Der Zug fuhr mal schnell, dann wieder verlangsamte er seine Fahrt, wenn die Gleise eine scharfe Kurve machten. Viktor saß auf dem Bett und döste vor sich hin. Den Kopf hatte er an den weichen Wandbezug gelehnt. Einmal hörte er ein seltsames Geräusch, er öffnete die Augen und sah, wie Jaroslaw sein Messer an einem kleinen Schleifstein wetzte. Der Junge errötete von Viktors Blick, versteckte den Stein und setzte sich unnatürlich aufrecht hin.
Ein Raufbold ...
Viktor schloss die Augen und kämpfte gegen die Versuchung, wieder Fragen zu stellen. Wahrscheinlich könnte der Junge ihm einiges erzählen.
Aber noch immer existierte in seinem Bewusstsein eine Sperre. Entweder war das die Angst oder der Widerwille gegen die möglichen Folgen seiner Wissbegier - gegen einen neuerlichen Anfall greller, verzehrender Visionen.
Was war er für einer? Genauer gesagt, wer war er? Woher kamen diese Halluzinationen? So etwas hatte er noch nie erlebt, das konnte doch nicht ...
Viktor bemerkte nicht, wie er wieder einnickte.
Und dann befand er sich am Ufer, bis zu den Knien im anthrazitfarbenen, fast schwarzen Wasser. Dumpf brauste die Brandung.
Wieder!
Wie ... o Gott, so war es doch heute Nacht schon gewesen! Viktor war sich sicher, dass er da geschlafen hatte. Und jetzt - nein.
Im Traum ist alles möglich. Leuchtend echte Farben und Geräusche.
Aber nie, fast nie kann man seinen eigenen Körper spüren.
Ganz sicher bemerkt man nicht, dass das Wasser nass ist, die Sonne auf den Rücken brennt, die Steine unter den Füßen mit einer glitschigen Schicht überzogen sind.
»Zum Teufel!«, war alles, was er sagen konnte.
Die anfallartigen Visionen hatten jedenfalls ganz bestimmt nichts gemein mit diesen Träumen. In den Visionen war er nur Zuschauer. Er sah alles, was vor sich ging, war sich seiner selbst aber nicht bewusst. Im Grunde genommen, wenn man ganz unvoreingenommen daranging, dann hatten diese aus dem Nichts kommenden Visionen sogar einige Ähnlichkeit mit den normalen Träumen auf der Anderen Seite.
Aber jetzt erinnerte er sich ganz deutlich, wer er war, wie er in die Mittelwelt geraten war. Erinnerte sich an Tel, den toten Grenzer und dessen Sohn Jaroslaw, der sich noch vor einer Minute an seinem Messer zu schaffen gemacht hatte.
Viktor schöpfte Wasser mit der hohlen Hand und führte es zum Gesicht. Ganz normales Wasser. Durchsichtig. Woher kam diese dichte schwarze Farbe, wie Füllertinte?
Eine Welle schwappte ihm bis zum Gürtel und vereitelte weitere Experimente. Viktor watete eilig zum nächstgelegenen
»Was hat das jetzt wieder zu bedeuten, Brüderchen?«, flüsterte Viktor vor sich hin. Dann rief er: »He, Hausherr! Mir hat’s bei dir gefallen, komm und nimm deinen Gast in Empfang!«
Im Durchgang, der die Tür ersetzte, erschien niemand. Auch das Feuer, das beim letzten Mal in der Dunkelheit geleuchtet hatte, war verschwunden. Viktor sprang ans Ufer, hob die Füße hoch in die Luft und versuchte, das Wasser aus den Schuhen zu schütteln. Es gelang ihm nicht, und er war gezwungen, sich auf die glattgeschliffenen Kiesel zu setzen und die Schuhe auszuziehen.
Nein, hier war nichts richtig. Zu real für einen Traum. Oder konnte man im Traum mit der Hand nassen Sand schöpfen und jedes einzelne Sandkörnchen erkennen? Konnte man jeden einzelnen Kiesel unter den Füßen spüren? Konnte man in der Ferne jede Bewegung der violetten Zweige erkennen, wenn man in die durchsichtige Luft blickte?
Viktor verspürte Angst, vorerst war sie noch unsicher und schüchtern. Wie ein kalter Klumpen auf seinem Herzen. Aber befand er sich nicht in einer Welt, die nach anderen Regeln funktionierte? War es nicht möglich, dass die Träume hier materiell waren?
Nein! Dieser Idee durfte er sich nicht verschreiben. Schon allein deswegen, weil er nach seinem ersten Traum dieser Art weder Blutergüsse noch Blutspuren an seinem Körper gefunden hatte. Und der lächerliche Kampf mit dem unfreundlichen Dickwanst hätte solche zurücklassen müssen.
Es gibt Träume, Töchterchen, einfach nur Träume. Er würde es mit den guten alten Freud-Witzen halten und versuchen, die Rätsel, die ihm sein Unterbewusstsein aufgegeben hatte, zu lösen.
Viktor zog die nassen Socken über und schlüpfte widerwillig in seine Schuhe; er wäre lieber barfuß gegangen, aber er wollte sich die Fußsohlen nicht am Riedgras aufschneiden.
Durch das hohe Gras ging er in Richtung des Laboratoriums. Plötzlich hielt er überrascht inne.
Von einer anderen Stelle des Ufers aus verlief bereits ein kleiner Pfad zu dem Gebäude hin. Das Riedgras war niedergedrückt und geknickt. Dort war er beim ersten Mal entlanggegangen.
Es war nicht Traum und auch nicht Wirklichkeit. Er hinterließ Spuren in dieser Welt - aber die Welt hinterließ keine Spuren an ihm. Unwillkürlich beschleunigte Viktor seinen Gang, wechselte auf den bereits vorhandenen Pfad und begann dann zu laufen. Von irgendwoher kam ihm der Gedanke, dass die ihm zur Verfügung stehende Frist in dieser Welt nicht besonders lang war. Und er konnte, ja, er musste hier etwas verstehen.
»Hausherr!« Viktor blieb am Eingang stehen und versuchte ein weiteres Mal, den kleinwüchsigen, dicken Alchimisten herauszurufen.
Stille. Aus der Ferne war das Rauschen der Wellen zu hören, mehr nicht.
»Na dann ... nichts für ungut.« Viktor trat ein. Wieder gewöhnten sich seine Augen augenblicklich an das Halbdunkel.
Das umgestürzte Regal lag noch immer auf dem Boden. Auf den Regalbrettern, die noch an der Wand hingen, befanden sich längst nicht mehr so viele merkwürdige Gegenstände
Sich misstrauisch umsehend, trotz allem war es ja nicht richtig, was er tat, hob Viktor den Deckel der Truhe. Vorsichtig, denn wer wusste schon, was für eine Scheußlichkeit sich da noch versteckt hielt.
Die Truhe war leer. Nur eine dicke Schicht Staub und Spinnen in den Ecken. Aber halt, das war doch interessant. Wie hatte der Dicke das kleine Männchen herausholen können, ohne Spuren zu hinterlassen?
Viktor war mit einem Mal froh, sehr froh über diese kleine Unstimmigkeit in seinem Traum. Sonst wäre alles noch furchtbarer. Dieser Traum, der kaum weniger klar und folgerichtig war als das wirkliche Leben, war eine unangenehme Sache.
»Ho, ho!«
Er drehte sich um.
Der rotgesichtige Dickwanst stand im Eingang und wischte sich die Hände an seinem riesigen Bauch ab. Er blickte verwirrt und leicht verschmitzt, wie einer, der einen missratenen Scherz gemacht hatte. Sein Lächeln war unbeholfen, aber doch wohl freundlich.
»Hier gibt es nichts, guter Mann!«, erklärte der Dicke sehr verständig. Er trat ein, wobei er mit den Schultern die Wände streifte. Mit einem Seufzer blickte er sich im Raum um. »Früher war es hier wunderbar ...«
»Wo ist der Kessel?«, fragte Viktor grob.
Der Dicke grinste erneut. »Der Kessel? Hat ausgekocht! Dank Ihrer Bemühungen, alles dank Ihrer Bemühungen ... ganz wie es Ihnen gefällt, Euer Gnaden ...«
Er verneigte sich zu einer scherzhaft-ironischen Verbeugung. Der Anblick dieses tölpelhaften Dickwansts mit den Manieren eines Saufbolds rief ein Gefühl der Abscheu in Viktor wach.
»Du hast dich also für mich bemüht«, sagte Viktor gleichgültig. Er nahm einen seltsamen Gegenstand vom nächstbesten Regal - ein Stück verbogenen Blechs. An diesem Stück Metall konnte man einige hervorstehende Flächen erkennen, gläserne Kleinteile, die früher vermutlich eine dünnwandige Röhre gewesen waren. »Und warum hast du das hier nicht in Gang gesetzt? Na?«
Der aufgeblasene Tonfall eines Kontrolleurs, den er dabei angeschlagen hatte, erzielte eine unerwartete Wirkung. Der Dicke kam angerannt, legte Viktor vertraulich den Arm um die Schulter und blickte auf dessen Hände.
»Das? Also, das ...« Dann runzelte er verächtlich die Stirn. »Wie oft kann man das machen? Sag selbst! Ohnehin wurden schon an die zwanzig hineingeworfen, und diese ...« Er fuchtelte mit seinen fleischigen Armen über seinem Kopf. »Und jene ...« Der Dicke breitete die Arme aus und machte ein paar Schritte. »Nein! Sag selbst! Du wirfst sie rein, immer mehr und mehr ... und sie stürzen immerzu ab ...«
Erst jetzt erkannte Viktor plötzlich, was er eigentlich in den Händen hielt. Es war ein Flugzeug. Ein winziges Modell eines Flugzugs - wohl einer Boeing oder etwas anderem Ausländischem. Die gestauchten Flügel, der aufgebrochene Korpus, Stofffetzen - waren das die Sitze? -, die Glaspünktchen der Bullaugen.
Oder ... war es kein Modell? Fasziniert strich Viktor mit dem Finger über die Außenhaut des Fliegers. Dabei ritzte er sich die Haut an dem scharfkantigen, aufgerissenen
»Hier gab es sowieso nicht viel Volk«, fuhr der Dicke nachlässig fort. Er nahm das Modell aus Viktors erstarrten Händen und schleuderte es in die Ecke. »Vergiss es! Was du brauchst, ist alles in die Sache geflossen! Zweifle nicht daran - dir wird es reichen!«
Und er lachte los, als hätte er einen ungeheuer geistreichen Witz gemacht. Aber Viktor achtete nicht auf ihn, seine Augen glitten über die fast leeren Regale, die Wände entlang, und verzweifelt versuchte er zu begreifen.
Da war noch ein Modell. Eine grün-braune Konservendose, aus der glänzende Klingen herausragten - Hubschrauberrotoren. Und noch eines ... nun, man könnte die winzig kleinen, vom Feuer beschädigten Waggons wohl eine Kindereisenbahn nennen, nur dass Kinder auf keinen Fall mit solchem Spielzeug spielen sollten. Und Klumpen aus Schlamm, ein wenig angetrocknet, aber noch fast wie frisch aus dem Meer. Da ragte ein Ruderblatt aus dem Matsch, dort die Spitze eines Masts und ein Stück Segel, hier ein spitzer Bug mit den Resten einer vermutlich englischen Aufschrift: »...ent«.
Was war das nur?
»Hast ... hast du sie ...«, fragte Viktor. Ganz ruhig. Und mit der festen Überzeugung, dass er den anderen töten musste, falls der die Frage mit einem Ja beantworten würde. Wenn auch nur im Traum.
»Was?«, heulte der Dicke mit ehrlicher Wut auf. »Ich? Für wen hältst du mich, du Schlauberger? Wir sind doch keine Tiere!«
Viktor wich zurück an die Wand, gleichermaßen erschrocken über den Ausbruch und verwirrt von seinem eigenen Fehlschluss.
»Warum ... warum sollten wir? Wenn sie doch von selbst ... ins Wasser stürz... pardauz ...« Der Dicke strich sich über den Wanst und sagte unerwartet ruhig und friedfertig: »Natürlich hätten wir das gekonnt. Aber wie? Wer sind wir denn? Es ist uns doch gestattet ...«
Er wandte sich um und ging mit einem tiefen Seufzer zur Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen und fügte mit Ironie in der Stimme hinzu: »Aber komm du nur wieder! Komm nur! Sieh zu, wie du den Zeitpunkt wählst ... Aber hier ist nichts mehr zu tun, geh in das Wäldchen dort ...«
Er war schon aus Viktors Blickfeld verschwunden, da hörte er ihn noch einmal: »Nimm dich in Acht, ungebetener Gast!«
Viktors Verwirrung schwand. Er lief zum Ausgang, und kaum hatte er die Schwelle überschritten, als das Dach zu wackeln begann. Holzlatten fielen herunter, hinter ihm stürzte ein schwerer Balken zur Erde. Und plötzlich loderte eine Flamme auf.
Auf allen vieren hockte Viktor da und sah zu, wie zielstrebige Feuerzungen das Gebäude erfassten. Sie waren glühend, fast durchsichtig und verzehrten gleichmäßig schnell sowohl Holz, Stein als auch Eisen. Der Kamin stürzte ein - als würde er nach innen gezogen. Und dabei hieß es doch, dass die Schornsteine auf den Brandstätten immer verrußt, aber unversehrt zurückbleiben ...
Ohne noch länger darüber nachzudenken, begann Viktor vom Feuer fortzukriechen. Schneller und schneller, denn die Hitze nahm zu. In dem einstürzenden Gebäude platzte etwas schallend, es zischte, etwas loderte mit vielfarbigen Lichtreflexen auf. Viktor schützte sich mit den Armen gegen die Funkengarben, die wie bei einem Feuerwerk durch die Luft flogen.
Und dann schien es, als ob ein zarter, vielstimmiger Chor zu ihm durchdrang ...
»Herrscher! Herrscher!«
Viktor öffnete die Augen und zuckte vor dem erschrocken blickenden Jaroslaw zurück.
»Sie haben gestöhnt«, erklärte der Junge schüchtern. »Laut. Und ... Sie haben sich das Gesicht mit den Händen bedeckt.« Er machte die Bewegung nach.
»Ich habe geträumt«, sagte Viktor. »Einen schrecklichen Traum. Danke, dass du mich geweckt hast.«
Und voller Misstrauen gegen seine eigenen Worte blickte er auf seine Hände. Er hatte sich doch an dem Flugzeug geschnitten? Die Wunde hatte zwar nicht geblutet, müsste aber noch zu sehen sein.
Es war keine Spur vorhanden. Ein Traum. Einfach ein Traum.
Aber, o Gott, wie schrecklich echt.
Dafür, dass die Winde sich mit derartiger Gewalt in die Freiheit losgerissen hatten, waren die Verluste nicht sehr schwerwiegend. Allerdings fielen Roj und sein Bruder, Solli und der hakennasige Boletus vorerst aus, die beiden Alten vermutlich für längere Zeit, denn in ihrem Alter waren Frakturen und tiefe Erschöpfung nicht mit einfacher Magie zu heilen. Ritor konnte nur auf die unermüdliche Sandra zählen. Ja, und auf den jungen Asmund, den Einzigen, der nicht mal einen Kratzer davongetragen hatte. Im Augenblick der Gefahr hatte sich der Junge sofort zurechtgefunden, hatte eine Luftlinse geschaffen und war, wie man so sagt, mit dem Schrecken davongekommen. Ach, so viel Umsicht hätte er Taniel gewünscht ... Ritor verbot sich, an den Jungen zu denken.
Während in der Stadt die Spuren der Verwüstung beseitigt wurden, versammelte sich der Rat der Luft erneut.
Ritor beobachtete Sandra. Die Zauberin wiegte ihren unnatürlich verdrehten Arm hin und her, ihre Stirn war schweißbedeckt - der Schmerz drang durch alle Schutzwälle hindurch. Bis zum Abend würde von dem komplizierten Bruch keine Spur mehr zu sehen und zu spüren sein, aber bis dahin musste sie durchhalten.
Asmund drückte sich wie ein unsichtbares Mäuschen in eine Ecke. Schließlich war er zum ersten Mal bei einer echten Ratsversammlung dabei!
Diesmal waren nicht nur Magier gekommen. Die Obersten der Ausbilder, ferner Kämpfer, Ärzte, Giftmischer und Handwerksmeister. Ritors Bruder Kan war ebenfalls anwesend; heute hatte er alle Hände voll zu tun.
Der Ratssaal war vollkommen unversehrt. Kein noch so gewalttätiges Element konnte die Schutzformeln erschüttern, die schon die Begründer in seine Mauern gewirkt hatten; jene Neuankömmlinge, die als Erste aus dem Nebel des Heißen Meeres an den Gestaden des Warmen Ufers gelandet waren. Wie schon zuvor gab es hier keinen Tropfen Wasser, kein Staubkörnchen und nicht den leisesten Widerschein eines Feuers. Hier herrschte nur die bewegungslose, in konzentrierter Ruhe verharrende Luft.
Fast vierzig Augenpaare blickten Ritor an.
»Brüder«, der Zauberer erhob sich, »zuallererst und vor allen Dingen lasst uns unsere verehrten Magier Roj und Gaj preisen, ebenso wie unsere hochgeschätzten Gefährten Eduljus und Solli. Sie gaben alles, damit unsere Sache von Erfolg gekrönt wäre.« Ritor liebte derartige Zeremonien nicht, hier offenbarte seine Beredsamkeit Schwächen, aber daran war nun nichts zu ändern. »Die Hälfte, ja sogar zwei
Durch den Saal lief ein kurzes, beherrschtes Aufseufzen. Ritor blickte in die angespannten Gesichter - nein, bei keinem konnte er so etwas wie versteckte Freude wahrnehmen. Er hoffte von Herzen, dass man ihn wenigstens in seinem eigenen Clan nicht betrog.
»Der Drachentöter ist dort erschienen, wo man mit ihm rechnen musste, nämlich im fernen Norden, bei der Grauen Grenze. Von nun an werden wir ihm immer auf den Fersen sein. Wir müssen ihn zu fassen bekommen ... ehe er die Weihen erlangt. Ehe der Clan des Wassers ihn findet und unter seine Fittiche nimmt. Sonst ist ein Krieg unvermeidbar. Und wir sind kaum in der Lage zu kämpfen.«
Wieder kam leise Bewegung in die Versammlung. Was ein Krieg mit dem Clan des Wassers bedeutete, war jedem klar.
»Wir können den Clan nicht schutzlos zurücklassen. Daher kann ich nicht viele von euch mitnehmen. Sandra und Asmund ... alle anderen werden hier gebraucht.«
»Zu dritt könnt ihr es nicht schaffen«, sagte Schejmo, das Oberhaupt der Ausbilder. »Auch wenn der Drachentöter noch nicht den Gipfel seiner Kraft erreicht hat.«
»Das stimmt.« Ritor nickte. »Gib mir zwei deiner besten Paare, Schejmo.«
»Kevin und Erik«, rief der alte Haudegen, ohne zu zögern, und es erklang zustimmendes Murmeln im Ratssaal.
»Ich komme auch mit«, sagte Kan leise, aber so, dass alle es vernehmen konnten. »Zauberformeln sind nicht alles, Ritor.«
Der Magier blickte seinen Bruder durchdringend an. Seit Taniels Tod waren sie noch nicht dazu gekommen, richtig miteinander zu sprechen. Und der Körper seines Neffen
Die Augen seines Bruders waren schwarz und unergründlich. Zu schwarz und zu unergründlich.
»Gut«, sagte Ritor entgegen seiner Überzeugung. »Nimm noch einen Helfer mit, Kan, damit du mehr tun kannst, als nur Wasser zu kochen. Wir brechen in Kürze auf. Der Wagen des Windes kommt in zwei Stunden bei uns durch.«
Die Station unweit der Hauptstadt des Clans der Luft war um einiges prächtiger als die Provinzbahnhöfe. Das Gebäude aus weißem Marmor dürfte die Gnome ein Vermögen gekostet haben, aber sie hatten keine andere Wahl, mussten sie doch dem Elementaren Clan in direkter Nachbarschaft der Route ihre Reverenz erweisen. Die Springbrunnen vor dem Bahnhof und im Wartesaal wurden von speziellen Pumpen gespeist; ungeachtet der herbstlichen Jahreszeit erfreuten grüne Grasflächen in jungfräulicher Unberührtheit das Auge. Die Säulen und der Portikus verliehen dem Gebäude das Aussehen eines griechischen Parthenons, wenn man Boletus’ Worten glauben durfte.
Um den Bahnhof herum hatte sich einiges Volk versammelt. Hauptsächlich Leute aus den nahen Dörfern, aber auch Gnome, deren Gruben in östlicher Richtung, in den Alten Bergen, im Gegensatz zu den meisten anderen am Warmen Ufer noch nicht erschöpft waren. Als die Leute Ritor und sein Gefolge erblickten, begannen sie das Weite zu suchen. Händlerinnen, herumlungernde Elfen, sorgenvolle Gnome, Menschen - einer nach dem anderen verdrückte sich unauffällig vom Bahnhofsvorplatz. Es lohnte sich in keinem Fall, den Zauberern eines Elementaren Clans in die Quere
Ohne irgendjemanden anzusehen, betrat Ritor den Saal. Selbstverständlich nicht den allgemeinen, sondern den mit der Aufschrift: »Nur für Magier und deren Begleiter«. Die Gnome hatten sich auch im Inneren des Gebäudes bemüht. Ritor hatte keine Ahnung, wen sie hier imitierten, aber die Pracht hatte etwas Aufdringliches. Flauschige Teppiche, die, wie dem Magier schwante, erst kurz vor seiner Ankunft ausgelegt worden waren, wundersame Pflanzen in Kübeln, Kristall, Vergoldungen, Mahagoni ... Hier drinnen wurde alles in perfekter Ordnung gehalten.
Fahrkarten allerdings mussten auch die Magier kaufen. Sogar die der Elementaren Clans.
Über dem Fenster eines Fahrkartenschalters hing eine schwarze Tafel, auf der mit goldenen Buchstaben geschrieben stand: »Kinder und Magier erhalten Ermäßigung«.
»Das heißt, ich bekomme eine doppelte Ermäßigung!«, freute sich Asmund. »Ich bin noch keine sechzehn.«
Die Gnomfrau am Fahrkartenschalter bemühte sich, ihren Ärger zu verbergen. »Das ist völlig unmöglich, junger Mann. Es gibt immer nur eine Ermäßigung.«
»Und worauf gibt es mehr Ermäßigung?« Der Junge ließ sich nicht einschüchtern. Ritor wies ihn nicht zurecht, denn er wusste, dass Asmund in Wirklichkeit schreckliche Angst hatte. Dem blutjungen Magier war klargeworden, dass die Zeit des Spielens vorüber war, und er versuchte nun auf diese vorlaute Weise, sich selbst und die anderen über seinen wahren Zustand hinwegzutäuschen.
»Für Kinder.« Die Fahrkartenverkäuferin schmunzelte. Ihr Kinn voller kleiner Härchen zitterte. »Aber nur während der Sommerferien ...«
Sogar die Magier bemühten sich darum, jeden überflüssigen Streit mit den Gnomen zu vermeiden, denn diese waren die faktischen Herren über die Eiserne Route. Die Gnome kannten sich mit Dampf und Elektrizität aus und waren für ihre Resistenz gegenüber den Elementaren Zauberkünsten berühmt. Natürlich, wenn man sie ernsthaft in die Zange nehmen würde - selbst so einer wie der junge Asmund hätte das vermocht -, so würde das böse für die Gnome ausgehen, andererseits ... Ritor hatte den starken Verdacht, dass der eine oder andere unter den alten Zauberern der Clans die Dampfloks durchaus fürchtete und ihre Technik für eine ihm unbekannte Art der Zauberei hielt.
»Wir sind neun«, sagt Ritor. »Neunmal mit eigenem Abteil, nebeneinander, bitte. Einen Waggon. Für den Wagen des Windes. Bis ... bis ganz zur Grenze.«
»Seien Sie unbesorgt.« Die Gnomfrau verzog eilfertig die Lippen. Ihr Lächeln ließ Ritor zusammenzucken. »Sobald der Zug eintrifft, hängen wir einen Waggon dran.«
Sie ergriff das Geld mit ihrer zottigen Pfote und reichte Ritor neun Stücke Karton, die golden eingefasst waren und an den Rändern rätselhafte Einschnitte - wie Lettern - aufwiesen.
»Wir setzen uns und warten«, befahl Ritor.
Es war sinnlos, mit dem Aufbruch bis zur Dunkelheit zu warten oder sich auf andere Weise zu verbergen. Torn und seine Spürhunde waren nicht in der Lage, Ritor zu fassen, so wie Ritor nicht in der Lage war, Torn zu fassen. Die Gnome - das wusste jedermann - waren verschwiegen und handelten nicht mit fremden Geheimnissen. Deshalb hatten sie so lange überlebt, waren nicht verschwunden wie andere, die die neue Ordnung nicht hatten annehmen können.
Der Zug erschien pünktlich zum angekündigten Zeitpunkt in der Kurve. Den Begriff Verspätung kannten Gnome nicht. Der Waggon für Ritor und seine Gefährten war schon an den Bahnsteig geschoben worden. Außerdem, so wusste der Zauberer, würde noch eine zusätzliche Dampflok angehängt werden, damit der Zug auf der weiteren Fahrt auch nicht einen Jota seiner Geschwindigkeit einbüßte. Wie gut, dass immer eine Lok parat stand, sonst hätte man womöglich einen anderen Waggon abhängen müssen, einen von der Kategorie »ohne eigenen Platz«, und die Reisenden darin wären gezwungen gewesen auszusteigen. Dabei war das Publikum im Wagen des Windes nicht das schlechteste: Kaufmannsgehilfen und Kommisverkäufer aus der Nachbarschaft, manchmal auch die Kaufmänner selbst, die Geld sparen wollten.
Endlich verschwand die bekannte Landschaft schwankend aus dem Blickfeld. Ritor atmete tief durch und ließ sich gegen die plüschbezogene Rückenlehne des Schlafsofas sinken. Jetzt sollte der Tee serviert werden, und dann würden sie sich etwas erholen können. Torn wusste wohl kaum, wo er zu suchen hatte ...
»Du steigst an der nächsten Haltestelle aus«, wiederholte Viktor noch einmal mit strenger Stimme. Der Sohn des Grenzers nickte eifrig, ganz als würde er damit jedes Mal eine große Wahrheit anerkennen. »Und dann machst du alles so wie vereinbart.«
»Ja, Herr ... ich bin glücklich ... wir konnten dir dienen ...«
»Nun, jetzt ist genug«, sagte Viktor und fügte dann instinktiv hinzu, genau wie seine Mutter es früher getan hatte, wenn sie zusammen zu Großmutter Vera gefahren waren:
Die Station war klein, schäbig und versank in einem Meer gelben Laubs. Nur die Pappeln widerstanden hartnäckig dem Herbst. Von den Wänden des niedrigen gelben Bahnhofsgebäudes mit dem schiefen Dach bröckelte der Putz, die Fenster waren vergittert.
Jaroslaw blickte Viktor an, und in seinen Augen lag aufrichtige Pein. »Leb wohl, Herrscher ...«
»Was soll das?« Viktor tat verwundert. »Wir werden uns wiedersehen ... auf jeden Fall. Und dann gedenken wir deines Vaters und deiner Brüder.«
»Wirklich?« Der Junge war buchstäblich atemlos vor Freude.
»Ganz sicher.« Viktor bemühte sich, den Jungen zu beruhigen. »Aber jetzt musst du gehen, verlier keine Zeit.«
Er verließ gemeinsam mit Jaroslaw das Abteil.
»Steigen Sie aus?«, erkundigte sich der Gnom gleichgültig, während er im Windfang mit verschiedenen aus der Wand ragenden Griffen und Hebeln hantierte.
»Er steigt aus.« Viktor deutete auf den Sohn des Grenzers. »Ich bleibe.«
»Aha ... Aber passen Sie auf, Fahrkarten kann man nur an den Bahnhöfen kaufen, da sind wir sehr strikt. Wenn Sie die letzte Station auf Ihrer Fahrkarte erreicht haben und noch weiter fahren wollen, müssen Sie aussteigen. Ich verkaufe keine Fahrkarten«, fuhr er mit derselben Gleichgültigkeit fort.
»Danke, ich werde mich dran halten«, sagte Viktor. Er blieb auf der obersten Stufe des Treppchens stehen und folgte dem jüngsten Sohn des Grenzers mit dem Blick. Jaroslaw schlenderte langsam auf den Bahnhof zu. Viktor war
Sie stürzten hinter den Stämmen der Pappeln hervor, zwei von jeder Seite, schnell und geräuschlos; in Viktors Wahrnehmung entlud sich all ihre angestaute Wut und Rachgier in einem donnernden Wasserfall. Sie hatten Verluste erlitten, sie waren nur noch zu viert - und jetzt waren sie gekommen, um zu töten. Viktor hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatten, den Zug einzuholen; vermutlich hatten die Magier dieser Welt geheime Wege. Aber in diesem Moment war das nicht wichtig.
Vier Mann aus dem Strafkommando des Wasserclans, angeführt vom Magier Gotor.
»Lauf!«, brüllte Viktor hinter Jaroslaw her.
»Gedenken Sie nun auszusteigen?«, fragte der Gnom schmeichelnd.
Viktor gab keine Antwort. Er musste losstürzen und sein Schwert holen ... er wollte sich in Bewegung setzen, hob schon den Fuß vom eisernen Boden, da begriff er, dass ihm das Schwert hier nichts nützen würde ... Er brauchte etwas anderes ... etwas von innen heraus.
»Bleibt stehen, ihr alle!«, rief er, noch ehe ihm klargeworden war, was er tun konnte. »Lasst meinen ... treuen Diener in Frieden!«
Der Junge dachte gar nicht daran davonzulaufen. Er holte seinen Dolch hervor, hockte sich hin und lächelte. Er wusste, dass es kein Entkommen gab. Der Herrscher musste ihn retten, alles andere war bedeutungslos.
Drei der Verfolger gingen ohne Eile auf den Jungen zu. Gotor war stehen geblieben und sah Viktor herausfordernd an.
»Was stehst du da herum? Steig aus, komm her!« Hinter seiner Aufforderung verbarg sich Angst.
»Wieder stellst du dich mir in den Weg, Gotor«, sagte Viktor. In seinem Innern machte sich bereits der harte Klumpen kalten Zorns breit. »Diesmal entkommst du mir nicht. Weißt du noch, was ich dir versprochen habe ...?«
Wieder hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun würde. Zuschlagen? Womit? Er hatte kein Schwert.
Gotor blieb nicht stehen. Sein kurzer blauer Mantel war nicht mehr so sauber wie anfangs, und an mehreren Stellen klafften Risse; offenbar war das Reisen auf geheimen Pfaden nicht gerade einfach. Aber auf seinem Gesicht machte sich etwas Neues breit - so etwas wie Verdammnis.
Inzwischen rückten drei Verfolger auf Jaroslaw zu.
Gotor hob die Hand.
Hinter dem Bahnhof erhob sich, die Schwerkraft ignorierend, aus den Wurzeln der Pappeln eine riesenhafte Flutwelle in die Höhe; brodelnder Schaum krönte ihren Kamm - wie ein einziger weißer Federstrich auf schwarzblauem Hintergrund. Im Krachen der umstürzenden Bäume wurden alle anderen Geräusche erstickt. Die Welle war gigantisch, ein wahrhaftiger Tsunami, der aus dem Nichts in dieser Ebene aufgestiegen war. Und Viktor wusste, die ganze Kraft dieses monotonen Kolosses war auf ihn gerichtet. Die Welt hatte sich verdunkelt, er befand sich in höchster Gefahr, gleich würde er zerquetscht, zu Staub zermalmt werden.
Gotor würde nicht noch einmal jenen Dämon rufen, der ihn bloßgestellt hatte; den Wassergeist oder wie auch immer jenes Wesen genannt wurde.
Viktor warf sich nach vorne. Schnell, Junge, besinn dich auf das, was man dir beigebracht hat.
Der Magier des Wassers machte mit den Händen eine Bewegung, als würde er einer Gans den Hals umdrehen.
Viktor sprang.
Sicher, jeder beliebige Trainer hätte einen solchen Mae Geri - einen Tritt im Sprung - ohne viel Federlesens mit den Fäusten abgewehrt. Aber für Gotor war er ausreichend, der Zauberer dachte gar nicht daran, sich zu verteidigen. Von Viktors unbeholfenem Tritt mit der Fußspitze in die gegnerische Leiste krümmte Gotor sich zusammen; die Kräfte, die jener sich aufbäumenden Welle geboten, fielen in sich zusammen. Die Flut löste sich auf, als ob sie nie da gewesen wäre.
Ein kurzer Aufschrei erklang.
Viktor hob den Kopf.
Blut. Jaroslaws Körper lag mit kraftlos nach hinten geworfenen Armen in einer dunkelroten Lache. Klumpen schmutzig-weißen Pappelflaums - woher konnte der im Herbst kommen? - saugten gierig das Blut des Kindes auf.
Zwei Verfolger standen über dem Leichnam. Mit gezückten Schwertern, denn sie hatten begriffen, dass man im Kampf gegen die Wächter der Grauen Grenze gewöhnliche Waffen gebrauchen musste. Ein dritter saß auf dem Boden und hielt sich die schwer getroffene Schulter, rote Rinnsale quollen zwischen seinen Fingern hervor. Die Mörder, in deren Händen sich bereits Wasserpeitschen wanden, drehten sich nun wieder Viktor zu.
Hinter ihm begann Gotor sich zu regen. Und das Signal zur Abfahrt des Zuges ertönte. Wenn diese Typen nun wie beim letzten Mal wieder keine Fahrkarten hätten ...
Viktor drehte sich um und rannte los, dabei rechnete er jede Sekunde mit einem reißenden Schmerz. Er vermutete, dass sich die Peitschen auf seinen Schultern anfühlen würden, als fiele man in eine Kreissäge.
Im letzten Moment kam ihm ein Abenteuerfilm in den Sinn, und er sprang, für seine Verhältnisse ziemlich gewandt, in die Luft und gleichzeitig zur Seite. Es gelang ihm nicht allzu gut, aber die biegsame Wasserrute ging knapp an seinem Kopf vorbei nieder, und eiskalte Wassertropfen spritzten ihm ins Gesicht.
Die Treppe war schon ganz nah. Er sprang wieder und blickte sich sogar noch einmal um, nicht aus Dreistigkeit, sondern mit todesverachtender Selbstüberschätzung.
Zwei hoben Gotor hoch. Der Dritte stand mühsam auf und schleppte sich hinterher. In seiner Hand hielt er wie einen Fächer einige Kartonvierecke, als wollte er Karten spielen. Gotor hatte also daran gedacht, Karten zu kaufen.
Viktor wurde kalt. Jetzt gab es keine Rettung mehr.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Erst noch ganz langsam. Zwei seiner Verfolger waren schon an der Treppe. Der dritte hielt dem Gnom mit schmerzverzerrtem Gesicht die Fahrkarten hin.
»Aber bitte ohne Prügeleien in meinem Waggon, werte Herrschaften«, sagte der Gnom voller Abscheu, und Viktor, der schon bereitstand, um dem Ersten, der hinaufkletterte, einen ordentlichen Stoß zu versetzen, wich unwillkürlich zurück. Aber zum Glück wirkte der selbstbewusste Tonfall des Gnoms nicht nur bei ihm.
»Wir wissen Bescheid, Höhlenwurm!«, zischte Gotor wütend. »Wir haben ... Fahrkarten. Zeig ... uns unser Abteil.«
»Bitte folgen Sie mir«, erwiderte der Gnom gleichgültig. Viktor wich rückwärts durch den engen Gang zurück, er hatte nicht die Kraft, seinen Jägern den Rücken zuzuwenden.
Aber keiner machte Anstalten, ihn anzugreifen. Mit stechenden Blicken durchbohrten sie ihn, hielten aber still.
»Bitte, das Abteil.« Wieder ertönte die knarrende Stimme des Gnoms.
Direkt neben Viktors Abteil.
»Ich bitte die Herrschaften nachdrücklich darum, von einer Klärung der Verhältnisse abzusehen.« Wieder sprach der Gnom.
Gotor warf ihm einen verächtlichen Blick zu und zog sich mit den anderen ins Abteil zurück; die Tür wurde mit einem Knall zugezogen.
»Wollen Sie im Gang stehen bleiben? Oder ziehen Sie sich auch zurück?«
Viktor stolperte halb bewusstlos in sein Abteil. Schloss die Tür und schob den wackeligen Riegel vor. Seine Hände zitterten wie die eines langjährigen Alkoholikers.
Schluss aus. Sie hatten ihn aufgespürt. Ihn erwischt. In die Ecke gedrängt. Von hier konnte er nirgendwo hin mehr flüchten, höchstens aus dem Fenster springen.
Der Zug nahm verdächtig schnell Tempo auf.
Viktor saß da und blickte wie gebannt auf die gegenüberliegende Wand. Ihm schien, dass sie jeden Augenblick von einem reißenden Wasserstrahl aufgetrennt werden würde, einem Wasserstrahl so wirkungsvoll wie ein Laserschwert. Vor dem Fenster flog die herbstliche Landschaft vorbei; Viktor fühlte sich wie in einem Käfig.
Würde der mächtige Magier mit seinen Kämpfern hier im Zug wirklich nicht angreifen? Hatten die Worte des Gnoms tatsächlich eine Bedeutung für diese Leute? Oder warteten sie vielleicht auf irgendetwas? Aber auf was?
Ja. Alles hatte mit einer defekten Sicherung angefangen. Und es endete damit, dass er vor unangenehm echten, bösen Zauberern Reißaus nehmen musste.
Und Tel war irgendwohin verschwunden ...
Wie ging es weiter? Sollte er sitzen bleiben und warten, bis Gotor nebenan genug davon hatte und ihn kurzerhand erledigen würde?
»Warum konntest du deinen treuen Diener nicht schützen?«, ertönte die spöttische Stimme des Wassermagiers. In diesem prächtigen Waggon waren die Wände ja wohl kaum so dünn, dass die Geräusche im Nachbarabteil unmittelbar zu hören waren. Vermutlich hatte der Magier zu einem Zauber gegriffen. »Ein einziger Schlag - ist das alles, wozu du fähig bist? Warum hast du uns nicht augenblicklich an Ort und Stelle in Asche verwandelt, wie du es uns angedroht hast? Warum antwortest du nicht?«
Billige Provokation. Ich darf mich nicht darauf einlassen. Diesem Gotor scheint sehr daran gelegen zu sein, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, dachte Viktor, während er sich die schwitzigen Handflächen an seiner Jeans abwischte. Es fragt sich nur, warum? Werden sie mit mir nicht fertig, solange ich mich beherrsche und Ruhe bewahre? Verdammt, ich hätte doch die Wahrheit von dem Jungen erfragen sollen, durchfuhr es ihn kalt. Und nun ist er Sohn des Grenzers gestorben, sinnlos und nutzlos, ohne dem Feind größeren Schaden zuzufügen. Die hiesigen Magier stehen sicher kaum hinter Tel zurück. In ein paar Stunden wird von der Verletzung an der Schulter des einen nichts mehr zu sehen sein. Hätte ich den Jungen ausgefragt, wüsste ich mehr über mich selbst. Es sieht ganz danach aus, als sei ich selbst meine beste Waffe - ich muss nur herausfinden, wie ich mich dieser Waffe am besten bediene. Und ich darf keine Schwäche zulassen. Wenn ich nur einmal zusammenzucke oder Mitleid empfinde, ist der Kampf verloren.
Gotor wiederholte hinter der Wand weiter unaufhaltsam seine Phrasen. Aber Viktor hörte nicht mehr hin. Bewahr sensei[8] immer wieder gesagt ... Viktor bedauerte es, dass er in dem einen Jahr Karatetraining nicht über eine oberflächliche Freizeitbeschäftigung hinausgekommen war. Er erinnerte sich nur noch dunkel: »Adrenalin an sich ist eine starke Waffe, setze sie nicht früher und nicht später ein, als gut ist.«
Ruhig Blut. Noch war er am Leben, oder nicht? Es sollte sich darüber freuen. Und wenn der Magier des Wassers ihn hier wirklich töten wollte, hätte er das schon versucht. Für seine Verfolger war es unnötig, auf die Dunkelheit oder irgendwelche menschenleeren Streckenabschnitte zu warten. Hier gab es keine Polizei, keine Staatsanwälte oder Strafverteidiger. Es gab nur die Strafkommandos der Clans; diese waren Ermittler, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug gleichzeitig. Berufung gegen ihre Urteile konnte man nicht einlegen. Und dennoch warteten sie.
Nachdem sie ihn nun schon eingeholt hatten, war es einfacher, ihn aus der Distanz zu verfolgen und zu warten, bis er sich nicht mehr im Schutz der Route befand; dann würden sie zuschlagen.
Hatten sie Angst vor ihm? Oder brauchten sie etwas von ihm? Wollten sie womöglich, dass er sie von sich aus angriff, im Zorn den Kopf verlor? Unsinn, er war kein Schwarzenegger und kein Van Damme. Und erst recht nicht Mike Tyson. Es ging um etwas anderes. Aber um was?
Er wusste keine Antwort.
Er konnte sich lange nicht entschließen, das Abteil zu verlassen. Erst als er so dringend auf die Toilette musste, dass er es nicht mehr aushielt.
Im Gang traf er auf einen von Gotors Kämpfern und wäre beinahe zurück ins Abteil gestürzt, aber dieser streifte ihn
Danach musste er wieder warten.
Viktor dachte nicht ans Essen. Sein Bewusstsein suchte verzweifelt nach einem Ausweg; aber wie sollte er den finden? Seine Situation war vergleichbar mit dem Versuch eines Spielers, eine Schachpartie gegen Kasparow zu gewinnen, obwohl er gerade mal einen Bauern von der Königin unterscheiden konnte. Viktor blieb einfach sitzen und starrte dumpf vor sich hin.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Wenn nun in dieser Welt das Wort viel mehr bedeutete als nur eine einfache Erschütterung der Luft, gab es hier vielleicht einen wahren Gott? Eine höhere Instanz, vor der alle Streitereien und Zwiste und alle Wunder lachhaft wurden ... Oder hatte Tel doch Recht, und es gab keine Parallelwelten? Es gab nur die eine einzige Welt, die im großen Urknall entstanden war, und alles hing vom jeweiligen Blickwinkel ab.
Genau der richtige Zeitpunkt für abstrakte Überlegungen, dachte Viktor und musste lächeln. Neben dir, hinter der Sperrholzwand sitzen vier kaltblütige Mörder. Denk nach, wie du dich retten kannst!
Aber worüber sollte er noch nachdenken? Sobald er ausstieg, würden sie ihn fertigmachen. Und dann wäre es vorbei damit, dass fanatische Verehrer sich auf das erstbeste Zeichen seinerseits in den Tod stürzten. Gib es doch zu, dachte Viktor, gib doch zu, es fühlt sich nicht schlecht an, wenn jemand bereit ist, für dich zu sterben. Es ist doch ganz angenehm, Viktor, sei ehrlich! Zu befehlen, sich andere zu unterwerfen und deren wilde Ergebenheit und ihre
Leere, zusammenhangslose Worte. Von der Leinwand klangen sie eindrucksvoll, und auch in Romanen las man sie gerne und begeisterte sich dabei für den Helden und seinen Wagemut, fieberte mit ihm. Aber wenn sie einen plötzlich selbst betrafen ... Viktor presste das nutzlose Schwert in seiner verschwitzten Hand. Elfenstahl, was sollte er damit anfangen? Eine Wasserpeitsche würde er damit kaum zerschlagen können.
Gotor war verstummt, vermutlich ruhte er sich aus. Es war Stille eingetreten. Nur das Klopfen der Räder und das gelegentliche Pfeifen der Dampflok waren zu hören. Viktors Abteil lag auf der Windseite, und zerzauste Rauchschwaden glitten an seinem Fenster vorbei. Der Donnerpfeil schien ein Verwandter des Roten Pfeils[9] auf der Anderen Seite zu sein; er fuhr zügig und fast ohne Halt und wechselte lediglich an wichtigen Verkehrsknotenpunkten die Lokomotive, um sich so die Zeit für das Nachfüllen von Kohle und Wasser zu sparen.
Die Stunden vergingen. Bald würde es Abend werden, und Viktor saß noch immer in einer merkwürdigen Starre da und konnte sich zu nichts entschließen. Sein ursprünglicher Plan, Tel einzuholen, erschien ihm inzwischen wie vollkommener Wahnsinn. Wie und wo sollte er sie ausfindig machen? Er würde sich selbst in die Hände der Magiermörder begeben, und damit wäre alles vorbei. Was hatte Rada gesagt? Entweder in Luga oder in Rjansk würde er den anderen Zug, Vier Rauchwolken, einholen? Irgendwie kamen ihm die Namen der Städte bekannt vor ...
Viktor musste all seinen Mut zusammennehmen, um die Nase aus dem Abteil zu strecken. Zum Glück trieb sich der Gnom im Gang herum.
»Hören Sie, Wertester ...«, begann Viktor, der sich diese alberne Anrede einfach nicht verkneifen konnte. »Wann kommen wir in Luga an?«
»Jetzt gleich«, brummte der Gnom. »Eine halbe Stunde noch, dort haben wir zehn Minuten Aufenthalt.«
»Und Vier Rauchwolken?«
»Den werden wir in Luga überholen, guter Mann. Von Luga fahren wir ohne Zwischenhalt nach Rjansk, dabei wird der Weg vor uns endlich frei sein. Es ist kein Wunder, dass wir ihn überholen, denn Vier Rauchwolken bleibt an jedem Baumstamm stehen. Was wünschen Sie noch zu wissen, guter Mann?«
Viktor kehrte in sein Abteil zurück und verschloss sorgfältig die Tür. Luga bedeutete eine Chance. Eine kleine Chance, die er nicht verstreichen lassen durfte. Die Clans lebten, Jaroslaw zufolge, im Süden, am Warmen Ufer. Hatte sich das Mädchen am Ende dorthin aufgemacht? Vielleicht war sie ja wirklich nicht unterwegs ausgestiegen ... Aber wie sollte er sie finden und dabei noch seine Verfolger an der Nase herumführen?
Wahrscheinlich hätte Conan der Barbar oder der Lord vom Planeten Erde[10] oder Olmer aus Dejlo[11] in einem solchen Fall genau gewusst, was zu tun war. Aber Viktor spürte nur zu gut, wie wenig er sich zum Helden eines märchenhaften Abenteuerromans eignete. Es war wie verhext, aber ihm fiel einfach nichts Taugliches ein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich aufs Zuverlässigste überhaupt - den guten alten, unbesiegbaren Zufall - zu verlassen.
In diesem Moment pfiff der Donnerpfeil aus voller Kehle und begann das Tempo zu drosseln. Draußen zogen jetzt Vororte vorbei, die sich kaum von den Vorstädten am Rand von Moskau Mitte der siebziger Jahre unterschieden. Inmitten von entlaubten Gärten befanden sich einstöckige Holzgebäude: mit Zierleisten verkleidete Blockhäuser in bunten Farben, von denen der Anstrich zum Teil schon stark abblätterte. Viktor wunderte sich unwillkürlich, nach allem, was er sehen konnte, war es zwar herbstlich, aber noch sehr warm. In jedem Fall war es nicht unangemessen, nur mit einer Jacke bekleidet unterwegs zu sein.
Ein Pumphaus aus Stein glitt vorbei, ein Bahnwärterhäuschen, der Zug rumpelte über schlecht gestellte Weichen.
»Luga ... Luga ...«, erklang es im Gang. »Zehn Minuten Aufenthalt.«
Viktor erblickte sofort Vier Rauchwolken, diese wundersame Lokomotive, die vier Schornsteine hatte wie der Kreuzer Warjag[12] und schäbige Waggons hinter sich herzog. Es sah ganz so aus, als sei der Donnerpfeil nicht umsonst ein teurer Zug.
Mit dem Schwert unterm Arm und schweißüberströmt trat Viktor in den Windfang hinaus. Vom Clan des Wassers war weit und breit nichts zu sehen.
Die zwei Züge standen nebeneinander; auf dem Bahnsteig dazwischen brodelte eine dichte Menschenmenge, Reisende und kleine Händler; eine Alte pries mit lauter Stimme ihre unvergleichlichen Zaubertränke mit zeitlich begrenzter Wirkung an, und zwar solche, die fürs Verlieben, und solche, die fürs Entlieben sorgten; und das wiederum jeweils »nur für einen halben Tag, also gerade richtig für eine Reise, sicher nicht für immer«. Viktor beobachtete mit Erstaunen,
Während er auf dem obersten Trittbrett stand, blickte er sich immer wieder um. Er hatte Angst, die Abteiltür der Magier unbeobachtet zu lassen. Sein ungeschützter Rücken schrie geradezu vor Furcht; gleichzeitig waren seine Aussichten, Tel rein zufällig in der Menge zu entdecken, genaugenommen gleich null.
»Entschuldigen Sie schon, guter Mann ...«, ertönte aus einer Nische in der Wand die Stimme des Gnoms. In seiner haarigen Pfote hielt er einen gewaltigen Teekessel. Er schob Viktor zur Seite und kletterte die Treppe hinunter, ehe er sich mit wichtiger Miene zwischen den Leuten durchdrängelte und in seinem merkwürdigen Gang auf das Bahnhofsgebäude zutrottete.
Der ideale Augenblick für die Magier, mich anzugreifen, dachte Viktor. Er packte sein Schwert fester, stand aber weiter nur unschlüssig da, den Blick auf den Bahnsteig gerichtet. Tel in dieser Menschenmenge zu finden konnte eine Ewigkeit dauern.
Über dem Waggon hingen nackte schwarze Zweige. Eine riesige, weit verzweigte Eiche hielt sich hartnäckig neben den Gleisen, ungeachtet aller ökologischer Dürftigkeit ihres Standorts.
Viktor hatte keine Ahnung, was ihn veranlasste, den Blick zu heben. Und zwar nur für den Bruchteil einer Sekunde, bevor etwas leicht auf dem Zugdach aufschlug - nicht stärker als ein Stück Rinde oder ein kleiner Ast. Er erstarrte und zog sich instinktiv in die Tiefe des Windfangs zurück,
Leise quietschend glitt das metallene Zugdach zur Seite, und in dem Loch erschienen ein Paar Stiefelchen, gefolgt von einer weiten, tief heruntergezogenen dunkelblauen Pumphose, wie sie ein Saporoscher Kosak[13] auf der Bühne trägt, dann ein weißes Hemd und schließlich kurze rote Haare. Der goldene Lack auf den Fingernägeln glänzte.
Einen Atemzug später landete Tel weich auf dem Boden. In der Hand hielt sie einen dicht geschlossenen Korb.
»Mach das Dach zu«, flüsterte sie kaum hörbar und gerade so, als hätte sie Viktor vor wenigen Minuten zuletzt gesehen. »Gleich kommt der Gnom ... wir sollten den Alten nicht in Schwierigkeiten bringen ...«
In Gedanken klappte Viktor seinen vor Verwunderung offen stehenden Mund zu, der auch nur in Gedanken offen stand, und tat, wie Tel ihn geheißen hatte. Die metallene Abdeckung ließ sich erstaunlich leicht und geräuschlos wieder zuschieben, ganz so, als liefe sie auf gut geölten Schienen. Als Viktor das Abteil betrat, war Tel schon dort. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Plüschsofa und breitete auf dem Tischchen einen derart appetitlich anmutenden Imbiss aus, dass Viktor augenblicklich einen Stich im Herzen verspürte. Und sein tiefer, aber einem echten Mann unwürdiger Wunsch, dieser kleinen Kröte gehörig den Hintern zu versohlen, löste sich in Luft auf.
»In Rjansk müssen wir aussteigen«, sagte sie fast im Flüsterton, während sie ihre schneeweißen Zähne in das weiche Fruchtfleisch einer grünlichen Frucht grub. »Auf den Donnerpfeil haben jetzt zu viele Leute ein Auge geworfen.«
»Aha ... äh ...« Mehr fiel Viktor dazu nicht ein.
Tel tat sehr geschäftig und hielt ihm in ihrer pathetisch ausgestreckten Hand, wie in einer rhetorischen Geste, ein ordentliches Butterbrot mit einer dicken Scheibe Schinken und Salatblättern hin.
»Es musste sein«, sagte sie. »Ärgere dich nicht, Viktor. Nun ja, du kannst ... du kannst mich natürlich verhauen, wenn du willst. Mir den Pelz gerben. Soll ich die Hosen runterlassen?«
Viktor verschluckte sich an seinem Butterbrot. Er hatte sich nie als sadistischen Pädophilen mit Neigung zur Flagellation gesehen.
»Wenn ich geblieben wäre, hätte Gotor mich getötet«, sagte Tel schlicht und wandte ihren bohrenden Blick nicht von ihm ab. »Ich musste ihm die Räuber opfern.«
»Opfern? Du hast sie in den Tod geschickt? Sogar den Jungen?«
Tel verzog das Gesicht, als würde sie etwas Unhörbarem lauschen. »Der Junge lebt, Viktor. Mach dir keine Sorgen um ihn.«
»Woher weißt du das?«
»Ich spüre es«, sagte Tel mit unerschütterlicher Gewissheit. »Er ist verletzt, hat viel Blut verloren, aber das macht nichts. Sie kommen ihm zu Hilfe. Die Gnome, weißt du, sie verabscheuen die Strafkommandos ... Aber wer würde sie nicht verabscheuen, diese Unholde!«
»Das heißt, du wusstest, dass ein Strafkommando hinter uns her ist?«
»Natürlich. Von Anfang an. Das war unvermeidlich, Viktor. Ich war mir zwar ganz sicher, aber ich musste trotzdem eine kleine Untersuchung durchführen. Es gibt nur noch eines zu erledigen. Auf der Brücke.«
»Was denn für eine Brücke?«, fragte Viktor hilflos. Sein Ärger war spurlos verraucht.
»In Rjansk gibt es eine Brücke«, erklärte das Mädchen bereitwillig. »Dort entscheidet sich alles.«
»Wie meinst du das?« Aus irgendeinem Grund wurde Viktor innerlich eiskalt. In Tels Worten lag etwas Dunkles ... etwas, das nach Blut roch.
»Gotor hat den Befehl, dich zu töten, ganz gleich, wie. Aber er hat nicht den Befehl, sich mit den Gnomen anzulegen. Die Route ist unantastbar. Das heißt also, Gotor wird sich deiner annehmen, sobald du den Zug verlässt.«
»Das war mir auch schon klar«, brach es aus Viktor heraus.
»Gotor hat dich mit einem Überwachungszauber belegt. Es ist keine sehr starke Formel, aber auf diese Weise hat er dich praktisch immer an der Leine. So braucht er kein Risiko einzugehen. Er hält das Strafkommando im Abteil zurück, um einen Kampf im Zug zu vermeiden. Er wird dich erst in dem Moment angreifen, in dem du das Treppchen runtersteigst. Es war sehr klug von dir, mich in Luga nicht zu suchen. Du wirst gewusst haben, dass ich dich von selbst ausfindig mache. Wir müssen Gotor überlisten. Und die Brücke ist dafür die beste Gelegenheit. Dem Magier des Wassers würde es doch nie in den Sinn kommen, dass du versuchen könntest, ihm auf dem Fluss zu entkommen, gerade da, wo seine Macht besonders groß ist. Aber genau das werden wir tun.«
»Gut, aber wie?«
»Ganz einfach. Hör zu und unterbrich mich nicht.« Tel zog zum Spaß die Augenbrauen hoch, wie eine strenge Lehrerin. »Wenn wir über die Brücke fahren ... Halt, nein. Ich sag es lieber nicht, am Ende belauscht uns einer von Gotors
»Na gut«, sagte Viktor eilig.
Eine Weile lang kauten sie schweigend.
»Um den Grenzer und seine Söhne brauchst du nicht zu trauern«, sagte Tel schließlich, ohne ihre Mahlzeit zu unterbrechen. »Sie sind glücklich gestorben, weil sie verteidigen durften, was ihnen am teuersten ist.«
»Aber warum, Tel, haben sie mich immer mit ›Herrscher‹ angeredet? Warum haben sie mir dieses Amulett gegeben? Und was hat es zu bedeuten?«
Das Mädchen runzelte die Stirn und betrachtete aufmerksam das Medaillon.
»Das Bild ist dir wirklich sehr ähnlich«, sagte sie sorgenvoll. »Ob das nötig war ... keiner wusste, dass die Wächter den alten Schwüren so die Treue halten.«
»Was für alte Schwüre?«, fragte Viktor begierig. Natürlich war ihm noch bewusst, dass er sich vor allzu detaillierten Fragen hüten musste, aber bisher blieb alles ruhig.
Tel blickte ihn wieder durchdringend an, ganz so, als ob sie sich über ihn wunderte.
»Lass uns vorerst nicht darüber reden. Wir wollen doch nichts Böses heraufbeschwören. Das heißt ... Horch in dich hinein, Viktor! Ist es richtig, dass du mich danach fragst? Das Medaillon bedeutet, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dass du ein Mensch der Mittelwelt bist und keiner von der vergifteten Anderen Seite. Weißt du noch, was ich dir von unseren Vorfahren erzählt habe?«
»Dass sie gemeinsam gekämpft haben ...«
»Genau. Und nun hast du den Beweis.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, dass es ähnlich ist! Und ähnliche Leute gibt es jede Menge!«, nörgelte Viktor. Von diesem ganzen hochgestochenen Gerede wusste er nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. »Es gibt so viele Doppelgänger auf der Welt!«
»Stimmt«, nickte Tel. »Vielleicht ist es reiner Zufall. Aber vielleicht ist es tatsächlich das Porträt eines deiner Ahnen. Vielleicht deines Großvaters oder Urgroßvaters.«
»Schön.« Viktor hielt es nicht aus. »Aber warum wollen diese Typen vom Clan des Wassers mich töten?«
»Warum? Weil sie wissen, wer dein Großvater war«, erklärte Tel energisch. »Oder sie meinen, dass sie es wissen ... das reicht schon.«
»Heißt das, dass sie das Medaillon gesehen haben?«, fragte Viktor dumpf.
Tel verschränkte die zierlichen Arme.
»Es stimmt also: Wenn ein Mann seinen Zorn unterdrückt, dann vergiftet der all seine Gedanken. Ich hätte wahrscheinlich doch die Hosen runterlassen sollen, damit du mir eine Tracht Prügel verpasst. Vielleicht könntest du dann besser nachdenken. Natürlich haben sie kein Medaillon gesehen. Sie sind mir gefolgt, haben versucht, mich am Übergang zu überfallen ... aber als sie dich dann sahen, waren sie voll und ganz überzeugt. Und die Jagd begann. Das ist alles ganz einfach. Aber du musst wissen, Viktor, dass du Gotor nicht so einfach überwinden kannst. Er ist ein starker Magier.«
»Was soll ich tun?«
»Was glaubst du denn? Kämpfen natürlich.« Plötzlich hob sie das Kinn und sah einen Augenblick aus wie ein
Viktor brach kalter Schweiß aus. Das Ganze wirkte wie eine Art Perversion.
»Los jetzt!«, flüsterte Tel.
Er musste ihrem Vorschlag folgen. Das Mädchen machte sich daran »zu stöhnen«, was ihr so überzeugend gelang, dass Viktor augenblicklich die Röte ins Gesicht schoss.
»Gut, das ist erst mal genug«, wies Tel ihn an. »Das reicht für eine Weile. Jetzt können wir uns wieder unterhalten. Obwohl es natürlich besser wäre, nicht zu reden. Bis Rjansk ist es noch ewig. Dort könnte es heiß werden. Ruh dich bis dahin am besten aus.«
»Tel, sag mir noch, was bist du für eine? Jaroslaw - also der Sohn des toten Grenzers - hat gesagt, dass es vier Elementare Clans gibt und außerdem jede Menge Tierclans. Und du? Wozu gehörst du?«
Tel blickte Viktor streng an.
Jetzt wird sie gleich wieder sagen, das brauche ich nicht zu wissen, dachte Viktor bedrückt. Aber es kam anders. Tel seufzte leise und legte ihr Kinn auf die verschränkten Finger ihrer Hände. Es sah aus, als warte sie darauf, dass er von sich aus Abstand von seiner Frage nahm.
Aber Viktor spürte nichts Beunruhigendes. Fürs Erste.
»Woher ich bin ... nicht von den vier Elementen, Viktor. Und auch nicht von den Totemistischen Clans, den Tierclans, wie die einfachen Leute sie nennen.«
Tels Art zu sprechen passte auf einmal überhaupt nicht mehr zu einem dreizehn- oder vierzehnjährigen Mädchen. So konnte nur eine Frau sprechen, die durch die Jahre und ihre Sorgen weise geworden war. Eine, die viel erlebt und gesehen hatte.
»Du wirst ohnehin bald schon alles erfahren. Ich habe große Angst, etwas zu verdrehen, dich zu beeinflussen ... Du stehst jetzt praktisch auf einem Hügel ... du kannst den Weg nach rechts oder nach links, geradeaus oder zurück nehmen. Und wovon das abhängt, wohin du dich wendest, das wissen nur die wenigsten. Ritor weiß es vermutlich. Und Torn. Und noch zwei, drei andere Magier ...«
»Ritor, wer ist das?« Viktor fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl. Der Name hatte etwas Erschreckendes an sich, wie das Pfeifen eines tödlichen Windes über einer verbrannten Wüste. »Und wer ist Torn?«
»Ritor ist der mächtigste Zauberer des Clans der Luft. Und wahrscheinlich der stärkste Magier der ganzen Mittelwelt, wenn man mal vom Hüter absieht. Torn ist sein ewiger Kontrahent, der beste Zauberer des Wassers ...« Sie blickte Viktor durchdringend an, als wollte sie prüfen, wie er ihre Worte aufnahm.
Ritor ... Ritor ... nein, in diesem Namen kommt weit mehr zum Klingen als eine besondere Lautfolge. Ritor, Ritor, Ritor, das Pfeifen eines kämpferischen Windes, das Rauschen geöffneter Flügel, unbarmherziger Zorn, ein mit schwerem Panzer bedeckter Körper gleich einem ungestümen Bergmassiv, das durch die Wolken stößt. »Du bist gekommen, Drachentöter«, ertönt eine donnernde Stimme hinter den Wolken. »Nun gut, dann werden wir kämpfen. Die Stunde ist gekommen, und ich werde nicht vor dem Schicksal davonlaufen.
Zwei abgekämpfte Menschen, ein Mann und eine Frau, ein schwarzes Schwert in der Hand des Mannes, der einen Helm trägt. Unüberwindbare Härte im Blick der Frau, die bereit ist, zu sterben, und sich nicht ergeben wird. Sie laufen nicht davon. Sie werden mit dir kämpfen, Drachentöter-Viktor. Bis zum Ende kämpfen, denn das schlichte Wort »Ehre« bedeutet für sie mehr als nur vier Buchstaben. Du, Viktor - oder nicht Viktor? - konntest das nie ganz begreifen. Schließlich kann man alles überstehen, wenn man kein verweichlichtes höheres Töchterchen ist. Man kann sich nach jeder Demütigung wieder erheben. Man kann alles für einen Sieg tun. Du hast schon viel getan. Aber jene nicht. Sie können nicht fortlaufen, sie können dem Feind nicht den Rücken zuwenden. Sie sind schon bis zur äußersten Grenze zurückgewichen, bis zum Rand der Welt, weiter können sie sich nicht zurückziehen. Jetzt bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu sterben.
Der Mann hebt das schwarze Schwert und bringt sich in Position. Hinter dem Drachentöter sammelt ein ungestümer, feuerflammender Wind seine Kräfte, ein Wind, der bereit ist, jedes Hindernis und jeden Schutzwall zu zermalmen. Wie viel Blut und Tränen müssen vergossen werden, damit ein Wind so grenzenlos mächtig werden kann? Damit der Drachentöter die Gewalt über diese Kräfte erlangt, Kräfte, die in der Lage sind, die steinernen Festungen der Machthaber zu vernichten und ihr ganzes verfolgtes Geschlecht auszulöschen?
Die Beine schreiten weich auf der feuchten Erde. Über der rechten Hand reift ungestüm ein Feuerapfel heran. Alle
Um einen kleinen Preis.
Diese beiden erhalten, was sie verdienen. Das Gericht trat schon vor langer Zeit zusammen. Und hat das Urteil verkündet. Zu Recht wurden sie schuldig gesprochen, und das Urteil wird dadurch bekräftigt, dass es dem Drachentöter in seinem heftigen Streben auf diesen letzten Kampf hin vergönnt war, alle Prüfungen zu bestehen und alle Gegner zu überwinden.
»Lass uns beginnen«, sagt der Drachentöter, und Viktors ganzer Körper wird von einem Schauder süßer Vorahnung erfasst. Tief in ihm, tief im Verborgenen rührt sich sein ureigenstes Wesen. Ist es am Ende wirklich sein Schicksal, Drachen in Märchenwelten zu töten?
»Lass uns beginnen«, stimmt der Drache mit dem geschlossenen Helm zu.
»Lass uns beginnen«, nickt auch seine Gefährtin.
Und - wie merkwürdig! - er, Viktor, der sowohl Teilnehmer als auch Zuschauer dieses längst vergangenen Duells ist, verspürt Gewissensbisse. Die beiden Drachen wären mit ihm fertig geworden, als er noch jünger und schwächer war. Aber jetzt nicht mehr. Dies ist kein Kampf - sondern eine Hinrichtung. Die Vollstreckung eines Urteils. Und er, der Drachentöter, ist nicht mehr ein Soldat, sondern der Henker. Was denn, dafür hat er seinen Namen, Drachentöter, weil er seine Opfer tötet. Er hat nicht das Recht, sich dem Mitleid zu überlassen. Die Mittelwelt muss die Freiheit erhalten. Die schrecklichen, verfluchten Burgen auf den hohen,
»Lass uns beginnen«, wiederholt der Drachentöter. In seiner Hand hält er die zu einem Knäuel verdichtete Kraft des Feuers. An seinen Schultern spürt er die aufgespannten Flügel des Windes. Unter seinen Füßen den wartenden Schlund der Erde.
Und diesen Mächten tritt ein schwarzes Schwert gegenüber. Ein einfaches Schwert mit einer Klinge aus brüniertem Stahl. Und ein geschlossener Helm. Die Frau zückt ein langes, bildschönes Florett. In die linke Hand nimmt sie einen Dolch. Sie steht neben ihrem Mann.
Zwei gegen einen - aber sie wissen, wie ungleich die Kräfte jetzt verteilt sind.
Die Drachen warten ruhig ab. Sie haben schon alles erlebt. Niederlage, Verwüstung, Flucht. Sie haben gesehen, wie ihre Verwandten im eigenen Feuer verbrannten. Wie die Mauern ihrer Burgen einstürzten und ihre in Jahrhunderten zusammengetragenen Bibliotheken sich in Asche verwandelten, Bibliotheken, in denen - wie es heißt - die Weisheit aller drei Welten gesammelt war.
Dennoch werden sie niemals bitten: »Schneller ...«
Der Drachentöter zieht vorsichtig, als handle es sich um eine ungewöhnliche Kostbarkeit, seinen krummen Säbel aus reinem weißem Stahl aus seinem Gürtel hervor. Die Klinge ist weiß, ohne eine Spur von Farbe, weiß wie der Schnee bei der Grauen Grenze.
Auch der Drachentöter will nicht unehrenhaft handeln, indem er jene tötet, die seiner Kraft jetzt beinahe wehrlos gegenüberstehen. Und Viktor spürt, wie sich seine Brust vor Begeisterung zusammenzieht: Er ist der Drachentöter, und er ist dankbar, und auch er weiß, was Ehre ist. Er bemüht
Jetzt bringt er sich in Position ...
»Viktor!« Ein Schwall eiskalten Wassers traf ihn im Gesicht.
Er öffnete die Augen.
Das Klopfen der Räder, der gleichmäßig schaukelnde Waggon. Die fest verschlossene Tür - mit Riegel und Kette. Und eine erschrockene Tel mit einem Krug in der Hand.
»Du warst plötzlich ... so entrückt«, sagte sie schuldbewusst. »Und du hast nicht mehr geantwortet. Irgendetwas hat dich fortgeführt, oder? Hast du etwas gesehen?«
»Tel, ich ...«
»Nein, erzähl mir nichts!« Eilig bedeckte sie ihre rosigen Ohren mit den Handflächen. Wie ein erschrockenes Mädchen, das von den Eltern zu einem ernsten Gespräch aufgefordert wurde. »Ich will nichts hören. Und denk daran, du musst alles selbst entscheiden! Sonst ... sonst ...« Ihre Stimme wurde leiser: »... sonst wärst du besser gar nicht erst hierhergekommen. Es ist eine schreckliche Vorstellung, was du anrichten könntest, wenn ... wenn du nicht du selbst bist.«
»Nicht ich selbst?« Viktor war aufrichtig verwundert.
»Ja, ja. Denn das bedeutet höllische Qualen, die Folter aller Foltern, und kein Lebewesen vermag sie zu ertragen. Deshalb habe ich auch solche Angst ... dich versehentlich in irgendeine Richtung zu beeinflussen. Denn die Kraft eines vor Schmerz zermarterten Herzens ist schlimmer ...«
»Als mit einem Verrückten allein im Zimmer ...«, schloss Viktor. Er konnte es sich nicht verkneifen, die ernste Stimmung für einen Moment aufzubrechen, denn trotz allem wirkten Tels Worte irgendwie kindlich und harmlos auf
»Mach dich nicht lustig«, sagte Tel beleidigt. Sie schob schmollend die Lippen nach vorne und blickte eine Weile zum Fenster hinaus. »Mach dich nicht lustig. Denn das ist die Wahrheit, und über die Wahrheit soll man keine Scherze machen. Das rächt sich.«
»In Ordnung, ich tu’s nicht mehr«, stimmte Viktor ergeben zu. »Dann sag mir jetzt mal, wie lange ist es noch bis Rjansk.«
»Wir kommen etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang dort an.«
»Tel ... leben deine Eltern noch?«, fragte Viktor unerwartet.
»Als ich noch ganz klein war, war Mama in einen Aufstand verwickelt. Die Rebellion wurde niedergeschlagen. Die Anstifter wurden hingerichtet. Der Drache war barmherzig. Er tötete alle schnell und auf einen Schlag. Keiner wurde lange gequält, und später wurden ihre Körper sogar den Angehörigen übergeben, damit diese die Leichname bestatten konnten. Das passierte nicht oft.«
»Der Drache ...« Viktor sprach das Wort langsam aus. In seinem Inneren stieg ein dumpfer Zorn auf - es war nicht sein Zorn! -, und die Hände griffen ganz von selbst zur Waffe.
»Ich wollte es dir nicht sagen. Aber nachdem du mich nun direkt gefragt hast, darf ich dich nicht anlügen.« Tel sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Aber frag mich jetzt bitte nicht, wer diese Drachen sind.«
»Ich glaube, das weiß ich auch so«, murmelte Viktor.
Die Drachen. Der größte Fluch der Welt. Das Böse, das der Drachentöter ausgerottet hatte. Jene, die fast unverwundbar,
Aber warum erscheinen mir diese Visionen?, fragte sich Viktor.
»Das ist das Schicksal, Viktor«, sagte Tel sehr leise und sehr erwachsen. »Lauf nicht vor ihm davon, blick ihm ins Gesicht ... Komme, was da wolle.«
Chor war außer sich.
»Kannst du mir wenigstens erklären, wohin es dich treibt? Gerade jetzt, da uns ein Krieg mit dem Wasser droht? Nun?«
Loj suchte schweigend ihre Sachen zusammen. Ein kurzes Kleid aus blauer Baumwolle, eine Kette mit großen Holzperlen, Sandalen aus weichem Leder. So kleidete sich entweder eine Frau von hohem Stand, die keinen Gefallen mehr an glitzernden Kostbarkeiten und luxuriösen Stoffen fand, oder eine einfache Bäuerin, die sich sogar gefürchtet hätte, in die Nähe der Clan-Ländereien zu kommen.
In dieser Situation waren Loj beide Vermutungen gleichermaßen recht und wichtig.
»Wenn du umkommst ...« Chor verstummte und fügte dann mit deutlich leiserer Stimme hinzu: »Loj, bitte lass mich mit dir gehen.«
In Gedanken lächelte Loj triumphierend. Er liebte sie. Er liebte sie sehr. Er war eifersüchtig und hatte Angst um sie, machte sich Sorgen.
»Mein Lieber ...« Sie ging zu ihm, lehnte sich weich an ihn. Ihr Kämpfer roch nach Wein und Parfüm. Wessen wohl? Sie musste sich diesen Geruch merken ... Wahrscheinlich
Es war trotz allem leicht, Männer zu lenken.
»Ich kann es dir nicht sagen. Jetzt nicht, mein Lieber ...«
Chors Muskeln spannten sich, er streckte die Arme aus, um sie ungestüm und leidenschaftlich an sich zu reißen, aber Loj entwand sich geschickt seinem Griff.
»Die Zeit wird kommen, da du alles erfährst«, fuhr sie besänftigend fort. »Aber jetzt muss ich gehen. Allein. Und schick mir keine Spione hinterher, ja? Männer würde ich verführen und Mädchen die Augen auskratzen.«
Chor stieß einen schwülstigen Fluch aus. Er unterzog Loj einer genauen Musterung und fragte dann: »Was ist los, hast du Freundschaft mit einer der Dörflerinnen geschlossen?«
Mit ganz und gar ernstem Gesicht schüttelte Loj den Kopf. Und ließ sogar ein Tränchen im Augenwinkel aufblitzen - als Zeichen, dass sie zu Unrecht beleidigt wurde.
Immerhin hatte sie schon an die zwei Jahre keine Intrigen mehr außerhalb der Clans angezettelt!
»Sei nicht wütend«, sagte Loj, während sie das fast unsichtbare Türchen zu ihrem magischen Zimmer öffnete. Chor wollte ihr schon folgen, blieb dann aber im letzten Moment stehen. Ins Allerheiligste eines Magiers einzudringen würde bedeuten, alles aufs Spiel zu setzen.
»Du Katze!«, warf er ihr zornig hinterher, ganz so, als ob er selbst einem anderen Clan angehörte.
Loj warf das Türchen hinter sich zu. Und stand einfach so da, für einen Moment bar aller eben noch zur Schau gestellten Selbstsicherheit.
Was tat sie eigentlich? Was?
Nein, dass Chor jetzt zu seiner feuchtfröhlichen Gesellschaft zurückkehrte, beunruhigte sie nicht im Mindesten. Sie hatte schon vor langer Zeit begriffen, am haltbarsten war jene Leine, die man von Zeit zu Zeit schleifen ließ.
Loj beunruhigte ihr eigener Plan. Es war eine Sache, Ota in die Schranken zu weisen und auf diesem Wege einmal mehr die eigene herausragende Stellung zu unterstreichen. Aber es war etwas ganz anderes, tatsächlich zum Angriff überzugehen.
Torn würde ihr die Demütigung nicht verzeihen. Kein Mann würde verzeihen, was sie ihm angetan hatte.
Die genauen Hintergründe des Vorfalls würde sie nur beim Clan des Wassers in Erfahrung bringen können. Der Clan der Luft kam dafür nicht infrage; da Ritor den Konflikt nicht angezettelt hatte, konnte das nur bedeuten, dass er selbst nicht über alle Informationen verfügte.
Was sollte sie tun?
»Denk nach, du Dummchen, na los«, spornte Loj sich selbst zärtlich an. »Du schlägst dich zum Clan des Wassers durch, und was dann?«
Sie hatte keine Lust zu ertrinken, auszutrocknen oder mit Wasserpeitschen exekutiert zu werden. Und Torn besaß eine reiche Fantasie, wer weiß, was ihm noch als Bestrafung einfallen würde.
Eine reiche Fantasie ...
»Es käme auf einen Versuch an, nicht wahr, Miezi?« Loj redete sich selbst aufmunternd zu und schüttelte gleichzeitig nachdenklich den Kopf. »Riskieren wir es?«
Denn was war ein Leben schließlich ohne Risiko! Des Sexes wird man überdrüssig, feine Speisen rufen irgendwann nur noch Ekel hervor, Machtintrigen werden eintönig und öde. Aber wenn man Leben und Tod auf eine Karte setzt, wenn das Herz erschrocken zu pochen beginnt, erhalten alle Farben dieser Welt ihre ursprüngliche Leuchtkraft zurück.
Loj öffnete eine kleine, verdeckte Tür und betrat einen schmalen Korridor, der immer tiefer unter die Erde führte. Der Gang verlief unter den Wurzeln jener gigantischen Eiche hindurch, die mit ihrem Stamm und ihrer Krone den Ballsaal beherbergte; weiter führte er unter der Route der Gnome hindurch, so dass man gelegentlich sogar das Rattern der ekelhaften Lokomotivenräder hören konnte; und schließlich zog er sich unter dem Fluss entlang, wo es sehr feucht war und die Wassertropfen klopfend auf den steinernen Boden fielen ... Loj mochte diesen Ausgang nicht. Zwei Stunden unterirdischer Wanderung - das war für jedermann ermüdend und unangenehm.
Dafür kam sie in einem kleinen Lehensdörfchen heraus, das von Gnomen und Menschen bewohnt wurde und direkt an der Route lag. Von der dortigen Bahnstation waren es nur drei Stunden Fahrt bis zu den Ländereien des Wasserclans.