Dreizehntes Kapitel

I

Dr. Metcalf war einer der bekanntesten Ärzte in Danemouth, ein Mann in mittleren Jahren mit einer ruhigen, angenehmen Art zu sprechen. Er war zurückhaltend im Umgang mit seinen Patienten, doch wenn er in ein Krankenzimmer trat, hellten sich die Mienen unfehlbar auf.

Dr. Metcalf hörte Superintendent Harper aufmerksam zu und gab auf seine Fragen freundlich und präzise Auskunft.

«Ich kann also davon ausgehen, Dr. Metcalf, dass Mrs. Jeffersons Angaben im Wesentlichen den Tatsachen entsprechen?»

«Ja, Mr. Jeffersons Gesundheitszustand ist prekär. Schon seit Jahren treibt der Mann einen schonungslosen Raubbau an seinen Kräften. Er ist fest entschlossen, ein ganz normales Leben zu führen, und mutet sich deshalb weit mehr zu als ein gesunder Mann seines Alters. Er weigert sich, das Leben leichter zu nehmen, sich auszuruhen, kürzer zu treten und wie die Phrasen alle lauten, die ich und seine anderen medizinischen Berater vorbringen. Und das Ergebnis: Der Mann ist wie ein überdrehter Motor. Herz, Lunge Blutdruck – alles ist überlastet.»

«Und er will partout nicht auf Sie hören, sagen Sie?»

«Ja, aber ich kann’s ihm nicht verdenken. Ich sage es meinen Patienten nicht, Superintendent, aber ein Mensch kann ebenso gut bis zum Schluss aktiv sein, wie er langsam verkümmern kann. Viele meiner Kollegen halten es mit der ersten Variante, und glauben Sie mir, es ist nicht unbedingt die schlechtere. An einem Ort wie Danemouth sieht man natürlich eher das Gegenteil: Kranke, die sich ans Leben klammern und schreckliche Angst haben, sich zu überanstrengen, die sich vor Zugluft, vor Bazillen, vor unbekömmlicher Nahrung fürchten!»

«Das glaub ich gern», sagte Superintendent Harper. «Es läuft also auf Folgendes hinaus: Conway Jefferson ist stark – körperlich gesehen, oder genauer gesagt, von der Muskulatur her. Was schafft er denn so alles?»

«Er hat enorme Kräfte in Armen und Schultern. Vor seinem Unfall hat er nur so vor Kraft gestrotzt. Er handhabt seinen Rollstuhl äußerst geschickt und kann sich an Krücken durchs Zimmer bewegen, vom Bett zum Sessel beispielsweise.»

«Kämen für einen Mann mit seinen Verletzungen nicht Beinprothesen in Frage?»

«Nein, in seinem Fall nicht. Die Wirbelsäule ist geschädigt.»

«Verstehe. Fassen wir also noch einmal zusammen: Was die Muskulatur anbelangt, ist Jefferson in bester Form. Und sonst fühlt er sich auch wohl?»

Metcalf nickte.

«Aber sein Herz ist in schlechtem Zustand», fuhr Harper fort. «Jede Überanstrengung, jeder Schock oder jede plötzliche Aufregung kann das Ende bedeuten. Ist das richtig?»

«Mehr oder weniger. Es ist die Dauerbelastung, die ihn nach und nach umbringt, denn Müdigkeit ignoriert er. Das macht es für das Herz noch kritischer. Dass eine plötzliche Anstrengung ihn tötet, ist eher unwahrscheinlich, aber ein Schock könnte leicht dazu führen. Davor habe ich seine Familie auch ausdrücklich gewarnt.»

«Aber im vorliegenden Fall hat die Aufregung ihm nichts anhaben können», sagte Superintendent Harper langsam. «Ich meine, einen schlimmeren Schock hätte es doch kaum geben können, und trotzdem hat er überlebt.»

Dr. Metcalf zuckte die Schultern. «Tja, aber wenn Sie meine Erfahrung hätten, Superintendent, dann wüssten Sie, dass man aus der Krankengeschichte eines Patienten unmöglich eine genaue Prognose ableiten kann. Leute, die eigentlich an einem Schock oder an Unterkühlung sterben müssten, sterben eben nicht an einem Schock oder an Unterkühlung et cetera, et cetera. Der menschliche Körper ist zäher, als man glaubt. Zudem führt meiner Erfahrung nach ein physischer Schock häufiger zum Tod als ein psychischer. Vereinfacht ausgedrückt: Eine zugeknallte Tür könnte Mr. Jefferson eher töten als die Nachricht, dass ein Mädchen, das er sehr gern hatte, auf grausame Weise umgekommen ist.»

«Und wie erklärt sich das?»

«Eine schlechte Nachricht löst fast immer eine Abwehrreaktion aus. Sie betäubt den Empfänger, so dass er – zunächst jedenfalls – unfähig ist, sie aufzunehmen. Es dauert eine Weile, bis sie ganz zu ihm durchdringt. Eine zugeknallte Tür aber, jemand, der plötzlich aus einem Schrank hervorspringt, ein aufheulender Motor beim Überqueren einer Straße – so etwas übt eine unmittelbare Wirkung aus. Das Herz macht vor Schreck einen Satz, um es laienhaft auszudrücken.»

«Aber nach allem, was man weiß, hätte Mr. Jefferson durch den Schock wegen des Mordes an Ruby Keene ohne weiteres zu Tode kommen können?»

«O ja, durchaus.» Der Arzt sah Harper neugierig an. «Sie glauben doch nicht…»

«Ich weiß nicht, was ich glauben soll», erwiderte Superintendent Harper ärgerlich.


II

«Aber Sie werden zugeben, dass die beiden Dinge bestens zusammenpassen», sagte er wenig später zu Sir Henry Clithering. «Man hätte damit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Erst das Mädchen, deren Tod dann auch Mr. Jefferson dahinrafft – ehe er Gelegenheit hatte, sein Testament zu ändern.»

«Glauben Sie, er wird es ändern?»

«Das müssten Sie besser wissen als ich, Sir. Was meinen Sie?»

«Schwer zu sagen. Bevor Ruby Keene auf der Bildfläche erschien, wollte er sein Geld zwischen Mark Gaskell und Mrs. Jefferson aufteilen, wie ich zufällig weiß. Ich sehe keinen Grund, warum er seine Pläne jetzt ändern sollte. Aber auszuschließen ist es natürlich nicht. Vielleicht hinterlässt er das Geld ja einem Tierheim oder einer Stiftung für junge Berufstänzerinnen.»

Superintendent Harper musste ihm Recht geben. «Man weiß nie, was für Verrücktheiten sich jemand plötzlich ausdenkt, besonders wenn er keine moralische Verpflichtung sieht, in bestimmter Weise mit seinem Vermögen zu verfahren. Keine Blutsbande in diesem Fall.»

«Er mag den Jungen, den kleinen Peter», sagte Sir Henry.

«Meinen Sie, er betrachtet ihn als seinen Enkel? Das wissen Sie sicher besser als ich, Sir.»

«Nein, ich glaube nicht», erwiderte Sir Henry nachdenklich.

«Und noch etwas würde ich Sie gern fragen, Sir. Ich selbst kann es nicht beurteilen, aber Sie als Freund der Familie können wahrscheinlich mehr darüber sagen. Ich wüsste zu gern, was Mr. Jefferson für Mark Gaskell und die junge Mrs. Jefferson empfindet.»

Sir Henry runzelte die Stirn. «Ich bin nicht sicher, ob ich Sie recht verstehe, Superintendent.»

«Ich meine es so: Was bedeuten sie ihm als Menschen, unabhängig von seiner besonderen Beziehung zu ihnen?»

«Ah, jetzt verstehe ich.»

«Es besteht ja kein Zweifel, dass er sehr an den beiden hing. Aber aus meiner Sicht hing er an ihnen, weil Mrs. Jefferson die Frau seinen Sohnes und Mark Gaskell der Mann seiner Tochter war. Was wäre gewesen, wenn beispielsweise einer von beiden wieder geheiratet hätte?»

Sir Henry überlegte. «Eine interessante Frage, die Sie da stellen. Ich weiß es nicht. Ich neige zu der Annahme – aber das ist meine ganz persönliche Meinung –, dass sich seine Haltung dadurch nicht unerheblich geändert hätte. Er hätte ihnen alles Gute gewünscht, ohne jeden Groll, aber ich glaube – ja, ich glaube eher, dass er sich dann nicht mehr groß für sie interessiert hätte.»

«Das gilt für beide?»

«Ich denke schon. Für Mr. Gaskell so gut wie sicher und für Mrs. Jefferson vermutlich auch, wenn auch bei weitem nicht so sicher. Sie mochte er wohl um ihrer selbst willen.»

«Das könnte mit dem Geschlecht zusammenhängen», erklärte Superintendent Harper weise. «In Mrs. Jefferson eine Tochter zu sehen war leichter für ihn als in Mr. Gaskell einen Sohn. Umgekehrt ist es ja genauso. Frauen nehmen den Schwiegersohn meist bereitwillig in die Familie auf, während sie die Frau des Sohnes nicht allzu häufig als Tochter akzeptieren.

Ist es Ihnen recht, Sir, wenn wir hier entlang zum Tennisplatz gehen? Ich sehe gerade, dass Miss Marple dort sitzt, und möchte sie um einen Gefallen bitten. Das heißt, eigentlich möchte ich Sie beide einspannen.»

«Und wofür, Superintendent?»

«Um mir Informationen zu beschaffen, an die ich selbst nicht herankomme. Ich möchte, dass Sie sich Edwards vornehmen, Sir.»

«Edwards? Was wollen Sie denn von ihm?»

«Alles, was Sie sich nur vorstellen können! Alles, was er weiß und was er denkt! Über die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern, über die Sache mit Ruby Keene. Interna. Er kennt die Lage der Dinge besser als jeder andere, darauf wette ich! Mir würde er nichts sagen, aber Ihnen. Vielleicht bringt uns das ja auf eine Spur. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.»

«Nein, ich habe nichts dagegen», erwiderte Sir Henry grimmig. «Ich bin gerufen worden – und zwar dringend –, um die Wahrheit herauszufinden, und ich werde mein Bestes tun. Und wie soll Miss Marple Ihnen helfen?»

«Ich dachte da an die Mädchen. Diese Pfadfinderinnen. Wir haben jetzt etwa ein halbes Dutzend beisammen, diejenigen, die am engsten mit Pamela Reeves befreundet waren. Vielleicht wissen sie ja etwas. Sehen Sie, ich habe mir da so meine Gedanken gemacht. Hätte das Mädchen wirklich zu Woolworth gewollt, dann hätte sie sicher eine ihrer Freundinnen überredet mitzukommen. Mädchen gehen nicht gern allein einkaufen.»

«Da haben Sie sicher Recht.»

«Ich halte es für möglich, dass das mit Woolworth nur ein Vorwand war. Ich möchte herausfinden, wo Pamela Reeves wirklich war. Vielleicht hat sie irgendetwas angedeutet, und dann wäre Miss Marple genau die Richtige, um es aus den Mädchen herauszufragen. Mit Mädchen kennt sie sich aus, würde ich sagen – besser als ich. Und vor der Polizei hätten sie ohnehin Angst.»

«Klingt nach der Sorte dörflicher Probleme, die genau Miss Marples Fall sind. Sie ist sehr gewieft, wissen Sie.»

Der Superintendent lächelte. «Das kann man wohl sagen. Ihr entgeht so schnell nichts.»

Miss Marple sah auf, als sie herankamen, und begrüßte sie eifrig. Der Superintendent brachte seine Bitte vor, und sie sagte sofort zu.

«Ich möchte Ihnen schrecklich gern helfen, Superintendent, und vielleicht kann ich es ja wirklich. Die Sonntagsschule, wissen Sie, die Wichtel und unsere Pfadfinderinnen und das Waisenhaus hier in der Nähe – ich bin im Ausschuss, wissen Sie, und schaue oft auf einen Plausch mit der Leiterin dort vorbei, und dann die Dienstboten – normalerweise habe ich ganz junge Mädchen. Doch, ja, ich habe da reichlich Erfahrung und kann ganz gut beurteilen, ob ein Mädchen die Wahrheit sagt oder etwas verschweigt.»

«Sie sind also Expertin auf diesem Gebiet», sagte Sir Henry.

Miss Marple warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. «Lachen Sie nicht über mich, Sir Henry, ich bitte Sie.»

«Aber wo werd ich denn! So oft, wie Sie schon über mich lachen konnten!»

«Man sieht so viel Böses in einem Dorf», murmelte Miss Marple zur Erklärung.

«Übrigens», sagte Sir Henry, «ich habe einen Punkt geklärt, nach dem Sie mich gefragt hatten. In Rubys Papierkorb waren tatsächlich abgeschnittene Fingernägel, sagt der Superintendent.»

«Ja? Dann ist das…»

«Weshalb wollten Sie das denn wissen, Miss Marple?», fragte der Superintendent.

«Das war eines der Dinge, die – also, die irgendwie nicht in Ordnung waren, als ich mir die Leiche angesehen habe. Mit den Händen war etwas nicht in Ordnung, und erst kam ich nicht darauf, was. Dann fiel mir ein, dass Mädchen, die sich stark schminken und so weiter, normalerweise auch sehr lange Fingernägel haben. Es kann natürlich immer sein, dass jemand Nägel kaut. Das ist ja eine Angewohnheit, die man schwer wieder loswird, aber die Eitelkeit ist da ein guter Helfer. Trotzdem nahm ich an, dass die Tote sie nicht abgelegt hatte. Und dann hat dieser Junge – Peter, Sie wissen schon – etwas erzählt, woraus hervorging, dass Rubys Nägel lang gewesen waren. Sie hatte sich einen eingerissen, und da lag es nahe, dass sie die anderen auf gleiche Länge schneidet. Deswegen hatte ich Sir Henry nach abgeschnittenen Fingernägeln gefragt, und er wollte der Sache nachgehen.»

«Sie sprachen eben von einem der Dinge, die nicht in Ordnung waren, als Sie sich die Leiche angesehen haben. Gab es da noch etwas?», fragte Sir Henry.

Miss Marple nickte entschieden. «O ja! Das Kleid. Das Kleid war noch viel weniger in Ordnung.»

Die beiden Männer sahen sie neugierig an.

«Inwiefern?», fragte Sir Henry.

«Ja, wissen Sie, es war ein altes Kleid. Josie hat das eindeutig bestätigt, und ich habe auch selbst gesehen, dass es schon ziemlich abgetragen war. Und das ist ja nun alles andere als in Ordnung.»

«Und warum?»

Miss Marple errötete leicht. «Nun, wir gehen doch davon aus», erklärte sie, «dass Ruby Keene sich umgezogen hat, um sich mit jemandem zu treffen, in den sie vermutlich ‹verknallt› war, wie meine jungen Neffen es ausdrücken würden.»

Der Superintendent blinzelte ein wenig. «Zumindest vermuten wir das. Sie war verabredet – mit einem, nun ja, einem Bekannten.»

«Wieso hat sie dann ein altes Kleid angezogen?», fragte Miss Marple.

Der Superintendent kratzte sich gedankenvoll den Kopf. «Ich verstehe. Sie meinen, eigentlich hätte sie ein neues Kleid tragen müssen.»

«Ihr bestes. Mädchen machen das so.»

«Ja, aber sehen Sie mal, Miss Marple», wandte Sir Henry ein, «angenommen, dieses Rendezvous fand im Freien statt und die beiden sind in einem offenen Wagen gefahren oder in unwegsamem Gelände spazieren gegangen. Da hat sie, um nicht ein neues Kleid zu ruinieren, ein altes angezogen.»

«Das wäre nur vernünftig gewesen», pflichtete der Superintendent bei.

Miss Marple wandte sich ihm zu. «Vernünftig wäre es gewesen», sagte sie lebhaft, «lange Hosen und einen Pullover anzuziehen oder Tweedsachen. Ich will ja nicht snobistisch sein, aber ich fürchte, es lässt sich nicht vermeiden: So hätte es ein Mädchen aus – aus unseren Kreisen gemacht. Ein Mädchen aus gutem Hause» – Miss Marple begann sich zu ereifern – «achtet stets darauf, bei jedem Anlass das Richtige zu tragen. Ein Mädchen aus gutem Hause würde zum Beispiel nie im geblümten Seidenkleid zu einem Geländejagdrennen erscheinen, und wenn es noch so heiß ist.»

«Und die korrekte Kleidung für ein Rendezvous?», fragte Sir Henry.

«Wenn sie sich im Hotel mit ihm trifft oder an einem anderen Ort, wo man Abendkleidung trägt, wird sie natürlich ihr bestes Abendkleid anziehen. Aber im Freien sähe sie darin lächerlich aus, das weiß sie, und deshalb würde sie dort ihre schickste Sportkleidung tragen.»

«Zugegeben. Da spricht die Modeexpertin. Aber in Rubys Fall…»

«Nun, Ruby war, um es rundheraus zu sagen, keine Dame. Sie stammte aus einem Milieu, in dem man auch zu den unpassendsten Anlässen die besten Sachen trägt. Letztes Jahr hatten wir einen Picknickausflug zu den Scrantor Rocks. Sie hätten gestaunt, wie unmöglich die Mädchen angezogen waren. Foulardkleider, Lackschuhe, kunstvolle Hüte – manche jedenfalls. Um auf Felsen und in Stechginster und Heidekraut herumzuklettern! Und die jungen Männer in ihren besten Anzügen. Beim Wandern ist es natürlich etwas anderes. Was man da trägt, ist schon fast eine Uniform – wobei sich die Mädchen nicht klarmachen, dass Shorts nur etwas für sehr Schlanke sind.»

«Und Sie meinen, dass Ruby Keene…?», fragte der Superintendent bedächtig.

«Ich meine, sie hätte ihr Kleid, ihr bestes rosa Kleid, anbehalten. Sie hätte sich nur dann umgezogen, wenn sie etwas noch Neueres gehabt hätte.»

«Und wie erklären Sie sich das alles, Miss Marple?», wollte Superintendent Harper wissen.

«Gar nicht – jedenfalls noch nicht. Aber ich kann mir nicht helfen: Ich habe das Gefühl, dass es wichtig ist…»


III

Die Tennisstunde, die Raymond Starr gegeben hatte, war zu Ende. Eine korpulente Frau mittleren Alters stieß einige Dankesquiekser aus, nahm eine himmelblaue Strickjacke an sich und entschwand Richtung Hotel.

Raymond rief ihr ein paar fröhliche Worte nach und wandte sich dann der Bank zu, auf der die drei Zuschauer saßen. Die Bälle baumelten in einem Netz, das er in der Hand hielt, den Schläger hatte er sich unter den Arm geklemmt. Die Heiterkeit auf seinem Gesicht war plötzlich wie weggeblasen. Er wirkte müde und besorgt.

«Geschafft!», sagte er im Näherkommen.

Dann brach das Lächeln wieder hervor, dieses charmante, jungenhafte, ausdrucksvolle Lächeln, das so gut zu seinem sonnengebräunten Gesicht, dem dunklen Haar und der geschmeidigen Figur passte.

Sir Henry fragte sich, wie alt der Mann sein mochte. Fünfundzwanzig, dreißig, fünfunddreißig? Er hätte es unmöglich sagen können.

Raymond schüttelte leicht den Kopf und sagte: «Die lernt es nie.»

«Ist das nicht furchtbar langweilig für Sie?», fragte Miss Marple.

«Ja, manchmal schon. Besonders gegen Ende der Saison. Eine Zeit lang gibt einem der Gedanke an die Bezahlung Auftrieb, aber am Schluss kann auch das die Phantasie nicht mehr anregen!»

Superintendent Harper stand unvermittelt auf. «Ich komme in einer halben Stunde wieder, wenn es Ihnen recht ist, Miss Marple», sagte er.

«Wunderbar, danke. Ich warte hier auf Sie.»

Harper entfernte sich. Raymond sah ihm nach und fragte dann: «Erlauben Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?»

«Bitte», sagte Sir Henry. «Zigarette?» Er hielt ihm sein Etui hin und überlegte währenddessen, weshalb er diese leise Voreingenommenheit gegen Raymond Starr empfand. Weil er Tennistrainer und Eintänzer war? Wenn ja, dann war es nicht das Tennisspielen, das ihn störte, sondern das Tanzen. Wir Engländer, so schloss Sir Henry, misstrauen jedem Mann, der zu gut tanzt! Der Mensch bewegte sich einfach zu elegant! Ramon, Raymond – wie hieß er noch? Abrupt fragte er ihn danach.

«Ramon war ursprünglich mein Künstlername», erklärte der andere belustigt. «Ramon und Josie, das klingt so schön spanisch, verstehen Sie? Aber es gab zu starke Vorurteile gegen Ausländer, und so wurde Raymond aus mir – sehr britisch –»

«Und in Wirklichkeit heißen Sie ganz anders?», fragte Miss Marple.

«Nein, Ramon ist mein richtiger Name, mein zweiter Vorname. Ich hatte eine argentinische Großmutter…» (Aha, daher der Hüftschwung, dachte Sir Henry nebenbei.) «Aber mein erster Vorname ist Thomas. Schrecklich prosaisch.»

Er wandte sich an Sir Henry. «Kommen Sie nicht aus Devonshire, Sir? Aus Stane? Meine Familie stammt aus der Gegend. Aus Alsmonston.»

Sir Henrys Miene hellte sich auf. «Sie sind einer von den Alsmonstoner Starrs? Das wusste ich ja gar nicht!»

«Nein – das hatte ich auch nicht erwartet.» Leise Bitterkeit schwang in seinen Worten mit.

«Ja, äh, Pech – und so weiter», sagte Sir Henry verlegen.

«Dass das Schloss verkauft worden ist, nachdem es dreihundert Jahre in Familienbesitz war? Ja, das war allerdings Pech. Aber irgendwann müssen Leute wie wir wohl abtreten. Wir haben uns überlebt. Mein älterer Bruder ist nach New York gegangen. Ist im Verlagswesen tätig – es geht ihm gut. Die anderen sind über die ganze Welt verstreut. Es ist heute nicht einfach, Arbeit zu finden, wenn man nichts vorzuweisen hat als eine gute Schulbildung! Wer Glück hat, kommt als Empfangschef in einem Hotel unter. Herkunft und Manieren sind da von Vorteil. Aber ich habe nichts gefunden, nur eine Stelle als Verkäufer in einem Geschäft für sanitäre Anlagen. Exquisite pfirsichfarbene und zitronengelbe Bäder, riesige Ausstellungsräume. Aber da ich nie die Preise und Lieferfristen der verdammten Dinger wusste, hat man mich an die Luft gesetzt.

Das Einzige, was ich wirklich konnte, war tanzen und Tennis spielen. In einem Hotel an der Riviera wurde ich genommen. Leicht verdientes Geld. Es ging mir gut dort. Aber dann war einmal ein alter Colonel im Hotel, so wie man sich einen alten Colonel vorstellt, uralt, britisch bis in die Knochen, so einer, der ständig von Indien schwadroniert. Geht zum Direktor und fragt in voller Lautstärke: ‹Wo ist der Gigolo? Ich brauch den Gigolo. Meine Frau und meine Tochter wollen tanzen, verstehen Sie? Wo steckt der Bursche? Was knöpft er einem ab? Wo bleibt er denn, der Gigolo?›

Blöd, so empfindlich zu sein, aber ich war’s nun mal. Hab den Krempel hingeschmissen und bin hierher gekommen. Schlechtere Bezahlung, aber angenehmere Arbeit. Größtenteils Tennisstunden für vollschlanke Damen, die es nie und nimmer lernen werden. Und Tanzen mit den Mauerblümchen-Töchtern reicher Gäste. Aber so ist das Leben nun mal. So viel zum Thema Pech – tut mir Leid!»

Er lachte. Seine Zähne blitzten weiß, und in den Augenwinkeln erschienen Fältchen. Plötzlich wirkte er wieder gesund und glücklich und sehr lebendig.

«Schön, dass wir so miteinander plaudern können. Ich wollte Sie ohnehin sprechen.»

«Wegen Ruby Keene? Da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Ich weiß nicht, wer sie umgebracht hat. Ich wusste überhaupt sehr wenig von ihr. Sie hat sich mir nicht anvertraut.»

«Mochten Sie sie?», fragte Miss Marple.

«Nicht besonders. Aber ich hatte nichts gegen sie.» Es klang gelassen, gleichgültig.

«Sie haben also keinerlei Hinweise für uns?», fragte Sir Henry.

«Leider nein, sonst hätte ich’s Harper schon gesagt. Das ist auch wieder so was! Ein schmutziges kleines Verbrechen – keine Spuren, kein Motiv.»

«Zwei Leute hatten ein Motiv», sagte Miss Marple.

Sir Henry sah sie scharf an.

«Tatsächlich?» Raymond schien überrascht.

Unter Miss Marples durchdringendem Blick erklärte Sir Henry unwillig: «Rubys Tod bringt Mrs. Jefferson und Mr. Gaskell wahrscheinlich fünfzigtausend Pfund ein.»

«Was?», rief Raymond verblüfft, ja geradezu bestürzt. «Aber das ist doch absurd, vollkommen absurd! Mrs. Jefferson – keiner von den beiden kann etwas damit zu tun haben. Unvorstellbar, auch nur daran zu denken!»

Miss Marple hüstelte und sagte milde: «Mir scheint, Sie sind ein ziemlicher Idealist.»

«Ich?» Er lachte. «Von wegen! Ich bin ein hartgesottener Zyniker.»

«Geld», sagte Miss Marple, «ist ein mächtiges Motiv.»

«Das mag ja sein», gab Raymond heftig zurück. «Aber dass einer von den beiden kaltblütig ein Mädchen erwürgen könnte…» Er schüttelte den Kopf.

«Ah, da kommt Mrs. Jefferson zu ihrer Stunde», sagte er und erhob sich. «Sie ist spät dran.» Es klang belustigt. «Zehn Minuten zu spät!»

Adelaide Jefferson kam mit Hugo McLean angelaufen. Lächelnd entschuldigte sie sich für die Verspätung und ging dann auf den Platz. McLean setzte sich auf die Bank. Er erkundigte sich höflich, ob es Miss Marple störe, wenn er rauche, zündete seine Pfeife an und paffte eine Weile schweigend vor sich hin. Kritisch verfolgte er das Spiel der beiden und sagte schließlich: «Möchte wissen, wozu Addie Stunden nimmt. Ein Match, ja. Niemand hat mehr Spaß dran als ich. Aber Stunden?»

«Sie will ihren Stil verbessern», sagte Sir Henry.

«Spielt doch nicht schlecht. Gut genug jedenfalls. Wird ja nicht gleich in Wimbledon antreten wollen, in Dreiteufelsnamen.»

Er schwieg ein paar Minuten und sagte dann: «Wer ist dieser Raymond eigentlich? Wo kommen diese Tennistrainer überhaupt her? Wirkt irgendwie südländisch.»

«Er ist einer von den Starrs in Devonshire.»

«Wie bitte? Im Ernst?»

Sir Henry nickte. Hugo McLean schien unangenehm berührt. Er blickte finsterer drein denn je.

«Möchte wissen, wieso Addie mich hat kommen lassen. Die Sache scheint sie doch gar nicht zu berühren. Sieht besser aus denn je. Was soll ich hier?»

«Wann hat sie Sie denn verständigt?», fragte Sir Henry nicht ohne Neugier.

«Ach – äh, nachdem es passiert war.»

«Und wie? Telefonisch oder telegrafisch?»

«Telegrafisch.»

«Darf ich ganz neugierig fragen, wann das Telegramm aufgegeben wurde?»

«Hm – das kann ich nicht genau sagen.»

«Wann haben Sie es denn bekommen?»

«Ich hab es nicht direkt bekommen. Es wurde telefonisch durchgegeben.»

«Wieso, wo waren Sie denn?»

«Ich war am Nachmittag zuvor aus London weggefahren. Nach Danebury Head.»

«Ach! Das ist ja ganz in der Nähe.»

«Ja, komisch, was? Erhielt die Nachricht, als ich vom Golfspielen zurückkam, und hab mich gleich auf den Weg gemacht.»

Miss Marple betrachtete ihn nachdenklich. Er schwitzte und schien sich unbehaglich zu fühlen. «Es soll sehr hübsch sein in Danebury Head und gar nicht teuer», sagte sie.

«Richtig, sonst könnte ich mir’s auch nicht leisten. Netter kleiner Ort.»

«Wir müssen einmal hinfahren.»

«Ah, wie bitte? Ach so, ja, äh, unbedingt.» Er stand auf. «Muss mir noch etwas Bewegung verschaffen – regt den Appetit an.»

Steif ging er davon.

«Schlimm», sagte Sir Henry, «wie Frauen ihre treu ergebenen Verehrer behandeln.»

Miss Marple lächelte, gab aber keine Antwort.

«Ein ziemlicher Langweiler, finden Sie nicht? Ihre Meinung würde mich interessieren.»

«Ein wenig einseitig in seinen Ansichten vielleicht», erwiderte Miss Marple, «aber nicht ohne Möglichkeiten, nein, durchaus nicht.»

Sir Henry erhob sich ebenfalls.

«Es wird Zeit für mich – muss wieder an die Arbeit. Ah, da kommt ja Mrs. Bantry. Sie wird Ihnen Gesellschaft leisten.»


IV

Mrs. Bantry war ganz außer Atem. Ächzend ließ sie sich nieder und sagte: «Ich habe mich mit ein paar Zimmermädchen unterhalten, aber das führt auch nicht weiter. Gar nichts ist dabei herausgekommen! Meinst du wirklich, das Mädchen hätte einen Freund haben können, ohne dass das ganze Hotel davon wusste?»

«Eine interessante Frage, meine Liebe, die ich entschieden verneinen würde. Verlass dich drauf: Wenn es so war, dann hat es auch jemand gewusst! Aber sie muss sehr geschickt vorgegangen sein.»

Mrs. Bantrys Aufmerksamkeit war abgeschweift. Sie sah zum Tennisplatz hinüber. «Addie wird immer besser», sagte sie anerkennend. «Attraktiver junger Mann, dieser Trainer. Und Addie sieht auch sehr hübsch aus. Sie ist immer noch eine reizvolle Frau. Es würde mich kein bisschen überraschen, wenn sie irgendwann wieder heiraten würde.»

«Und reich ist sie außerdem, wenn Mr. Jefferson stirbt.»

«An was du immer denkst, Jane! Warum hast du den Fall eigentlich noch nicht gelöst? Wir kommen keinen Schritt voran. Ich dachte, du würdest sofort Bescheid wissen!», sagte Mrs. Bantry vorwurfsvoll.

«Aber woher denn, meine Liebe, sofort nicht. Es hat schon seine Zeit gedauert.»

Mrs. Bantry sah sie ungläubig und erschrocken an. «Du meinst, jetzt weißt du, wer Ruby Keene umgebracht hat?»

«O ja», sagte Miss Marple, «das schon!»

«Ja, und wer ist es? Nun sag schon!»

Miss Marple schüttelte energisch den Kopf und spitzte die Lippen. «Tut mir Leid, Dolly, aber das wäre ganz sicher nicht das Richtige.»

«Warum denn nicht?»

«Du bist zu indiskret. Du würdest es überall herumerzählen – oder zumindest Andeutungen machen.»

«Aber nein, keiner Menschenseele würde ich was erzählen!»

«Leute, die das sagen, sind immer die letzten, die sich daran halten. Nein, nein, meine Liebe. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. So vieles ist noch völlig unklar. Weißt du noch, damals, als ich so dagegen war, dass Mrs. Partridge fürs Rote Kreuz sammelt, und nicht sagen konnte, warum? Der Grund war, dass ihre Nase auf genau die gleiche Art gezuckt hat wie die von meinem Dienstmädchen Alice, wenn sie die wöchentlichen Rechnungen in den Geschäften bezahlte. Hat jedes Mal einen Shilling zurückbehalten und gesagt ‹Das kommt auf die nächste Rechnung›, und genau das hat Mrs. Partridge auch getan, nur in viel größerem Maßstab. Fünfundsiebzig Pfund hat sie veruntreut.»

«Reden wir nicht von Mrs. Partridge.»

«Ich wollte es dir nur erklären. Wenn es dir so wichtig ist, kann ich dir ja einen Wink geben. Alle waren viel zu leichtgläubig – das macht den Fall so schwierig. Man kann es sich einfach nicht leisten, alles zu glauben, was einem jemand sagt. Sobald mir etwas spanisch vorkommt, glaube ich überhaupt nichts mehr! Dafür kenne ich die menschliche Natur einfach zu gut.»

Mrs. Bantry schwieg eine Weile und sagte dann in verändertem Tonfall: «Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht einsehe, wieso ich mich nicht über den Fall freuen sollte. Ein richtiger Mord in meinem eigenen Haus! So etwas kommt nie wieder!»

«Das wollen wir auch nicht hoffen.»

«Du hast ja Recht. Einmal genügt. Aber es ist mein Mord, Jane, und ich möchte meinen Spaß daran haben.»

Miss Marple warf ihr einen Blick zu.

«Du glaubst mir nicht?», fragte Mrs. Bantry herausfordernd.

«Doch, Dolly, natürlich, wenn du’s sagst», erwiderte Miss Marple nachgiebig.

«Aber du hast doch eben gesagt, du glaubst überhaupt nichts. Na ja, es stimmt ja.» Mrs. Bantrys Stimme klang plötzlich bitter. «Ich bin ja nicht ganz dumm. Du denkst vielleicht, ich weiß nicht, wie die Leute in St. Mary Mead reden. Und nicht nur dort – in der ganzen Grafschaft! Kein Rauch ohne Feuer, sagen sie, einer wie der andere, und dass Arthur garantiert etwas weiß, weil die Tote in seiner Bibliothek gefunden wurde. Dass sie Arthurs Geliebte war, dass sie eine uneheliche Tochter von ihm war, dass sie ihn erpresst hat. Alles, was ihnen so in den Sinn kommt! Und das wird immer so weitergehen! Arthur wird erst nichts merken, und dann wird er sich’s nicht erklären können. Er ist ja so ein lieber alter Dummkopf, er käme gar nicht auf die Idee, dass man so etwas von ihm denken könnte. Die Leute werden ihm die kalte Schulter zeigen und ihn schief ansehen (was immer das heißen mag!), und ganz allmählich wird es ihm aufgehen, und er wird entsetzt sein und bis ins Mark getroffen, er wird sich in sein Schneckenhaus zurückziehen und nur noch in seinem Elend ausharren, Tag für Tag.

Und damit das nicht geschieht, bin ich hierher gekommen. Ich will so viel herauskriegen, wie ich nur irgend kann, und wenn es noch so unbedeutend ist! Dieser Mord muss aufgeklärt werden! Wenn nicht, dann ist Arthur verloren, und das lasse ich nicht zu. Das lasse ich nicht zu!»

Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: «Ich lasse nicht zu, dass der Gute Höllenqualen leidet für etwas, das er gar nicht getan hat. Nur deshalb habe ich ihn allein gelassen und bin hierher gefahren – um die Wahrheit zu finden.»

«Ich weiß doch, meine Liebe. Ich bin ja aus dem gleichen Grund hier.»




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