Achtes Kapitel

I

Sir Henry Clithering hatte kaum einen Blick für die Menschen in der Halle des Majestic, als er zur Treppe schritt. Er war ganz in Gedanken. Doch wie es so geht, nahm er die Umgebung im Unterbewusstsein dennoch wahr, und diese Eindrücke würden zu gegebener Zeit wieder lebendig werden.

Auf dem Weg nach oben dachte Sir Henry darüber nach, was seinen Freund bewogen haben mochte, ihn plötzlich herzubitten. Dringende Hilferufe waren so gar nicht seine Art. Etwas ganz und gar Ungewöhnliches musste geschehen sein.

Jefferson redete auch nicht lange um den heißen Brei herum. «Schön, dass du kommen konntest. Edwards, bringen Sie Sir Henry etwas zu trinken. Setz dich doch. Du hast noch nichts gehört, nehme ich an? Steht es noch nicht in der Zeitung?»

Sir Henry schüttelte den Kopf. Seine Neugier war geweckt.

«Was ist denn passiert?»

«Ein Mord. Und ich bin in den Fall verwickelt, ich und auch deine Freunde, die Bantrys.»

«Arthur und Dolly Bantry?», fragte Clithering ungläubig.

«Ja, die Leiche wurde in ihrem Haus gefunden.»

Mit knappen, klaren Worten schilderte Conway Jefferson die Fakten. Sir Henry hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen. Beide Männer waren gewohnt, schnell zum Kern einer Sache vorzudringen. In seiner Zeit als Chef der Londoner Polizei war Sir Henry für sein rasches Erfassen des Wesentlichen berühmt gewesen.

«Eine recht ungewöhnliche Sache», sagte er, als der andere geendet hatte. «Was glaubst du, welche Rolle die Bantrys dabei spielen?»

«Das ist genau der Punkt, der mir Sorgen macht. Verstehst du, Henry, für mich sieht es so aus, als könnte meine Bekanntschaft mit ihnen etwas mit dem Fall zu tun haben. Das ist der einzige Zusammenhang, den ich erkennen kann. Meines Wissens haben beide das Mädchen nie zuvor gesehen. Das haben sie zumindest ausgesagt, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Dass sie sie doch gekannt haben, ist äußerst unwahrscheinlich. Könnte es also nicht sein, dass Ruby von hier weggelockt und ihre Leiche ganz bewusst ins Haus meiner Freunde gebracht wurde?»

«Das scheint mir etwas weit hergeholt.»

«Möglich wäre es trotzdem», beharrte Jefferson.

«Ja, aber eher unwahrscheinlich. Was erwartest du jetzt von mir?»

«Ich bin Invalide», sagte Conway Jefferson bitter. «Normalerweise versuche ich das zu ignorieren, aber jetzt holt es mich wieder ein. Ich kann mich nicht frei bewegen, mich nicht umhören, den Dingen nicht auf den Grund gehen. Ich kann nur untätig dasitzen und muss noch dankbar sein für die Informationssplitter, die mir die Polizei freundlicherweise zukommen lässt. Kennst du übrigens zufällig Melchett, den Chief Constable von Radfordshire?»

«Ja.»

In Sir Henrys Gehirn regte sich etwas. Ein Gesicht, eine Gestalt, die er beim Durchqueren der Halle gesehen hatte, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Eine sehr aufrecht dasitzende alte Dame, die ihm bekannt vorgekommen war. Irgendwie hatte sie etwas mit Melchett zu tun.

«Und ich soll jetzt den Amateurdetektiv spielen? So etwas liegt mir nicht», sagte er.

«Aber du bist eben kein Amateur.»

«Ich bin aber auch nicht mehr im Dienst. Ich bin im Ruhestand.»

«Das macht es einfacher», sagte Jefferson.

«Du meinst, wenn ich noch bei Scotland Yard wäre, könnte ich mich da nicht einmischen? Stimmt genau.»

«Ja, aber jetzt kannst du aufgrund deiner Erfahrung doch Interesse an dem Fall bekunden, und jede Hilfe, die du anbietest, wäre willkommen.»

«Du hast Recht, inkorrekt wäre das nicht. Aber was willst du eigentlich wirklich, Conway? Herausfinden, wer das Mädchen umgebracht hat?»

«Genau das.»

«Du selbst hast keine Ahnung?»

«Nicht die geringste.»

«Du wirst es nicht glauben», sagte Sir Henry bedächtig, «aber hier im Hotel befindet sich in diesem Augenblick eine Spezialistin im Rätsellösen, eine, die darin besser ist als ich und die aller Wahrscheinlichkeit nach über Informationen aus der Umgebung verfügt.»

«Wen meinst du?»

«Unten in der Halle, neben dem dritten Pfeiler links, sitzt eine alte Dame mit einem lieben, sanften Altjungferngesicht und einem Verstand, der die Abgründe menschlicher Schlechtigkeit kennt und sie als gegeben hinnimmt. Ich meine Miss Marple. Sie wohnt in St. Mary Mead, einem Dorf anderthalb Meilen von Gossington entfernt. Sie ist eine Freundin der Bantrys – in Sachen Verbrechen die absolute Expertin, Conway.»

Jefferson runzelte die buschigen Brauen und sagte langsam: «Soll das ein Scherz sein?»

«Keineswegs. Du hast doch eben Melchett erwähnt. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er mit der Aufklärung einer ländlichen Tragödie befasst. Ein Mädchen, das angeblich ins Wasser gegangen war. Die Polizei nahm zu Recht an, dass es sich nicht um Selbstmord, sondern um Mord handelte, und glaubte auch zu wissen, wer der Täter war. Und auf einmal kommt die alte Miss Marple zu mir, flatternd vor Aufregung. Sie hätte Angst, sagt sie, der Falsche könnte gehängt werden. Einen Beweis hätte sie nicht, aber sie wüsste, wer’s gewesen sei. Gibt mir einen Zettel mit einem Namen drauf. Und bei Gott, Jefferson, sie hatte Recht!»

Conway Jeffersons Brauen senkten sich noch tiefer über die ungläubigen Augen. «Weibliche Intuition, nehme ich an», brummte er.

«Sie nennt es anders: Spezialwissen.»

«Und das bedeutet?»

«Genau das, was wir uns auch bei der Polizeiarbeit zunutze machen. Ein Einbruch wird gemeldet, und normalerweise wissen wir recht genau, wer ihn verübt hat, welcher von den üblichen Kandidaten zumindest. Wir kennen ihre Vorgehensweise. Miss Marple hat da so ihre Parallelen aus dem Dorfleben, trivial gelegentlich, aber recht interessant.»

«Aber was sollte sie von einem Mädchen wissen, das in Theaterkreisen aufgewachsen und wahrscheinlich nie im Leben in einem Dorf gewesen ist?», fragte Jefferson skeptisch.

«Sie wird schon ihre Theorien haben», erwiderte Sir Henry Clithering entschieden.


II

Miss Marple errötete vor Freude, als Sir Henry sich zu ihr hinabbeugte.

«Oh, Sir Henry, was für ein glücklicher Zufall, Sie hier zu treffen!»

«Es ist mir ein großes Vergnügen», erwiderte Sir Henry galant.

«Sehr liebenswürdig», murmelte Miss Marple und errötete noch tiefer.

«Wohnen Sie hier im Hotel?»

«Ja – ja, wir wohnen hier.»

«Wir?»

«Mrs. Bantry und ich.» Sie sah ihn forschend an. «Haben Sie’s schon gehört? Ja, ich seh’s Ihnen an. Schrecklich, nicht wahr?»

«Was macht denn Dolly Bantry hier? Ist ihr Mann auch da?»

«Nein. Die beiden reagieren ja ganz unterschiedlich auf die Sache. Colonel Bantry, der Ärmste, schließt sich in seinem Arbeitszimmer ein, oder er fährt aufs Gut hinaus, wenn etwas Unangenehmes passiert. Wie eine Schildkröte, verstehen Sie? Zieht den Kopf ein und hofft, nicht gesehen zu werden. Dolly ist da ganz anders.»

«Dolly freut sich geradezu darüber, wie?», sagte Sir Henry, der seine alte Freundin gut kannte.

«Nun, äh, doch, ja. Die Ärmste.»

«Und Sie sollen für sie die Kaninchen aus dem Hut zaubern?»

«Dolly dachte, ein Tapetenwechsel würde ihr gut tun, und allein wollte sie nicht fahren», entgegnete Miss Marple gelassen. Ihre Blicke trafen sich, und sie zwinkerte leicht. «Aber Sie sehen es natürlich ganz richtig, Sir Henry. Mir ist die Sache etwas peinlich, denn ich werde ihr da keine Hilfe sein können.»

«Sie haben keine Theorie? Keine Dorfparallele?»

«Ich weiß noch kaum etwas über die ganze Angelegenheit.»

«Ich denke, dem kann abgeholfen werden. Ich kann Sie über gewisse Dinge informieren, Miss Marple.»

Er gab ihr einen kurzen Bericht. Miss Marple lauschte gespannt.

«Der arme Mr. Jefferson», sagte sie. «Was für eine traurige Geschichte! Entsetzlich, diese Unfälle! Dass er als Krüppel weiterleben muss, ist doch fast grausamer, als wenn er mit den anderen umgekommen wäre.»

«Allerdings. Seine Freunde bewundern ihn dafür, mit welch eiserner Energie er sein Leben meistert, wie er Schmerzen, Kummer und körperliche Behinderung bezwungen hat.»

«Ja, ganz großartig.»

«Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist diese plötzliche Begeisterung für das Mädchen. Aber gut, ein paar bemerkenswerte Eigenschaften mag sie ja gehabt haben.»

«Wohl eher nicht», entgegnete Miss Marple bedächtig.

«Nein?»

«Ich glaube nicht, dass ihre Eigenschaften eine Rolle gespielt haben.»

«Conway Jefferson ist kein alter Lustmolch, Miss Marple.»

«Nein, nein, natürlich nicht!» Miss Marples Gesicht färbte sich tief rosa. «Das habe ich damit nicht im Entferntesten gemeint! Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich will damit nur sagen, dass er sich nach einem netten, fröhlichen Mädchen umgesehen hat, das die Stelle seiner verstorbenen Tochter einnehmen sollte. Und Ruby Keene hat ihre Chance erkannt und sie genutzt, so gut sie konnte. Das klingt herzlos, ich weiß, aber ich kenne viele solche Fälle. Das junge Dienstmädchen bei Mr. Harbottle zum Beispiel. Eine ausgesprochen gewöhnliche Person, aber einigermaßen wohlerzogen. Mr. Harbottles Schwester wurde zu einer sterbenden Verwandten gerufen, und als sie wiederkam, kannte das Mädchen keine Grenzen mehr und saß ohne Häubchen und Schürze lachend und schwatzend im Salon. Miss Harbottle wies sie scharf zurecht, das Mädchen wurde unverschämt, und schließlich hat der alte Mr. Harbottle seiner Schwester mitgeteilt, sie habe ihm lange genug den Haushalt geführt und er werde sich wohl nach einer anderen Lösung umsehen müssen. Sie war wie vor den Kopf geschlagen.

Im Dorf hat die Geschichte ungeheures Aufsehen erregt, aber die arme Miss Harbottle musste fort und wohnt jetzt höchst unkomfortabel in möblierten Zimmern in Eastbourne. Es gab natürlich allerhand Gerede, aber ich glaube nicht, dass etwas daran war. Der alte Mann fand es wohl einfach angenehmer, von einem fröhlichen jungen Mädchen gesagt zu bekommen, wie klug und amüsant er sei, als sich von seiner Schwester ständig seine Fehler vorhalten zu lassen, auch wenn sie eine gute Wirtschafterin war.»

Nach einer kurzen Pause fuhr Miss Marple fort: «Und dann der Drogist, Mr. Badger. Hat viel Aufhebens von der jungen Verkäuferin in seiner Kosmetikabteilung gemacht und seiner Frau gesagt, sie müssten sie wie eine Tochter behandeln und sie zu sich ins Haus nehmen. Mrs. Badger war da natürlich anderer Meinung.»

«Wenn es wenigstens ein Mädchen aus seinen eigenen Kreisen gewesen wäre, die Tochter eines Freundes…»

«Aber das wäre doch nicht annähernd so befriedigend für ihn gewesen!», unterbrach ihn Miss Marple. «Es ist wie mit König Cophetua und der Bettlerin. Für einen müden, einsamen alten Mann, dessen Familie ihn möglicherweise vernachlässigt» – sie schwieg einen Moment – «ist es doch wesentlich reizvoller, sich um jemanden zu kümmern, der von seiner Großzügigkeit ganz überwältigt ist, um es etwas melodramatisch auszudrücken. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Er fühlt sich dadurch ungleich bedeutender – der gütige Monarch! Und die Beschenkte ist tiefer beeindruckt, was für den alten Mann ebenfalls ein sehr angenehmes Gefühl ist.»

Sie hielt kurz inne und erzählte dann weiter: «Mr. Badger machte dem Mädchen die üppigsten Geschenke: ein Brillantarmband und einen sündhaft teuren Radioapparat mit Plattenspieler. Hat dafür einen Großteil seiner Ersparnisse ausgegeben. Aber Mrs. Badger, die um einiges schlauer war als die arme Miss Harbottle – die Ehe ist da ein guter Ratgeber –, hat sich die Mühe gemacht, genauer nachzuforschen. Sie fand heraus, dass das Mädchen mit einem höchst zweifelhaften jungen Mann liiert war, der etwas mit Pferderennen zu tun hatte, und dass sie das Armband versetzt und ihm das Geld gegeben hatte. Mr. Badger war hell empört, und die Affäre nahm ein glimpfliches Ende. Zum nächsten Weihnachtsfest hat er seiner Frau einen Brillantring geschenkt.»

Miss Marples freundliche, kluge Augen begegneten denen Sir Henrys. Er fragte sich, ob sie ihm mit ihrer Geschichte einen Hinweis geben wollte.

«Wollen Sie damit andeuten», sagte er, «dass sich die Einstellung meines Freundes zu Ruby Keene geändert hätte, wenn es einen jungen Mann in ihrem Leben gegeben hätte?»

«Ich denke schon. Mag sein, dass er in ein, zwei Jahren selbst eine Heirat für sie arrangiert hätte – was allerdings eher unwahrscheinlich ist; Männer sind ja im Allgemeinen ziemlich egoistisch. Jedenfalls hätte Ruby Keene, wenn sie einen Freund gehabt hätte, bestimmt nichts darüber verlauten lassen.»

«Und das hätte ihr der junge Mann übel genommen?»

«Das ist in meinen Augen die plausibelste Erklärung. Wissen Sie, mir ist aufgefallen, dass Rubys Kusine, die junge Frau, die heute Morgen in Gossington Hall war, richtiggehend wütend auf das tote Mädchen zu sein schien. Und was Sie mir erzählt haben, würde auch erklären, warum. Sie hatte sich zweifellos schon darauf gefreut, ein großes Stück von dem Kuchen abzubekommen.»

«Also ein kalt berechnender Charakter?»

«Das wäre ein zu hartes Urteil. Die Arme muss ihren Lebensunterhalt sauer verdienen, da kann man nicht von ihr erwarten, dass sie sich groß darüber grämt, wenn ein wohlhabender Mann und eine wohlhabende Frau – so haben Sie Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson ja beschrieben – um eine hohe Summe gebracht werden, auf die sie im Grunde keinerlei moralischen Anspruch haben. Miss Turner ist eine praktisch denkende, ehrgeizige junge Frau, würde ich sagen, gutartig und recht lebenslustig. Ein bisschen wie Jessie Golden, die Bäckerstochter.»

«Was war mit der?», wollte Sir Henry wissen.

«Sie ließ sich als Kindermädchen ausbilden und heiratete den Sohn des Hauses, der auf Urlaub aus Indien da war. War ihm eine sehr gute Frau, soviel ich weiß.»

Sir Henry holte seine Gedanken von diesen faszinierenden Nebengleisen zurück und fragte: «Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, warum mein Freund Conway Jefferson plötzlich diesen ‹Cophetua-Komplex›, wenn Sie so wollen, entwickelt hat?»

«Ich denke schon.»

«Und welchen?»

Miss Marple zögerte einen Moment.

«Es könnte sein – das ist natürlich nur eine Vermutung –, dass sein Schwiegersohn und seine Schwiegertochter wieder heiraten wollten.»

«Dagegen hätte er doch gewiss nichts einzuwenden.»

«Nein, nein, natürlich nicht. Aber betrachten Sie es einmal von seinem Standpunkt aus. Er hat Furchtbares durchgemacht, hat einen schweren Verlust erlitten, ebenso wie Mrs. Jefferson und Mr. Gaskell. Die drei leben zusammen, und was sie verbindet, ist eben dieser Verlust. Aber die Zeit heilt alle Wunden, wie meine liebe Mutter immer zu sagen pflegte. Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson sind noch jung. Ohne dass es ihnen bewusst ist, mag eine gewisse Unruhe in ihnen aufgekommen sein, und sie beginnen sich durch ihre Lebenssituation eingeengt zu fühlen. Vielleicht hat der alte Mr. Jefferson plötzlich eine unerklärliche Distanziertheit an ihnen bemerkt. Wie das eben so geht – Männer fühlen sich ja so leicht vernachlässigt. Bei den Harbottles lag das an Miss Harbottles Reise, bei den Badgers an Mrs. Badgers’ Interesse für den Spiritismus und die Séancen, zu denen sie alle naslang ging.»

«Ich muss sagen», beklagte sich Sir Henry, «es gefällt mir nicht, wie Sie uns Männer ständig in einen Topf werfen.»

Miss Marple schüttelte betrübt den Kopf. «Die menschliche Natur ist überall mehr oder weniger die gleiche, Sir Henry.»

«Mr. Harbottle! Mr. Badger! Und der arme Conway! Ich möchte ja nicht persönlich werden, aber haben Sie in Ihrem Dorf nicht auch eine Parallele für meine Wenigkeit?»

«Doch, durchaus: Briggs.»

«Wer ist Briggs?»

«Der Obergärtner in Old Hall. Der beste, den sie dort je hatten. Hat es immer sofort gemerkt, wenn einer der Untergärtner herumgetrödelt hat – geradezu unheimlich war das! Kam mit nur drei Mann und einem Lehrling aus, und der Park war gepflegter, als wenn er sechs Leute unter sich gehabt hätte. Hat mit seinen Gartenwicken mehrmals den ersten Preis gewonnen. Ist jetzt im Ruhestand.»

«Wie ich», sagte Sir Henry.

«Aber er übernimmt noch Gelegenheitsarbeiten – wenn er die Leute mag.»

«Aha. Auch wie ich. Genau das mache ich ja jetzt: Gelegenheitsarbeit – um einem alten Freund zu helfen.»

«Zwei alten Freunden.»

«Zweien?», fragte Sir Henry leicht verwundert.

«Sie meinen sicher Mr. Jefferson, aber an den dachte ich gerade gar nicht. Ich dachte an Colonel und Mrs. Bantry.»

«Ah ja, verstehe.» Dann fragte er unvermittelt: «Haben Sie Dolly Bantry deshalb vorhin ‹die Ärmste› genannt?»

«Ja. Sie hat die Lage noch nicht annähernd erfasst – im Gegensatz zu mir, ich habe da mehr Erfahrung. Sehen Sie, Sir Henry, nach meinem Eindruck wird dieses Verbrechen aller Wahrscheinlichkeit nach zu jenen gehören, die niemals aufgeklärt werden. Wie die Schrankkoffer-Morde von Brighton. Und das wäre für die Bantrys absolut verheerend. Colonel Bantry ist wie fast alle ehemaligen Militärs extrem sensibel. Er reagiert äußerst empfindlich auf die öffentliche Meinung. Eine Zeit lang wird er es noch nicht merken, aber nach und nach wird es ihm bewusst werden: eine Kränkung hier, eine Abfuhr da, ausbleibende Einladungen, Ausflüchte – und eines Tages ist ihm alles klar, und er zieht sich in sein Schneckenhaus zurück und verfällt in schwärzeste Trübsal.»

«Verstehe ich Sie recht, Miss Marple? Sie meinen, da die Leiche in seiner Bibliothek gefunden wurde, werden die Leute denken, er hätte etwas mit der Sache zu tun?»

«Natürlich! Ich bin sicher, es wird bereits geredet. Und es wird immer mehr geredet werden. Die Leute werden den Bantrys zunehmend die kalte Schulter zeigen, und deshalb muss der Fall unbedingt aufgeklärt werden. Das ist auch der Grund, warum ich eingewilligt habe, Mrs. Bantry hierher zu begleiten. Eine offene Anklage ist eine Sache, damit wird ein Soldat leicht fertig. Er ist empört, aber er kann kämpfen. Getuschel hinter seinem Rücken ist etwas ganz anderes – es wird ihn vernichten, ihn und seine Frau. Sie sehen also, Sir Henry, wir müssen die Wahrheit finden!»

«Haben Sie eine Vorstellung, wie die Leiche in sein Haus gekommen sein könnte? Es muss doch irgendeine Erklärung dafür geben. Irgendeinen Zusammenhang.»

«Aber sicher.»

«Zum letzten Mal gesehen wurde das Mädchen um zwanzig vor elf hier im Hotel. Um Mitternacht war sie nach Aussagen des Arztes tot. Nach Gossington sind es von hier aus etwa achtzehn Meilen, und bis zu der Abzweigung nach sechzehn Meilen ist die Straße gut. Ein starker Wagen schafft das in weit weniger als einer halben Stunde; fünfunddreißig Minuten würde im Schnitt jedes Auto brauchen. Aber warum jemand Ruby entweder hier töten und die Leiche nach Gossington bringen oder mit ihr nach Gossington fahren und sie dort erwürgen sollte, ist mir schleierhaft.»

«Verständlich – so ist es ja auch nicht gewesen.»

«Sie meinen, irgendein Bursche hat eine Fahrt mit ihr unternommen, sie unterwegs erwürgt und sie dann ins nächstbeste Haus geschleppt?»

«Ich meine nichts dergleichen. Meiner Ansicht nach war es ein minutiös geplanter Mord. Aber der Plan ist fehlgeschlagen.

» Sir Henry starrte sie an. «Und warum?»

«Es passieren ja die merkwürdigsten Dinge», sagte Miss Marple entschuldigend. «Wenn ich sagen würde, der Plan ist gescheitert, weil der Mensch nun einmal empfindsamer und verletzlicher ist als allgemein angenommen, dann würde sich das nicht sehr vernünftig anhören, nicht wahr? Aber genau das glaube ich, und…»

Sie brach ab. «Ah, da kommt ja Mrs. Bantry.»




Загрузка...