Eine Möglichkeit, die auch Colonel Melchett und Colonel Bantry gerade erörterten. Der Chief Constable hatte die Leiche in Augenschein genommen, seine Leute mit den üblichen Untersuchungen beauftragt und sich dann mit dem Hausherrn in dessen Arbeitszimmer im anderen Flügel des Hauses begeben.
Colonel Melchett war ein reizbar wirkender Mann, der die Angewohnheit hatte, an seinem kurzen roten Schnurrbart zu zupfen. Das tat er auch jetzt. Er warf seinem Freund einen besorgten Seitenblick zu und platzte schließlich heraus:
«Hör mal, Bantry, ich muss das einfach loswerden. Du hast also wirklich keine Ahnung, wer das Mädchen ist?»
Colonel Bantry wollte aufbrausen, doch Melchett kam ihm zuvor.
«Schon gut, schon gut, alter Junge, aber sieh’s mal so: Könnte verdammt unangenehm für dich werden – verheirateter Mann, versteht sich gut mit seiner besseren Hälfte und so weiter. Ganz unter uns: Solltest du doch etwas mit dem Mädchen zu tun haben, sag’s lieber gleich. Ist nur natürlich, dass man mit so etwas nicht gern herausrückt – ginge mir ganz genauso. Wird aber nicht zu umgehen sein. Ist immerhin ein Mordfall, mit dem wir’s hier zu tun haben. Früher oder später kommen die Fakten ja doch ans Licht. Verflucht noch mal, ich sage ja nicht, dass du das Mädchen erwürgt hast. Dass du so was nie tun würdest, ist mir klar. Aber sie ist nun mal hier, in deinem Haus. Angenommen, sie ist in die Bibliothek eingestiegen und hat auf dich gewartet, und irgendein Kerl ist ihr gefolgt und hat sie umgebracht. Könnte doch sein. Verstehst du, was ich meine?»
«Zum Teufel, Melchett, ich sage doch, ich habe sie noch nie gesehen! Ich bin nicht so einer.»
«Schon gut, schon gut, war nicht so gemeint. Ich weiß, du bist ein Mann von Welt. Aber trotzdem: Was hatte sie dann bei dir zu suchen? Von hier ist sie nicht, so viel steht fest.»
«Ein Alptraum ist das!», schnaubte der erzürnte Hausherr.
«Die Frage ist: Was hatte sie in deiner Bibliothek zu suchen?»
«Woher soll ich das wissen? Ich habe sie nicht hergebeten.»
«Ja, sicher, aber sie ist nun mal da. Sieht aus, als hätte sie zu dir gewollt. Du hast nicht irgendwelche merkwürdigen Briefe bekommen oder so?»
«Nein.»
«Was hast du gestern Abend gemacht?», forschte Colonel Melchett behutsam weiter.
«Ich war bei der Versammlung der Konservativen Gesellschaft. Um neun, in Much Benham.»
«Und wann bist du zurückgekommen?»
«Ich bin um kurz nach zehn dort los. Hatte unterwegs eine kleine Panne, musste ein Rad wechseln. Um Viertel vor zwölf war ich wieder hier.»
«In der Bibliothek bist du dann nicht mehr gewesen?»
«Nein.»
«Schade.»
«Ich war müde. Bin gleich ins Bett.»
«Hat hier im Haus jemand auf dich gewartet?»
«Nein. Ich nehme immer den Schlüssel mit. Lorrimer geht um elf schlafen, wenn ich nichts anderes anordne.»
«Und wer schließt die Bibliothek ab?»
«Lorrimer. Um diese Jahreszeit normalerweise gegen halb acht.»
«Kommt es vor, dass er im Lauf des Abends noch einmal hineingeht?»
«Nicht, wenn ich außer Haus bin. Das Whiskytablett hatte er in der Halle abgestellt.»
«Aha. Und deine Frau?»
«Keine Ahnung. Sie hat schon fest geschlafen, als ich kam. Möglich, dass sie am Abend noch in der Bibliothek oder im Salon gesessen hat. Ich hab sie gar nicht danach gefragt.»
«Na ja, die Einzelheiten werden wir ja bald erfahren. Natürlich könnte auch jemand vom Personal etwas damit zu tun haben, was meinst du?»
Colonel Bantry schüttelte den Kopf.
«Kaum. Das sind alles rechtschaffene Leute. Sie sind seit Jahren bei uns.»
«Ja – nicht sehr wahrscheinlich, dass sie in die Sache verwickelt sind», pflichtete Melchett bei. «Sieht ganz so aus, als sei das Mädchen aus der Stadt gekommen, vielleicht mit irgendeinem jungen Burschen. Aber warum sie hier eingedrungen sind…»
«London», unterbrach ihn Bantry, «ja, das passt schon eher. Hier tut sich ja nichts, jedenfalls…»
«Ja?»
«Donner und Doria!», brach es aus Colonel Bantry hervor. «Basil Blake!»
«Wer ist Basil Blake?»
«Ein junger Mann, hat mit der Filmbranche zu tun. Ganz übler Bursche. Meine Frau nimmt ihn immer in Schutz, weil seine Mutter eine Schulkameradin von ihr war, aber wenn einer ein dekadenter, nichtsnutziger junger Laffe ist, dann er! Was der braucht, ist ein Tritt in den Hintern! Hat das Haus in der Lansham Road gekauft, du kennst es ja, dieser scheußliche moderne Kasten. Ständig wird da gefeiert, ein Lärm und ein Gekreische ist das, und übers Wochenende hat er Mädchen da.»
«Mädchen?»
«Ja, erst letzte Woche wieder, eine von diesen Platinblonden…»
Dem Colonel blieb der Mund offen stehen.
«Eine Platinblonde?», wiederholte er nachdenklich.
«Ja. Aber du glaubst doch nicht…»
«Möglich ist alles», sagte der Chief Constable energisch. «Das würde jedenfalls erklären, wie so ein Mädchen nach St. Mary Mead kommt. Werde mal losfahren und mich mit dem jungen Mann unterhalten – Braid, Blake, wie hieß er noch?»
«Blake. Basil Blake.»
«Weißt du, ob er im Moment da ist?»
«Äh, was haben wir heute? Samstag? Normalerweise kommt er im Laufe des Samstagvormittags.»
«Na, dann wollen wir mal sehen», sagte Colonel Melchett grimmig.
Basil Blakes Landhaus in St. Mary Mead, dessen abscheuliches Pseudotudorfachwerk allen nur erdenklichen Komfort umschloss, war der Post und seinem Erbauer William Brooker unter dem Namen «Chatsworth» bekannt, Basil und seine Freunde nannten es «Das Museumsstück», und für die Leute im Dorf war es schlicht «Mr. Brookers neues Haus».
Es lag eine gute Viertelmeile außerhalb des Dorfes, gleich hinter dem Blauen Eber, auf einem Stück neuen Baulandes, das der geschäftstüchtige Mr. Brooker erworben hatte. Die Straße, die daran vorbeiführte, war einmal ein besonders idyllischer Feldweg gewesen. An ihr lag eine Meile weiter auch Gossington Hall.
Als sich die Nachricht im Dorf verbreitete, dass «Mr. Brookers neues Haus» an einen Filmstar verkauft worden sei, war die Aufregung in St. Mary Mead groß gewesen. Gespannt erwartete man das erste Auftreten der legendären Gestalt, und in Sachen Auftreten ließ Basil Blake auch nichts zu wünschen übrig. Nach und nach aber sickerte die Wahrheit durch. Basil Blake war keineswegs ein Filmstar, er war nicht einmal Filmschauspieler. Er war ein kleines Licht in den Lemville-Studios, dem Hauptsitz der British New Era Films, wo er etwa Rang fünfzehn unter den Verantwortlichen für die Kulissen einnahm. Die Dorfmädchen verloren das Interesse, und die herrschende Klasse gestrenger alter Jungfern nahm Anstoß an Basil Blakes Lebenswandel. Nur der Wirt des Blauen Ebers war nach wie vor entzückt von Basil Blake und dessen Freunden. Seine Einnahmen waren seit der Ankunft des jungen Mannes merklich gestiegen.
Der Polizeiwagen hielt vor dem verschnörkelten schmiedeeisernen Gartentor von Mr. Brookers Phantasiebau, und Colonel Melchett schritt mit einem angewiderten Blick auf das üppige Fachwerk zur Haustür, die er mit dem Türklopfer energisch attackierte.
Sie ging viel schneller auf als erwartet. Ein junger Mann mit glattem, ziemlich langem schwarzem Haar, orangefarbenen Cordhosen und einem leuchtend blauen Hemd fragte ihn barsch: «Was wollen Sie?»
«Sind Sie Mr. Basil Blake?»
«Wer denn sonst?»
«Könnte ich wohl kurz mit Ihnen reden, Mr. Blake?»
«Wer sind Sie?»
«Ich bin Colonel Melchett, der Polizeichef der Grafschaft.»
«Was Sie nicht sagen! Wie amüsant!»
Melchett folgte ihm ins Haus. Jetzt verstand er Colonel Bantrys heftige Reaktion. Auch ihn selbst juckte es in der Fußspitze, doch er riss sich zusammen und bemühte sich um einen verbindlichen Ton.
«Sie scheinen Frühaufsteher zu sein, Mr. Blake.»
«Von wegen. Ich war noch gar nicht im Bett.»
«Ach, ja?»
«Aber Sie sind ja wohl nicht hier, um Nachforschungen über meine Schlafenszeiten anzustellen, und wenn doch, dann verschwenden Sie damit Zeit und Geld der Grafschaft. Worüber wollen Sie denn mit mir reden?»
Colonel Melchett räusperte sich.
«Sie hatten letztes Wochenende einen Gast, wie ich höre, äh, eine blonde junge Dame.»
Basil Blake sah ihn an, warf den Kopf zurück und brach in brüllendes Gelächter aus.
«Haben die alten Klatschtanten Ihnen die Hölle heiß gemacht? Wegen meiner Moral? Moral ist aber kein Fall für die Polizei, verflucht noch mal, das dürfte Ihnen doch bekannt sein.»
«Ganz recht», erwiderte Melchett trocken, «Ihre Moral geht mich nichts an. Ich komme zu Ihnen, weil heute Morgen die Leiche einer blonden jungen Frau von etwas – äh – exotischem Äußerem gefunden wurde – ermordet.»
«Was?» Blake starrte ihn an. «Wo?»
«In Gossington Hall, in der Bibliothek.»
«In Gossington Hall? Beim alten Bantry? Na, großartig! Der alte Bantry! Sauber!»
Colonel Melchett lief puterrot an und schnitt den erneuten Heiterkeitsausbruch des jungen Mannes mit scharfen Worten ab. «Hüten Sie gefälligst Ihre Zunge, Sir. Ich bin hier, um zu sehen, ob Sie Licht in die Sache bringen können.»
«Sie wollen wissen, ob mir eine Blondine abhanden gekommen ist? Deswegen sind Sie hergekommen? Wieso sollte – hoppla, was war denn das?»
Draußen war mit quietschenden Bremsen ein Wagen vorgefahren. Heraus sprang eine junge Frau in einem weiten, pyjamaähnlichen schwarzweißen Anzug. Ihre Lippen waren scharlachrot, die Wimpern kohlschwarz, die Haare platinblond. Sie marschierte zur Haustür, stieß sie energisch auf und rief wütend: «Wieso bist du denn einfach abgehauen, du Mistkerl?»
Basil Blake hatte sich erhoben.
«Sieh einer an, da bist du ja! Natürlich bin ich abgehauen! Ich hab gesagt, wir gehen, aber du wolltest ja nicht!»
«Du denkst wohl, du brauchst nur mit dem Finger zu schnippen, und schon springe ich? Ich habe mich gerade blendend amüsiert.»
«Das kann man wohl sagen, und noch dazu mit diesem Fiesling Rosenberg. Du weißt doch, was das für einer ist.»
«Du warst ja bloß eifersüchtig.»
«Bilde dir nur nichts ein. Ekelhaft ist das, wenn eine keinen Alkohol verträgt und sich von so einem widerlichen Mitteleuropäer betatschen lässt.»
«Du verdammter Lügner! Du hast doch selber gebechert, was das Zeug hält, und dich an diese schwarze spanische Hexe rangemacht!»
«Wenn ich dich zu einer Einladung mitnehme, erwarte ich, dass du dich anständig benimmst.»
«Ich tanze nicht nach deiner Pfeife, merk dir das! Du hast gesagt, wir gehen zu der Party und kommen dann hierher. Aber ich bleibe auf einer Party, solange es mir passt.»
«Ja, und genau deshalb bin ich weg. Ich wollte nach Hause, also bin ich nach Hause. Ich häng doch da nicht stundenlang herum und warte auf so ein verrücktes Huhn.»
«Reizend, wirklich, ein wahrer Gentleman!»
«Aber lange hast du’s ja nicht ohne mich ausgehalten.»
«Ich wollte dir nur mal die Meinung sagen!»
«Wenn du glaubst, du kannst dich hier aufspielen, dann bist du schief gewickelt!»
«Und wenn du glaubst, du kannst mich herumkommandieren, dann bist du schief gewickelt!»
Die beiden starrten einander wütend an.
Colonel Melchett ergriff die Gelegenheit und räusperte sich vernehmlich. Basil Blake fuhr herum.
«Ach, Sie hab ich ja ganz vergessen. Darf ich vorstellen: Dinah Lee – Colonel Blimp von der hiesigen Polizei. So, Colonel, wird Zeit, dass Sie wieder abschwirren. Nachdem Sie jetzt gesehen haben, dass meine Blondine gesund und munter ist, können Sie sich ja um Colonel Bantrys Mieze kümmern. Habe die Ehre!»
«Ich kann Ihnen nur raten, junger Mann, halten Sie Ihr Mundwerk im Zaum, sonst kriegen Sie noch eine Menge Ärger.» Wutentbrannt stapfte Colonel Melchett davon.