Zehntes Kapitel

I

Superintendent Harper betrachtete den verkohlten Blechhaufen. Ein ausgebranntes Auto war immer etwas Abstoßendes, auch ohne die grausige Fracht einer schwarz verkohlten Leiche.

Venn’s Quarry lag weit abseits jeder menschlichen Behausung. Von Danemouth waren es zwar nicht mehr als zwei Meilen Luftlinie, aber man gelangte nur über ein gewundenes, von tiefen Wagenspuren durchzogenes Sträßchen dorthin, wenig mehr als ein Feldweg, der an dem seit langer Zeit stillgelegten Steinbruch endete. Die Einzigen, die hin und wieder hierher kamen, waren Brombeerpflücker. Es war der ideale Ort, um einen Wagen loszuwerden. Das Auto wäre wochenlang unentdeckt geblieben, wenn nicht zufällig der Landarbeiter Albert Briggs auf seinem Weg zur Arbeit den Feuerschein gesehen hätte.

Albert Briggs war noch an Ort und Stelle, obwohl alles, was er zu sagen hatte, längst festgehalten worden war. Er schmückte die atemberaubende Geschichte mit immer neuen Details aus.

«Ich denk, ich seh nicht recht, was ist denn das? Richtig geleuchtet hat das am Himmel droben. Da macht wohl jemand ein Kartoffelfeuer, sag ich mir, aber wer macht schon drüben in Venn’s Quarry ein Kartoffelfeuer? Nein, sag ich, keine Frage, das ist ein richtig großes Feuer. Aber was kann da brennen, frag ich mich. Da in der Gegend gibt’s doch überhaupt kein Haus und keinen Hof. Das ist im Steinbruch, sag ich, ja, da ist es, keine Frage. Hab erst mal nicht gewusst, was tun, aber da ist Constable Gregg gekommen, mit dem Fahrrad, und dem hab ich’s erzählt. Gebrannt hat da schon nichts mehr, aber ich hab ihm gezeigt, wo er hinmuss. Da drüben, sag ich, riesiger Feuerschein, sag ich. Ein Heuschober wahrscheinlich, sag ich. Den hat bestimmt ein Landstreicher in Brand gesteckt. Aber dass es ein Auto ist, das hätt ich nie gedacht, und erst recht nicht, dass da jemand drin verbrennt, bei lebendigem Leibe. Furchtbare Tragödie das Ganze, keine Frage.»

Die Polizei von Glenshire war nicht untätig gewesen. Fotoapparate hatten geklickt, und die Lage der verkohlten Leiche war genau registriert worden, bevor der Polizeiarzt mit seinen Untersuchungen begonnen hatte.

Der Arzt, die Lippen grimmig zusammengepresst, trat jetzt zu Harper und klopfte sich die schwarze Asche von den Händen.

«Gründliche Arbeit», sagte er. «Alles verbrannt, bis auf Reste von einem Fuß und einem Schuh. Könnte im Moment selbst nicht sagen, ob es ein Mann oder eine Frau war, aber da werden die Knochen Aufschluss geben. Der Schuh ist so ein schwarzer Spangenschuh, wie ihn Schulmädchen tragen.»

«In der Nachbargrafschaft wird eine Schülerin vermisst», sagte Harper, «gar nicht weit von hier. Eine Sechzehnjährige.»

«Das wird sie sein. Das arme Mädchen.»

«Sie war doch hoffentlich nicht mehr am Leben, als…?», fragte Harper beklommen.

«Nein, nein, ich glaube nicht. Keine Hinweise darauf, dass sie versucht hätte herauszukommen. Die Leiche ist auf den Sitz geworfen worden, nur der Fuß hing heraus. Ich würde sagen, sie war schon vorher tot. Dann ist der Wagen angezündet worden, um die Spuren zu verwischen.»

Er schwieg einen Moment und fragte dann: «Brauchen Sie mich noch?»

«Ich denke nicht, vielen Dank.»

«Gut, dann mach ich mich mal wieder auf den Weg.»

Er ging zu seinem Wagen. Harper trat zu einem seiner Beamten, einem Experten für Autounfälle.

«Ganz klarer Fall, Sir.» Der Polizist sah zu ihm auf. «Der Wagen ist mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt worden. In der Hecke dahinten liegen drei leere Kanister.»

Etwas weiter entfernt sortierte ein anderer Polizist sorgfältig kleine, aus dem Wrack geborgene Gegenstände. Ein angesengter schwarzer Lederschuh lag da, daneben kleine Stücke eines ebenfalls angesengten, geschwärzten Materials. Als Harper herankam, blickte sein Untergebener auf und rief: «Sehen Sie sich das an, Sir. Ich glaube, das sagt alles.»

Harper nahm einen der Gegenstände in die Hand.

«Ein Knopf von einer Pfadfinderuniform?», fragte er.

«Ja, Sir.»

«Das sagt allerdings alles.»

Harper, ein warmherziger, liebenswürdiger Mann, verspürte eine leichte Übelkeit. Erst Ruby Keene und jetzt Pamela Reeves, fast noch ein Kind. Wie schon einmal sagte er zu sich selbst: «Was ist denn nur auf einmal los in Glenshire?»

Er musste nun zunächst seinen eigenen Vorgesetzten anrufen und sich dann mit Colonel Melchett in Verbindung setzen, denn Pamela Reeves’ Leiche war zwar in Glenshire gefunden worden, aber verschwunden war das Mädchen in Radfordshire.

Was ihm danach bevorstand, war keine angenehme Aufgabe. Er musste Pamela Reeves’ Eltern die Nachricht überbringen…


II

Superintendent Harper klingelte an der Haustür und sah dann nachdenklich an der Fassade von Braeside hoch.

Eine schmucke kleine Villa mit einem hübschen, gut einen halben Hektar großen Garten, eines jener Häuser, wie sie in den letzten zwanzig Jahren überall auf dem Land gebaut worden waren. Pensionierte Militärs, Staatsbeamte im Ruhestand und dergleichen, nette, anständige Leute, denen man allenfalls nachsagen konnte, dass sie ein wenig langweilig waren. Steckten in die Erziehung ihrer Kinder, was sie nur immer erübrigen konnten. Nicht der Typ, den man mit Tragödien in Verbindung bringt. Und jetzt war die Tragödie da. Harper seufzte.

Er wurde sogleich in ein Wohnzimmer geführt, in dem ein steif wirkender Mann mit grauem Schnurrbart und eine Frau mit rot verweinten Augen aufsprangen.

«Haben Sie etwas von Pamela gehört?», fragte Mrs. Reeves ängstlich. Unter Superintendent Harpers mitfühlendem Blick prallte sie wie von einem Schlag getroffen zurück.

«Ich habe leider schlechte Nachrichten für Sie.»

«Pamela…» Die Frau brach ab.

«Ist dem Kind – etwas zugestoßen?», fragte Major Reeves in scharfem Ton.

«Ja, Sir.»

«Heißt das, sie ist tot?»

«Nein! Nein!» Mrs. Reeves brach in hemmungsloses Schluchzen aus. Major Reeves legte den Arm um seine Frau und zog sie an sich. Seine Lippen zitterten, aber er sah Harper fragend an. Der Superintendent senkte den Kopf.

«Ein Unfall?»

«Nicht direkt, Major Reeves. Sie wurde in einem ausgebrannten Auto gefunden, in einem Steinbruch.»

«In einem Auto? In einem Steinbruch?»

Entsetzen malte sich auf seinen Zügen. Mrs. Reeves brach vollends zusammen und sank laut schluchzend auf das Sofa.

«Ich kann gern einen Moment warten, wenn Sie möchten», sagte Superintendent Harper.

«Was soll das heißen?», fragte Major Reeves schneidend. «Besteht Verdacht auf einen gewaltsamen Tod?»

«Es sieht so aus, Sir. Deswegen würde ich Ihnen gern einige Fragen stellen, wenn es nicht allzu belastend für Sie ist.»

«Nein, nein, fragen Sie nur. Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann darf man keine Zeit verlieren. Aber ich kann es gar nicht glauben. Wer sollte denn einem Kind wie Pamela etwas antun?»

«Die Umstände des Verschwindens Ihrer Tochter haben Sie der hiesigen Polizei ja bereits geschildert», sagte Superintendent Harper schwerfällig. «Sie ist zu einem Pfadfinderinnentreffen gefahren und sollte zum Abendessen wieder zurück sein. Ist das richtig?»

«Ja.»

«Wollte sie mit dem Bus heimfahren?»

«Ja.»

«Nach Aussagen der anderen Pfadfinderinnen wollte sie nach dem Treffen noch nach Danemouth zu Woolworth und einen späteren Bus nehmen. Wäre das in Ihren Augen ein normales Verhalten gewesen?»

«Ja, durchaus, Pamela ging sehr gern zu Woolworth. Sie hat oft in Danemouth eingekauft. Die Bushaltestelle ist an der Hauptstraße, nur etwa eine Viertelmeile von hier entfernt.»

«Und Sie wissen nicht, ob sie sonst noch etwas vorhatte?»

«Nein.»

«Auch nicht, ob sie sich in Danemouth mit jemandem treffen wollte?»

«Nein, ganz bestimmt nicht, das hätte sie uns gesagt. Wir haben sie zum Abendessen zurückerwartet. Deswegen haben wir auch bei der Polizei angerufen, als es immer später wurde und sie nicht kam. Es war so gar nicht ihre Art, einfach auszubleiben.»

«Und sie hatte auch keinen schlechten Umgang, Freunde, die Sie nicht akzeptieren konnten?»

«Nein, da hat es nie irgendwelche Probleme gegeben.»

«Pam war noch ziemlich kindlich für ihr Alter», sagte Mrs. Reeves tränenüberströmt, «hat noch so gern gespielt. Sie war in keiner Weise frühreif.»

«Kennen Sie einen George Bartlett, der im Hotel Majestic in Danemouth wohnt?»

Major Reeves sah ihn groß an. «Nie gehört.»

«Könnte es sein, dass Ihre Tochter ihn gekannt hat?»

«Ganz sicher nicht. Was hat der Mann damit zu tun?», fragte er scharf.

«Ihm gehört der Minoan 14, in dem die Leiche Ihrer Tochter gefunden wurde.»

«Aber dann muss er doch…!», rief Mrs. Reeves.

«Er hat uns heute Morgen gesagt, dass sein Auto verschwunden ist», fuhr Harper rasch fort. «Gestern um die Mittagszeit stand es noch im Hof des Majestic. Jeder hätte es nehmen können.»

«Aber hat denn niemand gesehen, wer damit weggefahren ist?»

Der Superintendent schüttelte den Kopf.

«Dort fahren den ganzen Tag Dutzende von Wagen ein und aus. Und der Minoan 14 ist der häufigste Typ.»

«Aber so tun Sie doch etwas!», rief Mrs. Reeves. «Finden Sie den, den – diese Bestie, die das getan hat! Mein kleines Mädchen, ach, mein kleines Mädchen! Sie ist doch nicht bei lebendigem Leibe verbrannt? O Pam, Pam!»

«Sie hat nicht gelitten, Mrs. Reeves. Ich kann Ihnen versichern, dass Sie schon tot war, als der Wagen in Brand gesteckt wurde.»

«Wie wurde sie getötet?», fragte Major Reeves steif.

Harper warf ihm einen viel sagenden Blick zu.

«Das wissen wir nicht. Das Feuer hat alle Spuren vernichtet.»

Er wandte sich der verzweifelten Frau auf dem Sofa zu.

«Glauben Sie mir, Mrs. Reeves, wir tun alles, was in unserer Macht steht. Die Ermittlungen laufen noch. Früher oder später werden wir jemanden finden, der Ihre Tochter gestern in Danemouth gesehen hat und der auch gesehen hat, mit wem sie zusammen war. Aber das braucht seine Zeit, verstehen Sie? Wir werden Dutzende, Hunderte von Hinweisen bekommen. Alle möglichen Leute werden eine Pfadfinderin gesehen haben – hier, dort, überall. Das alles muss mit viel Geduld überprüft und gesichtet werden. Aber keine Sorge, am Ende werden wir die Wahrheit finden.»

«Wo – wo ist sie?», fragte Mrs. Reeves. «Kann ich zu ihr?»

Wieder wechselte Superintendent Harper einen Blick mit ihrem Mann.

«Der Amtsarzt kümmert sich um alles. Ich würde vorschlagen, Ihr Mann kommt jetzt mit mir und erledigt die Formalitäten. Versuchen Sie sich bitte in der Zwischenzeit an alles zu erinnern, was Pamela gesagt hat. Vielleicht gab es etwas, das Sie nicht weiter beachtet haben, das aber Licht in die Sache bringen kann. Sie wissen schon: ein beiläufiges Wort, ein Satz… Damit würden Sie uns sehr helfen.»

Auf dem Weg zur Tür zeigte Reeves auf eine Fotografie und sagte: «Das ist sie.»

Harper betrachtete das Bild aufmerksam. Es zeigte ein Mädchen mit Zöpfen und ernstem Gesicht inmitten einer Gruppe von Hockeyspielerinnen. Ein nettes Kind, dachte er. Bei dem Gedanken an die verkohlte Leiche wurde sein Mund zu einem schmalen Strich, und er schwor sich, dass der Mord an Pamela Reeves nicht in die Reihen der ungelösten Rätsel Glenshires eingehen würde. Ruby Keene, so seine persönliche Meinung, mochte ihr Schicksal herausgefordert haben, bei Pamela Reeves lagen die Dinge völlig anders. Ein nettes Kind, wie er nur je eines gesehen hatte. Er würde nicht ruhen, bis er ihren Mörder zur Strecke gebracht hatte.




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