse. Ja. Das klänge, als huste ein Orchester von alten Männern da draußen. Am Tag war nichts zu sehen. Wo lebten die am Tag. Die Hecken waren schmal. Der Rasen glatt. Nirgends eine Ecke, die ein Versteck bot. Nirgends ein Schuppen, hinter dem Platz gewesen wäre. Hier kamen die Gärtner mit ihren Gartengeräten her. Hier war der Grund so teuer, dass niemand den Platz für einen Schuppen verschwendet hätte. Wo lebten also diese Füchse. Kamen die von anderswo hierher. Lebten die auf der Straße. Aber die Gärten dieses Blocks. Es gab nur eine Stelle, an der ein Garten an die Straße reichte. Von Woodfall Street gab es eine Möglichkeit. Sie war eigens um den Block gegangen, um das zu sehen. Kamen diese Füchse als Touristen in der Nacht in die Gärten und husteten da herum.

Ihr war elend gewesen. Wochenlang war ihr elend gewesen. Sie war schwer von diesem Elend gewesen. Sie hatte nie wieder aufstehen wollen und dieses Elend herumtragen. Sie hatte nur Kaffee trinken können und sich Alkohol gewünscht. Sie hatte sich die Schärfe von Whisky gewünscht. Dieses Elend im Leib durchzuschneiden. Whisky nippen. Am Fenster sitzend und in diese Gärten hinausstarrend hatte sie sich gewünscht, Whisky zu nippen und das Elend wegzudrücken und die Weinerlichkeit zu vertreiben. Und die Unruhe. Die Unruhe, die Arme und Beine flattern ließ, obwohl sich nichts bewegte. Die Unruhe hatte vom Bauch aus in den Kopf ausgestrahlt und in die Gliedmaßen. Im Kopf war die Unruhe auf die Weinerlichkeit getroffen und hatte sie stöhnen lassen. Sie war am Fenster gesessen und hatte hinausgestarrt und gestöhnt dabei. Den Whisky hatte sie nicht getrunken. Sie war zu schwer gewesen, hinunterzusteigen und eine Flasche aus dem Salon heraufzutragen. Melvin hätte das sicherlich für sie gemacht. Melvin erkundigte sich alle zwei Stunden, ob sie etwas bräuchte. Sie hatte nichts gebraucht. Und Melvin war ihr auf die Nerven gegangen.

Heute. Jetzt. Es war alles wieder klar. In ihr. Es war alles klar und eindeutig, und sie konnte wieder denken. Selbst das Unglück war scharf umrissen und schattenlos. Die Angst war ungenau geblieben. Aber die Angst war tief unten. Hinter allem. Und eigentlich war sie in der Angst. Sie bewegte sich in Angst. In diesem Haus war es nur besonders deutlich. Sie schaute auf die Fuchsspuren hinaus. Sie hätte sich mit einem Fuchs unterhalten wollen. Sie hätte einem Tiergesicht ihre Geschichte erzählen wollen. Einer Person. Einem Menschengesicht. Sie hatte es ja nicht einmal dem Onkel Schottola erzählen können. Das Ausmaß war zu groß. Oben. In der Brust oben. Da, wo sie noch empfinden konnte. Da war das Wissen ausgebreitet, dass diese Geschichte nicht erzählt werden konnte. Nicht das, was sie von dieser Geschichte selber wusste. Und schon gar nicht, was sie vermuten musste, das geschehen war und woraus sich die Folgen ergeben hatten, mit denen sie. Sie dachte nach. Kämpfte sie mit den Folgen. War das kämpfen. Es schien ihr mehr, dass sie entlanggeführt, wurde. Sie wurde die Folgen entlanggeführt und sie konnte nicht sehen, wer das war, der sie führte. Weil diese Person in ihr innen war. Innen in ihr gewesen war. Das war ja nun nicht mehr so. Sie war leer. Ausgeleert. Und anstelle der Schwangerschaft hatte sie die Adresse ihrer leiblichen Mutter, von der sie angenommen hatte. Alle hatten sie in dem Glauben gelassen. Alle hatten genickt und bejaht. Ihre Mutter lebte in Amsterdam. Sie war Künstlerin und ging in die coffee shops. Sie war eine Künstlerin wie die Urgroßmutter und behandelte ihre Kinder wie die Urgroßmutter. Sie ließ ihre Kinder von anderen aufziehen und lud sie zu den Ferien zu sich ein. Sie war nie eingeladen worden. Sie hatte drei Briefe von ihrer Mutter, und weil die aus Amsterdam waren, hatte sie angenommen, dass. Aber das war alles zu viel. Ein stechender Schmerz im Unterleib.

Sie suchte in den Schubladen. Sie fand dann eine flache Glasdose mit Plastikdeckel. Zum Aufbewahren von Schinken im Eiskasten. Oder Käse. Geschnittener Käse.

Sie ließ das Ding in diese Glasdose gleiten. Sie rammte die Seifenschale zur Daunendecke in den Plastiksack. Warf das alles in einen riesigen Müllsack aus wasserblauem Plastik. Glänzend. Sie verknotete den Müllsack. Sie öffnete die Sicherung an der Glastür zur Terrasse. Das war eine Einladung an die Einbrecher. Sie wünschte sich, dass jemand einbrechen würde. Am liebsten solche, die in den Häusern wüteten. Die Fäkalien über alles schmierten. Die alles zerschnitten. Die alles zerschlugen. Die Sammlung von Jugendstilvasen. Das kostbare Glasservice. Die Lobmeyr-Gläser. Alles, alles Scherben und ein scharf bitterer Geruch. Und vielleicht kamen dann die Füchse ins Haus und wohnten da. Vielleicht wohnten die Füchse in solchen Häusern wie diesem hier. Die Aunt Marina. Sie war doch fast nie da. Das Haus in Italien. Das Haus in Los Angeles. Der Mann in Stockholm. Töchterchen Selina auf St. Andrews. Studierte. Oder so. Sie nahm die Glasdose und den Müllsack.

Sie ging noch einmal zurück und öffnete die Tür zur Terrasse hinaus. Einen schmalen Spaltbreit ließ sie die Tür offen stehen. Sie wollte nicht feig vor sich dastehen. Dass sie wieder zu höflich gewesen wäre. Das musste Rache sein. Wenn die Marina so einen Fuchs in ihrer Designerküche antreffen würde. Sie stieg zum Salon hinauf. Sammelte ihre Sachen ein. Im Vorzimmer zog sie dann doch ihren alten Dufflecoat an. Sollte sie die Schlüssel zurücklassen oder mitnehmen. Was würde denen mehr Sorge machen. Dass sie in London verloren herumirrte oder dass sie den Schlüssel zum Haus hatte und sie das Schloss ändern mussten, weil sie nicht wussten, wo sie war und was sie vorhatte. Sie steckte den Schlüssel ein. Die Marina würde ohnehin immer glauben, dass sie mit einem Mann zusammen war. Weil die Marina sich das selber wünschte. Sie ging. Sie ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Aber sie versperrte die Tür nicht.

In der underground. Sie fuhr nach Euston Square. Sie hatte oft genug das Spital gezeigt bekommen, in dem ihre Urgroßmutter gestorben war. In dem die Gebärmutter ihrer Urgroßmutter in den Sondermüll geworfen worden war. Es war dann trotzdem nicht genug herausgeschnitten gewesen, und die Metastasen hatten sie noch gelähmt. Vor dem Sterben. Zum Sterben war sie aber in ihr Haus in Golders Green gegangen. Gestorben war sie da nicht. In diesem Spital. Und das hinter Marinas Haus. Royal Hospital. Royal. Das brauchte sie nicht. Das hatte sie auf der Moira House Girls School gelernt. Dazu war sie nicht gestört genug. Sie saß in der Circle Line. Sie war zu Sloane Square geeilt. Schnee war nur noch rund um die wenigen Bäumchen auf King’s Road gelegen. Sonst alles nass und kalt. Mit dieser Kälte, die an die Haut kroch und sich unter der Kleidung einnistete. Sie hätte einen Pelzmantel von Marina anziehen sollen. Aber sie hatte keinen gesehen. Wahrscheinlich waren die beim Pelzhändler und hingen in einem Kühlschrank. Oder sie waren alle mit in Italien. In Italien konnte man ja Pelze tragen. Da waren alle von Pelzen begeistert. In London gab es doch immer noch Widerstand, und es wurde mit Farbbeuteln auf Pelze gezielt. Unter dieser konservativen Regierung verhaftete einen die Polizei sicherlich gleich. Wenn man nur in die Nähe von Pelzen kam und einen Plastikbeutel in der Hand trug, wurde man abgeführt. So einen Plastiksack, wie sie neben sich liegen hatte. Wo sollte sie den loswerden. Es gab nirgends Papierkörbe oder Mülltonnen. Nirgends. Wenn sie diesen Sack stehen ließ, wurde sie von einer Kamera sicherlich gefilmt. Sie sah aus wie eine bag lady. Mit diesem Zeug in der Hand. Sie sah sich um. Sie saß allein auf der Bank. Gegenüber ein Paar. Sie hatten Kaffee von» McDonald’s «in der Hand. Sie schauten vor sich hin. Ließen sich schaukeln. Wie spät war es eigentlich. Sie wusste nicht, wie spät es war. Sie hatte das Aufladekabel für ihr handy vergessen, und Uhr trug sie keine. In der underground station. Sie hatte sich nicht umgesehen. Sie versuchte, einen Blick auf die Uhr des Mannes zu werfen. Sie wünschte sich ihr snowboard und einen Hang und lockeren Naturschnee und sonst nichts. Sie sah sich boarden. Weiche lange Bögen. Die Hüften. Das Genick. Die Schultern. Alles gefasst. Alles bereit zu springen und easy. Den Bogen vom Boden in die Luft hinaufziehen und in der Leichtigkeit da den Umschwung. Dann der nächste Hügel.

Sie fuhren zwischen hohen Mauern. Abgebröckelte Ziegelmauern. Drähte und Rohre die Strecke entlang. Die Rohre mürbe und löchrig. Die Drähte rissig. Abgerissen. Und alles schmutzig. Das Paar auf der Bank gegenüber hatte zu schmusen begonnen. Der Ärmel der Daunenjacke des Manns war dabei zurückgeschoben. Er hielt aber den Becher mit dem Kaffee in der Hand. Sein Handgelenk war verdreht, und sie konnte nur das Armband der Rolex sehen. Sie wurde wütend. Sie war mit einem Mal so wütend. Sie hätte diesem Mann seinen Kaffee ins Gesicht schütten mögen und auf ihn eindreschen. Mit dem Plastiksack und der Seifenschale drinnen. Immer und immer wieder. Dreschen.

Sie stand auf und wartete im Stehen auf Euston Square. Sie hielt den Plastiksack an sich gepresst. Die Taschen über die Schultern. Sie kramte ihre oyster card aus der Seitentasche ihrer Handtasche. Wann kam diese Station. Sie musste hier hinaus. Wieder fuhr der Zug solche kaputte Leitungen entlang. Die Kunststoffschienen, hinter denen die Kabel geführt wurden. Sie waren zerbrochen und abgefallen. Die Kabel dahinter schmutzverklebt. Klebriger Dreck. Aus vielen Jahreszeiten. Die Frau auf der Bank kicherte. Sie hatte Kaffee auf den Boden verschüttet. Sie fuhren in Euston Square ein, und sie flüchtete aus dem Zug.

Oben dann. Auf der Straße. Das Spital war ausgeschildert. Angeschrieben. Sie musste nur den Schildern folgen. Kleine Schilder waren das. Diskrete Schilder. Sie ging. Das Gehen leicht. Im Gegensatz. Es war unleicht gewesen. Die letzten Tage und Wochen. Es war eine drückende Unleichtigkeit gewesen. So war das also. Sie konnte nur mit diesem Gehen denken. Entlanggehen. Sie konnte sich nicht hineindenken. In den Inhalt. So wurde gegangen. In diesem Zustand. Taschen. Nicht schwer. Es durfte nichts zu schwer sein. Langsam. Jedenfalls nicht schnell. Sie hätte jetzt wieder laufen können. Sogar hüpfen. Sie hatte einen Tampon in sich hinaufgestopft und eine dicke Nachtbinde. Für die ersten Tage, war auf der Packung gestanden. Sie sprang aber nicht. Sie lief nicht. Sie hielt dem Zustand der letzten Tage und Wochen die Treue. So konnte sie es auch besser glauben. Sie spürte die gläserne Aufbewahrungsbox zwischen ihrem Oberarm und dem Körper. Es war alles außerhalb. Und es tat nichts weh. Obwohl das kommen musste.

Sie ging im Strom über die Straßen. Bog in der Richtung der maternity clinic ein. Es war ein schöner Tag geworden. Oder hier. In diesem Teil von London war das Wetter schön. Sonne. Vom Schnee fast nichts mehr. Die Frauen trugen Hüte und Mützen gegen den Wind. Sie ging und konnte sich sehen. Wie sie beim Gehen auf und ab wippte. Wie sie zielsicher nach vorne strebte. Sie sah sich verlangsamt. Sie wurde langsamer. Sie musste einbiegen. Sie glaubte, die Kurve nicht gehen zu können. Sie musste nach rechts einbiegen, und sie hatte das Gefühl, ihre Füße rutschten nach links davon. Als wäre sie zu schnell gelaufen. Pferden passierte das, und in der Sportschau konnte man das dann in Zeitlupe sehen. Wie die 4 Beine des Pferds elegant aneinandergelegt über den Boden schlitterten und dann das schwere Tier auf dem Boden diesen Beinen nachglitt.

Es war aber nur ein leichter Schwindelanfall. Sie hätte wenigstens Wasser trinken sollen. Die Tür zur Klinik war klein. Lächerlich klein. Ein Mauseloch, dachte sie. Ein Mauseloch zu diesem riesig hohen Gebäude. Grüne Fensterscheiben. UCL in Goldbuchstaben auf den Gleittüren. Ein niedriger Gang. Sie ging auf die Rezeption zu. Ein Paar überholte sie. Der Mann schob sie zur Seite. Er trug eine schwere Tasche. Die Frau humpelte ihm nach.»Third floor. «sagte der Mann hinter der Glasscheibe. Die Frau atmete hechelnd. Schweiß auf der Stirn. Der Mann schaute sich suchend um. Die Frau deutete um die Ecke und ging voraus. Der Mann hinter der Glasscheibe schaute sie fragend an.»Miscarriage. «sagte sie.»First floor. «antwortete er. Sie ging der schwangeren Frau nach. Die verschwanden gerade in einem Lift. Sie ging langsamer. Sie wollte nicht mit denen im Lift fahren. Sie wartete. Lange. Dann musste sie mit einer Familie aus einem asiatischen Land den Lift teilen. Sie stieg vor ihnen aus. Sie musste an einer Tür läuten. Es kam niemand. Sie läutete wieder. Sie läutete Sturm. Sie stand vor der beigegelben Doppeltür und schlug dann mit der Faust gegen die Tür. Es geschah aber nichts. Sie lehnte sich gegen die Tür. Lehnte mit dem Rücken dagegen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte bis hierher gedacht. Was jetzt geschehen sollte. Sie hatte keine Ahnung. Sie ließ sich zu Boden rutschen. Sie saß mit dem Rücken gegen die Tür auf dem Boden. Die Beine lang ausgestreckt vor sich. Die Scheide in die Binde gepresst. Ein Ziehen hatte begonnen. Ein ziehender, zerrender Schmerz. Aber leise. Es kam ihr der Gedanke, dass sie jetzt zu weinen beginnen sollte. Dürfte. Dass das jetzt eine Gelegenheit war, bei der sie sich das gestatten sollte. Da fiel sie nach hinten in die Station. Die Tür war aufgemacht worden. Sie lag zu Füßen eines jungen Mannes. Der schaute auf sie hinunter. Was sie da mache. Sie blieb liegen und fragte, wer er wäre. Er sei der diensthabende Arzt hier. Dann wäre sie ja richtig, sagte sie. Sie brauche Hilfe.

Es kam dann eine Krankenschwester. Der Arzt rief in den Gang hinter sich, und eine Krankenschwester kam. Nach langem. Eine Afrikanerin beugte sich über sie. Ob sie aufstehen könne. Sie rappelte sich auf und ging hinter der Frau her. Sie sollte sich setzen. Ein Warteraum. Niedrige Decken. Alles beigegelb gefärbt. Die Sessel. Die Wände. Die Decken. Die Türen. Die Türschnallen. Sie hörte Lachen. Die Krankenschwester ging in einen Raum nach rechts. Das Gelächter kam von da. Frauenstimmen. Sie saß und wartete.

Sie wartete. Es gab kein Fenster in dem Raum. Nur Wände. Helles Licht, aber kein Tageslicht. In dem Raum nach rechts wurde geredet. Das Lachen schwoll an. Ebbte ab.»Happy Birthday «wurde gesungen. Applaus. Geschrei. Gläsergeklingel. Sie wartete. Sie fand Tränen auf ihre Hände tropfen. Sie schien zu weinen. Sie wusste es aber nicht so genau. Sie wartete.

Eine sehr junge Frau kam aus dem Zimmer. Sie lachte noch. Sie drückte einen Schalter neben der Tür. Es wurde heller auf dem Gang. Ob sie ihre NHS card habe. Sie wandte sich dieser Frau zu. Sie käme aus Wien. Sie habe eine Gesundheitskarte von da. Die Frau runzelte die Stirn. Warum sie denn hier sei. Sie holte die Glasdose aus der Tasche. Die Frau kam zu ihr und schaute kurz. Sie hob die Dose und schaute von unten das Ding da an. Sie brummelte. Sie nahm ihre e-card. Dann verschwand die Frau, und sie wartete. Die Frau kam wieder. Stellte ihr einen Papierbecher hin. Eine Urinprobe war verlangt. Woher wusste sie das. Sie folgte den Hinweisschildern. Alles war in Piktogrammen vorgeschrieben. Sie brachte das Becherchen zurück. Wartete.

Eine andere Frau kam aus dem Zimmer. Sie deutete ihr, mit ihr zu kommen. Sie stand auf. Sie schwankte. Dann ging es aber. Sie gingen den Gang hinunter. Dann in ein Zimmer mit einer großen Ziffer 3 auf der Tür. Sie musste sich ausziehen und auf ein Untersuchungsbett legen. Die Frau zog sich Gummihandschuhe an.

Das Ultraschallgerät summte leicht. Die Krankenschwester schaute auf den Bildschirm. Sie fuhr ihr über den Bauch. Führte das Gerät in ihre Scheide ein. Sie schüttelte den Kopf. Wiederholte das Ganze. Schüttelte den Kopf. Dann setzte sie sich an einen Computer. Sie solle sich anziehen und warten. Dann ging die Krankenschwester hinaus. Sie wartete dann wieder vorne. Sie setzte sich vor die Tür zu dem Zimmer, in dem gelacht wurde. Sie hatte Angst, vergessen zu werden, wenn sie nicht im Blickfeld dieser Personen blieb. Der junge Mann kam vorbei. Sie wartete.

Dann eine Ansage. Ms. Schreiber. Room one. Sie verstand erst beim dritten Mal, dass sie gemeint war. In room one saß der junge Mann. In der Ecke hing ein Riesenbildschirm. Ein Ultraschallbild auf dem Bildschirm. Der Mann stand auf und deutete ihr, sich auf den Sessel vor dem Schreibtisch zu setzen. Sie habe einen positiven Schwangerschaftstest. Das da. Er deutete auf den Bildschirm. Das sei ein Ultraschallbild ihrer Gebärmutter. Es gäbe kein Anzeichen eines Lebens. Auch die intravaginalen Aufnahmen zeigten kein Leben. Sie holte die Dose aus der Tasche. Er wehrte ab. Diese Aufnahmen wären Dokumentation genug. Sie solle jetzt nach Hause gehen. In diesem Land würde man jetzt nichts unternehmen. Sie sei ja eine gesunde junge Frau. Die Natur würde das selbst erledigen. Sie solle sich Schmerzmittel besorgen und, nachdem alles abgegangen sei, ihren Gynäkologen aufsuchen.

Der Mann stand auf. Sie blieb sitzen. Sie konnte sich nicht bewegen. Der Mann schob seine Krawatte zurecht. Er könne nichts sonst für sie tun, sagte er. Sie stand auf. Sie konnte ihr Gewicht kaum in die Höhe ziehen. Ihre Knie waren weich und schnappten zu schnell nach hinten. Sie fiel fast nach vorne. Der Mann ging zur Tür voraus. Ob man an dem, was sie da habe. Sie hob die Glasdose in die Höhe. Ob man an dem die DNA des Vaters des Kindes feststellen könne.»Certainly. «sagte der Mann desinteressiert. Das müsse sie aber privat bezahlen. Das übernähme der NHS nicht. Er machte ihr die Tür auf. Er lächelte sie an. Sie ging. Der junge Arzt verschloss die Tür hinter ihr und überholte sie auf dem Weg hinaus. Er drückte auf die Knöpfe des Lifts. Dann lief er zu einer anderen Tür und verschwand. Sie konnte das Schleifen seiner Schuhe auf den Stiegen hinunter hören. Den Müllsack ließ sie dann im Lift zurück.

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