Neuntes Kapitel

I

Mrs. Bantry kam mit Adelaide Jefferson heran. Als sie Sir Henry sah, rief sie: «Sie hier?»

«Höchstpersönlich.»

Er nahm ihre beiden Hände und drückte sie voll Wärme. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid mir das alles tut, Mrs. B.»

«Nennen Sie mich nicht Mrs. B.!», rief Mrs. Bantry mechanisch und fuhr dann fort: «Arthur ist nicht hier. Er nimmt sich das alles so zu Herzen. Aber Miss Marple und ich wollen ein bisschen Detektiv spielen. Kennen Sie Mrs. Jefferson?»

«Aber gewiss.»

Man gab sich die Hand, und Adelaide Jefferson sagte: «Haben Sie schon mit meinem Schwiegervater gesprochen?»

«Ja.»

«Das ist gut. Wir machen uns solche Sorgen um ihn. Es war ein furchtbarer Schock für ihn.»

«Wollen wir nicht auf der Terrasse etwas trinken?», fragte Mrs. Bantry, «dann können wir uns in Ruhe über alles unterhalten.»

Sie gingen hinaus und gesellten sich zu Mark Gaskell, der allein am anderen Ende der Terrasse saß.

Nachdem man ein paar Belanglosigkeiten ausgetauscht hatte und die Getränke gebracht worden waren, steuerte Mrs. Bantry in ihrer üblichen Direktheit geradewegs auf ihr Ziel zu.

«Wir können doch darüber reden, nicht wahr?», fragte sie. «Schließlich sind wir ja alte Freunde, Miss Marple ausgenommen, aber sie ist die Expertin für Verbrechen. Sie möchte uns helfen.»

Mark Gaskell sah Miss Marple ein wenig beunruhigt an und fragte skeptisch: «Schreiben Sie, äh, Kriminalromane?»

Die merkwürdigsten Leute schrieben ja Kriminalromane, und Miss Marple sah in ihren altmodischen Altjungfernkleidern ganz besonders merkwürdig aus.

«Aber nein, dazu fehlt mir das Talent.»

«Sie ist großartig», sagte Mrs. Bantry ungeduldig. «Ich kann das jetzt nicht erklären, aber es ist so. Also, Addie, ich möchte alles wissen. Wie war sie eigentlich, diese Ruby Keene?»

«Nun…» Adelaide Jefferson hielt inne, warf Mark einen Blick zu und musste ein wenig lachen. «Du bist so direkt», sagte sie.

«Mochtet ihr sie?»

«Nein, natürlich nicht.»

«Wie war sie denn nun?» Mrs. Bantry verlagerte ihre Nachforschungen auf Mark Gaskell.

«Gewöhnlich. War nur aufs Geld aus. Wusste genau, wie sie’s anstellen muss. Hatte Jeff fest am Haken.»

Beide nannten ihren Schwiegervater Jeff.

Taktloser Bursche, dachte Sir Henry mit einem missbilligenden Blick auf Mark. Etwas Zurückhaltung könnte ihm nicht schaden. Er hatte Mark Gaskell nie sonderlich gemocht. Der Mann war charmant, aber unzuverlässig, er redete zu viel, prahlte gelegentlich – nicht unbedingt jemand, dem man Vertrauen entgegenbrachte. Sir Henry hatte sich manchmal gefragt, ob Conway Jefferson nicht ebenso dachte.

«Aber konnten Sie denn nichts tun?», fragte Mrs. Bantry.

«Schon», erwiderte Mark trocken, «wenn wir es rechtzeitig gemerkt hätten.»

Er warf Adelaide einen Blick zu, und sie errötete ein wenig. Ein Vorwurf lag in diesem Blick.

«Mark meint, ich hätte es voraussehen müssen», sagte sie.

«Du hast den alten Knaben zu viel allein gelassen, Addie. Die vielen Tennisstunden und das alles…»

«Ich brauchte nun mal Bewegung», sagte sie entschuldigend. «Ich hätte ja nicht im Traum gedacht…»

«Stimmt», unterbrach Mark, «wir beide hätten nicht im Traum daran gedacht. Jeff ist sonst ein so vernünftiger alter Knabe, bewahrt stets kühlen Kopf.»

«Männer», schaltete sich Miss Marple ein, «sind oft bei weitem nicht so nüchtern, wie man glaubt.» Auf ihre altjüngferliche Art sprach sie vom anderen Geschlecht wie von einer Spezies wilder Tiere.

«Da haben Sie Recht», sagte Mark. «Aber leider, Miss Marple, haben wir uns das nicht klargemacht. Wir haben uns nur gefragt, was der alte Knabe an diesem unscheinbaren, verlogenen kleinen Biest findet. Andererseits waren wir froh, dass er sich so gut amüsiert hat. Schaden kann es nichts, dachten wir. Von wegen! Ich wollte, ich hätte ihr den Hals umgedreht!»

«Mark», sagte Addie, «du solltest wirklich aufpassen, was du sagst.»

Er grinste sie freundlich an.

«Sollte ich, ja. Sonst denkt man, ich hätte ihr tatsächlich den Hals umgedreht. Aber was soll’s, ich werde ja wohl sowieso verdächtigt. Wenn jemand ein Interesse am Tod des Mädchens hatte, dann Addie und ich.»

«Mark!», rief Mrs. Jefferson halb lachend und halb ärgerlich. «Ich bitte dich!»

«Schon gut, schon gut», beschwichtigte Mark Gaskell. «Ich sage nun mal gern, was ich denke. Fünfzigtausend Pfund wollte unser geschätzter Schwiegervater dieser halbgaren, durchtriebenen Mieze aussetzen!»

«Mark, bitte! Sie ist tot.»

«Ja, sie ist tot, das arme kleine Luder. Aber warum hätte sie nicht die Waffen einer Frau einsetzen sollen? Steht mir darüber ein Urteil zu? Hab in meinem Leben selbst genug Schandtaten begangen. Sagen wir also, Ruby hatte jedes Recht, ihr Süppchen zu kochen, wir waren nur zu dumm, es ihr rechtzeitig zu versalzen.»

«Was haben Sie gesagt, als Conway Ihnen eröffnet hat, dass er das Mädchen adoptieren will?», fragte Sir Henry.

Mark breitete die Arme aus. «Was sollten wir groß sagen? Addie ist ja immer ganz Dame und hat sich bewundernswert beherrscht. Hat sich nichts anmerken lassen. Und ich hab mich bemüht, ihrem Beispiel zu folgen.»

«Also, ich hätte mich da furchtbar aufgeregt!», warf Mrs. Bantry ein.

«Dazu hatten wir, offen gestanden, nicht das Recht. Es ist Jeffs Geld, und wir sind nicht blutsverwandt mit ihm. Er war immer verdammt nett zu uns. Wir konnten nichts tun als die Kröte schlucken.» Nachdenklich fügte er hinzu: «Aber begeistert waren wir natürlich nicht.»

«Wenn es wenigstens jemand aus seinen eigenen Kreisen gewesen wäre», sagte Adelaide. «Jeff hat zwei Patenkinder. Wenn er sich eines von ihnen ausgesucht hätte – das hätte man ja noch verstanden.» Und mit leisem Groll setzte sie hinzu: «Und Peter hat er doch so gern.»

«Ach, richtig», sagte Mrs. Bantry, «das hatte ich ganz vergessen. Peter ist ja dein Sohn aus erster Ehe. Für mich war er immer Mr. Jeffersons Enkel.»

«Für mich auch», sagte Adelaide. Irgendetwas in ihrer Stimme veranlasste Miss Marple, sich ihr zuzuwenden.

«An alldem ist nur Josie schuld», sagte Mark. «Die hat sie hierher gebracht.»

«Aber du glaubst doch nicht im Ernst», sagte Adelaide, «dass sie darauf spekuliert hat? Du mochtest Josie doch immer so gern.»

«Ja. Für mich war sie immer ein guter Kumpel.»

«Es war reiner Zufall, dass sie ihre Kusine hergeholt hat.»

«Josie ist aber nicht auf den Kopf gefallen, meine Liebe.»

«Ja, sicher, aber sie konnte doch nicht voraussehen…»

«Stimmt, konnte sie nicht. Ich sage auch nicht, dass sie das alles geplant hat. Aber ich bin mir sicher, dass sie lange vor uns gemerkt hat, woher der Wind weht, und dass sie hübsch den Mund gehalten hat.»

«Das kann man ihr nicht zum Vorwurf machen», seufzte Adelaide.

«Niemandem kann man etwas zum Vorwurf machen!»

«War Ruby Keene sehr hübsch?», wollte Mrs. Bantry wissen.

Mark sah sie groß an. «Ich dachte, Sie hätten sie…»

«Ja, schon, aber nur ihre – ihre Leiche. Sie ist ja erwürgt worden, und da konnte man nicht…» Sie schauderte.

«Ich fand sie überhaupt nicht hübsch», meinte Mark nachdenklich. «Ohne Make-up wär sie’s zumindest nicht gewesen. Spitzes, schmales Gesicht, kaum Kinn, so schräg nach innen stehende Zähne, komische Nase…»

«Klingt ja schrecklich», sagte Mrs. Bantry.

«Nein, nein, so schlimm war’s auch wieder nicht. Wie gesagt, mit Make-up sah sie ganz passabel aus, nicht wahr, Addie?»

«Ja, so eine Art Reklame-Schönheit, ganz in Rosa und Weiß. Aber schöne blaue Augen hatte sie.»

«Ja, naive Babyaugen, und die kohlschwarz getuschten Wimpern haben das Blau noch betont. Die Haare waren natürlich gefärbt. Diese Farben – alles künstlich, versteht sich. Wenn ich’s mir recht überlege, hatte sie darin eine gewisse Ähnlichkeit mit Rosamund, meiner Frau. Möglich, dass der alte Mann dadurch überhaupt erst auf sie aufmerksam geworden ist.»

Er seufzte und fuhr fort: «Üble Sache jedenfalls. Und so schlimm es ist: Addie und ich sind im Grunde froh, dass sie tot ist…»

Seine Schwägerin wollte protestieren, aber er kam ihr zuvor: «Was soll’s, Addie? Ich weiß doch, wie dir zumute ist, und mir geht’s ganz genauso. Das leugne ich gar nicht! Andererseits mache ich mir schreckliche Sorgen um Jeff, verstehen Sie? Das Ganze hat ihn schwer getroffen. Ich…»

Er unterbrach sich und sah zur Terrassentür hinüber.

«Sieh mal, wer da kommt. Na, du bist mir ja eine, Addie!»

Mrs. Jefferson drehte sich um, stieß einen kleinen Schrei aus und erhob sich. Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Raschen Schrittes steuerte sie auf einen hoch gewachsenen Mann mittleren Alters mit schmalem, sonnengebräuntem Gesicht zu, der sich suchend umsah.

«Ist das nicht Hugo McLean?», fragte Mrs. Bantry.

«Allerdings», antwortete Mark Gaskell, «alias William Dobbin.»

«Ein getreuer Vasall, was?», murmelte Mrs. Bantry.

«Anhänglich wie ein Hund. Addie braucht nur zu pfeifen, schon kommt er gesprungen, egal, aus welchem Winkel der Erde. Gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie ihn eines Tages heiratet. Und irgendwann tut sie’s wohl auch.»

Miss Marple betrachtete die beiden strahlend. «Eine Romanze also.»

«Eine von der guten altmodischen Art», versicherte Mark ihr. «Das geht schon jahrelang so. Addie ist eben der Typ für so was.» Nachdenklich fügte er hinzu: «Wahrscheinlich hat sie ihn heute Morgen angerufen und mir nur nichts davon gesagt.»

Edwards näherte sich diskret und blieb neben Mark stehen.

«Verzeihung, Sir, Mr. Jefferson hätte Sie gern gesprochen.»

«Ich komme sofort.»

Mark sprang auf und nickte den anderen zu. «Bis später», sagte er und ging davon.

Sir Henry beugte sich zu Miss Marple und fragte: «Nun, was halten Sie von den Hauptnutznießern des Verbrechens?»

Miss Marple sah gedankenvoll zu Adelaide Jefferson hinüber, die sich mit ihrem alten Freund unterhielt. «Eine rührende Mutter, würde ich sagen.»

«O ja, das ist sie», sagte Mrs. Bantry. «Peter ist ihr Ein und Alles.»

«Eine Frau, die jeder mag», fuhr Miss Marple fort. «Eine, die jederzeit wieder heiraten könnte. Aber kein Vamp – das ist etwas ganz anderes.»

«Ja, ich weiß, was Sie meinen», stimmte Sir Henry zu.

«Und eine gute Zuhörerin ist sie», sagte Mrs. Bantry. «Das ist es wohl, was ihr beide meint.»

Sir Henry lachte. «Und Mark Gaskell?»

«Der? Ein durchtriebener Bursche», antwortete Miss Marple.

«Die Dorfparallele?»

«Mr. Cargill, der Bauunternehmer. Hat eine Menge Leute überredet, Sachen in ihre Häuser einbauen zu lassen, die sie gar nicht brauchten. Unsummen hat er dafür verlangt! Konnte seine Rechnungen aber immer absolut überzeugend erklären. Gerissener Bursche. Hat Geld geheiratet. Wie Mr. Gaskell, nehme ich an.»

«Sie mögen ihn wohl nicht.»

«Doch, doch. Die meisten Frauen werden ihn mögen. Aber mir kann er nichts vormachen. Er mag ja sehr attraktiv sein, aber es ist doch recht unklug von ihm, so viel zu reden.»

«Unklug – das ist das richtige Wort», sagte Sir Henry. «Wenn er nicht aufpasst, wird er sich noch um Kopf und Kragen reden.»

Ein hoch gewachsener, dunkelhaariger junger Mann in weißen Flanellhosen kam die Terrassenstufen herauf und blieb einen Moment stehen, als er Adelaide Jefferson und Hugo McLean sah.

«Und das», setzte Sir Henry die beiden Damen ins Bild, «ist X, bei dem wir ebenfalls ein gewisses Interesse annehmen dürfen. Er ist Eintänzer und Tennistrainer hier im Hotel. Raymond Starr, Ruby Keenes Partner.»

Miss Marple betrachtete ihn neugierig. «Was für ein gut aussehender junger Mann!»

«Wie man’s nimmt.»

«Na, hör mal, Henry», sagte Mrs. Bantry, «was heißt hier ‹wie man’s nimmt›? Er sieht gut aus.»

«Hat Mrs. Jefferson nicht erzählt, dass sie Tennisstunden nimmt?», murmelte Miss Marple.

«Willst du damit etwas Bestimmtes sagen, Jane?»

Miss Marple hatte keine Gelegenheit mehr, diese direkte Frage zu beantworten, denn Peter Carmody kam über die Terrasse und setzte sich zu ihnen.

«Sind Sie auch von der Polizei?», wandte er sich an Sir Henry. «Ich hab Sie vorhin mit dem Superintendent reden sehen. Der Dicke ist doch Superintendent, oder?»

«Ganz recht, mein Junge.»

«Und Sie waren ein ganz hohes Tier in London, hab ich gehört. Chef von Scotland Yard oder so.»

«Ist der Chef von Scotland Yard in Kriminalromanen nicht immer eine komplette Niete?»

«Nein, nein, jetzt nicht mehr. Die Polizei auf die Schippe zu nehmen ist längst aus der Mode. Wissen Sie schon, wer den Mord begangen hat?»

«Leider nein.»

«Das alles macht dir richtig Spaß, Peter, was?», fragte Mrs. Bantry.

«Ja, klar, ist doch mal was anderes. Ich hab schon überall nach Spuren gesucht, aber nichts gefunden. Dafür hab ich ein Andenken. Möchten Sie’s sehen? Mutter wollte, dass ich’s wegschmeiße, stellen Sie sich das vor! Eltern sind manchmal so was von komisch!»

Er griff in die Hosentasche und förderte eine Streichholzschachtel zutage, schob sie auf und präsentierte den kostbaren Inhalt.

«Ein Fingernagel! Von ihr! Ich werde ‹Fingernagel der Ermordeten› draufschreiben und ihn mit in die Schule nehmen. Gutes Andenken, was?»

«Wo hast du denn den her?», fragte Miss Marple.

«Reines Glück. Ich wusste ja noch nicht, dass sie später ermordet wird. Es war gestern Abend, kurz vor dem Essen. Ruby ist an Josies Tuch hängen geblieben und hat sich den Nagel eingerissen. Mum hat ihn ihr abgeschnitten, und ich sollte ihn in den Papierkorb werfen. Das wollte ich auch erst, aber dann hab ich ihn eingesteckt. Heute früh ist er mir wieder eingefallen, und ich hab nachgeschaut, ob er noch da ist, und jetzt hab ich mein Andenken.»

«Ist ja ekelhaft!», sagte Mrs. Bantry.

«Ja, finden Sie?», antwortete Peter höflich.

«Hast du noch andere Andenken?», fragte Sir Henry.

«Hm, ich weiß nicht. Ich hab was, das könnte auch eins sein.»

«Raus damit, junger Mann!»

Peter sah ihn nachdenklich an. Dann brachte er einen Briefumschlag zum Vorschein und zog ein bräunliches Stück Schnur daraus hervor.

«Das ist ein Stück Schnürsenkel von diesem George Bartlett», erklärte er. «Die Schuhe standen heute früh vor seiner Tür; und da hab ich’s abgemacht, für alle Fälle.»

«Für welche Fälle?»

«Na, dass er der Mörder ist. Er war der Letzte, der sie gesehen hat, und so was ist doch immer furchtbar verdächtig. Gibt’s bald Essen? Ich hab einen Riesenhunger. Wie lang das immer dauert vom Tee bis zum Abendessen! Ach, da ist ja Onkel Hugo. Ich hab gar nicht gewusst, dass Mum ihn hergeholt hat. Das macht sie immer, wenn sie in der Patsche sitzt. Da kommt Josie. Tag, Josie!»

Josephine Turner blieb stehen, sichtlich erstaunt, Mrs. Bantry und Miss Marple zu sehen.

«Guten Tag, Miss Turner», sagte Mrs. Bantry freundlich. «Wir wollen hier ein bisschen Detektiv spielen.»

Josie sah sich mit einem schnellen, schuldbewussten Blick um und sagte leise: «Es ist schrecklich. Die Leute wissen es noch nicht, weil es noch nicht in der Zeitung steht, aber bald wird mir jeder hier Fragen stellen. Das ist so peinlich, ich weiß gar nicht, was ich dann sagen soll.»

«Ja, das wird nicht ganz einfach für Sie werden», sagte Miss Marple.

Ihr Mitgefühl tat Josie wohl, und sie sah Miss Marple wehmütig an.

«Mr. Prestcott hat mich gebeten, nicht darüber zu sprechen», sagte sie. «Das ist ja schön und gut, aber alle hier werden Näheres wissen wollen, und man kann die Leute doch nicht vor den Kopf stoßen, oder? Mr. Prestcott sagt, er hofft, dass ich es schaffe, einfach so weiterzumachen wie bisher. Er war ja ziemlich wütend, also werde ich mir natürlich alle Mühe geben. Aber ich sehe gar nicht ein, dass ich an allem schuld sein soll.»

«Wären Sie so freundlich, mir eine etwas direkte Frage zu beantworten, Miss Turner?», wandte Sir Henry sich an sie.

«Fragen Sie, was immer Sie wollen», lautete Josies ein wenig heuchlerische Antwort.

«Hat es zwischen Ihnen, Mrs. Jefferson und Mr. Gaskell Unstimmigkeiten wegen der ganzen Angelegenheit gegeben?»

«Wegen des Mordes, meinen Sie?»

«Nein, nicht deswegen.»

Josie schlang die Finger ineinander und erwiderte etwas mürrisch: «Ja und nein, könnte man sagen. Gesagt haben sie nichts, aber ich glaube, sie geben mir die Schuld – daran, dass Mr. Jefferson sich so für Ruby interessiert hat, meine ich. Aber ich konnte doch nichts dafür! So was passiert eben, und ich hab vorher nicht im Traum daran gedacht, dass es passieren würde, nicht eine Sekunde! Ich – ich war selber sprachlos.»

Ihre Worte klangen unbestreitbar ehrlich.

«Das kann ich mir gut vorstellen», sagte Sir Henry freundlich. «Und nachher, als es passiert war?»

Josie warf den Kopf zurück. «Das war eben Glück. Ein bisschen Glück darf man ja wohl mal haben.»

Sie blickte fragend und ein wenig trotzig in die Runde und ging dann über die Terrasse ins Hotel zurück.

«Die war’s bestimmt nicht», sagte Peter fachmännisch.

Miss Marple murmelte: «Dieses Stück Fingernagel – interessant. Ich frage mich die ganze Zeit… Wenn ich an ihre Nägel denke…»

«Ihre Nägel?», fragte Sir Henry.

«Die Fingernägel der Toten», erklärte Mrs. Bantry. «Die waren ziemlich kurz, und jetzt, wo Jane es sagt, kommt mir das auch merkwürdig vor. Solche Mädchen haben normalerweise doch die reinsten Krallen.»

«Wenn einer abgebrochen war», sagte Miss Marple, «könnte sie die anderen natürlich auf gleiche Länge geschnitten haben. Hat man denn in ihrem Zimmer abgeschnittene Nägel gefunden?»

Sir Henry sah sie neugierig an. «Ich werde Superintendent Harper fragen, wenn er zurück ist.»

«Zurück?», wollte Mrs. Bantry wissen. «Ist er nach Gossington gefahren?»

«Nein», erwiderte Sir Henry ernst. «Es ist schon wieder etwas Schreckliches passiert. Ein ausgebranntes Auto, in einem Steinbruch.»

Miss Marple schnappte nach Luft. «War jemand drin?»

«Leider ja.»

Miss Marple überlegte. «Bestimmt die vermisste Pfadfinderin», sagte sie dann. «Patience – nein, Pamela Reeves.»

Sir Henry starrte sie an. «Wie kommen Sie denn darauf, Miss Marple?»

Miss Marple errötete. «Ich hab im Radio gehört, dass sie vermisst wird, seit gestern Abend. Sie hat in Daneleigh Vale gewohnt, nicht weit von hier. Zuletzt hat man sie ganz in der Nähe gesehen, bei einem Pfadfinderinnentreffen in den Danebury Downs. Auf dem Nachhauseweg musste sie durch Danemouth. Das passt alles zusammen, nicht wahr? Sieht fast so aus, als hätte sie etwas gesehen – oder vielleicht gehört –, was niemand sehen oder hören sollte. Dann hätte sie dem Mörder gefährlich werden können und musste – beseitigt werden. Da muss es einfach einen Zusammenhang geben, meinen Sie nicht?»

Sir Henry senkte die Stimme. «Sie meinen – ein zweiter Mord?»

«Warum nicht?» Ihr ruhiger, gelassener Blick begegnete seinem. «Wer einen Mord begangen hat, der schreckt vor einem zweiten nicht zurück. Auch nicht vor einem dritten.»

«Einem dritten? Glauben Sie denn, es wird auch noch ein dritter Mord geschehen?»

«Das halte ich für möglich… Ja, das halte ich für durchaus möglich.»

«Miss Marple», sagte Sir Henry, «Sie machen mir Angst. Wissen Sie denn auch, wer das Opfer sein wird?»

«Ich habe da eine ziemlich konkrete Vermutung.»




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