Fünftes Kapitel

I

Colonel Melchett hatte einen zutiefst aufgewühlten Hoteldirektor vor sich. Ebenfalls anwesend waren Superintendent Harper, der Polizeichef von Glenshire, und der unvermeidliche Inspektor Slack, Letzterer ziemlich verschnupft, weil der Chief Constable den Fall an sich gerissen hatte.

Superintendent Harper neigte dazu, den tränennahen Mr. Prestcott mit Samthandschuhen anzufassen, Colonel Melchett tendierte eher zu rücksichtsloser Härte.

«Was passiert ist, ist passiert», sagte er scharf. «Das Mädchen ist tot – erwürgt. Sie können von Glück sagen, dass es nicht in Ihrem Hotel passiert ist. Die Untersuchung findet in einer anderen Grafschaft statt, also besteht für den Ruf Ihres Hauses kaum eine Gefahr. Aber gewisse Ermittlungen müssen nun einmal durchgeführt werden, und zwar je eher, desto besser. Auf unsere Diskretion können Sie sich verlassen. Ich schlage also vor, Sie lassen das Herumgerede und kommen zur Sache. Was genau wissen Sie von Ruby Keene?»

«Nichts weiß ich von ihr, rein gar nichts. Josie hat sie hierher gebracht.»

«Und Josie ist schon länger hier?»

«Zwei Jahre – nein, drei.»

«Mögen Sie sie?»

«Ja, Josie ist ein anständiges Mädchen, ein nettes Mädchen. Sehr tüchtig. Geschickt im Umgang mit den Leuten, glättet Differenzen – Sie wissen ja, Bridge ist ein etwas heikles Spiel…»

Colonel Melchett nickte wissend. Seine Frau war eine leidenschaftliche, aber miserable Bridgespielerin.

«Josie versteht es wunderbar, Unstimmigkeiten auszuräumen», fuhr Mr. Prestcott fort. «Sie kann sehr gut mit Menschen umgehen – freundlich, aber entschieden, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Wieder nickte Melchett. Jetzt wusste er, woran ihn Josephine Turner erinnerte. Trotz ihrer schicken Aufmachung hatte sie entschieden etwas von einem Kindermädchen an sich.

«Und ich bin auf sie angewiesen», fuhr Mr. Prestcott fort. Sein Gesicht legte sich in kummervolle Falten. «Was muss sie auch so blödsinnig auf glitschigen Steinen herumturnen? Wir haben hier doch einen schönen Strand! Warum kann sie nicht da baden? Rutscht aus und bricht sich den Knöchel! Das war nicht fair, mir und dem Hotel gegenüber! Ich bezahle sie schließlich dafür, dass sie tanzt und Bridge spielt und die Leute bei Laune hält, und nicht dafür, dass sie an einem Felsenstrand badet und sich den Knöchel bricht. Eine Tänzerin muss doch auf ihre Knöchel achten und darf kein Risiko eingehen. Ich bin sehr ungehalten!»

Colonel Melchett unterbrach die Tirade des Direktors.

«Und da hat Josie vorgeschlagen, das Mädchen herzuholen, ihre Kusine?»

«Richtig», antwortete Prestcott unwirsch. «Das schien mir recht vernünftig. Mehr Geld wollte ich allerdings nicht ausgeben. Das Mädchen bekam Kost und Logis, über das Geld mussten sich die beiden untereinander einigen. So wurde das geregelt. Ich wusste von dem Mädchen überhaupt nichts.»

«Aber sie hat sich bewährt?»

«Durchaus, da gab es nichts zu beanstanden. Sie war zwar sehr jung und von der Aufmachung her etwas gewöhnlich für ein Haus wie unseres, aber sie hatte eine nette Art, ruhig und wohlerzogen. Gute Tänzerin. Die Leute mochten sie.»

«Hübsch?»

Eine Frage, die beim Anblick des blau geschwollenen Gesichts nicht zu beantworten gewesen war.

Mr. Prestcott überlegte.

«Es geht so. Etwas wieselhaft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Hätte ohne Make-up nicht viel hergemacht. Aber so sah sie recht reizvoll aus.»

«Sind viele junge Männer um sie herumscharwenzelt?»

«Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Sir», Mr. Prestcott wurde wieder unruhig. «Also, ich habe nichts bemerkt. Nichts Besonderes jedenfalls. Ein paar von den Jungen sind ständig um sie herumgestrichen, aber alles ganz harmlos. Nichts in Richtung Erwürgen, würde ich sagen. Sie hat es auch mit älteren Leuten gut verstanden, hat so unbefangen drauflosgeplappert – ganz kindlich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die Herrschaften fanden das amüsant.»

«Mr. Jefferson auch?», fragte Superintendent Harper mit tiefer, melancholischer Stimme.

Der Direktor bejahte.

«Gerade an Mr. Jefferson hatte ich dabei gedacht. Sie war viel mit ihm und seiner Familie zusammen. Manchmal hat er sie auch auf Autofahrten mitgenommen. Mr. Jefferson hat gern junge Leute um sich und ist sehr nett zu ihnen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Als Invalide hat er nicht viel Bewegungsfreiheit, nur soweit sein Rollstuhl es zulässt. Aber er sieht es immer gern, wenn junge Leute sich vergnügen – schaut ihnen beim Tennis und beim Baden zu und dergleichen –, und er gibt hier im Haus Gesellschaften für sie. Er liebt die Jugend, und er ist keineswegs verbittert, wie man erwarten könnte. Ein sehr beliebter Herr und ein Mann von Charakter, würde ich sagen.»

«Und für Ruby Keene hat er sich interessiert?»

«Er fand ihr Geplauder amüsant, nehme ich an.»

«Haben seine Verwandten seine Vorliebe für sie geteilt?»

«Sie waren immer ausgesprochen freundlich zu ihr.»

Harper fragte: «Und Mr. Jefferson war es also, der Ruby bei der Polizei als vermisst gemeldet hat?»

Er stellte die Frage in einem bewusst viel sagenden, vorwurfsvollen Ton, auf den der Direktor auch prompt reagierte.

«Versetzen Sie sich doch einmal in meine Lage, Mr. Harper. Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte. Bis Mr. Jefferson zu mir kam, in heller Aufregung. Das Mädchen sei über Nacht ausgeblieben, schon zu ihrem letzten Tanz sei sie nicht erschienen, sie müsse irgendwohin gefahren und möglicherweise verunglückt sein. Man müsse sofort die Polizei verständigen! Nachforschungen anstellen! Völlig außer sich war er und reichlich anmaßend. Er hat dann gleich von meinem Büro aus die Polizei gerufen.»

«Ohne Miss Turner zu fragen?»

«Ja, und dass Josie nicht sehr erbaut davon war, hat man ihr angesehen. Sie war wütend über die ganze Sache, wütend auf Ruby, meine ich. Aber was sollte sie machen?»

«Am besten», sagte Melchett, «wir unterhalten uns einmal mit Mr. Jefferson persönlich, was, Harper?»

Superintendent Harper war einverstanden.


II

Mr. Prestcott ging mit ihnen in Conway Jeffersons Suite hinauf. Sie lag im ersten Stock, mit Blick aufs Meer.

«Lässt sich’s offenbar gut gehen», sagte Melchett beiläufig. «Reicher Mann?»

«Ja, sehr wohlhabend, glaube ich. Da wird an nichts gespart. Die besten Zimmer, Essen meist à la carte, teure Weine – alles vom Feinsten.»

Melchett nickte.

Mr. Prestcott klopfte an, und eine Frauenstimme sagte: «Herein!»

Der Direktor trat ein, und die anderen folgten ihm.

«Verzeihen Sie die Störung, Mrs. Jefferson», sagte er in bedauerndem Ton zu der Frau, die ihnen von ihrem Platz am Fenster aus entgegensah. «Aber die Herren sind von der Polizei und hätten gern ein paar Worte mit Mr. Jefferson gewechselt. Äh, Colonel Melchett, Superintendent Harper, Inspektor, äh, Slack – Mrs. Jefferson.»

Mrs. Jefferson quittierte die Vorstellung mit einem Neigen des Kopfes.

Eine unscheinbare Person, war Melchetts erster Eindruck. Doch als ein leichtes Lächeln auf ihre Lippen trat und sie zu reden anfing, änderte er seine Meinung. Sie hatte eine außerordentlich charmante, sympathische Art zu sprechen und schöne, klare haselnussbraune Augen. Sie war dezent, aber nicht unvorteilhaft gekleidet und musste seiner Schätzung nach Mitte dreißig sein.

«Mein Schwiegervater schläft gerade», sagte sie. «Er ist ohnehin nicht der Kräftigste, und diese Sache hat ihn furchtbar mitgenommen. Wir mussten den Arzt rufen, und der hat ihm ein Beruhigungsmittel gegeben. Sobald er aufwacht, wird er sich sicher gern mit Ihnen unterhalten. Kann ich Ihnen vielleicht solange weiterhelfen? Möchten Sie nicht Platz nehmen?»

Mr. Prestcott, auf Flucht bedacht, fragte Colonel Melchett: «Nun, äh, wenn ich sonst nichts mehr für Sie tun kann…» Er zog sich dankbar zurück.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, lockerte sich die Stimmung. Adelaide Jefferson besaß die Gabe, eine ruhige, entspannte Atmosphäre zu schaffen. Sie war eine Frau, die zwar selbst nichts Bemerkenswertes von sich gab, es aber verstand, andere zum Reden zu ermuntern und ihnen die Befangenheit zu nehmen. Auch jetzt traf sie den richtigen Ton.

«Das war für uns alle ein furchtbarer Schock», sagte sie. «Wir waren sehr häufig mit dem armen Mädchen zusammen, müssen Sie wissen. Irgendwie können wir es noch gar nicht glauben. Mein Schwiegervater ist völlig außer sich. Er hatte Ruby sehr gern.»

«Wie ich höre, hat Mr. Jefferson ihr Verschwinden der Polizei gemeldet?», fragte Colonel Melchett.

Er wollte sehen, wie sie darauf reagierte. Einen Moment lang glomm Ärger in ihren Augen auf – oder war es Besorgnis? Was genau, hätte er nicht zu sagen gewusst, aber etwas war da, und er hatte das deutliche Gefühl, dass sie sich gleichsam für eine unangenehme Aufgabe wappnen musste, ehe sie fortfuhr.

«So ist es», sagte sie. «In seinem Zustand regt er sich leicht auf und macht sich immer gleich Sorgen. Wir haben versucht, ihn zu beruhigen: Es sei alles in Ordnung, es gebe sicher eine ganz harmlose Erklärung, das Mädchen selbst würde bestimmt nicht wollen, dass man die Polizei ruft – aber er hat darauf bestanden. Nun ja», schloss sie mit einer vagen Handbewegung, «er hatte Recht, und wir hatten Unrecht.»

«Wie gut kannten Sie Ruby Keene, Mrs. Jefferson?», fragte Melchett.

Sie dachte einen Moment nach.

«Schwer zu sagen. Mein Schwiegervater mag junge Menschen sehr und hat sie gerne um sich. Ruby war ein ganz neuer Typ für ihn, ihr Geplauder hat ihn amüsiert und interessiert. Sie war hier im Hotel oft mit uns zusammen, und manchmal hat mein Schwiegervater sie auf Autofahrten mitgenommen.»

Das alles klang recht unverbindlich. Sie könnte mehr sagen, wenn sie wollte, dachte Melchett im Stillen.

«Würden Sie mir nun bitte so genau wie möglich schildern, was gestern Abend vorgefallen ist?», fragte er.

«Gern, aber ich fürchte, es wird Ihnen nicht viel weiterhelfen. Nach dem Dinner saß Ruby mit uns im Gesellschaftsraum, auch noch, als man schon angefangen hatte zu tanzen. Wir wollten Bridge spielen, mussten aber noch auf Mark warten, Mark Gaskell, mein Schwager – er war mit Mr. Jeffersons Tochter verheiratet. Er hatte noch ein paar wichtige Briefe zu schreiben, und Josie, die als Vierte mitspielen wollte, war auch noch nicht da.»

«Haben Sie oft zusammen gespielt?»

«Ziemlich oft. Josie ist eine hervorragende Bridgespielerin und eine sehr nette Frau. Mein Schwiegervater spielt leidenschaftlich gern und versucht immer, Josie als Vierte zu bekommen statt irgendjemand Außenstehenden. Da sie hier im Hotel die Bridgepartner zusammenbringen muss, geht das natürlich nicht immer, aber sie spielt mit uns, sooft sie kann.» Ihre Augen lächelten leise. «Mein Schwiegervater lässt eine Menge Geld im Hotel, und deshalb sieht die Direktion es gern, wenn Josie uns bevorzugt.»

«Mögen Sie Josie?», fragte Melchett.

«Ja. Sie ist immer fröhlich und guter Dinge, sie ist tüchtig und scheint ihren Beruf zu lieben. Allzu gebildet ist sie nicht, aber intelligent, und – ja – sie ist immer sie selbst, natürlich und unaffektiert.»

«Bitte fahren Sie fort, Mrs. Jefferson.»

«Also, wie gesagt: Josie war noch beschäftigt, und Mark schrieb seine Briefe, und so saß Ruby etwas länger bei uns als sonst. Wir haben uns unterhalten, und als Josie kam, musste Ruby gehen, um ihren ersten Solotanz mit Raymond zu absolvieren – Raymond ist hier als Tanz- und Tennispartner angestellt. Danach kam sie an unseren Tisch zurück, gleichzeitig mit Mark, aber sie ging bald wieder, um mit einem jungen Mann zu tanzen, und wir vier fingen unsere Bridgepartie an.»

Sie hielt inne und machte eine hilflose kleine Handbewegung.

«Das ist alles, was ich weiß! Ganz kurz habe ich sie noch tanzen sehen, aber Sie wissen ja, Bridge absorbiert einen völlig, und ich habe kaum einmal durch die Scheibe in den Ballsaal hinübergeschaut. Um Mitternacht kam Raymond dann ganz aufgeregt zu Josie und wollte wissen, wo Ruby sei. Josie hat natürlich versucht, ihn zum Schweigen zu bringen, aber…»

«Wieso ‹natürlich›, Mrs. Jefferson?», unterbrach Superintendent Harper sie mit seiner leisen Stimme.

«Nun ja…» Sie zögerte, ein wenig ungehalten, wie dem Colonel schien. «Josie wollte kein Aufsehen. Sie fühlte sich in gewisser Weise verantwortlich für ihre Kusine. Sie meinte, Ruby sei wahrscheinlich auf ihrem Zimmer, sie hätte etwas von Kopfschmerzen gesagt… Ich glaube übrigens nicht, dass das stimmt, sie wollte Ruby nur entschuldigen. Raymond ging hinaus, um bei Ruby oben anzurufen, aber sie war offenbar nicht da, und er kam ganz aufgelöst zurück – er regt sich sehr leicht auf, müssen Sie wissen. Josie hat ihm gut zugeredet und ist mit ihm weggegangen, und schließlich hat sie an Rubys Stelle mit ihm getanzt. Wirklich tapfer von ihr, denn danach hatte sie wieder Schmerzen im Fuß, das sah man. Nach der Vorstellung kam sie an unseren Tisch zurück und hat versucht, Mr. Jefferson zu beruhigen. Er war inzwischen ganz verstört, aber schließlich konnten wir ihn überreden, zu Bett zu gehen. Wir haben ihm gesagt, Ruby habe wahrscheinlich mit irgendjemandem eine Spritztour unternommen und sie hätten eine Reifenpanne gehabt. Er ist voller Sorge schlafen gegangen, und heute Morgen hat er dann sofort die Polizei gerufen.» Sie schwieg einen Moment. «Den Rest kennen Sie ja.»

«Vielen Dank, Mrs. Jefferson. Und jetzt möchte ich Sie fragen, ob Sie eine Ahnung haben, wer der Täter sein könnte.»

«Nein, nicht die leiseste», antwortete sie prompt. «Da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen.»

«Hat das Mädchen nicht irgendetwas gesagt?», drängte Melchett. «Von Eifersucht? Von einem Mann, vor dem sie Angst hatte? Oder mit dem sie eine intime Beziehung hatte?»

Adelaide Jefferson schüttelte zu jeder Frage nur den Kopf. Sie schien nichts mehr zur Aufklärung des Falles beitragen zu können.

Der Superintendent schlug vor, zunächst George Bartlett zu verhören und später noch einmal wiederzukommen, um mit Mr. Jefferson zu sprechen. Colonel Melchett war einverstanden, und nachdem Mrs. Jefferson versprochen hatte, Bescheid zu geben, wenn Mr. Jefferson aufgewacht sei, gingen die drei Männer.

«Nette Frau», sagte der Colonel, als sie die Tür hinter sich schlossen.

«Ja, wirklich, eine ausgesprochen nette Dame», pflichtete Superintendent Harper bei.


III

George Bartlett war ein dünner, schlaksiger Jüngling mit vorstehendem Adamsapfel, der ungeheure Schwierigkeiten hatte, sich verständlich auszudrücken. Er war so aufgeregt, dass es kaum möglich war, ihm eine klare Aussage zu entlocken.

«Furchtbar, das Ganze, was? Man liest so was ja immer in der Zeitung, aber wer denkt schon, dass es wirklich passiert?»

«Leider besteht kein Zweifel, Mr. Bartlett», sagte der Superintendent.

«Nein, nein, natürlich nicht, aber komisch ist es schon. Und gar nicht weit von hier – war’s nicht auf irgendeinem Landsitz? Alles piekfein und so. Hat in der Gegend sicher viel Staub aufgewirbelt, was?»

Colonel Melchett griff ein.

«Wie gut kannten Sie die Tote, Mr. Bartlett?»

George Bartlett riss erschrocken die Augen auf.

«Oh, äh, gar nicht gut, Sir. Ich hab sie überhaupt kaum gekannt, sozusagen. Hab ein paar Mal mit ihr getanzt, ein bisschen geplaudert, ein bisschen Tennis gespielt – Sie wissen ja.»

«Sie waren der Letzte, der sie gestern Abend lebend gesehen hat?»

«Ja, sieht so aus – klingt schrecklich, was? Da war sie noch völlig in Ordnung, gesund und munter.»

«Um wie viel Uhr war das, Mr. Bartlett?»

«Ach wissen Sie, ich achte nicht so auf die Zeit. War noch nicht spät, sozusagen.»

«Sie haben mit ihr getanzt?»

«Ja, äh, ich – ja, hab ich. Aber noch ziemlich früh am Abend. Das war direkt nach ihrer Vorführung mit diesem Raymond. Muss so zehn, halb elf, elf gewesen sein, ich weiß es nicht mehr.»

«Gut, lassen wir das, das lässt sich ja feststellen. Jetzt schildern Sie uns bitte ganz genau, was sich gestern Abend abgespielt hat.»

«Also, wie gesagt, wir haben miteinander getanzt. Ein großer Tänzer bin ich ja nicht…»

«Wie Sie tanzen, tut nichts zur Sache, Mr. Bartlett.»

George Bartlett sah den Colonel erschrocken an und stotterte: «Nein, äh, n-n-nein, natürlich nicht. Wir haben also getanzt und getanzt, und ich hab geredet, aber Ruby hat nicht viel gesagt und sogar ein bisschen gegähnt. Ich bin, wie gesagt, kein besonderer Tänzer, und deswegen sind die Mädchen – na ja – nicht so wild drauf, mit mir zu tanzen, sozusagen. Ruby hat behauptet, sie hätte Kopfweh, und so was braucht man mir nicht zweimal zu sagen. Na gut, hab ich gesagt, habe die Ehre – und das war’s dann.»

«Und wann haben Sie sie zuletzt gesehen?»

«Als sie die Treppe rauf ist.»

«Und sie hat nichts davon gesagt, dass sie jemanden sprechen muss? Oder noch wegfahren will? Oder eine Verabredung hat?»

Bartlett schüttelte den Kopf.

«Zu mir nicht.» Er machte ein ganz betrübtes Gesicht. «Hat mich einfach weggeschickt.»

«Was für einen Eindruck hat sie denn gemacht? Ängstlich, zerstreut, so als wäre sie in Gedanken woanders?»

George Bartlett dachte einen Moment nach und schüttelte von neuem den Kopf.

«Etwas gelangweilt. Hat gegähnt, wie gesagt. Das war alles.»

«Und was haben Sie dann gemacht, Mr. Bartlett?», fragte Colonel Melchett.

«Hm?»

«Was Sie gemacht haben, nachdem Ruby Keene gegangen war.»

George Bartlett starrte ihn offenen Mundes an.

«Ich? Ja – was hab ich eigentlich gemacht?»

«Das wollten wir eigentlich von Ihnen hören.»

«Schon gut, schon gut. Gar nicht so einfach, sich an so was zu erinnern, was? Mal überlegen. Würde mich nicht wundern, wenn ich in die Bar gegangen wäre und was getrunken hätte.»

«Und sind Sie in die Bar gegangen?»

«Ja, ja, das schon. Ich war in der Bar, aber ich glaub, nicht gleich. Erinnere mich dunkel, dass ich raus bin. Bisschen frische Luft schnappen. Ziemlich schwül für September. War sehr schön draußen. Ja, genau, so war’s. Ich bin eine Weile rumspaziert, dann bin ich wieder rein, hab was getrunken und bin dann in den Ballsaal zurück. War nicht viel los. Diese – wie heißt sie noch –, diese Josie war wieder da und hat mit dem Tennisknaben getanzt. War krank gewesen, verstauchter Fuß oder so.»

«Das heißt, Sie waren um Mitternacht wieder im Hotel. Gehe ich also recht in der Annahme, dass Sie über eine Stunde draußen spazieren gegangen sind?»

«Ich hatte was getrunken, verstehen Sie? Ich hab – äh, ich hab nachgedacht», sagte George Bartlett, eine Äußerung, die noch skeptischer aufgenommen wurde als alle anderen zuvor.

«Worüber haben Sie denn nachgedacht?», fragte Colonel Melchett scharf.

«Ach, ich weiß auch nicht, über alles Mögliche.»

«Haben Sie ein Auto, Mr. Bartlett?»

«Ja.»

«Wo stand es? In der Hotelgarage?»

«Nein, im Hof. Wollte vielleicht noch eine kleine Spritztour machen, verstehen Sie?»

«Und – haben Sie eine gemacht?»

«Nein – nein, hab ich nicht. Ich schwör’s.»

«Sie haben nicht zufällig Miss Keene auf eine Spritztour mitgenommen?»

«Na, hören Sie mal! Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Ich bin nicht weggefahren, ich schwör’s. Wirklich nicht.»

«Vielen Dank, Mr. Bartlett, das wäre im Moment alles. Im Moment», wiederholte Colonel Melchett mit Nachdruck.

George Bartlett sah ihnen mit einem geradezu lächerlich besorgten Ausdruck auf seinen wenig durchgeistigten Zügen nach.

«Trottel», sagte Colonel Melchett.

Superintendent Harper schüttelte den Kopf.

«Wir haben noch einen weiten Weg vor uns», sagte er.




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