Loj fand besonderes Gefallen daran, inkognito zu reisen. Nein, natürlich nicht, weil sie es an sich schön fand, denn wer mochte schon schmuddelige Abteile, dumm-dreiste Mitreisende und das Fehlen der gewohnten Ehrerbietung im Blick der Leute. Der Reiz lag darin, dass sie wusste, dass es nur ein Spiel war. Nichts auf Dauer. Angeblich hatte ein unbedeutender menschlicher Herrscher im Osten, ein gewisser Harun Raschid, diesem Zeitvertreib gefrönt; er wanderte des Öfteren in einfacher Kleidung und ohne Begleitung durch seine Städte und beobachtete das Volk; später versetzte er dann seine Höflinge und Minister mit seinen Kenntnissen über die wahren Zustände in seinem Reich in Erstaunen. Der Legende nach beendete er diese Streifzüge erst, als er sich in einem der Elendsviertel mit einer unheilbaren Krankheit infizierte beziehungsweise als er an einer dunklen Straßenecke überfallen und erdolcht wurde ... an dieser Stelle variierte die Geschichte, je nachdem, was der jeweilige Erzähler für einen Sinn für Humor hatte.
Aber schließlich war Harun ja auch kein Magier gewesen, im Gegensatz zu Loj.
Auch wenn das Oberhaupt der Katzen ein einfaches Kleid, schlichten Schmuck und kein Make-up trug, so stach
Für sechs Kupfermünzen kaufte Loj eine Fahrkarte mit Recht auf einen Sitzplatz ohne Schlafrecht. Der Stolz der Olchyda war ein langsamer Zug, aber in gut vier Stunden würde er sie zur Hauptstadt des Wasserclans bringen.
Ohne darüber nachzudenken, ging sie zum Wartesaal für Magier. Erst als sie den wachhabenden Elfen erblickte, der neben der Eingangstür stand, erkannte sie ihren Fehler. Der Elf bedachte sie mit einem verächtlichen Blick, als wäre sie eine einfache Bäuerin, ließ sich aber immerhin zu einer Erklärung herab.
»Hier ist kein Platz für dich. Hier versammeln sich die Kater ... nun mach schon, dass du weiterkommst, sonst ...«
Dabei zeigte er ihr die Zähne in einer nicht sonderlich gelungenen Parodie auf die berühmte Kampfesmimik der Feliden. Über die Schulter des Elfen konnte Loj sehen, dass der Saal glücklicherweise leer war, sie war also nicht Gefahr gelaufen, erkannt zu werden.
»Oh ... oh ...«, begann sie zu jammern, während sie sich eilig zurückzog. Vielleicht reagierte sie auch voreilig, schließlich waren die einfachen Mädchen für gewöhnlich durchaus an einem Kater-Verehrer interessiert. Aber der Elf lächelte zufrieden.
Sich für ihre eigene Dummheit verfluchend - wäre der Elf nur etwas scharfsichtiger gewesen, hätte er bestimmt etwas
Mit einiger Mühe fand sie schließlich ein Plätzchen auf einer der Bänke, setzte sich aufrecht und gesittet hin und bedeckte mit den Händen ihre nackten Knie. In den Augen eines gewöhnlichen Menschen war sie ein Mädchen von siebzehn, achtzehn Jahren, gerade voll erblüht, und die Männer rund um sie herum begannen sich augenblicklich aufzuplustern wie die Gockel. Zwei junge Burschen, dem Aussehen nach Handwerker oder Studenten, begannen laut und gelehrig über die Dampfmagie der Gnome zu reden und darüber, dass es auch den Menschen möglich sei, sie zu erlernen. Ein etwas älterer Mann im Rang eines Reiters, der vielleicht einem Lehnsherr diente oder möglicherweise auch in der Landwehr eines Clans, blies sich kräftig auf und drückte die mit Orden behängte Brust heraus, während er Loj mit den Augen verschlang. Auf seine Redekunst wollte er sich klugerweise nicht verlassen und setzte daher alles auf sein imposantes Äußeres. Und sogar die älteren Bauern, die Bündel und Körbe bei sich trugen und teilweise in Begleitung dicker hässlicher Frauen waren, nahmen eine würdevolle Miene an. Die Ärmsten ... Loj war zufrieden mit ihrer Wirkung, sie schlug ein Bein über das andere, um deren makellose Form besser zur Geltung zu bringen.
Wäre diese Unternehmung ein schlichtes Abenteuer, wer weiß, vielleicht hätte sie dem heldenhaften Soldaten Tribut gezollt ... oder den Studenten, beiden gleichzeitig, denn sie hegte einige Zweifel an deren Kräften. Aber in diesem Moment war ihr einfach nicht danach. Ihr stand der Clan des Wassers bevor ... und der erzürnte, vor Rachegier kochende
Der Stolz der Olchyda pfiff durchdringend, während er in den Bahnsteig einfuhr. Loj ging bescheiden in der Menge mit, hielt die Augen gesenkt und drückte sich an die Wand. Sie wollte nicht angestarrt werden, sie war doch nur eine einfache, gehorsame Tochter, die auf Besuch zur Großmutter fuhr; es war sinnlos, um sie herumzuscharwenzeln, besser, die Herren suchten sich jemand anderen ...
Der Reiter folgte ihr trotzdem. Wie der Zufall es wollte, hatte auch er eine Fahrkarte für den allgemeinen Waggon, und als Loj sich einen Platz ausgesucht hatte, zwischen zwei vertrockneten alten Mütterchen, die auf ihre Körbe gelehnt vor sich hindösten, setzte sich der Reiter ihr gegenüber. Loj betrachtete verstohlen seine Auszeichnungen; ja, für die Verteidigung Stopoljes ... also hatte er für den Fürsten gekämpft, das war ein rein menschlicher Krieg gewesen ... Und hier ein Orden des Großen Wassers ... war er vom Wasser angeheuert worden, oder wie war das zu verstehen? Und der Orden Schmalkos - des Großmärtyrers? Den hatten sie sich doch extra für die Garnison der Schlammigen Burg ausgedacht, für titanische Beharrlichkeit bei ihrer Verteidigung; dabei wusste jeder, dass diese Festung niemals von irgendwem angegriffen wurde, und die hübsche Anstecknadel aus Jaspis war im Grunde ein Synonym für lange Dienstjahre. Schmalko, der arme Tropf, ein Freiwilliger im Korps Schöner Donner, nach dem der Orden benannt
Der Reiter deutete Lojs Lächeln zu seinen Gunsten und blähte sich förmlich auf. Er schien zu glauben, dass die Medaillen, der Pallasch und die beiden Pistolen am Gürtel auch für einen Sieg an der Liebesfront ausreichten.
Und als Loj nach einer halben Stunde aufstand und sich zur Toilette begab, erhob sich der Reiter ebenfalls und folgte ihr. Loj bemerkte ihn erst im Windfang, da jedoch notgedrungen, da er seine schwere Hand auf ihre Schulter legte.
»Liebes Kind ...« Der Reiter hustete. »Ich bin ein einfacher Bursche und wenig geübt im Reden.«
Loj maß ihn mit einem verächtlichen Blick. Aber der Reiter war schon in voller Fahrt und durch nichts mehr zu bremsen.
»Also weißt du, du hast mir gleich gefallen, deine Augen haben meine Seele zum Glühen gebracht ...«
Damit hielt er die Einleitung offenbar für abgeschlossen, er umfasste Loj und drückte ihr einen lüsternen Kuss auf die Lippen. Loj ließ es gleichgültig über sich ergehen und fragte, als sie wieder sprechen konnte: »Und wie geht es weiter?«
Offensichtlich glaubte der Reiter, dass sie seinen Reizen bereits vollständig erlegen sei. Er blickte sich um und
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte Loj. Wer sie gut kannte, hätte die Intonation ihrer Stimme zu deuten gewusst und schleunigst Reißaus genommen. Aber der Reiter hatte keine Ahnung.
Als der Mann eine halbe Stunde später wieder aus der Toilettenkabine auftauchte - Loj drehte in dieser Zeit eine Runde im Nachbarwagen -, war er nass, aber immerhin fast sauber. Und was sind für einen solchen Helden schon ein Bluterguss unter dem Auge und ein paar Kratzer am Hals. Loj blickte dem Krieger neugierig entgegen, als er zurückkam. Hatte sie ihn etwa zu leicht davonkommen lassen?
»Zürnen Sie mir nicht.« Der Reiter verbeugte sich knapp und ging zum anderen Ende des Korridors. In Gedanken musste Loj ihm Beifall zollen. Er verstand es, zu verlieren, und hielt es nicht für schändlich, zuzugeben, dass ein junges Mädchen kräftiger war als er. Alle Achtung. Nun gut, sollte das Schicksal sie noch einmal zusammenführen ... vielleicht würde ihre Begegnung ja dann ein anderes Ende nehmen.
Ihre beiden Nachbarinnen blickten sie wohlwollend an. Loj schloss die Augen und begann nachzudenken. Durch die unterhaltsame kleine Begebenheit hatte sie ihr Selbstvertrauen wiedergewonnen ... auch wenn sie Torn kaum kopfüber ins Toilettenbecken würde stecken können. Trotzdem hatte sich ihre Laune deutlich gebessert. Man konnte sich jeden Mann gefügig machen. Das Wichtigste war dabei, die Balance zwischen Stärke und Schwäche zu wahren, zwischen Druck und Nachgiebigkeit.
Die übrige Reise verlief ohne weitere Zwischenfälle. Einige Male hielt der Zug an kleineren Stationen, Leute stiegen aus und ein, Händler eilten durch den Wagen und priesen
Später wurde es unruhig im Wagen, die Reisenden begannen ihre Sachen zusammenzusuchen. Der Zug hatte endlich die Gebirgshochebene hinter sich gebracht und das Meer erreicht und fuhr jetzt entlang der Küste. Durch die geöffneten Fenster drang ein salziger Wind herein, der nach Jod roch. Loj runzelte kaum merklich die Stirn. Unter halb geschlossenen Lidern hervor beobachtete sie, wie sie in Stopolje einfuhren.
Schön war die alte Stadt am Meeresufer schon immer gewesen, auch schon bevor die Clans gekommen waren. Ganz gleich, in wessen Händen sie sich befunden hatte, schon immer hatte dieser Ort die Menschen angelockt, Seeleute mit seinem Reichtum, einfache Siedler mit seinem fruchtbaren Boden, der die wunderbarsten Weinreben hervorbrachte, und die Fürsten und Statthalter mit seiner großartigen Landschaft.
Aber in den letzten Jahrhunderten, seit die Stadt vom Clan des Wassers regiert wurde, hatten alle Versuche, die Stadt zu erobern, ein Ende gefunden. Die anderen Clans erhoben keinen Anspruch mehr darauf, sie für sich zu erobern; denn selbst wenn sie das vermocht hätten, wer hätte in dieser Stadt leben wollen, nachdem ...
Denn erst die Magie, die aus dem Erdinnern artesische Wasser hervorlockte und den Lauf des Flusses zu verändern
Obwohl die Katzen dem Wasser mehr als gleichgültig gegenüberstanden, stockte auch Loj der Atem vor Begeisterung. Sie war lange nicht mehr hier gewesen ... Sie rückte auf der harten Bank nach vorne und blickte jetzt begierig aus dem Fenster.
Kreidehügel, auf deren abgeschnittenen Gipfeln schneeweiße Paläste standen. Regenbögen über allen Brunnen - als wäre die ganze Stadt in einem blauen Netz verflochten, über dem farbige Lichtreflexe tanzten. Die Straßen waren ebenfalls weiß, sauber ... Es fiel dem Clan leicht, Stopolje so strahlend rein zu halten, ging doch jede Nacht ein kurzer erfrischender Regenguss auf die Stadt nieder, so dass aller Schmutz durch die Kanäle ins Meer gespült und dort von gehorsamen Meeresströmungen weit weg vom Ufer getrieben wurde.
Loj unterdrückte eine unerwünschte Regung von Eifersucht, die sie beim Anblick der Stadt erfasste. Schön. Dies war nicht ihre Stadt, nicht ihr Clan, und vermutlich würden die kristallene Reinheit der Luft und das Plätschern der Brunnen sie ohnehin in kürzester Zeit langweilen. Jetzt musste sie sich auf etwas anderes konzentrieren, nämlich wie sie am Leben bleiben und trotzdem ihr Vorhaben erreichen konnte.
Der Zug hielt mit einem lauten Zischen auf Höhe des Bahnhofsgebäudes, das mit zartrosafarbenem Muschelkalk verkleidet war. Augenblicklich strömten die Massen aus den Wagen - man konnte sich nur wundern, wie viele Menschen in diesen Holzschachteln Platz gefunden hatten. Stopolje war eine große Stadt. Von den Clans der vier Elemente
Loj stieg als Letzte aus dem Waggon. Ihre Nachbarinnen waren schon vom Bahnsteig gehumpelt, der entehrte, aber nicht verärgerte Reiter hatte sich mit einem letzten Blick zurück ebenfalls entfernt, und sie stand immer noch da und versuchte, sich ein Herz zu fassen.
»Was kann ich für Sie tun, meine Dame?«
Hatte der Träger wirklich nicht gesehen, dass sie kein Gepäck mit sich führte? Sie winkte ab und schritt auf das Bahnhofsgebäude zu. Auch hier mangelte es nicht an Manifestationen der Kraft. Das Wasser hatte nicht mit großen Gesten gegeizt: In der Mitte des Saals stand ein Brunnen, dessen Strahlen langsam, ohne Eile in die Höhe flossen, als ob sie nicht aus Wasser, sondern aus einer klebrigen Substanz, einer Art dickem Sirup bestünden; der Boden unter den Füßen war ein durchsichtiger See, vermutlich unterirdisch von elektrischer Magie beleuchtet. Man beschritt diesen Boden und wusste nicht, ging man auf Glas, das einen See bedeckte, oder auf Wasser, welches - entgegen allen Regeln der Natur - zu einer unnachgiebigen Oberfläche geworden war.
Auch hier zog Loj fremde Blicke auf sich. Aber weniger - denn Stopolje wimmelte nur so von Menschenadel, und die hübschen Mädchen kamen aus allen Ecken des Landes hierher.
Loj aß im Bahnhofsrestaurant ein wenig von dem außergewöhnlichen Fisch, den man in den freigebigen Tiefen des Meeres fing; es wäre eine Sünde gewesen, die Gelegenheit nicht zu nutzen. Dann trat sie hinaus auf die Straße.
Das Leben brodelte. Auf Leiterwagen und Handkarren wurden allerhand Waren zum Bahnhof transportiert - hauptsächlich jener Fisch, der gedörrt, getrocknet oder durch eine magische Beschwörungsformel so konserviert wurde, dass er auch an der Luft wenigstens eine Woche lang am Leben blieb. Der Clan war geschickt, er nahm sich mit seiner Kraft, was ihm zustand, und versäumte es auch nicht, mit Beschwörungsformeln zu handeln. Festlich gekleidete Menschen und Elfen schlenderten vorbei (männliche Elfen allerdings weniger als weibliche); wahrscheinlich waren sie von weit her angereist, von der Grauen Grenze oder den Eisernen Bergen, um hier am Warmen Ufer ihr ehrlich verdientes oder auch unrechtmäßig erworbenes Geld auszugeben. Und natürlich spazierten scharenweise junge Mädchen umher, die Loj misstrauische Blicke zuwarfen - war sie eine Konkurrentin oder nicht? Es gab auch Arme, die an den Kreuzungen um eine Gabe bettelten. Aber selbst die sahen hier anders aus und riefen nicht jenen verächtlichen Ärger hervor wie zu Hause. Und sogar die käuflichen Frauen, deren Anblick Loj für gewöhnlich zornig machte - Liebe ist keine Handelsware, man kann sie verschenken, aber nicht verkaufen! -, schienen hier ein unverzichtbares, fröhliches Element des Gesamtbildes.
Ein merkwürdiger Ort war dieses Stopolje. Hier gab es von allem viel, sowohl Magie als auch Geld, Fröhlichkeit und Sünde. Und alles war so kunstvoll miteinander verwoben, dass man nicht ein Fädchen herausziehen konnte, ohne das Ganze zum Zusammenstürzen zu bringen.
Die Paläste, in denen die Clanmitglieder lebten, erstreckten sich entlang des Flusslaufes, der eine Schleife beschrieb. Früher hatte es das Flüsschen nicht gegeben, es war erst mit den Magiern des Clans gekommen, als jene sich endgültig entschieden hatten, die Stadt zu bevölkern und zu ihrer Wohnstatt zu machen. Loj hatte es nicht eilig - ach, wie schön wäre es, einfach nur so umherzubummeln und dann nach Hause zurückzukehren; schließlich ging sie über ein zierliches Brückchen und blieb stehen, um der Kraft zu lauschen. Der fremden Kraft ...
Hier kam niemand mehr zufällig her. Und wenn sich doch mal jemand verirrte, würde ihm schnell bedeutet, dass er hier fehl am Platz war. Zuerst würde ein unerwarteter Schauer dafür sorgen, dass er bis auf die Knochen durchnässt wäre; als Nächstes würde er in eine aus dem Nichts aufgetauchte Pfütze stolpern; und dann käme ein Wassermonster - nicht gerade ein angenehme Erfindung - und würde sich an seine Fersen heften; spätestens dann würde auch der Dümmste verstehen, dass es besser wäre, von hier zu verschwinden.
Aber Loj hatte nichts dergleichen zu befürchten. Man würde ihre Kraft schnell spüren ... Torn benachrichtigen ... und dann konnte es losgehen.
Sie setzte sich auf ein Bänkchen gegenüber der Magierschule und stellte sich darauf ein, eine Zeit lang zu warten. Sie beobachtete die spielenden Kinder ... viele, sehr viele Schüler hatte das Wasser. Es hieß, die Lehranstalten des Feuers und der Luft seien in den letzten Jahren schwächer geworden. Es war traurig, denn so etwas störte das Gleichgewicht zwischen den Clans und begünstigte Streitereien und Kämpfe. Natürlich, Quantität war nicht gleich Qualität, und ein durchschnittlicher Schüler der Luft war vermutlich
Aber die Kinder hier spielten genau so, wie alle Kinder eines jeden Clans es taten, und stürzten sich nach dem Unterricht begeistert hinaus an die frische Luft. Einige versuchten Peitschen zu wirken, wobei sie verstohlen zu den Fenstern hinaufblickten, denn offiziell war ihnen die Kriegsmagie strengstens verboten. Zweien von ihnen gelang es tatsächlich - und jetzt hieben sie mutwillig aufeinander ein und versuchten die Waffe des anderen zu zerschlagen. Loj schüttelte den Kopf; das würde nicht ohne Verletzungen abgehen, die beiden konnten froh sein, wenn sie keine Fleischwunde davontrugen. Eine ganze Schar formte einen Wasserdämon - erfolglos, natürlich, denn dafür war mindestens der siebte Rang vonnöten, und das dazugehörige Wissen wurde auf der Schule gar nicht gelehrt. Einige ältere Schüler führten ein tiefschürfendes Gespräch, während sie immer wieder zu Loj hersahen. Genau wie die Studenten am Bahnhof ... Loj musste lachen.
»Loj Iwer?«
Sie wandte sich um.
Die Abordnung war völlig lautlos an sie herangetreten. So lautlos, dass Loj ihr Nahen erst eine Minute zuvor gespürt hatte und von diesem Moment besonders interessiert auf den Schulhof gestarrt hatte.
Drei Magierkämpfer. Und ein Magier dritten Ranges.
Oho!
Verwegener Übermut erfasste Loj. Wenn schon so ein wichtiges Vögelchen ... ach nein, so ein wichtiger Fisch auftauchte, um sie zu holen. Das hieß, Torn wusste bereits
Lass uns spielen, Kätzchen ...
»Ach, Kinder, ich war es schon müde zu warten ...« Loj lächelte liebenswürdig und erhob sich von der Bank. »Ich habe mir euren Nachwuchs angesehen. Da wachsen Talente heran!«
»Talente gibt es nicht allzu viele«, antwortete der älteste Magier, ohne seinen aufmerksamen Blick von ihr abzuwenden. Sein Gesicht war bleich und leidend; entweder litt er tatsächlich an einer Krankheit, oder er hatte in letzter Zeit eine große Menge Kraft verloren. »Alle Talente sind schon eingezogen worden.«
»Eingezogen?«, wunderte sich Loj lauthals. »Soll das heißen, der Clan des Wassers zieht gegen jemanden in den Krieg?«
Der Magier biss sich auf die Lippen und lächelte dann. »Das würden wir auch gerne wissen. Loj Iwer, Magister Torn wartet in seiner Wohnung auf Sie.«
Loj hob kaum merklich die Augenbrauen, aber der Magier begriff die Andeutung.
»Ich bitte Euch, hochwohlgeborene Dame, Magierin ersten Ranges, Oberhaupt der Katzen, Loj Iwer, dem hochwohlgeborenen Herrn und Magier ersten Ranges, dem Oberhaupt des Clans des Wassers, Torn Nagajew, einen Besuch abzustatten.«
Loj reichte dem Magier graziös ihre Hand, und der drückte sie an seine Lippen, ehe ihm noch klar war, was er da tat. Dann riss er sich los ... blickte ihr in die Augen ... und sein Blick wurde trüb. Noch einen Augenblick lang hielt Loj den Magier an der unsichtbaren Leine, die aus kaum wahrnehmbaren Bewegungen der Arme, aus feinster Mimik, geschmeidigen
Nein, sie hatte nicht vor, sich Kontrolle über den Magier zu verschaffen. Torn würde es spüren und einen schrecklichen Aufruhr veranstalten. Dieser Mann sollte einfach nur wissen, mit wem er es zu tun hatte; wehe dem, der glaubte, dass ein Magier dritten Ranges aus dem Clan des Wassers mehr bedeutete als ein Magier ersten Ranges aus dem Clan der Katzen.
»Mit Vergnügen nehme ich die Einladung des geschätzten Herrn Torn an.«
Im Augenwinkel nahm Loj ein deutliches Glitzern von Tau im Laub eines Baumes wahr. Ein Glitzern, das sich zu den grotesken Zügen von Torns Gesicht zusammensetzte.
Na und, sollte sich der Magier doch den Kopf zerbrechen, warum Loj allein kam - sich allein in seine Hände begab!
Hier waren sogar die Sonnenuntergänge nicht richtig.
Die Sonne, die sich den ganzen Tag lang träge über das Himmelsgewölbe geschoben hatte, ging jetzt so zielstrebig am Horizont unter, dass die Welt innerhalb von wenigen Augenblicken fast ganz von Dunkelheit erfüllt war.
Viktor dachte, dass das vielleicht mit der Luft zusammenhängen könnte. Vielleicht war sie zu sauber, ohne den Ruß und Staub von der Anderen Seite. Woher sollte der lange, schöne Untergang kommen?
Übrigens war eine solche Erklärung hier fremd, da sie aus einer anderen Welt herrührte. Vielleicht war sie auch hier richtig, aber sie konnte ebenso gut völlig bedeutungslos sein.
Tel schlief ausgestreckt auf dem Bett. Das Gesicht hatte sie im Kissen vergraben, die Hände an die Brust gepresst. Unwillkürlich verspürte Viktor eine Regung von Fürsorglichkeit, vermischt mit Unruhe. Er musste das Mädchen beschützen ...
Was für ein Quatsch! Tel fühlte sich in dieser Welt doch wie ein Fisch im Wasser, wie ein Vogel in der Luft. Sie würde zweifellos aus jeder noch so großen Unannehmlichkeit herausfinden! Wenn es nötig wäre, würde sie eben wieder davonlaufen und ihn allein lassen, und wenn ihr danach war, würde sie wieder auftauchen. Um sich selbst sollte er sich sorgen ...
Und trotz allem konnte er nichts gegen diesen unausrottbaren, dummen, männlichen Beschützerinstinkt tun. Vor allem gegenüber einer Frau und erst recht einem Mädchen. Es war lächerlich, wenn man ihre Kräfte und Fähigkeiten nüchtern miteinander verglich, dennoch, es waren ja genau diese Reflexe, die den Menschen zum Menschen machten.
Viktor holte sein Schwert hervor und legte es sich auf die Knie. So saß er eine Weile da und stellte sich vor, was er für ein Bild abgab.
Mehr als komisch. Ein Zugabteil in der besten Tradition des 19. Jahrhunderts. Draußen bricht die Nacht herein. Ein Mädchen in vertrauensseligem Schlaf. Schwache Geräusche aus dem Nachbarabteil, wo die Magiermörder sitzen. Und er selbst, mit einem Schwert in den Händen und der versteinerten Miene eines Helden ...
Viktor lachte leise vor sich hin. Nein, dann schon lieber ein Fluss mit Brücke. Alles war besser als dieses Warten. Er streckte die Hand aus und legte ganz vorsichtig, um jedes Geräusch zu vermeiden, den Porzellanschalter um. Über
Im Grunde gefiel ihm diese Welt ja! Es lag etwas anziehend Nostalgisches in dieser trägen, sich langsam entfaltenden Technik. Wenn schon Dampfkaft - dann so genutzt wie hier, denn immerhin fuhr die Lokomotive doch hundert Stundenkilometer und bewegte sich dabei ganz gleichmäßig. Offenbar wurden die Gleise gut instand gehalten. Und wenn schon Elektrizität, dann solche, die für angenehmes weiches Licht sorgte. Keine gleißende Helligkeit. Alles war friedlich, zuverlässig, solide.
Wenn nur diese Magie nicht wäre ... tödliche Magie.
Es klopfte an der Tür, ganz leise. Viktor stand auf, das Schwert in der Hand, und ging zur Tür.
»Wer ist da?«
»Der Schaffner«, antwortete ihm eine Stimme im Flüsterton.
Nach kurzem Zögern öffnete Viktor die Tür.
Es war tatsächlich der Gnom. Im Gang herrschte Ruhe, als ob sich alle Reisenden früh zum Schlafen zurückgezogen hätten. Oder hatten sie sich einfach in ihren Abteilen eingeschlossen, weil sie nicht in fremde Streitigkeiten verwickelt werden wollten?
»In einer halben Stunde erreichen wir den nächsten Bahnhof«, sagte der Gnom leise. »Sie müssen aussteigen.«
Viktor nickte schweigend. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Gnom ausgerechnet mit ihm Mitleid empfand. Allerdings ohne deshalb ein Risiko eingehen zu wollen; nach außen demonstrierte er strenge Neutralität.
»In Ordnung. Soll ich die Bettwäsche abgeben?«
Der Gnom sah verwirrt aus, offenbar verstand er Viktor nicht. »Warum? Glauben Sie etwa, ich zieh dem nächsten
Viktor nickte, während er an all die wachsamen Schaffner auf der Anderen Seite dachte, wie sie schikanös die schmutzigen Stofffetzen zählten, die den Namen Handtuch und Laken kaum verdienten.
»Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen wünschen soll ...«, sagte der Gnom. Er warf einen Blick auf die schlafende Tel. »Ach, ist sie doch durchgeschlüpft ...«
Er strich sich über das Kinn.
»Na gut ... hoffentlich geht es wenigstens schnell ...«
Er drehte sich um und verschwand im Gang. Viktor konnte nur mit dem Kopf schütteln, als er sich vorzustellen versuchte, was jener ihm wohl wünschte.
»Kommt der Tod, wünsch ich ihn schnell, gibt es Wunden, nur ganz leichte ...«[14], murmelte er eine optimistische Liedzeile vor sich hin. Er schloss die Tür wieder, ging zum Bett und beugte sich über Tel. Sie schlief noch. Viktor musste unwillkürlich lächeln, als er mit dem Finger die rosige Fußsohle kitzelte.
Tel zog das Bein an.
»Es ist Zeit«, sagte Viktor leise. »Tel, wach auf ...«
Keine Reaktion.
Viktor fühlte sich wie Humbert Humbert, als er die Prozedur wiederholte. Tel murmelte verschlafen etwas vor sich hin, ehe sie sich umdrehte und die Augen öffnete.
»Wir sind bald da.«
Das Mädchen rieb sich die Augen und setzte sich im Bett auf. Sie gähnte, während sie zum Fenster rausblickte. »Ich hätte noch sieben Minuten weiterschlafen können ...«
»Du hast anstelle von Nerven Stahlseile«, sagte Viktor mit ehrlichem Neid. »Ist dir eigentlich klar, was passieren kann?«
»Vermutlich sehr viel mehr als dir«, schnitt Tel ihm das Wort ab. »Deshalb wollte ich mich auch unbedingt ausruhen. Ich hatte so einen wunderschönen Traum ...«
»Schön für dich. Ich werde, wie es aussieht, für immer auf dieses Vergnügen verzichten müssen.«
Tel schnitt eine mitfühlende Grimasse. Sie zog sich die Stiefel über und begann sorgfältig ihre Schnürsenkel zuzubinden.
»Du Armer ... Ich habe geträumt, dass ich über eine Wiese renne, eine Wiese voller Kamillenblumen, und dann hast du mich geweckt ...«
Viktor musste unwillkürlich lächeln.
Tel blickte wieder zum Fenster hinaus. »Da ist der Fluss, und die Brücke kann man auch schon sehen.«
Das Gesicht gegen die Scheibe gedrückt, blickte Viktor, so gut es ging, in Fahrtrichtung.
Der Fluss war breit. Natürlich nicht wie die Wolga, aber ...
Und was war das?
Die Brücke erhob sich in einem stählernen Buckel über den Fluss. Die Gleise verliefen in einer Höhe von fünfzig Metern auf schmalen Stützen aus Beton oder Stein. Im letzten Tageslicht glitzerte das Wasser silbrig, und es schien, als wäre der Wasserstand unter der Brücke nicht tief.
»Tel ...«
Ja, das Mädchen hatte von einer Brücke gesprochen ... Aber beim Anblick dieser alptraumhaften Ingenieurskonstruktion vergaß Viktor sogar für einen Augenblick Gotor und seine Leute. Was hatte Tel hier vor? Ein Fluss ... der die Kräfte des Wassers bündelte ... und hier wollte sie den Kampf aufnehmen?
»Was hast du dir da ausgedacht?«
Statt einer Antwort blickte Tel vielsagend zum Fenster hinüber.
»Sollen wir etwa da rausspringen?« Viktor stöhnte.
»Pssst!« Tel drückte ihren Zeigefinger gegen die Lippen. Das Gold ihres Lackes glänzte. »Genau das. Sie werden beide Ausgänge bewachen. Wahrscheinlich tun sie das bereits. Es bleibt uns nur dieser eine Weg offen. Gleich bricht die Gegenzeit ihrer Magie an, und sie können nicht mit voller Kraft kämpfen.«
»Wir werden zu Tode stürzen«, sagte Viktor hilflos. »Ob mit oder ohne Magie.«
»Wir werden nicht zu Tode stürzen«, unterbrach ihn Tel. »Nicht, wenn Gotor uns nicht bemerkt. Glaubst du, es ist so einfach, Wasser in Eis zu verwandeln? Selbst für einen Magier wie ihn.«
Offenbar zog sie es vor, die Tatsache zu ignorieren, dass man durchaus nicht unbedingt auf Eis aufprallen musste, um bei einem solchen Sprung zu Tode zu kommen.
»Mach das Fenster auf!«, befahl Tel. Viktor gehorchte. Es war sehr fest geschlossen. Die Gnome kümmerten sich wirklich gewissenhaft um alles. Aber schließlich musste er den Griff nur ein wenig zur Seite ziehen, damit die Scheibe überraschend leicht nach unten glitt. Eine Mischung aus Fahrtwind und Dampf drang ins Abteil.
Der Donnerpfeil eilte mit voller Geschwindigkeit auf die Brücke zu. Ein Bahnwärterposten zog vorbei, ein steinernes Türmchen, das von zwei mit Arkebusen bewaffneten, finster dreinblickenden Gnomen bewacht wurde. Ein dritter, der eine Armbrust in den Händen trug, war dabei, ein kleines, dickes Pferd zu besteigen. Anscheinend wurden die Brücken in dieser Welt genauso bewacht wie jede beliebige Brücke auf der Anderen Seite, etwa die über die Msta.[15]
Das lebhafte Silber der Wasseroberfläche glitzerte weit unter ihnen. Mit Erleichterung stellte Viktor fest, dass keine Schutzgeländer oder zusätzlichen Querstreben an der Brücke angebracht waren. Nur die beiden eisernen Bänder der Gleise. Wenigstens würden sie nicht schon auf dem Weg nach unten gegen irgendwelche Stahlträger prallen.
Und plötzlich wurde von außen an der Tür gerüttelt. Auf dem Gang erklangen gedämpft wütende Stimmen.
»Jetzt springen wir, Viktor!« Tels Stimmchen ertönte neben ihm. »Los jetzt, wir müssen springen! Mach schon, sonst sterben wir!«
Mit einem Satz stand sie auf dem Tischchen neben dem geöffneten Fenster.
»Lass das Schwert nicht fallen!«, wies sie ihn noch an. »Komm jetzt, ich springe als Erste!«
Schon stürzte sie sich hinaus. Viktor hatte den Eindruck, dass der Wind ihren zarten Körper erfasste und mit einem Ruck zur Seite zerrte.
An der Tür krachte es. Unter ihr liefen dunkle Rinnsale hindurch.
Viktor kniff die Augen zusammen. Das Wichtigste war, vertikal ins Wasser zu tauchen.
Außerdem vorzugsweise nicht mit den Füßen voraus. Im wörtlichen Sinne. Sonst würde aus dem wörtlichen Sinn womöglich plötzlich ein übertragener Sinn.
Viktor fluchte und stürzte sich aus dem Fenster.
Er hatte etwa fünf Sekunden zur Verfügung. Ein erfahrener Magier vermochte eine ganze Menge in dieser Zeit. Und erst recht ein Magier des Wassers.
Aber Tel hatte doch irgendetwas über das Springen von einem Felsen gesagt ...
Er fiel und hielt dabei sein Schwert fest. Er fiel ganz und gar nicht mit dem Kopf voraus, sondern wie ein Sack Mehl, wobei er die ganze Zeit verzweifelt mit den Beinen strampelte.
Von unten kam ihm die Oberfläche des Flusses plötzlich entgegen wie ein wundersamer Höcker, der sich in die Höhe hob. Das Silber blies sich auf und explodierte, wie ein ungeheuerliches Geschwür; Viktor blickte unwillkürlich nach oben (kaum zu glauben, dass die Zeit dafür ausreichte!): Vor dem Hintergrund des Abendhimmels hoben sich starr die überstreckten Silhouetten ihrer vier Verfolger ab.
Warum bin ich noch am Leben? Und warum falle ich so lange, fast wie Alice in die Kaninchenhöhle?
Der Wasserhöcker begann sich zu öffnen, ein gewaltiges Ungetüm zeichnete sich ab, das vor allem aus einem riesenhaften Schlund und zwei reißenden Kiefern zu bestehen schien. Viktor versuchte sich krampfhaft in der Luft zu drehen ... und die Luft unterstützte ihn zu seiner Überraschung gehorsam. Sein Körper fiel noch, aber langsam, ganz langsam; seine Hände schienen weißglühend geworden zu sein, und sein Schwert war ein grell leuchtender Schweif aus grünlichem Feuer.
Oder kam ihm das alles nur so vor ...
Es platschte. Das eisigkalte Herbstwasser des Flusses nahm Viktor auf. Und augenblicklich spürte er einen bohrenden, reißenden Schmerz - als ob er in riesenhaften Schraubzwingen steckte.
Er wedelte mit den Armen: nach oben, nur nach oben, ans Licht, an die Luft!
Die schwere Pranke des Wasserungetüms drückte ihn wieder zurück in die Tiefe. Von unten durch den grauen Schleier
Er verschluckte sich, spürte, wie das plötzlich hart gewordene Quellwasser seinem Körper zusetzte, und fuhr doch fort, nach oben zu strampeln.
Und im gleichen Moment kam es über ihn: Wie konnten sie es wagen? Wie konnten diese armseligen Zauberer sich erdreisten, sich ihm in den Weg zu stellen? In den Weg des Drachentöters? Auf dem Bahnhof, als die Söhne des Grenzers einer nach dem anderen für ihn starben, war es ihm ja nicht gelungen, jene gewaltige Kraft freizusetzen, aber vielleicht würde es ihm jetzt ...
Das Wasser drückte und presste ihn mit solcher Gewalt, als wolle es um jeden Preis in sein Inneres eindringen, Haut und Muskeln von seinen Rippen reißen, seine Lungen zermalmen und Viktor in das jämmerliche Abbild eines ausgenommenen Fisches verwandeln. An der Oberfläche nahm das Wasser die Konsistenz von trocknendem Klebstoff an; offenbar wollten sie Viktor einspinnen in dem dicklichen Wasser, wie eine Fliege in Bernstein, und ihn dann diesem - wie hieß er gleich? - Torn bringen.
Das würde er nicht zulassen! Hörst du mich, Gotor vom Clan des Wassers! Euer Zorn ist meine Waffe! Ist Feuer in meinen Händen, Wind in meinem Rücken, Erde zu meinen Füßen!
Wehe dir, Wasser, wenn du mir Schaden zufügst! Dann werde ich alle deine Wege mit meinem Feuerodem austrocknen, und alles, was in dir lebt, wird sterben, und alles, was du nährst, wird sterben, und du selbst wirst sterben!
Eine Hitzewelle erfasste Viktor. Um seine Arme herum begann das Wasser augenblicklich zu kochen und zu verdampfen;
Es war nicht sehr angenehm, wie gewaltige Dampfwolken von seinen Armen in die Höhe schossen. Ein Gefühl wie in einem Kesselhaus, in dem die Hauptleitung geplatzt war. Eingehüllt in eine weiße Wolke, fand Viktor sich an der Wasseroberfläche wieder. An der rechten Schläfe traf ihn augenblicklich eine Wasserpeitsche.
Genauer gesagt, sie sollte ihn treffen. Aber der messerscharfe Wasserstrahl, der sogar Metall zerschnitten hätte, verwandelte sich in einen formlosen Ballen Dampf, sobald er nur den Kopf seines Opfers berührte. Von irgendwoher zu seiner Rechten erklang ein unterdrücktes Schreien.
Viktor stürzte in Richtung des Ufers und hinterließ dabei eine rauchende Spur wie eine Zündschnur. Seine Gegner konnte er nicht sehen.
Wahrscheinlich nährte sich sein inneres Feuer von seinem Zorn. Ganz allmählich nahm die Hitze etwas ab, und von seinen Armen schossen nicht ständig neue Dampfwolken hoch. Jetzt schwamm er, nicht sonderlich schnell und nicht sonderlich geschickt; unter der Brücke wurde er von einer starken Strömung erfasst. Er blickte sich um.
Gotor und zwei weitere Magier glitten gleichmäßig über die Wasseroberfläche hinter Viktor her. Sie glitten wie auf Wasserskiern, leicht und unverkrampft. Auf ihren Mienen lag unverhüllter Triumph. Jetzt, jetzt, jetzt ...
Wo war der vierte Krieger geblieben?
Natürlich, sie würden nicht zulassen, dass er das Ufer erreichte und an Land ginge.
»Dein Ende naht, Selbsternannter!«, kreischte Gotor voller Vorfreude.
Viktor spürte schon den Boden unter den Füßen, als es dem Magier endlich wieder gelang, das Wassermonster zu erschaffen.
Die gigantisch große Gestalt berührte mit ihrem Haupt die Krümmung der Brücke an ihrem Scheitelpunkt. Hunderte von Wasserstrahlenhänden griffen nach Viktor, der wie erstarrt bis zum Hals im Fluss stand und das nutzlose Elfenschwert in der herunterhängenden Hand hielt ...
Man weiß ja, »die Wellen ersticken den Wind«. Aber auch das Gegenteil ist richtig.
Eine unsichtbare Faust aus Winden, die über der niedrigen Flussebene ihre Kraft gesammelt hatte, stürmte über Viktors Kopf hinweg.
»Töten, töten, töten!« Tausende von Stimmen erschallten tosend in seinem Bewusstsein.
Ein pfeifender Luftstrom, so gewaltig, dass er dicke Bäume vernichten und Dächer von steinernen Schlössern reißen konnte, raste über Viktors Kopf hinweg, wo er noch vom lebendigen Feuer genährt wurde. Dieser vor Zorn tobende Luftstrom prallte mit dem Wassermonster zusammen, das Viktor schon beinahe erreicht hatte.
So musste es ausgesehen haben, wenn früher auf den großen Dampfschiffen die Wasserkessel explodierten, allerdings sehr große Kessel, von der Größe eines Wachturms. Eine riesige Dampfwolke breitete sich aus, in alle Richtungen spritzten weiße dampfende Strahlen, die aussahen wie in Agonie kreisende Arme.
Eine Flammenklinge fuhr in die Höhe, stach in den Giganten aus Wasser, jedoch war jeder Zoll unendliche Mühe. Das Wasser attackierte mit eisiger Kälte, versuchte die Flamme zu ersticken, zu löschen, versuchte den glühend heißen Wind auf jene Flussseite zu zwingen, die sich in
Flügel, die ihr die Welt umfangt, Pranken, die ihr die Welt stützt, Flamme, die du die Welt verbrennst, Verstand ... ist es möglich, dass diese erbärmlichen Kreaturen, die sich ihre paar Brocken Magie am Tisch ihres Herrn zusammengebettelt haben, tatsächlich wieder die Oberhand gewinnen?
Viktors Kehle entriss sich ein Aufschrei; nicht nur ein Aufschrei, nicht nur ein Brüllen, nicht nur ein Heulen, nicht nur ein Toben, sondern alles zusammen, ein Posaunenton, der allem Lebenden bedeutete, dass es an der Zeit war, zu fliehen, dass sein Zorn keine Grenzen mehr kannte, dass der sich retten sollte, der dazu noch in der Lage war.
Die Dampfwolke hatte sich schon hoch über die Brücke erhoben. Der Wasserdämon wich bedrängt vom Feuerwind Schritt für Schritt zurück; von rechts tauchte Gotor wieder auf, mit verzerrtem Gesicht, in seiner Hand fast wie eine Verlängerung des Arms tobte eine Peitsche; von den Seiten kamen die zwei verbliebenen Kämpfer mit dem Mut der Verzweiflung; solange Viktor mit dem Ungeheuer kämpfte, schnitten die Magier ihm den Weg zum Ufer ab. Er würde weiter bis zum Hals im Wasser kämpfen müssen.
Viktor hob das Schwert über seinen Kopf.
»Du wirst doch sterben«, schrie Gotor mit heiserer Stimme. »Wir weichen nicht von dir ...«
Wahrscheinlich hätte sich dieser Magier noch etwas anderes ausdenken können; aber aus irgendeinem Grund versuchte er Viktor mit einer einzigen Kraft zu vernichten.
Drei Peitschen stießen in die Luft direkt neben seinem Kopf. Sie trafen aufeinander und explodierten in Garben rasiermesserscharfer Spritzer. Über Viktors Wangen, Stirn und Schläfen tropfte Blut, lief in seine Augenwinkel. Er fühlte keinen Schmerz, aber sein Zorn steigerte sich noch mehr, als er das Blut im Mund schmeckte.
Viktor sprang nach vorne und riss dabei mit der Brust das Wasser auf, das im Begriff war, zu gefrieren; die Oberfläche zerbarst in Myriaden von schneidend scharfen Eisstücken. Das Eis hatte nicht genug Zeit gehabt, sich zu schließen, und zerstob nun in alle Richtungen, genau wie wenn in einem amerikanischen Actionfilm ein gewaltiges Schaufenster zu Bruch geht. Viktor befand sich jetzt neben Gotor, dessen Peitsche durch die Wasserschicht hindurch auf ihn zuschoss, brennender Schmerz erfasste seine Schulter, und Viktor stach, ohne hinzusehen, mit dem Schwert zu.
Der Fluss explodierte förmlich an der Stelle, wo sein Schwert eingedrungen war, als hätte er eine Kiste Dynamit dort fallen gelassen. Eine Wassersäule, vermischt mit Dampf und Feuer, spritzte fast bis zur Brücke hinauf. Da, wo eben noch einer der Magierkämpfer gestanden hatte, war nur noch ein blauschwarzer Fleck übrig geblieben, der fettig glänzte wie vergossenes Erdöl.
Alle erstarrten zu Stein. Auch Viktor und Gotor.
Dann ergriff der Magier die Flucht.
Und Viktor verfolgte ihn nicht.
Nass bis auf die Haut, schwankend und das Schwert hinter sich her zerrend, kletterte Viktor endlich ans Ufer. Noch immer lief Blut über sein Gesicht, die unzähligen kleinen Schnitte und Verletzungen brannten wie Feuer, an seiner rechten Schulter hatte er eine schwere Wunde von der Wasserpeitsche. Viktor warf einen Blick auf die Schwertschneide; sie war oxidiert, als wäre sie in Säure getaucht worden. Vorerst taugte es nur noch zum Spänemachen - bis es wieder neu geschliffen würde.
Nass und zitternd blieb er neben einigen Büschen stehen. Er brauchte ein Feuer, so schnell wie möglich. Tel ... wo war Tel? Wieder war sie verschwunden, hatte ihn mit Gotor und dessen Männern allein gelassen, und wahrscheinlich wieder aus irgendwelchen höheren Überlegungen heraus.
Seine Zähne klapperten einen Trommelwirbel. Seine zerschnittene Stirn brannte unbarmherzig. Viktor fuchtelte ungeschickt mit dem Schwert herum, um ein paar Zweige abzuschlagen; sie waren feucht und würden schlecht brennen, aber er wusste sich nicht anders zu helfen ...
Er wühlte in seinen Taschen. Hatte er ein Feuerzeug?
Der grau-metallische Zylinder, ähnlich einem Zippo-Feuerzeug, hatte ein seltsames Emblem an der Seite: Eine schwarze getrocknete Rose wurde schützend von zwei Händen eingerahmt.
Es war das Wappen der Wächter der Grauen Grenze.
Nach einigen erfolglosen Versuchen gelang es Viktor, das Feuer zu entzünden.
Er wrang seine Kleidung aus; zitternd vor Kälte hängte er sie in den Büschen auf. Jetzt musste er nur noch um das Feuer laufen, so wie Tel und er es nach ihrer Ankunft in der Mittelwelt getan hatten.
Er lief zum Fluss und wieder zurück. Aus irgendeinem Grund war er sich sicher, dass die Magier nicht zurückkehren würden. Jedenfalls fürs Erste nicht.
Der Fluss war verlassen und machte in seiner Verlassenheit einen erhabenen Eindruck. Die Dunkelheit verdichtete sich, auf beiden Seiten des Flusses brannten Feuer neben den Wachtürmen der Gnome. Sonst gab es keine Anzeichen irgendwelchen Lebens und keine Spur von Tel.
Und dann kam es über ihn, mit einem abrupten Schlag: Wie konnte ich das tun? Wie konnte ich mich retten? Was war mit mir? Wie habe ich das gemacht? Das Feuer, der Dampf, die Explosion ...
Und der Hass. Noch immer fühlte er sich irgendwie betrunken. Noch immer war vor seinen Augen alles etwas unscharf. Und seine Hände zitterten wie nach einem Besäufnis.
Wieder hatte er getötet. Und dazu noch mit Vergnügen. Für den Grenzer. Und für seine Söhne. Für den jungen Slawa, den er an einem namenlosen Bahnhof im Norden zurückgelassen hatte. Wenn Viktor es vermocht hätte, so hätte er alle Pappeln im Umkreis gefällt, weil ihr Flaum zu dieser herbstlichen Jahreszeit das warme Jungenblut aufgesaugt hatte ...
»Und ich habe sie doch gerächt«, sagte Viktor. »Auch wenn Gotor davongekommen ist, zwei dieser Killer werden jedenfalls niemanden mehr töten.«
Außerdem bedeutet doch alles, was passiert ist, dass dies hier wirklich meine Welt ist, dachte er. Wie war das noch? Feuer aus den Händen? Auf der Anderen Seite würde jeder sagen, dass es so etwas nicht gab. Und damit hätte er Recht. In jener ruhigen langweiligen Welt, in der die Menschen von genau dieser Langeweile verrückt wurden,
»He, Soldat!« Eine heisere Stimme sprach ihn an.
Abrupt drehte sich Viktor um, doch da waren nur zwei Gnome. Offenbar waren sie von der Brückenwache. Beide hatten Armbrüste bei sich, und einer trug eine große Laterne, vermutlich eine Kerosinlampe.
»Bist du unverletzt, Soldat?«, fragte einer von ihnen, ein untersetzter Bärtiger, freundlich. Die Armbrust hing über seiner Schulter, als wollte er auf diese Weise seine friedlichen Absichten demonstrieren, sofern das bei seiner grimmigen Physiognomie überhaupt möglich war. »Wir haben gesehen, wie du aus dem Fenster gesprungen bist ... Und was dann passierte ... Wir waren uns sicher, das war’s, die vom Wasser machen dich fertig. Aber nein, sieh einer an! Jemand hat ein Feuerchen angemacht. Durchs Fernrohr sieht er ganz und gar nicht wie einer vom Wasser aus. Da haben wir beschlossen vorbeizuschauen.«
»Und ... habt ihr das Mädchen ... auch gesehen?«
»Welches Mädchen?« Der Gnom schien aufrichtig verwundert. »Wir haben kein Mädchen gesehen. Was meinst du denn? Du bist doch allein gesprungen. Dart hier«, er nickte in Richtung seines Begleiters, »stand gerade auf dem Posten und hat alles gesehen! Wie der Zug kam, das Fenster geöffnet wurde. Wie du gesprungen bist und wie die Wassermagier hinter dir her sind. Sonst hat er niemanden gesehen.«
So ist das also, dachte Viktor. Wieder einmal ist Tel verschwunden, ohne dass diese Einfaltspinsel sie auch nur bemerkt hätten. Es ist sinnlos, diese beiden hier weiter auszufragen. Am besten, ich denk nicht mehr drüber nach.
»Was stehst du hier herum, Soldat? Komm mit zu uns. Wir werden schon ein Plätzchen für dich finden«, sagte Dart.
»Aber ihr seid doch im Dienst«, wunderte sich Viktor. »Könnt ihr das einfach machen?«
»Ah, du bist wohl von der Anderen Seite gekommen«, vermutete der erste Gnom. Viktor nickte.
»Lass uns gehen. Wir arbeiten nicht für das Wasser. Wir arbeiten für niemanden. Nur für uns selbst. Wir bewachen die Route, und mit den Magiern haben wir nichts zu schaffen. Dich haben sie ja ordentlich geröstet, das haben wir gesehen ... Aber wie hast du es bloß geschafft, ihnen die Suppe zu versalzen, hä?« Der Gnom schmunzelte.
»Irgendwie ist es mir halt gelungen.« Unwillkürlich nahm Viktor den Ton des anderen auf. »Wir haben uns ordentlich geprügelt.«
»Na, du wirst jedenfalls mal ein starker Kerl werden«, bemerkte der Gnom wohlwollend, während sie zum Wachturm hinaufstiegen. »Dich haben sie nicht umsonst von der Anderen Seite ausgestoßen. Du hast es ihnen ordentlich gegeben! Kannst du auch Feuer lenken? Ich rate dir, mach dich auf zum Clan des Feuers ... das ist nicht gerade der nächste Weg, aber wir helfen dir, dann kannst du mit dem Zug fahren. Unsere Kollegen bringen dich schon hin.«
»Aber fürchtet ihr denn die Magier des Wassers nicht?«, fragte Viktor. Dart öffnete die Tür des in die Böschung gebauten Wachturms.
»Wir bemühen uns, mit allen in Frieden zu leben«, antwortete der andere ernst. »Schließlich kommen wir weder
In der Wachstube war es warm und sehr gemütlich. Es roch gut nach Schmieröl, Schießpulver und warmem Brot. Auf der gewaltigen, dicken Tischplatte stand ein irdener Topf voll Milch.
»Zieh dich aus«, sagte Dart. »Nimm das Fell dort und wärm dich damit, ihr Menschen seid ja ein schwächliches Volk.«
Viktor war nicht beleidigt.
»Schlaf jetzt, Soldat«, vernahm er noch als Nächstes. »Der Weiße Adler kommt erst morgen früh hier durch. Wir bringen dich schon im Zug unter, und mit dem fährst du dann geradewegs bis nach Oros. Es soll eine schöne Stadt sein, direkt am Warmen Ufer gelegen ...«
Die Nacht verging ohne Träume und ohne weitere Ereignisse.
Beim Morgenanbruch weckten sie Viktor. Die beiden Gnome vom Vorabend waren nicht mehr zu sehen, aber die anderen wussten über ihn Bescheid.
Seine Kleider waren getrocknet. Die gutmütigen Wächter hatten sein Säckchen mit so viel Proviant gefüllt, wie nur irgend hineinpasste, und der Weiße Adler fuhr ganz nach Fahrplan auf die Brücke zu, bremste für einen Augenblick
Niemand verlangte Geld, der Schaffner schien über alles Bescheid zu wissen. Für Viktor stand eine ganze Liegebank zum Schlafen bereit.
So seltsam es auch war, seit dem Kampf am Vorabend war eine wundersame Ruhe über ihn gekommen. Die Magie gehorchte ihm? Sehr gut! Er würde es als gegeben hinnehmen, denn wenn er erst darüber nachzudenken begann, würde er den Verstand verlieren; der Kampf mit dem Wasser, die Leute, die er getötet hatte; möglicherweise war unter ihnen auch einer wie er selbst gewesen, einer von der Anderen Seite; nein, er war ruhig und beherrscht.
Und konnte er überhaupt anders sein? Er, der Drachentöter?
Jetzt lag er also hier im Zug auf frischer Wäsche und reiste zum Warmen Ufer, in das geheimnisvolle Oros, wo der Clan des Feuers lebte ...
Und wirklich hatte sich etwas in seinem Inneren verändert. Wahrscheinlich hatte sich die Angst zurückgezogen, war ein Stück zurückgewichen. Als ob ein Teil einer in ihm schlummernden Kraft erwacht sei, als hätte er nicht einfach nur gekämpft, sondern auch ... auch ... einen Teil der fließenden Gewalt des Wasserelements in sich aufgesogen.
Jetzt würde er nicht mehr umkehren, ehe er nicht alles bis zum Ende in Erfahrung gebracht hatte. Ganz gleich, auch wenn er das nicht brauchte, es ihm eigentlich nicht wichtig war, ganz gleich, dass er noch bis vor kurzem nach Hause hatte zurückkehren wollen, in seine gewohnte Welt auf der Anderen Seite. Jetzt würde er zum Warmen Ufer fahren ... und alles mit eigenen Augen sehen.
Ritor blickte nachdenklich in den sich langsam verfärbenden Abendhimmel.
Der Wagen des Windes schnaufte, während er den langen steilen Aufstieg überwand. Die Suchformel aufrechtzuerhalten war nicht einfach. Sandra und Asmund halfen Ritor, so gut sie konnten; im Abteil herrschte Schweigen. Kan hatte sich mit seinem Schüler zurückgezogen - sie hatten beim Schaffner kochendes Wasser verlangt und wollten verschiedene Tinkturen und Aufgüsse ansetzen. Kevin und Erik, die Ältesten der beiden Paare, hatten wieder mal einen Wettkampf angezettelt und ihre beiden Jungen »zur Hand« angewiesen, Pfeilwerfen zu trainieren.
»Er sitzt auch in einem Zug«, bemerkte Sandra, die vor Aufregung sogar ihre gewohnte Meeresrhetorik vergaß.
Ritor nickte.
»Sie schleifen ihn nach Süden. Ich denke, das ist Torns Werk. Er kann sonst nirgendwo mehr seine Weihen durchlaufen«, sagte Asmund, wobei er seinen ganzen Mut zusammennehmen musste.
»Wenn Torn seinen Verstand beisammen hat, dann wird er versuchen, ihm die Weihen schon vorher zu ermöglichen«, wandte der alte Magier ein.
»Und können wir das feststellen?«, fragte Asmund eifrig.
»Und ob wir das können, meine kleine Flunder«, sagte Sandra fast zärtlich. »Wenn wir hier nur ordentlich schwitzen.«
»Ich denke, wir schwitzen ordentlich«, lächelte Ritor. »Ich würde ungern erst dann auf den Drachentöter treffen, wenn er schon alle vier Initiationen hinter sich hat.«
»Aber kann er denn die Weihe der Luft erhalten, wenn wir das nicht wollen?«, fragte Asmund hartnäckig.
»Ja, leider kann er das«, seufzte Ritor. »Wir haben keine absolute Kontrolle über die Luft, sonst würden wir dafür sorgen, dass unsere Feinde einfach aufhören zu atmen.«
Asmund wurde rot.
»Mach dir nichts draus.« Sandra legte Asmund in einer ganz und gar nicht mütterlichen Geste die Hand auf die Schulter. »Die Weihen des Drachentöters habt ihr nicht im Unterricht durchgenommen ... und das wird vorläufig auch nicht der Fall sein.«
Asmund wurde noch röter und schlug sogar die Augen nieder.
Ritor zog kaum merklich die Augenbrauen nach oben. Sandra war überall in der Lage, sich zu vergnügen, sogar auf dem Schlachtfeld. Die Zauberin begriff seine Andeutung augenblicklich und blinzelte schuldbewusst, ohne auch nur einen Zentimeter von Asmund abzurücken.
Die Formel zur Erschaffung des Drachentöters gehörte von alters her zu den bestgehüteten Geheimnissen überhaupt. Schülern wurde sie niemals anvertraut. Nur Magiern ab dem dritten Rang aufwärts.
Die Magie der Luft erforderte vor allem geistige Konzentration, und diese musste vollkommen und ungestört sein. Ritor fasste Asmund an der einen Hand und streckte Sandra die andere hin. Das älteste unter den traditionellen Verfahren war der Kreis, bei dem die Kräfte der wirkenden Zauberer zusammenflossen.
Es war nicht unbedingt nötig, einen so gefährlichen Zauber wie die Windflügel zu wirken, die eine ganze Stadt vernichten konnten. Ritor verstand es meisterhaft, verschiedene Varianten anzuwenden. Er hatte den Drachentöter am Haken und konnte jetzt einen unsichtbaren Kundschafter an dessen Fersen heften, der für sie in Erfahrung brachte,
Die straff gewirkte Formel rief bei allen einen heftigen ruckartigen Schmerz hervor. Mit Leichtigkeit überholte der luftige Bote den Zug und strebte seinem nur für ihn sichtbaren Ziel entgegen. Er war nicht fähig, zu töten oder irgendwelchen Schaden zuzufügen. Er konnte Kunde einholen, und danach würde er zerfallen, aufhören zu existieren. Die Fähigkeit, einen solchen Verfolger über längere Zeit am Leben zu erhalten, galt als eine der größten Künste der Magie.
Ritor und seine beiden Mitschöpfer mussten ziemlich lange warten. Aber endlich ...
Das Abteil füllte sich mit der unsichtbaren, aber deutlich spürbaren Kraft des Wassers. Eines aufgepeitschten, tobenden Wassers, das zürnte und außer sich war vor Raserei. Ein hellblaues Glühen erfüllte die Luft, das von rot-weißen Strichen unterbrochen wurde - dort tobte ein Kampf.
Sandra und Ritor blickten starr vor Staunen auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Auch Asmund war fassungslos, konnte sich aber nicht dazu durchringen, Fragen zu stellen.
»Gegenzeit«, bemerkte Ritor. »Interessant ...«
»Warum greifen diese verfaulten Pottwale vom Clan des Wassers den Drachentöter an?«, fragte Sandra.
»Vermutlich haben sie ihn nicht richtig angegriffen«, sagte Ritor mit einem Kopfschütteln. »Erstens ist Gegenzeit, und zweitens kann ich mir nicht vorstellen, dass Torn nichts von unseren Flügeln weiß. Er will uns damit ablenken, Sandra. Er will uns glauben machen, dass jener nicht der Richtige ist, und maskiert gleichzeitig die Weihe mit einem Kampf.«
»Ich verstehe es immer noch nicht, zur öligen Sprotte noch mal! Warum spielen sie den Angriff nur? Wen will er damit ablenken? Uns?«
»Ich vermute, Torn hat sich überlegt, dass die beste Methode, uns davon zu überzeugen, dass dieser Bursche nicht der Drachentöter ist, darin besteht, ihn selbst anzugreifen. Das ist alles. Nicht besonders raffiniert, aber unter Umständen wirkungsvoll. Torn kann schließlich nicht wissen, was wir dank der Flügel erfahren haben. Er weiß nicht, dass wir das wahre Wesen des Neuankömmlings von der Anderen Seite gesehen haben. Er ist der Drachentöter, daran gibt es keinen Zweifel. Und wenn wir ihn vernichten, wird so schnell kein neuer erscheinen.«
»Aber was ist dann mit dieser verdammten Krake, diesem Drachen der Angeborenen?«, fragte Sandra unumwunden. »Wenn wir den Drachentöter vernichten?«
»Dann werden wir die vereinten Kräfte der Elementaren Clans benötigen. Die konzentrierte Kraft aller, um unserem Drachen zu helfen. Seine Zeit wird kommen, aber die Angeborenen könnten mit ihrem Drachen schneller sein«, erklärte Ritor.
Die Zauberin nickte.
»Schaut her!« Ritor deutete mit einem Nicken auf das blaue Glimmen, das immer schwächer wurde. Auch die dunkelroten und weißen Fäden darin verschwanden. »Die Weihe ist abgeschlossen. Der Kampf ist zu Ende. Und die Krieger vom Clan des Wassers haben sich zurückgezogen. Wie ich es vorhergesagt habe. Was willst du fragen, Asmund?«
»Meister, heißt das, dass wir jetzt gegen Torns Leute kämpfen müssen? Werden sie an der Seite des Drachentöters bleiben und ihn beschützen?«
»Eine gute Frage«, antwortete Ritor in unverbesserlicher Lehrermanier. »Nein, Asmund, für Torn ist es wichtig, dass dieser unselige Bursche sich selbst als Drachentöter erkennt, und das so schnell wie möglich. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sogar jemanden an seiner Seite getötet haben, um seinen Zorn zu entfachen ... Torn ist erbarmungslos; und er würde auch unbesehen jemanden aus seinem Strafkommando opfern, jemanden von niedrigem Rang, nur um so sein Ziel zu erreichen. Aber jetzt hat das Wasser den Rückzug angetreten. Torn kann sich ja ausrechnen, dass wir nicht untätig herumsitzen. Warum sollte er einen erfahrenen Magier, einen, der mindestens im dritten Rang steht, großer Gefahr aussetzen? Sicher, solche, die im sechsten Rang und tiefer stehen, können ruhig umkommen - aber einen wirklich wertvollen Krieger wird Torn schützen wollen.«
»Ich habe verstanden, Meister«, sagte Asmund voller Ehrfurcht.
»Also gut, lasst uns die Zauberformel löschen«, wies Ritor die beiden anderen an. »Ich glaube, wir werden ihn ... vermutlich hast du Recht, Sandra ... in unseren Ländereien antreffen. Zumindest muss man sich dort nicht allzu sehr vorm Wasser in Acht nehmen ... jedenfalls bis vor kurzem noch.«
»Glaubst du nicht, dass dieser Torn - ach, wenn doch hundert Anker seinen Hintern durchbohrten -, dass er das alles ebenfalls berücksichtigt?«
»Ich denke schon«, antwortete Ritor. »Aber der Bursche hat schon die Wasserweihe. Und dort ist auch ein Fluss, und zwar kein kleiner ...«
»Eine Falle also? Da soll mich doch der achtarmige Seepolyp fressen«, unterbrach ihn Sandra. Asmund zuckte unwillkürlich
Ritor nickte.
»Torn weiß, dass wir dort nicht mit einem Angriff rechnen. Und genau deshalb wird er ganz sicher angreifen. Wenn ich dreimal so viele Leute mitgenommen hätte, dann würde das bedeuten, dass ich sein Vorhaben durchschaut habe. Und dann würde er sich etwas anderes ausdenken. Aber ich habe mehr Gefallen daran, das Handeln des Feindes vorauszuahnen.« Ritor lächelte leicht über die unverhüllte Begeisterung, mit der ihn Asmund ansah. »Soll Torn denken, dass wir keine Ahnung von nichts haben. Soll er doch ... einstweilen. Und jetzt ist es an der Zeit, sich auszuruhen! Die Überwachungsformel kann ich jetzt allein aufrechterhalten.«
Die Nacht verdichtete sich über der Ebene, durch welche wasserreiche Flüsse dem nicht mehr fernen Heißen Meer zuflossen. Sandra und Asmund verließen das Abteil; der alte Magier scheute keine Kräfte, um eine Formel der absoluten Stille zu wirken; nichts lag ihm ferner, als jetzt durch die dünne Trennwand hindurch dem Liebesstöhnen der beiden lauschen zu müssen. Die Gedanken des Magiers richteten sich auf den unbekannten Burschen, der sich durch den Willen des bösen Schicksals zum Drachentöter verwandelt hatte oder genauer gesagt im Begriff war, sich in einen solchen zu verwandeln. Was wusste jener bereits? Was vermochte er schon? Nach einer einzigen Weihe doch wohl noch nicht allzu viel. Aber der Zufall musste in jedem Fall ausgeschlossen werden. Er selbst hatte kein Recht auf weitere Verluste. Jeder einigermaßen starke Magier war Gold wert. Und er, der große Zauberer der Luft, wog zum soundsovielten Mal alle Einzelheiten genau ab, um einen
Die Eiserne Route wurde sorgsam von den Gnomen instand gehalten, er spürte keinerlei Stöße. Der Zug glitt weich wie auf Samt durch die Nacht. Morgen früh würde der Kampf stattfinden, wenn die Kraft der Luft im Zenit stand.
Der Wagen des Windes erreichte Chorsk zur vorgesehenen Zeit. Die Lokomotive schnaufte noch ein letztes Mal, ehe sie stehen blieb. Ritors Truppe war schon auf den Beinen. Als Erstes sprang Erik auf den Bahnsteig, noch ehe der Schaffnergnom die Treppe ausgezogen hatte. Die Menschenmenge um den Zug lichtete sich augenblicklich. Erik war weit über die Grenzen des Warmen Ufers hinaus bekannt. Der blonde Krieger mit dem braungebrannten, runden Gesicht war groß und muskulös, trug einen üppigen weizenfarbenen Schnurrbart und kniff ständig die Augen zusammen; außerdem sorgten nicht zuletzt eine Reihe von prächtigen Narben dafür, dass die Herzen der Mädchen bei seinem Anblick heftig zu klopfen anfingen. Erik hielt die Arme so vor der Brust, als würde er eine unsichtbare Kugel dagegen drücken. Auf den ersten Blick hatte er keine Waffe bei sich, und das, was sich unter seiner unscheinbaren Jacke verbarg, hatte nichts gemein mit den traditionellen Schwertern, Dolchen oder Äxten.
Sein forschender Blick glitt über die Gleise, über ein Regionalbähnchen auf dem Nachbargleis, über die Menge der Händler, weiter den Bahnsteig entlang bis zur Tür mit der Aufschrift »Für Magier«; kaum einer wusste, dass ihn, den Älteren eines Paares, während dieser ganzen Zeit ein waffentragender
Es versteht sich von selbst, dass Eriks Auftauchen auch bei der Obrigkeit nicht unbemerkt geblieben war. Schon eilte die Bahnhofsleitung herbei, und wer nicht schnell genug aus dem Weg sprang, wurde rücksichtslos vom Empfangskomitee beiseitegeschubst. Zwei Gnome rollten im Laufschritt einen Teppichläufer aus, und hinter ihnen trampelte ein ganzer Trupp Straßenkehrer her.
Erik machte sich auf den Weg, ohne dem Aufzug auch nur einen Blick zu gönnen. Der Teppich und die anderen Attribute eines feierlichen Empfangs interessierten ihn nicht im Mindesten. Seine Aufgabe war es, die Sicherheit zu gewährleisten. Und das tat er. So gut er es vermochte.
Der Junge »zur Hand« folgte ihm schleunigst, wobei er sich pfeilschnell durch die Menge schlängelte. Er war gerade mal zwölf Jahre alt, dünnbeinig und leicht wie ein Fohlen. Niemand ahnte, dass dieses Fohlen ohne weiteres allein mit einer Bande von zwanzig Räubern fertig würde. Wenn er heranwuchs, würde er vom Jungen »zur Hand« zum Solisten aufsteigen oder zum Ältesten eines Paars. Und wahrscheinlich würde er einer der Besten sein, denn Erik würde sich niemals mit einem mittelmäßigen Jungen »zur Hand« abgeben.
Ein Gnom, der Stationsvorsteher, verbeugte sich tief und unterwürfig vor Ritor.
»Was für eine Ehre, sehr geehrter, ehrwürdiger, hoch geachteter ...«
»Schon gut, Kirbi.« Ritor winkte ab. »Wir sind voll und ganz zufrieden mit euch und euren regelmäßigen Zahlungen. Unser Besuch hier ist inoffiziell. Wir kommen nicht zur
Kirbi war mit einem edlen Festtagshemd bekleidet, das er wohl gerade eben erst übergestreift hatte. Bei Ritors Worten seufzte er vor unverhohlener Erleichterung.
»Geruhen Sie sich von der Reise zu erholen? Wir servieren sogleich ein Frühstück. Der Weiße Adler kommt erst in einer Stunde, bis dahin ist noch Zeit ...«
»Nun gut, dann lasst uns frühstücken«, willigte Ritor ein.
Hinter ihm, mit der gespannten Armbrust in den Händen, schritt Kevin. Der zweite Junge »zur Hand« deckte das Ende des Zuges, das aus den beiden Heilern, Kan und seinem Schüler, bestand.
Der Tumult, der durch das Auftauchen der hohen Gäste entstanden war, legte sich allmählich wieder. Wie aus dem Nichts erschien ein Trupp Freiwilliger; das in der Stadt stationierte Korps Schöner Donner verstand seine Arbeit, und alle noch verbliebenen Neugierigen erkannten augenblicklich, dass es besser wäre, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Das Frühstück, das im Wartesaal für Magier aufgetragen wurde, erwies sich als ausgezeichnet. Es gab geschmorten Hasen in Weinsauce, Kartoffelkroketten, Krevetten mit gehackten Eiern und gebackenen Karpfen mit Sauerkraut. Bescheiden, aber überaus schmackhaft.
»Er sitzt im ersten Wagen«, sagte Ritor leise, nachdem alle ihre Mahlzeit beendet hatten und er einen schalldichten Wall um den Saal errichtet hatte. »Kevin und Erik, eure Aufgabe ist es, ihn aufzuschrecken. Sorgt dafür, dass er sich rausbeugt. Mehr müsst ihr nicht tun. Dann geht ihr schleunigst aus dem Weg und haltet Ausschau nach den Leuten
»Wir haben verstanden, Ritor«, sagte Kevin beherrscht. Wie immer hatte er sich vor dem Kampf in seine Farben gekleidet, in Schwarz und Silber. »Unsere Leute versagen nicht.«
Erik nickte zustimmend.
»Aber warum, ehrwürdiger Ritor, können Kevin und ich die Operation nicht alleine ausführen? Hier handelt es sich doch nicht um die Olympischen Spiele. Wir kommen von zwei Seiten und ...«
»Natürlich kommt ihr von zwei Seiten«, antwortete Ritor ruhig. »Aber, Jungs, wir haben es mit dem Drachentöter zu tun. Er hat schon eine vollständige Weihe erlangt. Glaubt mir, ich weiß, wozu er fähig ist. Ich bin nicht Torn. Und ich werde meine Leute nicht in den Tod schicken. Was ist?«
Eriks Junge »zur Hand« strich schweigend über seinen linken Ärmel. Ritor verspürte augenblicklich die Spannung, die von einer geladenen Waffe ausging.
»Denk nicht einmal daran«, sagte er streng. »Er würde es fühlen. Und du wirst es wahrscheinlich nicht mal merken. Also bitte keine Alleingänge, sondern den Burschen nur aufschrecken. Es ist wichtig, dass er aus dem Waggon herauskommt.«
»Vielleicht sollte ich?«, ertönte Sandras Stimme. »Ehe er den Jungs zusetzt ...«
Kevin und Erik streckten beleidigt ihr Kinn in die Höhe, und mit sekundenlanger Verzögerung imitierten auch ihre Jungen »zur Hand« diese Bewegung.
»Nein, nein.« Ritor schüttelte verärgert den Kopf. »Das lohnt nicht, Sandra. Loj Iwers Lorbeeren wird dir das ohnehin nicht einbringen. Die Kraft des Drachentöters liegt im Zorn. Aber er ist bislang noch nicht in der Lage, sie zu kontrollieren. Wir müssen so vorgehen ...«
Die Sonne stieg höher am Himmel. Züge trafen ein und fuhren ab, auf den Bahnsteigen brodelte die Menge. Ein buntes Völkchen. Händlerinnen und Händler hatten aufgehört, Kevin und Erik zu beachten; deren Jungs waren ohnehin nicht zu sehen.
Der Weiße Adler glitt schwerfällig in den Bahnhof. Trotz seines imposanten Namens gehörte er zu den eher unbedeutenden Zügen, die an jeder noch so kleinen Station hielten. Klapprige Waggons, uralte, dampfende Zylinder, kaputte Trittbretter - selbst die Gnome hatten nicht für alles Geld.
Erschöpft schnaubend hielt die Lokomotive an, und Ritor atmete vor Erleichterung tief aus, denn ihr Ziel war noch immer an Ort und Stelle.
Erik und Kevin bewegten sich ohne Eile auf die hölzernen Türen des ersten Waggons zu, die sich gerade öffneten. Das Volk wich vor ihnen zurück und gab den Weg frei. Hinter den Älteren schlüpften die beiden Jungen »zur Hand« in den Wagen.
Jetzt hieß es nur noch warten.
Ritor warf einen kurzen Blick auf den blassen Asmund und auf Sandra, die sich auf die Lippen biss. Sie hielten jetzt die ungeheuerliche Macht des Windes an der Leine, verdichtet zu einem langen dünnen Speer, der sich bis zum Horizont zog. Dieser Speer würde nicht nur die Brust des Feindes durchstoßen, nicht nur sein Herz herausreißen und sein Inneres nach außen kehren, dieser Speer würde das
Eine Weile lang war alles still. Ritor wusste, dass Erik und Kevin sich im Moment mit möglichst dreisten Mienen durch den mit Bündeln vollgestellten, schmalen Gang drängten, mit Fußtritten und Schubsern alles zur Seite beförderten, was ihnen vor die Füße kam, und dabei laut schrien: »Kontrolle! Allgemeine Kontrolle! Reisebriefe vorzeigen! Na los! Na was denn, keiner da? Dann wird die Abgabe per Strafe eingezogen! Auf der Streckbank wird dir deine Vergesslichkeit schon vergehen!« Wenn Ritor die Psychologie seines Gegners von der Anderen Seite richtig einschätzte - umso mehr, als der in jenem bestimmten Land gelebt hatte -, so würde der Drachentöter nicht stillhalten. Er würde unbedingt reagieren. Die Abteilfenster waren geöffnet, auf dem Bahnsteig wogte eine Menschenmenge, in der man sich leicht verlieren konnte ...
Und das ist der Moment, in dem wir handeln, dachte Ritor.
Im Waggon kreischte jemand plötzlich auf. Und im selben Augenblick brach eine Welle gebündelten Hasses über Ritor herein. Lodernd und unerträglich, eine Welle, die nur mit dem Blut des Feindes zu löschen war. Keinem einzelnen Wesen, nicht einmal dem Drachentöter, wäre es möglich gewesen, so heftig zu hassen.
Zu dem Kreischen einer Frau gesellte sich ein Chor zorniger Männerstimmen. Fensterscheiben klirrten, und dann begann etwas Unvorstellbares im Waggon. Als ob sich Dutzende wild gewordener Kater im Kampf ineinander verschlungen hätten; in den dunklen Öffnungen der Fenster wand sich ein Wesen - vielarmig, vielbeinig, ein Wesen mit
Eine Fensterscheibe nach der anderen zersplitterte; Schaufelgriffe und Axtstiele blitzten auf; ein blutbedeckter menschlicher Körper stürzte über den Rand einer Fensteröffnung, geradewegs einem vor Schreck gelähmten Händler vor die Füße; dahinter warf jemand einen in eine Decke gewickelten, schreienden Säugling in eine Bauchlade mit Äpfeln; aus dem Waggon drang jetzt ein so schreckliches Stöhnen und Heulen, dass der ganze Bahnhof vor Grauen buchstäblich erstarrte; Ritor bemerkte Kirbi, wie er mit wehendem Hemd und vor Angst verzerrtem Gesicht mit drei weiteren Wächtergnomen im Schlepptau über den Bahnsteig rannte.
Aus dem Fenster flog ein Mann, dem Aussehen nach ein einfacher Siedler. In der Hand hielt er einen kurzen Spaten. Seine linke Gesichtshälfte war blutüberströmt.
Der Mann war tot.
Ritor fasste sich trotz aller Selbstbeherrschung an den Kopf. Er hatte schon verstanden, was da vor sich ging, aber er fürchtete sich davor, es zu glauben.
Die Menschen fielen jetzt einer nach dem anderen aus dem Fenster, wie Regentropfen: Männer, Frauen, Kinder. Manche sprangen auf, andere blieben reglos liegen; einige
Die Jungen »zur Hand« hatten sich an die Arbeit gemacht. In diesem Kampf ging es nicht ums Leben, sondern um den Tod. Der Magier der Luft hatte den Anblick eines solchen wahnsinnigen Kampfes schon einmal erlebt. Gerade weil er zu seiner Zeit selbst Drachentöter gewesen war, begriff Ritor, was hier vor sich ging. Etwas außerordentlich Seltenes, das nichtsdestotrotz vorkam.
Und immer noch zeigte sich der Drachentöter nicht.
»Asmund, Sandra!«, befahl Ritor. »Wir ändern den Plan. Das Ziel ist jetzt das Dach. Ihr beiden, reißt es auf, zum Teufel. Schnell!«
Nein, das alte Frauenzimmer, Sandra, hatte den Jungen nicht umsonst verführt. Sie verstanden es, zusammenzuarbeiten. Sie schlugen synchron zu, als hätten sie es monatelang trainiert.
Der Windstoß brach mit Heulen über den durchgedrehten Waggon herein. Die Dachlatten krachten, die blechernen Platten wurden hochgebogen, die soliden Schrauben der Gnome brachen aus den Gewinden wie faulende Fädchen. Der Wind spießte das Metall auf wie ein gigantisches Messer; er riss an der unnachgiebigen Bedachung des Waggons, wie ein Lüstling am Rock eines sich widersetzenden Mädchens; und er gellte mit seinem unmenschlichen, wilden Geheul scharf in den Ohren.
Und endlich sprang jener aus dem Fenster.
Er sah ganz genauso aus, wie die Windflügel ihn gezeigt hatten. Ein groß gewachsener Mann in der schwarzen Jacke der Wächter von der Grauen Grenze. Verloren, erschüttert, entsetzt und betäubt von fremdem Hass und Schmerz.
Das habe ich auch alles durchgemacht, sprach Ritor in Gedanken zu seinem Feind. Ich kenne das. Wie viele Menschen hast du heute in den Tod geschickt, Drachentöter?
Der Mann hielt sich mit der rechten Hand die linke Schulter. Der Schmerz würde erst später kommen; vorläufig würde er nur das Gefühl haben, dass ihn jemand sehr stark am Arm gezogen hatte.
Schwankend lief er über die Gleise. Fort, nur fort, so weit weg von hier wie nur möglich ... unfehlbar hatte jener den günstigsten Fluchtweg gewählt, zum Fluss.
Ganz recht so, Drachentöter. Aber du weißt nicht, dass du es mit Ritor höchstpersönlich zu tun hast. Und du wirst es auch nicht mehr erfahren, dachte der Magier der Luft noch.
»Genug jetzt!«, kommandierte er.
Der Mann war sehr geschickt: Ganz so, als ob er bereits alles begriffen hätte, hielt er sich inmitten der Menschenmenge; aber es ging eine solche Welle des Bösen und des Schreckens von ihm aus, dass die Leute schreiend vor ihm zurückwichen.
Ritor visierte ihn durch die Zielvorrichtung an. Eine Formel, die in manchem an ein Gewehr erinnert, dachte er noch, ehe er den unsichtbaren Hahn abdrückte.
Mühevoll zusammengeführte, straff gewundene Windschleifen schossen auf ihr Ziel los wie eine Schlange, die sich auf ihre Beute stürzt. Ein durchdringendes Kreischen ertönte, wie Metall, das schnell über Glas gezogen wird; der
Im selben Augenblick hüllte ihn eine Wolke von Wasserfontänen ein, die aus der Erde heraustraten.
Wasser und Luft trafen aufeinander; sie warfen den Drachentöter um, er schlitterte über den glatten Bahnsteig; sein Wasserschutz schleuderte Myriaden schneidender Wasserspritzer in alle Richtungen.
Die Leute suchten verzweifelt das Weite, und der Bahnhof leerte sich.
»Es wird dir nicht gelingen, Ritor!«, schrie jemand.
Ja, damit habe ich gerechnet, dachte der Magier. Gotor also, der Magier des Wassers und noch ein zweiter vom Strafkommando. Jetzt ist alles klar. Sie sind gekommen, um den Schlag auf sich zu ziehen.
»Lass mich machen, Ritor!«, heulte Sandra. Mit Torns Magiern hatte sie noch eine alte Rechnung zu begleichen. Und ehe Ritor antworten konnte, stürmte sie bereits los.
Sie war sehr gut im Angriff. Wahrscheinlich ebenso gut wie im Bett. Der Magierkämpfer hatte nicht mal die Zeit, seine Wasserpeitsche in Anschlag zu bringen. Ein rasender Wind traf ihn auf der Brust, warf ihn nieder, wirbelte ihn auf der Stelle herum und presste sein Opfer erbarmungslos in die harte, gestampfte Erde. Für einen Augenblick war das Gesicht des Unglücklichen zu erkennen, es hatte sich tiefrot verfärbt, und die Augen quollen im Todeskampf heraus; in der nächsten Sekunde platzte seine Kehle. Fächerförmig schossen die Blutstropfen heraus und trockneten augenblicklich aus.
Die Stunde des Grauen Hundes und auch des Erwachenden Wassers waren längst vorbei. Ritor hatte nicht umsonst
Immerhin erwies sich der Magier des Wassers keineswegs als Feigling. Er unternahm einen Gegenangriff, und die scharfe Schneide eines Wassersäbels schnitt haarscharf an Asmunds Kehle vorbei. Mit Unfehlbarkeit hatte Gotor den schwächsten Punkt unter seinen drei Gegnern ausgemacht.
Aber Asmund war gezwungen, den Kreis zu durchbrechen, um der unerwarteten Attacke auszuweichen; und daraufhin schlug Ritor selbst zu. Mit jener ganzen Wut und Kraft, die er für den Drachentöter aufgespart hatte. Den Mann, der ihnen jetzt sehr wahrscheinlich entwischen würde.
Gotor versuchte, sich zu schützen, aber sein Wasserstrudel zerstob wie eine Wolke aus Pappelflaum, die der Wind auseinandertreibt. Ritors unsichtbarer Speer durchstach den Wall des Wassermagiers, spießte ihn auf und hob ihn fast hinauf bis zum Dach, ehe er ihn voll Abscheu auf den Boden schleuderte. Die Brust des Zauberers war aufgerissen; Fleischfetzen und weiße, scharfe Knochenspitzen waren zu sehen.
Er starb, noch ehe er den Schmerz spürte.
Kevin und Erik kamen aus dem zertrümmerten Waggon gerannt, ihre Jungen im Schlepptau. Kevin hielt sich die Hand vors Auge, während Erik seine blutüberströmte Faust mit der anderen Hand umfasste. Aber die beiden waren zu spät dran, hoffnungslos zu spät.
Ritor nahm die Verfolgung auf, sinnlos darauf hoffend, den Drachentöter doch noch einzuholen.
Doch der wusste ganz genau, was zu tun war. Er lief nicht, er stürmte mit ganzer Kraft geradewegs zum Fluss
Er verfügte über eine kolossale Widerstandskraft. Er kämpfte wie ein Löwe, dieser Drachentöter. Seine Verteidigung schien geradezu ideal; vielleicht hätte man ihm eben doch Erik und Kevin auf den Hals hetzen sollen ...
»Wir brauchen die ganze Kraft des Clans«, flüsterte Ritor, während er zusah, wie der Mann durch das Geländer rutschte und wie ein Stein in den Fluss plumpste. »Oder noch ein anderes Element zur Unterstützung.«
»Sieht so aus, als wäre er auf und davon, diese stinkende Meduse!«
»Auf und davon«, stimmte Ritor bedrückt zu. Der Kopf des Drachentöters war nicht zu sehen, aber Ritor wusste ganz genau, dass jener nicht ertrinken würde. Jedenfalls nicht in der nächsten Zeit.
»Was sollen wir jetzt tun, Meister?« Asmunds Stimme zitterte, er musste die Tränen zurückhalten. Ritor blickte sich um: Kan und sein Schüler machten sich schon neben der Waggonruine zu schaffen, aus der die Gnome die Toten und Verletzten bargen.
»Beunruhige dich nicht, Asmund«, antwortete der Magier mit leiser Stimme. »Es ist nicht unsere Schuld. Dieser Drachentöter ... er hat den Zorn der Menge entfacht ... sonst hätte es keiner gewagt, Erik und Kevin anzugreifen. Schließlich sind das hier unsere Länder ... Keiner hätte sich jemals erdreistet. Es war der Drachentöter ... ich weiß es. Ich erinnere mich.«
»Ich glaube, die Gnome kommen«, sagte Sandra mit Unbehagen.
»Na und? Sollen sie kommen. Wir übernehmen alle Unkosten. So teuer wird es wohl nicht werden, ein alter Waggon!«
»Und die Familien der Toten?«, erinnerte ihn Sandra.
Nun wand Ritor sich ebenfalls. Ja, da hatte sie Recht, da war nichts zu machen. Der Clan der Luft galt als guter Lehnsherr. Es kostete ihn viel Geld, diesen Ruf zu wahren, aber genau das schützte ihn andererseits auch vor Aufständen.