Sechstes Kapitel

I

Weder der Nachtportier noch der Barkeeper erwiesen sich als besonders hilfreich. Der Nachtportier erinnerte sich, dass er kurz nach Mitternacht bei Miss Keene oben angerufen, dass aber niemand abgenommen hatte. Mr. Bartlett hatte er weder beim Verlassen noch beim Betreten des Hotels gesehen. Es sei ein schöner Abend gewesen, an dem sehr viele Damen und Herren ein und aus gegangen seien. Und außer dem Haupteingang zur Halle gebe es ja auch noch die Seiteneingänge zu den Fluren. Er sei sich so gut wie sicher, dass Miss Keene nicht durch den Haupteingang hinausgegangen sei. Von ihrem Zimmer im ersten Stock aus habe sie wahrscheinlich die Treppe dort und dann die Tür am Ende des Flurs benutzt, die auf die seitliche Terrasse führe. Auf diese Weise habe sie das Haus ohne weiteres ungesehen verlassen können, denn die Tür sei erst nach dem Tanzen um zwei Uhr abgeschlossen worden.

Der Barkeeper wusste noch, dass Mr. Bartlett in der Bar gewesen war, konnte aber nicht sagen, wann. Irgendwann im Verlauf des Abends, meinte er. Mr. Bartlett habe an der Wand gesessen und ziemlich deprimiert gewirkt. Wie lange er geblieben sei, wisse er nicht. Es seien auch viele auswärtige Gäste da gewesen. Er hatte George Bartlett zwar gesehen, konnte aber keinerlei Zeitangaben machen.


II

Beim Verlassen der Bar wurden sie von einem etwa neunjährigen Jungen angehalten, der sofort aufgeregt lossprudelte.

«Sind Sie die Kriminalpolizei? Ich bin Peter Carmody. Mr. Jefferson, der wegen Ruby die Polizei gerufen hat, ist mein Großvater. Sind Sie von Scotland Yard? Ich darf doch mit Ihnen reden, oder?»

Colonel Melchett machte ein Gesicht, als wollte er den Jungen kurz abfertigen, doch Superintendent Harper kam ihm zuvor und sagte freundlich: «Aber natürlich, mein Junge. Verständlich, dass dich die Sache interessiert.»

«Und wie! Mögen Sie Kriminalromane? Ich schon. Ich lese alle, und ich hab Autogramme von Dorothy Sayers und Agatha Christie und Dickson Carr und H. C. Bailey. Kommt der Mord in die Zeitung?»

«Worauf du dich verlassen kannst», sagte Superintendent Harper grimmig.

«Nächste Woche fängt nämlich die Schule wieder an, und da kann ich dann allen erzählen, dass ich sie gekannt hab, dass ich sie richtig gut gekannt hab.»

«Und wie fandest du sie, hm?»

Peter überlegte.

«Also, ich hab sie nicht besonders gemocht. Ich glaub, sie war ein bisschen dumm. Mum und Onkel Mark haben sie auch nicht gemocht. Nur Großvater. Ach so, ja, Großvater will Sie sprechen. Edwards sucht Sie schon.»

Superintendent Harper ermunterte den Jungen weiterzureden.

«Soso, deine Mutter und dein Onkel Mark mochten Ruby Keene nicht besonders. Und warum nicht?»

«Ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht weil sie immer mitten reingeplatzt ist. Und weil Großvater so viel Wirbel um sie gemacht hat, das hat ihnen auch nicht gefallen. Wahrscheinlich sind sie froh, dass sie tot ist», sagte Peter vergnügt.

Superintendent Harper sah den Jungen nachdenklich an.

«Haben sie – äh – haben sie das gesagt?», fragte er.

«Nicht direkt. Onkel Mark hat gesagt: ‹Immerhin eine Lösung›, und Mum hat gesagt: ‹Ja, aber eine grauenvolle›, und Onkel Mark hat gesagt, sie soll nicht so scheinheilig tun.»

Die beiden Männer wechselten einen Blick. Im selben Moment trat ein distinguiert wirkender, glatt rasierter, korrekt in blauen Serge gekleideter Mann zu ihnen.

«Entschuldigen Sie, meine Herren. Ich bin Mr. Jeffersons Kammerdiener. Er ist aufgewacht und lässt Sie bitten – er möchte Sie dringend sprechen.»

Zum zweiten Mal stiegen sie zu Conway Jeffersons Suite hinauf. Im Salon unterhielt sich Adelaide Jefferson mit einem hoch gewachsenen, nervös wirkenden Mann, der rastlos auf und ab ging. Als sie eintraten, fuhr er herum.

«Ach, gut, dass Sie kommen. Mein Schwiegervater hat schon nach Ihnen gefragt. Er ist jetzt wach. Versuchen Sie ihn möglichst nicht zu beunruhigen, ja? Sein Gesundheitszustand ist nicht der beste. Ein wahres Wunder, dass der Schock ihn nicht umgeworfen hat.»

«Ich wusste gar nicht, dass er in so schlechter Verfassung ist.»

«Er weiß es selbst nicht», sagte Mark Gaskell. «Das Herz, verstehen Sie? Keine größeren Aufregungen, hat der Arzt zu Addie gesagt. Er hat ihr mehr oder weniger deutlich zu verstehen gegeben, dass es jederzeit zu Ende gehen kann, nicht wahr, Addie?»

Mrs. Jefferson nickte. «Erstaunlich, wie er sich wieder erholt hat», sagte sie.

«Mord ist natürlich nicht gerade ein Beruhigungsmittel», sagte Colonel Melchett trocken, «aber wir werden so behutsam wie möglich vorgehen.»

Während er sprach, taxierte er Mark Gaskell. Der Bursche gefiel ihm nicht. Ein anmaßendes, skrupellos wirkendes Raubvogelgesicht. Einer jener Männer, die es gewohnt sind, ihren Willen durchzusetzen, und oft von Frauen bewundert werden.

Dem würde ich nicht über den Weg trauen, dachte der Colonel bei sich. Skrupellos – das war das richtige Wort. Einer, der vor nichts zurückschreckte.


III

In dem großen Schlafzimmer, das aufs Meer hinausging, saß Conway Jefferson in seinem Rollstuhl am Fenster.

Sobald man sich mit ihm in einem Raum befand, spürte man die Kraft und Ausstrahlung dieses Mannes. Es war, als hätten die Verletzungen, die ihn zum Krüppel gemacht hatten, alle Energie seines zerstörten Körpers gebündelt und gesteigert.

Er hatte einen schönen Kopf mit leicht angegrautem rotem Haar. Die Augen in dem markant zerfurchten, tief gebräunten Gesicht waren geradezu bestürzend blau. Nichts an Mr. Jefferson verriet Krankheit oder Trübsinn. Die tiefen Linien in seinem Gesicht waren Linien des Leidens, nicht der Schwäche. Er war ein Mann, der niemals mit dem Schicksal haderte, sondern es annahm und neuen Ufern zustrebte.

«Ich bin froh, dass sie gekommen sind», sagte er. Er musterte sie mit einem raschen Blick und wandte sich an Melchett: «Sie sind der Chief Constable von Radfordshire? Ah, ja. Und Sie müssen Superintendent Harper sein. Setzen Sie sich doch. Zigaretten finden Sie auf dem Tisch neben Ihnen.»

Sie bedankten sich und nahmen Platz. Melchett sagte: «Wie ich höre, haben Sie sich für die Tote interessiert, Mr. Jefferson?»

Ein gequältes Lächeln huschte über das zerfurchte Gesicht.

«Ja, das haben Ihnen wohl alle gleich erzählt! Nun, es ist auch kein Geheimnis. Was hat Ihnen denn meine Familie gesagt?» Sein Blick wanderte rasch zwischen den beiden Männern hin und her.

Die Antwort gab Colonel Melchett: «Nicht viel. Mrs. Jefferson hat nur erwähnt, dass Sie das Geplauder des Mädchens amüsant fanden und dass sie eine Art Schützling von Ihnen war. Mit Mark Gaskell haben wir nur ein paar Worte gewechselt.»

Conway Jefferson lächelte.

«Addie ist immer so diskret, die Gute! Mark hätte sich da weniger Zwang angetan. Am besten, Melchett, ich berichte etwas ausführlicher, damit Sie meine Haltung verstehen. Anfangen muss ich dazu bei der großen Tragödie meines Lebens. Vor acht Jahren habe ich bei einem Flugzeugabsturz meine Frau, meinen Sohn und meine Tochter verloren. Seitdem bin ich nur noch ein Schatten meiner selbst – ich spreche nicht von meinem körperlichen Zustand. Ich war ein ausgesprochener Familienmensch. Meine Schwiegertochter und mein Schwiegersohn haben sich rührend um mich gekümmert und alles getan, um mir mein eigen Fleisch und Blut zu ersetzen. Aber mir ist klar geworden – besonders in letzter Zeit –, dass sie ihr eigenes Leben führen müssen.

Sie werden also verstehen, dass ich im Grunde ein einsamer Mann bin. Ich mag junge Menschen. Sie machen mir Freude. Ein paar Mal hatte ich schon mit dem Gedanken gespielt, ein Mädchen oder einen Jungen zu adoptieren. In den letzten Wochen hatte ich mich sehr mit Ruby Keene angefreundet. Sie war so unbefangen und natürlich. Sie hat mir viel von sich erzählt, von ihren Erlebnissen als Darstellerin in Weihnachtsaufführungen und bei Tourneetheatern, als Kind mit ihren Eltern in möblierten Zimmern. Ein Leben, das so anders war als alles, was ich kannte! Und nie hat sie geklagt oder sich dafür geschämt. Sie war einfach ein natürliches, positiv eingestelltes, fleißiges Kind, charmant und unverdorben. Vielleicht nicht unbedingt eine Dame, aber zum Glück weder vulgär noch geziert.

Ruby wuchs mir immer mehr ans Herz, und ich beschloss, sie zu adoptieren, meine Herren. Ich wollte, dass sie meine rechtmäßige Tochter wird. Das erklärt hoffentlich meine Sorge um sie und die Schritte, die ich unternahm, als ich von ihrem unerklärlichen Verschwinden hörte.»

Eine Pause trat ein. Dann sprach Superintendent Harper, und sein nüchterner Ton nahm seiner Stimme alles Kränkende. «Darf ich fragen, was Ihr Schwiegersohn und Ihre Schwiegertochter dazu gesagt haben?»

Jeffersons Antwort kam prompt: «Was sollten sie groß sagen? Begeistert waren sie vielleicht nicht – so etwas weckt ja leicht eine gewisse Voreingenommenheit –, aber sie haben sich sehr anständig benommen, wirklich sehr anständig. Die beiden sind keineswegs abhängig von mir, müssen Sie wissen. Als mein Sohn Frank geheiratet hat, habe ich ihm die Hälfte meines Vermögens übertragen. Das ist in meinen Augen eine gute Sache. Man sollte seine Kinder nicht warten lassen, bis man tot ist. Sie brauchen das Geld, solange sie jung sind, und nicht erst Jahre später. Deshalb habe ich auch meiner Tochter Rosamund, als sie partout einen armen Mann heiraten wollte, eine hohe Summe ausgesetzt, die nach ihrem Tod auf ihn übergegangen ist. Sie sehen, finanziell lagen die Dinge recht einfach.»

«Ich verstehe, Mr. Jefferson», sagte Superintendent Harper, doch in seiner Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit, die Conway Jefferson nicht entging.

«Aber Sie sind anderer Meinung, wie?», fragte er.

«Ich möchte mir da kein Urteil anmaßen, Sir, aber meiner Erfahrung nach lassen sich Mitglieder einer Familie nicht immer von der Vernunft leiten.»

«Da mögen Sie durchaus Recht haben, Superintendent, aber Sie dürfen nicht vergessen, dass Mr. Gaskell und Mrs. Jefferson streng genommen keine Familienmitglieder sind. Sie sind nicht blutsverwandt mit mir.»

«Gewiss, das ist natürlich etwas anderes», räumte der Superintendent ein.

Conway Jefferson blinzelte. «Was aber nicht heißt, dass sie mich nicht für einen alten Narren gehalten haben – eine durchaus normale Reaktion übrigens. Aber ich war kein Narr. Einen guten Charakter erkenne ich sehr wohl. Mit etwas Bildung und gesellschaftlichem Schliff hätte sich Ruby Keene überall behauptet.»

«Es tut mir Leid, dass wir so indiskret sein müssen, aber es ist nun einmal wichtig, dass alle Fakten zusammengetragen werden. Sie hatten vor, uneingeschränkt für das Mädchen Vorsorge zu treffen, ihr also Geld auszusetzen, aber Sie hatten es noch nicht getan?»

«Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie meinen, jemand könnte vom Tod des Mädchens profitieren. Aber das wäre gar nicht möglich. Die nötigen Schritte für die Adoption waren zwar eingeleitet, aber noch nicht abgeschlossen.»

«Wenn Ihnen also etwas zustoßen würde…?»

Er vollendete den Satz nicht, doch Conway Jefferson hatte die Antwort schon parat.

«Was sollte mir zustoßen? Ich bin ein Krüppel, aber ich bin nicht krank! Auch wenn die Ärzte gern lange Gesichter machen und mir raten, es nicht zu übertreiben. Übertreiben! Ich fühle mich bärenstark! Aber natürlich bin ich mir der Unausweichlichkeit des Schicksals bewusst – mein Gott, ich habe allen Grund dazu! Der Tod kann auch den Stärksten plötzlich treffen, zumal bei den vielen Verkehrsunfällen heutzutage. Aber ich habe vorgesorgt. Vor etwa zehn Tagen habe ich ein neues Testament gemacht.»

«Ach ja?» Superintendent Harper beugte sich vor.

«Ich hatte Ruby Keene fünfzigtausend Pfund ausgesetzt, die bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag treuhänderisch verwaltet werden sollten.»

Superintendent Harpers Augen weiteten sich, Colonel Melchetts ebenso. «Das ist eine sehr hohe Summe, Mr. Jefferson», sagte Harper fast ehrfurchtsvoll.

«Heute ja.»

«Und die wollten Sie einem Mädchen überlassen, das sie erst wenige Wochen kannten?»

Zorn blitzte in den leuchtend blauen Augen auf.

«Wie oft muss ich es denn noch sagen? Ich habe keine Blutsverwandten, keine Nichten und Neffen, nicht einmal entfernte Vettern oder Kusinen! Ich hätte das Geld auch für einen guten Zweck stiften können, aber eine Einzelperson ist mir lieber!» Er lachte. «Aschenputtel wurde über Nacht Prinzessin! Die männliche Variante der guten Fee. Warum nicht? Es ist mein Geld. Ich habe es selbst verdient.»

«Haben Sie noch andere Verfügungen getroffen?», fragte Colonel Melchett.

«Edwards, mein Kammerdiener, erhält ein kleines Legat, der Rest geht zu gleichen Teilen an Mark und Addie.»

«Und dieser Rest – Sie entschuldigen –, handelt es sich da um einen großen Betrag?»

«Wahrscheinlich nicht. Genau lässt sich das schwer sagen, Kapitalanlagen schwanken ja ständig. Nach Abzug der Kosten für die Beerdigung und aller sonstigen Ausgaben werden wohl um die fünf- bis zehntausend Pfund übrig bleiben.»

«Aha.»

«Halten Sie mich bitte nicht für kleinlich. Bei der Heirat meiner Kinder habe ich, wie gesagt, mein Vermögen aufgeteilt. Für mich selbst habe ich nur eine ganz geringe Summe zurückbehalten. Aber nach – nach der Tragödie habe ich mich in die Arbeit gestürzt, um mich abzulenken. In meinem Haus in London habe ich eigens eine direkte Leitung vom Schlafzimmer in mein Büro legen lassen. Ich habe hart gearbeitet. Das hat mich vom Nachdenken abgehalten und mir das Gefühl gegeben, dass meine – meine Verstümmelung mich nicht niederzwingen kann. Ich habe mich ganz aufs Geschäft konzentriert» – seine Stimme wurde tiefer, und er schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu seinen Zuhörern – «und ironischerweise gedieh alles, was ich tat, prächtig! Die gewagtesten Spekulationen hatten Erfolg, riskante Manöver glückten, alles, was ich anfasste, verwandelte sich in Gold. Als wollte das Schicksal einen gerechten Ausgleich schaffen.»

Die Leidenslinien in seinem Gesicht schienen sich zu vertiefen. Doch er fasste sich wieder und lächelte sarkastisch.

«Sie sehen also, die Summe, die ich Ruby hinterlassen wollte, war unbestreitbar mein Eigentum, ich konnte damit tun und lassen, was ich wollte.»

«Ganz ohne Frage, mein Lieber», beeilte sich Melchett zu versichern, «das steht für uns völlig außer Zweifel.»

«Gut», sagte Conway Jefferson. «Und jetzt würde ich gern meinerseits einige Fragen stellen, wenn Sie gestatten. Ich möchte mehr über diese – diese schreckliche Sache hören. Bisher weiß ich nur, dass sie – dass die kleine Ruby erwürgt in einem Haus etwa zwanzig Meilen von hier entfernt aufgefunden wurde.»

«So ist es. In Gossington Hall.»

Jefferson runzelte die Brauen.

«Gossington? Aber das ist doch…»

«Colonel Bantrys Haus.»

«Bantry? Arthur Bantry? Aber den kenne ich ja! Ihn und seine Frau! Habe die beiden vor ein paar Jahren im Ausland kennen gelernt. Ich wusste gar nicht, dass sie hier in der Gegend wohnen. Das ist ja…»

Er brach ab. Superintendent Harper ergriff die Gelegenheit und sagte rasch: «Colonel Bantry hat letzten Dienstag hier im Hotel gespeist. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen?»

«Dienstag? Dienstag? Nein, da sind wir erst spät zurückgekommen. Wir waren in Harden Head und laben auf der Rückfahrt unterwegs gegessen.»

«Hat Ruby Keene die Bantrys nie erwähnt?», fragte Melchett.

Jefferson schüttelte den Kopf. «Nein. Kann mir nicht denken, dass sie sie gekannt hat. Bestimmt nicht. Sie hat nur mit Theaterleuten und dergleichen verkehrt.»

Er machte eine Pause und fragte dann unvermittelt: «Was sagt denn Bantry zu der Sache?»

«Er kann sich das alles überhaupt nicht erklären. Gestern Abend war er bei einer Versammlung der Konservativen Gesellschaft. Die Leiche ist heute früh entdeckt worden. Er sagt, er hat das Mädchen nie gesehen.»

Jefferson nickte. «Es ist wirklich absurd.»

Superintendent Harper räusperte sich und fragte: «Haben Sie irgendeine Vermutung, Sir, wer der Täter sein könnte?»

«Großer Gott, ich wollte, ich hätte eine!» Die Adern an Jeffersons Stirn schwollen an. «Es ist einfach unfassbar, unvorstellbar! Wenn es nicht wirklich passiert wäre, würde ich sagen, es kann einfach nicht sein!»

«Gab es nicht irgendeinen Freund – von früher –, einen Mann, der sich in Rubys Nähe herumtrieb oder sie bedrohte?»

«Nein, ganz bestimmt nicht. Und wenn, dann hätte sie es mir erzählt. Sie hatte noch nie einen richtigen ‹Freund›. Das hat sie mir selbst gesagt.»

Gesagt mag sie das ja haben, dachte Superintendent Harper, aber ob es stimmt?

«Was sagt denn Josie?», fragte Conway Jefferson. «Sie müsste es doch besser als jeder andere wissen, wenn irgendein Mann Ruby nachgestellt oder sie belästigt hätte. Kann sie Ihnen nicht weiterhelfen?»

«Angeblich nicht.»

«Ich werde das Gefühl nicht los, dass hier ein krankes Hirn am Werk war. Die Brutalität des Vorgehens, der Einbruch – das alles ist so unlogisch und sinnlos. Es gibt ja solche Männer. Äußerlich wirken sie völlig normal, aber dann locken sie Mädchen an – manchmal sogar Kinder – und bringen sie um. Sexualverbrecher, genau genommen.»

«Ja, solche Fälle gibt es in der Tat», sagte Harper. «Aber uns liegen keinerlei Hinweise darauf vor, dass ein solcher Mensch hier in der Gegend sein Unwesen treibt.»

Jefferson fuhr fort: «Ich habe noch einmal alle Männer Revue passieren lassen, mit denen ich Ruby gesehen habe: Hotelgäste, Leute von außerhalb – Männer, mit denen sie getanzt hat. Sie scheinen alle ganz harmlos – das Übliche eben. Einen speziellen Freund hatte sie nicht.»

Superintendent Harpers Gesicht zeigte keinerlei Regung, nur in seinen Augen glomm es noch immer skeptisch, was Jefferson jedoch entging. Ruby Keene, dachte er, könnte sehr wohl einen speziellen Freund gehabt haben, von dem ihr Gönner nur nichts wusste. Aber er sagte nichts.

Der Chief Constable warf ihm einen fragenden Blick zu und erhob sich. «Vielen Dank, Mr. Jefferson», sagte er. «Das wäre vorerst alles.»

«Sie halten mich doch auf dem Laufenden?»

«Aber gewiss doch, wir bleiben in Verbindung.»

Die beiden Männer gingen, und Conway Jefferson lehnte sich zurück. Seine Lider senkten sich über das grelle Blau seiner Augen. Plötzlich sah er sehr alt aus. Nach einigen Minuten zuckten seine Lider, und er rief: «Edwards!»

Sofort trat aus dem Zimmer nebenan der Kammerdiener ein. Edwards kannte seinen Herrn wie niemand sonst. Andere, selbst die Menschen in seiner nächsten Umgebung, kannten nur seine Stärke. Edwards aber kannte auch seine Schwäche. Er hatte Conway Jefferson müde gesehen, mutlos, voller Lebensüberdruss, hatte Momente erlebt, in denen körperliche Hilflosigkeit und Einsamkeit ihn überwältigten.

«Ja, Sir?»

«Rufen Sie Sir Henry Clithering an. Er ist in Melborne Abbas. Bitten Sie ihn herzukommen, möglichst noch heute. Sagen Sie ihm, es ist dringend.»




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