Elftes Kapitel

I

Einige Tage später saßen sich Colonel Melchett und Superintendent Harper an Harpers großem Schreibtisch gegenüber. Der Superintendent war nach Much Benham gekommen, um sich mit Melchett zu beraten.

«Tja», sagte Melchett, «wir wissen, wo wir stehen – oder besser, wo wir nicht stehen!»

«Letzteres trifft es wohl genauer, Sir.»

«Wir haben zwei Tote in Betracht zu ziehen. Zwei Morde. Ruby Keene und das Kind Pamela Reeves. Bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, das arme Mädchen, aber der Vater hat den Schuh einwandfrei identifiziert, und dann ist da noch der Knopf von ihrer Pfadfinderuniform. Vertrackte Sache, Superintendent.»

«Da haben Sie Recht, Sir», sagte Superintendent Harper leise.

«Nur gut, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits tot war, als der Wagen in Brand gesteckt wurde. Dafür spricht ihre Position quer über dem Sitz. Vermutlich ein Schlag auf den Kopf. Das arme Kind.»

«Oder sie ist erwürgt worden», sagte Harper.

Melchett sah ihn durchdringend an. «Meinen Sie?»

«Nun ja, Sir, solche Mörder gibt es.»

«Ich weiß. Ich war bei den Eltern – die Mutter ist völlig verzweifelt. Verdammt schmerzhaft, die ganze Sache. Der Punkt, den wir zu klären haben: Besteht zwischen den beiden Morden ein Zusammenhang?»

«Auf jeden Fall, würde ich sagen.»

«Ich auch.»

Der Superintendent zählte die Argumente an den Fingern auf: «Pamela Reeves war bei einem Pfadfinderinnentreffen in den Danebury Downs. War nach Aussagen ihrer Kameradinnen in ganz normaler, guter Stimmung. Hat danach nicht, wie geplant, mit dreien von ihnen den Bus nach Medchester genommen. Wollte in Danemouth noch zu Woolworth und dann von dort aus nach Hause. Die Hauptstraße von den Downs nach Danemouth macht einen weiten Bogen über die Dörfer. Pamela Reeves hat eine Abkürzung genommen, über zwei Wiesen, einen kleinen Pfad und einen Feldweg, auf dem sie nicht weit vom Majestic nach Danemouth kommen musste. Er führt westlich am Hotel vorbei. Möglicherweise hat sie da etwas gehört oder gesehen – irgendetwas im Zusammenhang mit Ruby Keene –, das dem Mörder hätte gefährlich werden können, zum Beispiel dass er sich für elf Uhr mit Ruby Keene verabredet hat. Als er merkt, dass dieses Schulmädchen alles mitbekommen hat, muss er sie zum Schweigen bringen.»

«Das würde voraussetzen», sagte Colonel Melchett, «dass der Mord an Ruby geplant war und nicht im Affekt begangen wurde.»

Superintendent Harper nickte.

«So war es wohl auch, Sir. Es sieht zwar nicht danach aus – eher nach spontaner Gewaltanwendung in einem Ausbruch von Leidenschaft oder Eifersucht –, aber ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass wir’s mit vorsätzlichem Mord zu tun haben. Ich wüsste nicht, wie der Tod der kleinen Reeves sonst zu erklären sein sollte. Wäre sie Zeugin des Verbrechens selbst geworden, das etwa um elf begangen wurde, müsste man sich fragen, was sie mitten in der Nacht in der Gegend des Majestic zu suchen hatte. Ihre Eltern haben doch schon um neun angefangen, sich Sorgen zu machen, weil sie nicht kam.»

«Die andere Möglichkeit wäre, dass sie sich in Danemouth mit jemandem getroffen hat, den weder ihre Eltern noch ihre Freunde kennen, und dass ihr Tod nichts mit dem Mord an Ruby Keene zu tun hat.»

«Ja, Sir, aber das glaube ich nicht. Sogar Miss Marple hat ja sofort einen Zusammenhang gewittert. Ihr erster Gedanke war, dass es sich bei der Leiche in dem ausgebrannten Wagen um die vermisste Pfadfinderin handelt. Sehr gescheit, die alte Dame, wie diese alten Damen überhaupt oft. Scharfsinnig, verstehen Sie? Legen den Finger auf den entscheidenden Punkt.»

«Das hat Miss Marple schon öfter getan», bemerkte Colonel Melchett trocken.

«Und außerdem, Sir, wäre da noch das mit dem Wagen. Das verbindet den Tod des Mädchens in meinen Augen zweifelsfrei mit dem Hotel Majestic. Es war George Bartletts Wagen.»

Wieder trafen sich die Blicke der beiden Männer.

«George Bartlett?», fragte Melchett. «Könnte sein. Was meinen Sie?»

Von neuem zählte Harper die Fakten auf: «Ruby Keene ist zuletzt mit George Bartlett gesehen worden. Er sagt, sie wollte auf ihr Zimmer – was durch das dort gefundene Kleid bestätigt wird –, aber die Frage ist: Hat sie sich umgezogen, um mit ihm auszugehen? Waren die beiden verabredet? Hatten sie vor dem Abendessen vereinbart, später noch zusammen wegzugehen, und Pamela Reeves hat es durch Zufall gehört?»

«George Bartlett hat erst am nächsten Morgen gemeldet, dass sein Auto weg ist», sagte Melchett. «Hat sich sehr vage ausgedrückt. Behauptet, nicht mehr genau zu wissen, wann er den Wagen zuletzt gesehen hat.»

«Vielleicht aus Schlauheit, Sir. Meiner Meinung nach ist er entweder ein Schlaukopf, der den Trottel spielt, oder – nun ja – oder er ist wirklich ein Trottel.»

«Was wir brauchen», sagte Melchett, «ist ein Motiv. So wie es aussieht, hatte George Bartlett keinerlei Motiv dafür, Ruby Keene umzubringen.»

«Das Motiv, ja. Und da landen wir immer wieder in der Sackgasse. Die Aussagen aus dem Palais de Danse in Brixwell sind, wie ich höre, durchweg unergiebig?»

«So ist es. Ruby Keene hatte keinen speziellen Freund. Slack hat sehr gründlich recherchiert – denn eins muss man ihm lassen: Gründlich ist er.»

«Stimmt, Sir, das ist das richtige Wort.»

«Wäre da etwas aufzuspüren gewesen, hätte er es aufgespürt, so viel ist sicher. Aber da war nichts. Er hat eine Liste von Rubys häufigsten Tanzpartnern aufgestellt, und das ist alles überprüft und bestätigt worden. Harmlose junge Männer, die außerdem alle ein Alibi für den Abend haben.»

«Apropos Alibis», sagte Superintendent Harper. «Damit müssen wir uns auch noch befassen.»

Colonel Melchett zog die Brauen hoch. «Nanu? Hatte ich diesen Teil der Ermittlungen nicht Ihnen übertragen?»

«Ja, Sir, und wir haben ermittelt – sehr eingehend. Wir haben sogar Hilfe aus London angefordert.»

«Und?»

«Conway Jefferson mag ja glauben, Mr. Gaskell und die junge Mrs. Jefferson stünden finanziell bestens da, aber dem ist nicht so. Beide sind äußerst knapp bei Kasse.»

«Tatsächlich?»

«Ja. Es stimmt, was Mr. Jefferson sagt: Er hat seinem Sohn und seiner Tochter bei ihrer Heirat jeweils eine beträchtliche Summe ausgesetzt. Das liegt aber inzwischen zehn Jahre zurück. Jefferson junior glaubte in Gelddingen eine glückliche Hand zu haben, und allzu riskante Investitionen hat er auch nicht getätigt, aber er hat mehr als einmal Pech gehabt oder sich verkalkuliert. Sein Vermögen ist immer mehr geschrumpft, so dass seine Witwe jetzt große Schwierigkeiten hat, zurechtzukommen und ihren Sohn auf eine gute Schule zu schicken.»

«Aber an ihren Schwiegervater hat sie sich nicht um Hilfe gewandt?»

«Nein, Sir. Soweit ich weiß, lebt sie bei ihm und spart dadurch die Kosten für einen eigenen Haushalt.»

«Und sein Gesundheitszustand ist so, dass er vermutlich nicht allzu alt werden wird?»

«Ganz recht, Sir. Und nun zu Mark Gaskell. Er ist schlicht und einfach ein Spieler. Hatte das Geld seiner Frau schon nach kurzer Zeit durchgebracht. Sitzt im Moment böse in der Klemme. Braucht dringend Geld, und zwar nicht wenig.»

«Kann nicht behaupten, dass er mir sonderlich sympathisch wäre», sagte Colonel Melchett. «Macht einen etwas zügellosen Eindruck, finden Sie nicht? Und er hat ein Motiv. Fünfundzwanzigtausend Pfund hätte es ihm eingebracht, das Mädchen aus dem Weg zu schaffen. Wenn das kein Motiv ist!»

«Sie hatten beide ein Motiv.»

«An Mrs. Jefferson denke ich dabei nicht.»

«Nein, Sir, ich weiß. Und das Alibi gilt für beide. Sie können es gar nicht gewesen sein.»

«Haben Sie detaillierte Aussagen darüber, was sie an dem Abend gemacht haben?»

«Ja. Zunächst Mr. Gaskell: Er hat mit seinem Schwiegervater und Mrs. Jefferson zu Abend gegessen, danach wurde noch Kaffee getrunken, und Ruby Keene hat sich zu ihnen gesetzt. Dann ist er unter dem Vorwand, noch ein paar Briefe schreiben zu müssen, gegangen. In Wirklichkeit hat er seinen Wagen geholt und eine kleine Fahrt zur Strandpromenade unternommen. Gibt offen zu, dass er es nicht erträgt, einen ganzen Abend lang Bridge zu spielen. Der alte Knabe ist ganz verrückt danach. Die Briefe waren also ein Vorwand. Ruby Keene ist bei den anderen geblieben. Während ihres Auftritts mit Raymond kam Gaskell zurück. Danach hat sie noch ein Glas mit den Jeffersons getrunken und ist dann mit dem jungen Bartlett in den Ballsaal hinüber. Mark Gaskell und die anderen haben ihre Bridgepartie angefangen. Das war um zwanzig vor elf. Gaskell hat bis nach Mitternacht am Tisch gesessen, soviel steht fest, Sir. Jeder kann es bezeugen, die Familie, die Kellner, alle. Er kann es also nicht gewesen sein. Und Mrs. Jefferson hat dasselbe Alibi. Sie hat genauso lange am Tisch gesessen. Sie scheiden beide aus – definitiv.»

Colonel Melchett lehnte sich zurück und trommelte mit einem Brieföffner auf den Tisch.

«Vorausgesetzt, das Mädchen ist vor Mitternacht umgebracht worden», setzte Superintendent Harper hinzu.

«Nach Haydocks Meinung war das der Fall. Haydock ist äußerst zuverlässig in seiner Arbeit für die Polizei. Was er sagt, stimmt.»

«Es könnte immerhin Gründe geben – gesundheitliche Gründe, körperliche Besonderheiten oder dergleichen…»

«Ich rede noch einmal mit ihm.»

Melchett sah auf die Uhr, griff zum Telefonhörer und verlangte eine Nummer. «Um diese Zeit müsste er zu Hause sein. Und was ist, wenn Ruby nach Mitternacht getötet wurde?»

«Das brächte uns vermutlich weiter. Zu der Zeit sind noch Gäste aus und ein gegangen. Angenommen, Gaskell war mit dem Mädchen irgendwo draußen verabredet, sagen wir, um zwanzig nach zwölf. Er schlüpft für ein paar Minuten hinaus, erwürgt sie, kommt wieder herein und schafft die Leiche später fort, zum Beispiel in den frühen Morgenstunden.»

«Er fährt über dreißig Meilen, um sie in Bantrys Bibliothek zu schaffen? Klingt verdammt unwahrscheinlich.»

Der Superintendent musste Melchett Recht geben.

Das Telefon klingelte. Der Colonel hob den Hörer ab.

«Hallo, sind Sie’s, Haydock? Es geht um Ruby Keene. Könnte es sein, dass sie erst nach Mitternacht getötet wurde?»

«Nein, zwischen zehn und zwölf, das hab ich Ihnen doch gesagt.»

«Ich weiß, aber könnte man den Zeitraum nicht doch ein bisschen strecken?»

«Da gibt es nichts zu strecken. Wenn ich sage, sie wurde vor Mitternacht getötet, dann meine ich auch vor Mitternacht. Versuchen Sie nicht, die medizinischen Beweise zurechtzubiegen.»

«Aber könnte es denn nicht irgendwelche physiologischen Faktoren geben – Sie wissen schon?»

«Ich weiß nur, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden. Das Mädchen war kerngesund und in keiner Weise anormal. Etwas anderes werden Sie von mir nicht hören, nur damit ihr Polizeileute irgendeinem armen Teufel, auf den ihr’s abgesehen habt, den Strick um den Hals legen könnt. Nein, protestieren Sie nicht, ich kenne doch Ihre Methoden. Im Übrigen hat sich das Mädchen ja nicht aus freien Stücken erwürgen lassen. Sie ist vorher betäubt worden. Starkes Narkotikum. Der Tod ist zwar durch Strangulieren eingetreten, aber zuvor ist sie betäubt worden.» Haydock legte auf.

«Da haben wir’s», sagte Melchett düster.

«Dachte, ich hätte noch einen Kandidaten in der Hinterhand, aber das war wohl ein Blindgänger.»

«Wie bitte? Wen?»

«Genau genommen fällt er in Ihr Ressort, Sir. Basil Blake. Wohnt in der Nähe von Gossington Hall.»

«Dieser unverschämte, eingebildete Fatzke!» Des Colonels Stirn umwölkte sich bei dem Gedanken an Basil Blakes haarsträubende Grobheit. «Was hat er mit der Sache zu tun?»

«Scheint Ruby Keene gekannt zu haben. War oft zum Dinner im Majestic – hat mit dem Mädchen getanzt. Erinnern Sie sich, was Josie zu Raymond gesagt hat, als Ruby nicht erschienen ist? ‹Meinst du, sie ist mit diesem Filmmenschen unterwegs?› Und damit hat sie Basil Blake gemeint, wie ich herausgefunden habe. Er arbeitet in den Lemville-Studios. Josie kann weiter nichts dazu sagen, sie glaubt nur, dass Ruby ziemlich von ihm angetan war.»

«Sehr viel versprechend, Harper, sehr viel versprechend.»

«Klingt aber besser, als es ist, Sir. Basil Blake war an dem Abend auf einem Fest in den Studios. Sie wissen ja. Das fängt um acht mit Cocktails an und geht dann endlos weiter, bis man vor lauter Rauch die Hand nicht mehr vor Augen sieht und einer nach dem anderen umkippt. Inspektor Slack hat Blake verhört: Er ist um Mitternacht gegangen. Um Mitternacht war Ruby aber bereits tot.»

«Kann das jemand bezeugen?»

«Die meisten werden wohl ziemlich, äh, hinüber gewesen sein. Aber die, äh, die junge Frau, die zurzeit bei ihm wohnt, Miss Dinah Lee, bestätigt seine Aussage.»

«Das muss nichts heißen!»

«Nein, Sir, wahrscheinlich nicht. Die Aussagen anderer Gäste stützen Mr. Blakes Aussage alles in allem zwar ebenfalls, aber die Zeitangaben bleiben doch recht vage.»

«Wo sind denn diese Studios?»

«In Lemville, Sir, dreißig Meilen südwestlich von London.»

«Hm – und etwa gleich weit entfernt von hier?»

«Ja, Sir.»

Colonel Melchett rieb sich die Nase und sagte unzufrieden: «Tja, sieht aus, als könnten wir ihn von der Liste streichen.»

«Vermutlich, ja. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er sich ernsthaft für Ruby Keene interessiert hätte. Er scheint ja» – Superintendent Harper hüstelte verschämt – «vollauf beschäftigt mit dieser Dinah Lee.»

«Also bleibt uns nur ein gewisser X, ein unbekannter Mörder, so unbekannt, dass nicht einmal Slack eine Spur von ihm findet! Oder Jeffersons Schwiegersohn, der das Mädchen möglicherweise umbringen wollte, aber keine Gelegenheit dazu hatte. Die Schwiegertochter dito. Oder George Bartlett, der kein Alibi hat, aber leider auch kein Motiv. Oder der junge Blake, der kein Motiv und obendrein ein Alibi hat. Das ist alles! Halt, nein, wir müssen wohl auch diesen Tänzer mit einbeziehen, diesen Raymond Starr. War ja viel mit dem Mädchen zusammen.»

«Kann mir nicht vorstellen, dass er sich groß für sie interessiert hat», sagte Harper nachdenklich. «Müsste schon ein verdammt guter Schauspieler sein. Und ein Alibi hat er praktisch auch. Von zwanzig vor elf bis zwölf hat man ihn fast ununterbrochen tanzen sehen, mit verschiedenen Partnerinnen. Ich wüsste nicht, was wir gegen ihn vorbringen könnten.»

«Genau genommen können wir gegen niemanden etwas vorbringen.»

«Unsere größte Hoffnung ist George Bartlett. Wenn wir nur ein Motiv fänden!»

«Haben Sie da nachgeforscht?»

«Ja, Sir. Einzelkind. Von der Mutter verhätschelt. Hat bei ihrem Tod vor einem Jahr eine Menge Geld geerbt, das er rasant durchbringt. Eher schwach als brutal.»

«Vielleicht geistesgestört?»

Superintendent Harper nickte. «Haben Sie schon einmal daran gedacht, Sir – dass das die Erklärung für den ganzen Fall sein könnte?»

«Ein geistesgestörter Krimineller, meinen Sie?»

«Ja, Sir. Einer von diesen Kerlen, die herumlaufen und junge Mädchen erwürgen. Die Medizin hat da ein ziemlich langes Wort dafür.»

«Das würde alle unsere Probleme lösen», sagte Melchett.

«Aber etwas daran gefällt mir nicht.»

«Und das wäre?»

«Es ist zu einfach.»

«Hm, ja, mag sein. Ich frage also noch einmal: Wo stehen wir?»

«Nirgends, Sir», erwiderte Superintendent Harper.




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