Loj war erst ein einziges Mal auf dem Territorium des Wassers gewesen. In früher Jugend, als Mädchen von zwölf, dreizehn Jahren, hatte man sie einmal auf einen Besuch mitgenommen. Damals, gleich nach dem Krieg, gingen die Clans sehr freundschaftlich miteinander um. Es war Mode, sich gegenseitig zu besuchen, Botschaften einzurichten, manchmal kam es sogar zu einer Heirat zwischen Vertretern verschiedener Clans, oder jemand wechselte von einem Clan in einen anderen ... Aber aus diesen alten Zeiten hatte sie nur noch das Rauschen der Springbrunnen, das Glitzern der Sonne und jenen wortkargen Jüngling in Erinnerung, der zum Schutz und zur Unterhaltung der jungen Katze abgestellt worden war. Loj langweilte sich offenkundig, bei ihr hatte soeben die Pubertät eingesetzt, die erste Krise des Erwachsenwerdens, wenn alle zukünftigen Möglichkeiten anfangen, auf sich aufmerksam zu machen.
Voll boshaftem Vergnügen hatte sie den armen Jüngling mit ihren kapriziösen Wünschen, mit Beschwerden und gelegentlichem Kokettieren gereizt und schließlich als Beweis seiner Ergebenheit einen Zauber von ihm verlangt, der nicht in seiner Macht lag. Wenn man es genau nahm, hatten
Jetzt hatte sie es nicht nötig, ihre Fähigkeiten zu demonstrieren. Und sie hatte auch nicht den Wunsch, fremde Magie zu sehen. Jene, die Torns Palast bis unters Dach erfüllte, würde ihr vollkommen ausreichen.
Selbstverständlich gab es auch hier Springbrunnen, Fußböden aus Wasser, lebendige, fließende Spiegel. Regenbögen, die unter den Decken hingen - die ganze unvermeidliche Palette an Wundern, die dazu diente, die Vorstellungskraft der Menschen zu erschüttern. Aber sehr viel wichtiger war die eigentliche Kraft. Selbst Lojs schwacher Beobachtungsgabe entging nicht eine Reihe erschreckender Besonderheiten. (Oder sorgte man hier dafür, dass es ihr nicht entging?) Zum Beispiel die Tatsache, dass Stopolje buchstäblich auf einem See erbaut war, auf einem riesigen Süßwassersee, den die Magier hier ausgebreitet hatten und der sich gut zwanzig Meter tief unter der Erde befand. Was würde das für eine Überraschung für mögliche Aggressoren geben, wenn unter ihren Füßen das wütende Element hervorbrach ...
Loj bemerkte auch die Welle. Etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt, auf dem Boden, in Deckung sozusagen, schlief ein ungeborener Tsunami. Schlaue dünne Fäden zogen sich geradewegs zum Palast und ermöglichten es, den ungeheuerlichen Wall jeden Augenblick zum Leben zu erwecken und ihn entweder über das Ufer oder sich nähernde Schiffe hereinbrechen zu lassen.
Der Clan des Wassers war stark. Sehr stark.
Endlich nahm der Weg durch unzählige Gänge und Saalfluchten ein Ende. Die Magierkämpfer blieben stehen und mit ihnen der Magier dritten Ranges. Loj stand vor einem
Sie lächelte ihren Begleitern noch einmal zu, ehe sie vorwärts schritt.
Sie rechnete mit etwas Unangenehmem, irgendeiner Gemeinheit, die sie zum Gespött machen sollte; zum Beispiel ein Wasserstrahl, der ihr geradewegs in den Kragen lief oder ihr dünnes Kleid durchnässte, so dass es an ihr kleben würde und sie praktisch nackt vor Torn treten müsste.
Nein. Der Magier ließ sich nicht zu solchen kleinlichen Gehässigkeiten hinreißen. Der glitzernde Wasserfall wich zur Seite, um sie durchzulassen. Und dann stand Loj vor dem Oberhaupt des Wassers.
Der Raum war ohne offenkundigen Prunk ausgestattet. Das bedeutete, dass es sich um Torns tatsächliche Wohnstätte handelte und nicht um einen Saal, in dem man üblicherweise den Besucher zu blenden versuchte. Der Boden war durchsichtig und von unten beleuchtet; in der Tiefe waren reglose bunte Fische zu sehen. Über die Wände floss Wasser, es diente offenbar als Schutzwall. Die Mosaiken darunter wirkten wie frisch verlegt, obwohl sie vermutlich schon etliche Jahre alt waren. Die Bilder zeigten Szenen aus der ersten Zeit des Clans in der Mittelwelt: wie seine Schiffe eintrafen, wie der Clan seinen Teil der Kraft übernahm, wie die Paläste erbaut und die Gärten angelegt wurden. Nichts Düsteres, nichts Kriegerisches. Diese Heuchler ...
Der Magier empfing sie im Stehen. Zwei Sessel standen an der Seite, aber Loj war sehr wohl bewusst, dass die Chancen auf ein freundschaftliches Gespräch schlecht standen.
»Ja, ich bin überrascht.« Torn sprach als Erster.
Loj nickte und sah ihm direkt in die Augen. Kalte Höflichkeit und eisiger Zorn lagen darin. Nicht gerade der ideale Gesprächsanfang. Sie hätte Drohungen bevorzugt, dann hätte sie Schwäche vortäuschen und Torn zu einer Vergewaltigung provozieren können.
Aber so war es nun mal.
»Auch ich bin erstaunt, Torn.«
»Worüber, kluge Loj?« Das Wort »klug« sprach er voller Ironie aus. »Darüber, dass es keine Musik und keine jubelnden Zuschauer gibt?«
»Nein, Torn. Ich bin erstaunt darüber, dass du mir bis jetzt nicht verziehen hast. Und ... dass du dich nicht selbst entschuldigst.«
Torn erzitterte vor Wut. Er hob die Hand ...
»Jawohl!«, schrie Loj mit einer Spur übertriebener Theatralik, aber das Wichtigste war jetzt, den Magier aufzuhalten, und das gelang ihr. »Ja, ich bin schuldig! Wenn eine schwache Frau einen mächtigen Mann durch einen Betrug dazu zwingt, seine Pläne aufzugeben - ist das beleidigend! Sehr beleidigend! Und ich verstehe, dass du gekränkt bist. Ich gestehe meine Schuld. Aber du, du ...!«
In den Augen der Katze schimmerten Tränen.
»Selten genug kommst du, der große Torn, Herrscher über den Clan des Wassers, auf meinen Ball ...« Sie machte einen Schritt auf den Magier zu. »Und wenn du kommst, warum? Um mit mir zu plaudern ...« Sie lächelte bitter. »Oder ...« Jetzt schwang hochmütige Verachtung in ihrer Stimme. »... um einen Blick auf die jungen Katzen zu werfen ... Schön, das würde ich verstehen. Aber wie sich herausstellt, suchtest du in meinem Haus nur eins: Rache und Macht! Den Zwist mit dem Clan der Luft! Und ich Närrin,
Torn hörte ihr zu, er unterbrach sie nicht, und Loj kam immer näher.
»Aber auf die Idee, dass der Clan der Luft sicher nicht lange überlegen würde, an wem er Rache nehmen könnte, an dir oder doch besser an dem Clan, auf dessen Boden Ritor getötet wurde, diese Idee ...«
»Der Clan der Luft wird bald Besseres zu tun haben, als Rachepläne zu schmieden ...«
»Ja? Hast du beschlossen, sie auszumerzen? Warum? Sicher, die Kraft dazu hast du, wer wollte das bestreiten; aber was haben sie dir getan? Ist es der alte Streit über das Grenzland von Bbchtschi?«
»Nein, es geht um ihre Pläne ...« Torn bemerkte gar nicht, wie sie allmählich die Rollen tauschten. »Halte mich nicht für einen Wahnsinnigen, der von Rache und Blutdurst besessen ist!«
»Das würde ich gerne ...« Loj seufzte. Sie berührte die Schulter des Magiers. »Aber warum hast du dir ausgerechnet meinen Ball ausgesucht, um mit ihm abzurechnen?«
»Es war Zufall«, sagte Torn widerwillig. »Wir folgten Ritor und wollten ihn nicht aus den Fängen lassen. Wir hätten euch vor dem Clan der Luft beschützt ... ohne Ritor sind sie ja doch nicht viel wert ...«
»Aber warum hast du mir das nicht gesagt? Warum hast du mich nicht um Erlaubnis gebeten? Du weißt doch, unsere Länder sind ein Territorium des Friedens!«
»Es stand zu viel auf dem Spiel ...« Torn blickte auf ihre Hand, die nervös an seiner Schulter zupfte. Dann glitt sein Blick den Arm entlang über die halb entblößte Schulter
Loj begriff mit Schrecken, dass in Torns Augen wieder die Wut aufflackerte. O nein! Jetzt nicht mehr!
»Ich weiß! Und deshalb bin ich zu dir gekommen, allein und ohne Begleitung. Ich bin gekommen, damit du ... der Magier Torn ... damit du mich bestrafen kannst. So wie es dir beliebt.« Das ist zu viel des Guten, zu offensichtlich, dachte Loj. »Keiner weiß, wo ich bin. Du kannst mich töten, Torn; der Clan der Katzen wird keine Rache nehmen. Mein Leben liegt in deiner Hand.«
»Ich brauche dein armseliges Leben nicht!« Torn bemühte sich, seinen Ärger wieder wachzurufen; er hatte noch nicht begriffen, dass der Moment unwiederbringlich vergangen war.
»Was gibt es sonst, was du von mir brauchen könntest?«, sagte Loj bitter. Sie wand sich ab und blickte in den strahlenden Schleier aus Wasser über dem Eingang. Jetzt spielte sie nicht mehr, sondern sie hatte sich selbst davon überzeugt, dass sie eine abgewiesene Frau war.
»Was ich von dir brauche?«, wiederholte Torn nachdenklich. »Ich weiß es nicht, Loj. Ich brauche nicht die Gefolgschaft deines Clans. Das wirst du selbst verstehen ... wir sind stärker. Und dein Leben brauche ich auch nicht. Deine Gemeinheit habe ich dir verziehen ... womöglich waren wir tatsächlich trunken vom Jagdfieber ...«
Loj weinte lautlos. Dann machte sie eine knappe Bewegung mit der Hand und trat auf den Durchgang zu. Jetzt würde sie gehen können. Wenigstens hatten sie einen Waffenstillstand geschlossen.
»Loj!«
Die Frau blieb stehen.
»Es tut mir sehr leid, dass alles so gekommen ist ... so dumm.«
Die Worte fielen ihm nicht leicht.
»Wir können unseren gegenseitigen Respekt bewahren. Vielleicht sogar unsere Sympathie. Ich werde wieder zu deinem Ball kommen ... wenn alles sich beruhigt hat.«
Loj drehte sich abrupt um und rief aus: »Wie töricht du bist, mächtiger Torn! Glaubst du wirklich, dass eine Frau nur zu dir kommt, um Frieden zu schließen? Ich, Loj Iwer, bin zu dir gekommen! Die Katze Iwer ... nicht das Oberhaupt des Clans und nicht die Magierin, die dir ebenbürtig ist!«
Wieder machte sie eine Geste mit der Hand, und der versteinerte Torn spürte, wie unsichtbare Krallen den Umhang über seiner Brust auseinanderrissen, ohne Kratzer auf seiner Haut zu hinterlassen.
»Ich habe mich aus dem Clan fortgeschlichen. Bin gekommen ... und was bekomme ich zu hören ... nichts weiter als das Versprechen, vielleicht einmal vorbeizuschauen ...«
»Loj ...«
Mit überraschender Schnelligkeit kam Torn jetzt auf sie zu. Fasste sie an der Schulter, drehte ihren Kopf zu sich und blickte ihr in die Augen.
»Was brauchst du von einem erschöpften Magier, der sich abmüht, einen zerbrechlichen Frieden zu bewahren?«, flüsterte er. »Was legst du dir bloß alles zurecht ... dumme Katze ...«
»Ich werde deine Erschöpfung vertreiben, Torn ...« Lojs Hände berührten seine nackte Brust. »Ich ... habe ich dich nicht gekratzt? Ich bitte dich, sei wenigstens für einen Augenblick nichts anderes als ein Mann ... kein Magier und
Torn presste seine Lippen auf ihre in einem Kuss, der mehr Ungeduld als Erfahrung offenbarte. Wie oft war er mit einer Frau zusammen gewesen? Loj spürte tatsächlich so etwas wie Erregung ...
»Torn, mach mit mir, was du willst ...«
Und Torn nahm das Angebot an.
Vor Freude lachend half Loj ihm, sich auszuziehen. Sie selbst glitt mit einer Bewegung aus dem Kleid, hüpfte geschmeidig um ihn herum und zwang den Magier einige Sekunden lang, sie zu jagen. An sich bestand keine besondere Notwendigkeit, ihn derart zu reizen, aber sie wollte sich noch für die soeben ausgestandene Angst revanchieren.
Endlich bekam Torn sie an den Armen zu fassen, stieß sie zu Boden und drang grob und ungeduldig in sie ein. Er hatte die Energie eines Jünglings und erzielte auch das entsprechende Ergebnis.
Loj stöhnte auf und umarmte den erschlafften Magier, dessen ganzer Körper sich über ihr zusammenkrümmte.
»Oh ... Torn ... Torn!«
Aber seine Zimmerdecke sieht erbärmlich aus, wahrscheinlich von der ständigen Feuchtigkeit; sie hätte längst mal geweißelt werden müssen, dachte Loj noch.
Sie stand vor einer der fließenden Wände, deren Wasser auf eine nachlässige Geste des Magiers hin dunkel wie ein Spiegel geworden war, und kämmte sich die Haare. Der Zauberer selbst saß in einem Schwimmbecken und ließ sich einweichen; das Bassin war mitten im Zimmer entstanden, an der Stelle, wo der Boden gewissermaßen schmolz
»War es schön für dich, Loj?«, fragte Torn scheinbar beiläufig.
»Ja, mein Lieber«, antwortete die Katze, während sie eine Falte am Bauch untersuchte. War das etwa Fett? Zellulitis womöglich?
Aber Torn blickte sie misstrauisch an, weshalb Loj ganz nebenbei hinzufügte: »Ich habe dich so begehrt ... es war wirklich magisch ...«
Der Zauberer schien beruhigt. »Ich wollte es ebenfalls sehr.«
Loj lächelte in Gedanken. Der arme Torn. Seine Frage bewies einmal mehr, dass seine Entwicklung auf dem Niveau eines Jünglings stehen geblieben war. Vielleicht waren diese Magier der Elemente deshalb alle so aggressiv und ununterbrochen mit den Geschicken dieser Welt beschäftigt, weil sie keine Zeit für richtigen Sex hatten.
Nachdem Loj die Falte geknetet hatte, befand sie, dass es sich dabei um nichts Dramatisches handelte. Nur ein Törtchen zu viel beim letzten Kaffeeklatsch mit den Mädchen. Sie würde ein wenig trainieren, dann wäre die Falte ruckzuck verschwunden.
»Ich will dich noch einmal«, rief Loj aus. Sie nahm Anlauf und sprang geradewegs zu Torn ins Wasser. In Torns Augen blitzte Schrecken auf, aber Lojs Künste bewirkten das Ihrige; wenig später verschmolzen sie wieder in Umarmungen.
Eine Minute später ... ach, Torn, Torn ... wickelte Loj spielerisch eine Locke seines dicken Haares um ihren Finger und summte dabei eine Melodie vor sich hin, dann sagte sie: »Wenn wir uns nun jeden Tag so sehen könnten, Torni ...«
Der Magier schien zu Stein zu erstarren.
»Wir hätten bald entzückende kleine Kätzchen, die schwimmen könnten. Die kleinen Mädchen würden alle nach mir kommen, und die kleinen Jungen ... nun ja, auch nach mir.«
Der Magier war der Verzweiflung nahe. Er würde doch wohl nicht im Becken ertrinken!
»Wie schade, dass die Gesetze der Clans das nicht zulassen.«
Torn atmete wieder gleichmäßiger und sagte vorsichtig: »Dabei geht es nicht nur um Gesetze, Loj. Schwere Zeiten stehen der Mittelwelt bevor.«
»Warum?« Loj brachte mit ihrem ganzen Wesen Überraschung zum Ausdruck. »Gibt es etwa einen Volksaufstand? Oder wurde die Graue Grenze auseinandergeweht wie eine Rauchwolke? Oder geht es um die Angeborenen ...«
»Ja.«
»Bereiten sie eine Invasion vor?« Loj versuchte, ihre wahren Gefühle nicht preiszugeben. In ihrer Stimme ließ sie Unruhe und Wut anklingen, beides wohldosiert. »Der Clan der Katzen ist bereit zu kämpfen! Die Jungs sind schon ganz wild darauf ...«
Torn schwieg. Er wollte etwas sagen, doch dann gewann seine Vorsicht wieder die Oberhand.
»Mein Lieber ...«
Lojs Hand tauchte spielerisch unter Wasser, und der Magier schrie erschrocken auf. »Es ist eine ernste Angelegenheit, Loj! Wir müssen uns nicht als Männer und Frauen vorbereiten ... sondern als Verantwortliche für das Schicksal unserer Clans, als Magier!«
»Was ist los, Torn?«
»Dieser Ritor ... dieser wahnsinnige Ritor ... ist davon überzeugt, dass der Drache kommen wird.«
Loj schwieg lange. Die Maske, die sie sich übergestülpt hatte, wurde ihr mit einem Mal zu eng. »Bist du dir sicher, Torn?«
»Ja. Ich spüre es auch. Schwächer als Ritor - du weißt ja selbst, dass die Kraft unseres Elements dem Regenten gezwungenermaßen diente, wie ein Gefangener, dass sie keine zuverlässige Basis für ihn war ...«
»Wir hatten sehr wenig mit ihnen zu tun«, flüsterte Loj. »Sie interessierten sich nicht für unsere Frauen ... nun, das versteht sich von selbst ...«
»Warum das, warum interessierten sie sich nicht?«
Loj sah ihn erstaunt an. Ach, der mächtige, allwissende Magier ...
»Sie sind monogam«, erklärte sie. »Ihr Verhältnis zum Leben ist ein völlig anderes als unseres.«
»Dreckskerle«, flüsterte Torn. »Diese ... Päderasten.«
Loj war sich nicht sicher, ob er diesen Schluss ernsthaft gezogen hatte oder ob er einfach die Gelegenheit wahrnahm, die besiegten Herrscher zu verunglimpfen.
»Aber ich verstehe es nicht, Torn. Wie kann jener zurückkommen, dessen Geschlecht vollständig ausgelöscht ist?«
»Dann ist es ernst«, stimmte Loj ihm nach kurzem Schweigen zu. »Wenn ihm auch nur ein Drache entwischt ist ... Seid ihr euch deshalb gegenseitig an die Kehle gegangen?«
»Nein.« Auf dem Gebiet der politischen Intrigen gewann der Magier endlich sein beinah verlorenes Selbstvertrauen zurück. »Ich hatte mir schon lange so etwas gedacht. Aber das ist es nicht, keiner hätte sicherstellen können, dass alle Drachen bis zum letzten im Kampf fallen. Schlimm ist nur, dass Ritor jetzt bereit ist, sie zu unterstützen. Und sein Clan ebenfalls.«
»Und das Feuer?«
Torn runzelte die Stirn. »Sie bereiten mir mehr Sorgen als alles andere. Sie sind in Deckung gegangen ... das Feuer klingt immer erst ab, ehe es grell aufflackert. Sie haben sich nicht mal zu einer offiziellen Kriegserklärung herabgelassen.«
»Und zu einer inoffiziellen?«
»Drei meiner Burgen sind gestern Abend abgebrannt«, bekannte Torn widerwillig. »Wie Fackeln. Zwei in den Schneesteppen weit entfernt von hier und eines in den Ziwascher Sümpfen.«
»Und deine Magie konnte die Brände nicht löschen?«
»Ich war ja nicht dort!«
»Aber sag mir, Torn, was ist an einem einzelnen Drachen so schlimm? Den könnte man doch sogar selbst versuchen zu töten, ohne dass man einen Drachentöter erschafft. Erst recht, solange dieser sich noch nicht erkannt hat.«
»Was schlägst du vor?«
»Als Erstes musst du ihn finden.«
Torn lächelte geheimnisvoll.
»Als Zweites musst du den Drachentöter auf seine Aufgabe vorbereiten.«
»Dafür benötigen wir die Kräfte aller Elementaren Clans ...« Torn seufzte. »Aber ... wir versuchen es. Wir werden alles tun, was möglich ist. In beide Richtungen.«
»Dann gibt es doch keinen Grund ...«
»Die Angeborenen.«
»Ach ja. Und was ist mit ihnen?«
»Die Invasion.«
»Hör auf, in Rätseln zu sprechen, Torn! Als ob man dich für jedes nicht gesagte Wort bezahlen würde! Werden wir die Angeborenen denn wirklich nicht los?«
»Auch sie erschaffen einen Drachen.«
Loj kletterte aus dem verhassten Wasser, setzte sich auf den Beckenrand und ließ die nackten Beine baumeln. »Dann brauchen wir den Drachentöter ganz sicher. Andererseits - warum soll der Drache nicht kommen? Wie Ritor es sich wünscht. Soll der sich doch mit den Angeborenen herumschlagen. Vielleicht wird er im Kampf umkommen oder geschwächt werden. Und dann werden wir entscheiden, was wir als Nächstes tun.«
»Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Loj.« Torn strich mit der Hand durchs Wasser. »Das Leben ist wie eine Strömung. Es gleitet dahin, mal verlangsamt es seinen Lauf, mal beschleunigt es ihn. Es sinkt auf den Boden, und dann strebt es wieder an die Oberfläche. Was im nächsten Moment geschehen wird, das weiß nur jener, dessen Arm den Lauf der Wellen verursacht ...«
»Dieselben Worte habe ich schon von der Luft vernommen. Und auch vom Feuer. Und der Clan der Erde hat in dieser Hinsicht auch seine Ansichten, nämlich, dass das
»Ich habe dir ohnehin mehr erzählt, als ich sollte.« Torn runzelte wieder die Stirn. »Bist du auf meiner Seite, Loj? Bist du jetzt auf meiner Seite?«
»Ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um unseren Frieden zu bewahren!«
Torn nickte befriedigt.
Warum bloß suchten Männer in den Worten ihres Gegenübers immer in erster Linie die Bestätigung ihrer eigenen Wünsche? Und dachten erst in zweiter Linie daran, dass daraus auch Wunsch und Wille des anderen sprachen?
Es war keine einzige offene Wunde mehr zu sehen. Viktor stand über eine seichte Stelle am Flussufer gebeugt, betrachtete seinen malträtierten Körper und schüttelte den Kopf. Entweder hatte er außerordentliches Glück gehabt ... ausgerechnet er als alter Pechvogel - sein Lächeln war etwas schief, aber allein die Tatsache, dass es ihm überhaupt gelang, freute ihn ... oder ... Viktor berührte das Hämatom, das sich über den ganzen Bizeps ausgebreitet hatte. Er heulte auf und zog die Hand weg. Von einem derart heftigen Schlag hätte der Knochen eigentlich brechen müssen. Aber nein! Er war mit einem blauen Flecken und Prellungen davongekommen.
Entweder war er sehr viel stärker, als er sein ganzes Leben lang gedacht hatte, oder seine Widerstandskraft hatte in der Mittelwelt auf wundersame Weise zugenommen.
Aus irgendeinem Grunde wünschte er sich nichts mehr, als in dem eisigen Wasser zu baden und sich von der sanften Strömung die Muskeln massieren zu lassen ...
Viktor schüttelte sich. Das fehlte gerade noch. Eine banale Lungenentzündung ... das heißt, so ein Bad musste nicht zwangsläufig eine Lungenentzündung zur Folge haben, aber auch eine gewöhnliche Bronchitis würde seine Überlebenschancen auf ein Zehntel reduzieren. Auch wenn es hier wärmer war als an der Grauen Grenze, er durfte nichts riskieren.
Viktor holte sein treues Feuerzeug aus der Jackentasche und machte ein Feuer. Obwohl die Äste, die er eilig am Ufer zusammengeklaubt hatte, allesamt feucht waren und er sie stümperhaft und ungeübt aufgeschichtet hatte, züngelten die ersten Flämmchen bald eifrig an dem Stoß hoch. Was hatten die Gnome ihm noch geraten, er sollte zum Clan des Feuers gehen? Vielleicht hatten sie Recht. Warum eigentlich nicht ...
Das Kleinholz ging buchstäblich in Dampf auf, erst verdampfte die Feuchtigkeit und ließ dann fast trockenes Holz zurück. Nach zehn Minuten prasselten die Flammen so munter vor sich hin, dass Viktor ein Stück von der Feuerstelle abrücken und seine Kleider weiter entfernt aufhängen musste.
So war es gut. Er konnte sich aufwärmen und sich ausruhen. Aber vorher kletterte er mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf einen kleinen Hügel, um sich umzusehen. In der Ferne lag Wald ... Um die Ökologie schien es gut bestellt zu sein in der Mittelwelt; zwischen Hügeln wand sich der Fluss. Bis zur Stadt - was sich dort jetzt wohl abspielte, nach dieser Verwüstung? - war es ein Stück. Diese Bande durchgedrehter Magier würde ihn ja wohl kaum verfolgen. Sein Feuer brannte fast rauchlos, so dass es nicht ohne weiteres zu bemerken wäre.
Nachdem Viktor wieder runtergeklettert war, suchte er sich unweit von der Feuerstelle im Schutz der Bäume einen
Er schlief ganz leicht ein; innerhalb weniger Augenblicke hatte er eine einigermaßen bequeme Lage gefunden; sein Körper schmerzte nicht mehr stark, sondern war eher empfindlich wie nach einem intensiven Training. Ein leichter Wind strich über seine Haut, und Viktor schlummerte mit dem Gefühl ein, dass jemand ihn fürsorglich streichelte ...
Er wunderte sich fast überhaupt nicht, als er sich im weißen Sand wiederfand, neben ihm plätscherte das schwarze Wasser. Seine Träume folgten einer inneren Logik, daher war er völlig nackt, wie in Wirklichkeit, und sogar die Blutergüsse und Prellungen waren vorhanden.
Hinter der Wiese mit dem schneidenden Riedgras - ach, diesmal würde er sie barfuß durchqueren müssen - war eine Brandstätte zu sehen. Zwei, drei verkohlte Pfeiler ragten aus der Erde; haufenweise kohlrabenschwarze, aber nicht völlig verbrannte Gegenstände lagen herum; vermutlich eben jene »Modelle« ...
Was hatte der kleinwüchsige Dickwanst beim letzten Mal gesagt? »Geh ins Wäldchen«? Dann würde er dieser Aufforderung jetzt nachkommen.
Viktor nahm wieder den von ihm selbst gespurten Pfad, denn das Gras hatte sich noch nicht wieder aufgerichtet. Er spürte, wie die scharfen Halme in seine Beine stachen, versuchte aber, nicht darauf zu achten. Es war nur ein Traum, nichts weiter. Es würde nichts Schlimmes passieren. Besser, er freute sich an der Landschaft ... obwohl, das war kaum möglich, sie war einfach zu unnatürlich. Wie das
So weit das Auge reichte, halbdurchsichtige Berge. Wenn man genau hinschaute, konnte man durch diese hindurch - wie durch einen Schleier - die Umrisse weit entfernter Räume erkennen. Oder war das etwas anderes? Erzene Adern, gigantische Goldklumpen ... In den Grauen Bergen gibt es Gold.
Der dunkel-violette Wald kam näher. Schon konnte Viktor die Form der Blätter ausmachen; sie waren schmal, scharf und unnatürlich gleichförmig, fast so, als ob diese Bäume hier keine Jahreszeiten kannten, kein Abwerfen des Laubs und keine Erneuerung.
»Hausherr!«, rief Viktor. Da der Dickwanst nicht erschien, beschloss er, zumindest den Schein der Höflichkeit zu wahren. »Erwartest du jemanden?«
Keine Antwort. Aber er hatte keinen Zweifel, der andere würde auftauchen. Vielleicht beobachtete er ihn schon. Wartete noch auf etwas, auf den richtigen Moment ...
Die Wiese aus Riedgras war zu Ende, unter den Füßen spürte er jetzt weiches Gras. Viktor beschleunigte seinen Gang und trat unter das violette Dach des Waldes.
Nichts Ungewöhnliches. Ein normaler Wald, nur violett. Aber sonst ... die Luft war frisch, lebendig, es herrschte Stille ...
Nein. Die Stille hatte etwas Vorsätzliches. Es war zu still. In einem lebendigen Wald gab es immer irgendwelche Geräusche, Rascheln, Bewegung. Aber dieser hier schien zu schlafen.
Viktor ging weiter. Er hatte keine Angst, sich zu verlaufen; wie auch, es war doch nur ein Traum. Dennoch ... Irgendwas begann ihn zu bedrücken. Er konnte es nicht sehen,
Er schüttelte sich. Was sollte das alles! Es gab hier zwar keine Sonne, aber es war trotzdem hell! Weit und breit keine Monster und keine Magier. Woher rührte nur seine düstere Vorahnung?
Mehrmals hatte er das Gefühl, dass etwas in seinem Rücken raschelte. Viktor blickte sich um, aber der violette Wald war menschenleer. Offenbar handelte es sich wirklich nur um ein Gefühl ... Und als die Bäume nun weniger dicht standen und er auf eine Lichtung gelangte, konnte er einen Seufzer der Erleichterung nicht unterdrücken.
Auf der Lichtung stand ein kleines Haus. Kein Lagerhaus wie das an der Küste, sondern ein gewöhnliches Holzhaus mit einem Schieferdach und einer grün gestrichenen Veranda, von der die Farbe abblätterte; an den Fenstern hingen weiße Vorhänge.
Viktor musste lachen, denn einerseits wirkte dieses Häuschen im violetten Wald völlig unpassend, und andererseits wurde ihm bei seinem Anblick ganz leicht ums Herz. Hier würde der dicke Alchimist ja wohl kaum wohnen. Gott sei Dank! Auf Scheusale wie den konnte er gut verzichten! Zum Hals hingen sie ihm raus!
Viktor ging auf die Tür zu, streifte seine Füße sorgfältig auf der Fußmatte ab und klopfte. Keine Antwort. Er schob die nicht verschlossene Tür auf, die leise quietschte. Die Veranda war leer, nur eine Hängematte schaukelte sanft zwischen den Wänden.
»Ist jemand zu Hause?«
Das schien neuerdings seine Lieblingsfrage zu sein.
Stille.
So schien die Lieblingsantwort zu lauten.
Viktor betrat die Veranda. Öffnete eine zweite Tür, blickte hinein und sah ein großes reinliches Zimmer. Darin stand ein kleiner Holzofen, wie man ihn in Datschen findet; ferner ein Tisch mit einer bunten Wachstuchtischdecke darauf und einem Holzuntersetzer, auf dem eine dampfende Pfanne mit Bratkartoffeln und Pilzen stand; daneben befanden sich Gläser mit Milch und ein Krug sowie in dicke Scheiben geschnittenes Brot. Es machte den Eindruck, als ob die Bewohner gerade erst den Raum verlassen hätten.
Aber wohin waren sie gegangen? Es gab noch ein weiteres Zimmer, in dem sich zwei ordentlich gemachte Betten und außerdem ein von innen verschlossenes Fenster befanden. Für alle Fälle sah Viktor unter den Betten und im Schrank nach, in dem nichts als schlichte Kleidungsstücke und weiße Wäsche zu finden war.
»Wo seid ihr alle?«, fragte er und hoffte noch immer auf eine Antwort. »He! Ich bin kein Räuber, kein Dieb! Hallo, ihr Leute!«
Stille. Dampf stieg von der Mahlzeit auf dem Tisch auf, die Hängematte schaukelte. Eine Idylle. Lass dich nieder und lebe. Hier ist keiner mehr.
Und es wird auch keiner kommen.
Plötzlich spürte Viktor, dass das Haus tot war. Getötet. Eine leere Schale, aus der das Leben nachlässig rausgezerrt worden war. Und mit dem violetten Wald war es ebenso. Und mit den gläsernen Bergen. Diese Welt war tot, sie hatte sich in eine grenzenlose Wüste verwandelt. Dies waren alles nur Hinweise für ihn. Er würde nicht mehr aufwachen.
»Nein«, flüsterte er, »das will ich nicht!«
Er lief zur Tür und stieß beinahe gegen den Alchimisten, der in diesem Moment eintrat. Viktors Freude über den Anblick des rotgesichtigen Kerls war so gewaltig, dass er den anderen um ein Haar umarmt hätte.
»Wohin?«, fragte jener und blickte sich eindringlich im Zimmer um. »Heiße Kartoffelpfanne ... na komm, mach Platz ...«
Er schob Viktor beiseite und stampfte zum Tisch. Setzte sich auf einen jämmerlich ächzenden Stuhl und begann geradewegs aus der dampfenden Pfanne Pilze und Kartoffeln in seinen gewaltigen Mund zu schaufeln.
»Uh ... omm ... etz ich ...«
»Was?«
»Komm! Setz dich!«, wiederholte der Alchimist, während er kaute. Auch aus seinem Mund stieg Dampf auf. »Ein herrliches Leben, nicht wahr?«
Viktor schwieg.
»Warum mögt ihr Menschen die Einsamkeit eigentlich nicht? Hä?«
Wieder schaufelte er sich eine Handvoll in den Mund. Die Pfanne leerte sich.
»Wie heißt du?«, fragte Viktor.
»Und was nützt dir mein Name? Was willst du damit? Nenn mich, wie du willst ...«
Der Dicke setzte den Krug an und trank Milch in großen Schlucken. Weiße Rinnsale liefen über sein von einem Adernetz überzogenes Gesicht und befleckten sein ohnehin schon schmutziges Hemd.
»Ich werde dich Fresssack nennen.«
Der Dicke lachte zufrieden und schluckte glucksend die Milch. Dann schleuderte er den Krug von sich, der wie durch ein Wunder heil blieb, aber auf dem Boden sammelte sich eine kleine Pfütze von der restlichen Milch.
»In Ordnung, nenn mich so. Fressen tue ich wirklich gerne.«
»Warum ist hier niemand?«
Der Fresssack lachte wieder los. »Nein, ich versteh’s nicht! Ich verstehe euch Menschen einfach nicht!«
»Und du, was bist du für einer?«
Aber der Fresssack fuhr fort, sich lustig zu machen. »Wenn du in einer Blechbüchse auf Mutter Erde fällst, dann versteh ich, dass du dir da in die Hosen machst. Und wenn du in einer Metallschachtel sitzt und in eine andere hineinfährst und dabei verbrennst - das ist nicht angenehm. Nein, dafür hab ich wirklich Verständnis! Aber wovor muss man sich hier bitte fürchten? Hä? Du gehst durch ein Wäldchen, freust dich an den Blättchen, kommst an ein Häuschen, alles steht für dich bereit ... setz dich, iss und schlaf dich aus ... Aber du springst mir fast an den Hals! Merkwürdig seid ihr, sehr merkwürdig ...«
»Was hat das alles zu bedeuten?«
»Was willst du? Forderst du eine Antwort von mir?«
»Was geht hier vor?« Viktor hob die Stimme. Der Dicke stieß den Stuhl nach hinten und erhob sich. Finster blickte er Viktor an. Aber der wurde bereits von einer Welle des Zorns übermannt. »Ich frage dich!«
»Aber du musst bitten!«, sagte der Fresssack gedehnt und machte eine ironische kleine Verbeugung. »Bitte mich ...!«
»Du Hanswurst!« Viktor machte eine Bewegung mit der Hand. Und wunderte sich keineswegs, als eine glitzernde hellblaue Peitsche aus seiner Handfläche schoss - genau
»Ach ... ach ...«, stöhnte der Fresssack und fasste sich mit den Händen an die durchbohrte Brust. »Du hast ... mich getötet ...«
Seine Stimme wurde schwächer, er schwankte und schien jeden Moment über dem Tisch oder auf dem Boden neben der Milchpfütze zusammenzubrechen.
»Das wollte ich nicht ...« Viktors Zorn verrauchte. Das Bewusstsein, dass der Fresssack jetzt sterben und ihn allein in dieser schrecklichen, leblosen Kulisse zurücklassen würde, überstrahlte alles. »Ich ...« Er stürzte auf den Zwerg zu, nicht um ihm zu helfen, sondern um neben ihm zu sterben, falls ...
»Hahaha!« Der Fresssack schüttelte sich vor Lachen. »Ausgezeichnet!«
Viktor heftete den Blick auf die beiden Handflächen, die der andere ihm entgegenstreckte, und erstarrte. Kein Blut, und auch auf dessen Brust war keine Wunde zu sehen. Sogar das schmutzige Hemd war völlig unversehrt.
»Du Ekel ...«
»Nein, was für ein Spaß, nicht wahr?« Der Zwerg war kein bisschen verärgert, sondern strahlte vor Begeisterung. »Ich sehe, du enttäuschst mich nicht, mein Freund!«
Eine schwere Hand schlug Viktor auf die Schulter, auch wenn der Fresssack sich dafür auf die Zehenspitzen stellen musste.
»Aber du bist noch zu langsam«, erklärte der Dicke. »Nein, ich verstehe schon, dort ist es kein Zuckerschlecken für dich, und dann machst du endlich die Äuglein zu und hast hier wieder keine Ruhe ... Trotzdem, denk dran. Die
Alles überzog sich mit einem Schleier. Zum ersten Mal spürte Viktor den Moment des Aufwachens nicht unvermittelt, nicht wie einen zielstrebigen Übergang vom Schlafen zum Wachen, sondern wie einen langsamen Prozess. Als ob er gezogen würde ... von einer Welt in die andere, durch einen zähflüssigen Sirup ...
»Viktor ...«
Er öffnete die Augen.
Die Sonne stand bereits hoch. Er hatte einen guten Platz ausgesucht, denn durch das Laub drangen nur vereinzelte Lichtstrahlen. Das Feuer war runtergebrannt, vom verkohlten Holz stieg nur noch ein Rauchfaden auf. Sein Körper hatte gänzlich aufgehört zu schmerzen.
Neben ihm kauerte Tel. Im kurzen weißen Rock und weißer Bluse. Ordentlich gekämmt. Auf ihren Nägeln glitzerte frischer Goldlack. Wo, bitte schön, zog sie sich um und machte sich so zurecht?
Viktor streckte sich ihr schweigend entgegen und fasste ihre Hand. Er begriff sehr wohl, dass die Situation grenzenlos zweideutig war ... oder besser gesagt, eindeutig; und zwar noch viel mehr als ihr Toben ums Lagerfeuer oder das vorgetäuschte Stöhnen im Zugabteil. Jetzt war er völlig nackt. Und trotzdem hatte seine Berührung keinen Hauch von Erotik an sich. Sie entsprang dem einfachen Wunsch, die Gegenwart eines lebendigen Wesens zu spüren.
»Hat es dich schwer erwischt?«, fragte Tel leise und mit ehrlicher Reue.
»Sieht man das nicht?«
»Nein.«
Viktor blickte auf seine Schulter. Es war nicht die kleinste Spur eines Blutergusses zu erkennen. »Ich hatte wieder einen schrecklichen Traum.«
Tel nickte, als verstünde sie ihn.
»Dreh dich um, damit ich mich anziehen kann«, bat Viktor. Tel drehte sich gehorsam um. Viktor stand auf und merkte leicht verwundert, dass seine Erschöpfung ebenso wie alle Prellungen und Schürfungen verschwunden war. Wie gut das Schlafen an der frischen Luft tat!
Er schlüpfte in die Jeans, und erst daraufhin fühlte er sich berechtigt, die nächste Bemerkung zu machen. Oder zumindest seine Gekränktheit zum Ausdruck zu bringen.
»War das nötig?«
»Was?«, fragte Tel, ohne sich umzudrehen.
»Mich einer Gruppe wahnsinniger Magier zum Fraß vorzuwerfen? Erst dort am Fluss ...« Viktor redete sich in Rage. »Weiß du eigentlich, was da los war? Wie ich da rausgekommen bin? Warum hast du das überhaupt alles angezettelt, Tel? Damit ich unter ökologisch einwandfreien Bedingungen sterbe? Ich würde lieber in einer dreckigen Stadt leben! Denkst du, ich bin dein Spielzeug? Eine Plüschmaus zum Aufziehen? Wenn du magst, dann spielst du mit ihr, und wenn du keine Lust mehr hast, lässt du sie an der nächsten Ecke liegen? Na? Was schweigst du, Mädchen?«
»Die Strömung hat mich fortgetragen, Viktor. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe dir alle meine Kräfte überlassen.«
Viktor schwieg.
»Das ist eine Etappe. Die erste Initiation. Der Weg zur Kraft. Wenn du ihrer nicht würdig bist - kann er tödlich enden. Aber selbst wenn du ihrer würdig bist, ist die Gefahr groß. Ich habe dir geholfen, so gut ich konnte ...«
Zerstreut bewegte Tel den Finger durch den Sand und malte irgendwelche Buchstaben. »Ich hatte nie Angst vorm Schwimmen. Aber diesmal wäre ich fast ertrunken ...«, fuhr sie fort. »Du solltest die Kraft des Wassers erfahren, sie in dich aufnehmen und sie bezwingen. Nicht einfach nur den Feind abwehren, das hätte ich auch gekonnt ... du musstest das Wesen ihrer Magie erfassen. Die Grundlage der Grundlagen. Die Zielstrebigkeit der Ströme, die sich aus gebirgigen Höhen hinabstürzen; den verwegenen Flug der Regentropfen, die auf heißen Sand prasseln; das ruhige Gewicht der Ozeantiefen, die Kraft der Sturmwellen ... Und das hast du getan. Du hast es selbst getan. Aber erst musstest du gegen sie bestehen. Standhalten. Praktisch ohne über irgendetwas zu verfügen. Daher gab ich dir alles, worüber ich verfüge ... meine Widerstandskraft und eine gewisse Macht über das Feuer ...«
Sie verstummte.
»Verzeih.« Viktor setzte sich neben sie. »Tel ...«
Nein, das Mädchen weinte nicht. Sie blickte mit leeren Augen vor sich hin und schrieb wundersame Runen in den gehorsamen Sand.
»Für mich ist es auch schwer ...« Es war nicht klar, ob sie sich beklagte oder es einfach nur eingestand. »Du kannst nicht verstehen, wie schwer. Du hast wenigstens das Recht, nichts zu wissen. Ich habe geglaubt, dass du es schaffst. Damals, gleich nach dem Übergang ... habe ich dich geprüft. Du hast auf alle Kräfte angesprochen, schwach zwar - aber immerhin. Das heißt, du hast die Kraft, gegen sie zu bestehen. Nur dass es mir nicht gelingen will, mich nicht einzumischen. Das ist dumm ...«
»Tel ...« Viktor nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. Vorsichtig, wie die Wächter der Grauen Grenze eine tote
»Sag das nicht!«, erwiderte Tel streng. »Sag das niemals! Eure Welt ist nicht schlechter als unsere, und unsere ist nicht besser als die der Angeborenen. Wenn du ... anfängst so zu denken ... dann hast du nur noch einen Weg!«
»Schön, schön.« Viktor legte ihr einen Finger an die Lippen. »Ich tue es nicht mehr. Reg dich nicht auf. Ich bin verwirrt, müde und erschrocken. Deshalb rede ich solchen Unsinn. Ich suche einen Schuldigen. Ich werde es nicht mehr tun.«
Er verstummte. Tel und er blickten sich in die Augen. Es schien, als müsste er noch etwas sagen ... nein, nicht sprechen ... nur nicht den Blick abwenden ... sich verlieren in diesem bodenlosen durchsichtigen Blau ...
»Wahrscheinlich bist du schrecklich hungrig«, bemerkte Tel leise, während sie ihren Kopf aus seinen Händen löste. »Ja? Ich habe etwas zu essen mitgebracht ... ein wenig ...«
Der Zauber verging.
Viktor lachte erleichtert auf. »Du bist wirklich vorausschauend. Denn im Moment könnte ich jeden aufessen, der gerade vorbeikommt.«
»Also, ich schmecke nicht gut!«, protestierte Tel und sprang auf die Beine. »Nein, bloß nicht! Ich habe doch einen ganzen Korb Piroggen dabei.«
»Aber du hast ja gar kein rotes Käppchen auf.«
Tel verstand ihn anscheinend nicht. Sie beugte sich über den Korb, der neben dem verglimmenden Feuer stand, und Viktor begann, interessiert das andere Flussufer zu beobachten.
»Hier Piroggen mit Kartoffeln, mit Fleisch und mit Kohl ...«
»Großartig. Ich hatte schon daran gedacht, Fische zu fangen oder Algen zu probieren.«
»Ich habe mal gehört, dass ein Mann sich zwei Jahre lang von Schlamm ernährt hat ... aber wir haben so was Widerwärtiges zum Glück nicht nötig ... Das Essen ist angerichtet!«
Viktor zog sich das Hemd über den Kopf und setzte sich neben den Korb. Tel hatte die Piroggen auf einem weißen Tuch ausgebreitet und blickte ihn mit stolzer Erwartung an. Außer den Teigtaschen gab es noch eine Flasche Wein, zwei kleine Weingläser, ein in ein Wachspapier gewickeltes Stück gebratenes Fleisch und mehrere hartgekochte Eier; letztere wirkten wie ein kulinarischer Gruß des von Viktor heiß geliebten Ministeriums für Verkehrswege.
»Wein, das ist ja toll!«, sagte er. »Du bist ein kluges Mädchen, aber wozu zwei Gläser?« Der Tonfall eines strengen Vaters gelang ihm nicht.
»Weil ich auch einen Schluck trinken will.«
»Na gut, ich erlaube es dir«, stimmte Viktor eilig zu und fühlte sich wie ein umsichtiger König im Märchen. »Ich habe es jedenfalls bitter nötig. Nach dieser Geschichte am Bahnhof ...«
»Was für eine Geschichte?«
»Über mich ist noch eine Mörderbande hergefallen. Am Bahnhof von Chorsk. Ich weiß selbst nicht, wie ich davongekommen bin ...«
Tels Hand, die sie soeben nach den Gläsern ausgestreckt hatte, fing an zu zittern. »Erzähl.«
»Weißt du das etwa nicht?« Viktor war davon ausgegangen, dass Tel wie immer bestens über alle Ereignisse informiert
»Was da passiert ist, weiß ich. Ich habe mit den Gnomen gesprochen.«
»Also, sie haben mich in den Zug gesetzt, in den Weißen Adler ...«
Viktor erzählte, was ihm im Laufe der vergangenen Stunden zugestoßen war, und Tel hörte schweigend zu und wich immer länger seinem Blick aus. Er beschrieb den Wahnsinn, der den Waggon erfasst hatte, und wie sich ihm die Chance zur Rettung bot; er berichtete von dem fürchterlichen Kampf und davon, wie sich die Magier des Wassers auf die neuen Banditen gestürzt hatten, wahrscheinlich, um ihre Beute nicht teilen zu müssen. Und dann erzählte er, wie er unter Wasser geschwommen war, als er plötzlich feststellte, dass er den Atem unbegrenzt lange anhalten konnte, und wie er schließlich ans Ufer geschwommen und herausgekrochen war ... Nur von seinem Traum erzählte er nichts.
»Und hier hast du mich gefunden ...«
»Was habe ich nur angerichtet ... was habe ich angerichtet ...« Viktor sah mit Bestürzung, dass Tel weinte. »Ich bin so eine Närrin ...«
»Tel!« Viktor umarmte sie und drückte sie an seine Brust. »Na, na, na ... was ist denn, mein Mädchen ... wein doch nicht ... ich bin doch noch am Leben! Es ist alles gut!«
Sie schluchzte und klammerte sich an Viktor. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein ... das meine ich nicht ... Jetzt hast du nur noch einen Weg ... wahrscheinlich ...«
»Was redest du da, Tel?«
»Du sagst, die Leute im Zug wurden buchstäblich tollwütig?«
»Ja ... Was hat das zu bedeuten?«
Tel schwieg.
»Lass das, Tel, ich bitte dich ...«, wiederholte Viktor mit Verzweiflung in der Stimme. »Du bist der einzige Mensch in dieser Welt, der mir nahesteht.«
»Bist du sicher, dass ich ein Mensch bin?« Tel schien kurz davor zu sein, hysterisch zu werden.
»Was das angeht, bin ich mir nicht mal über mich selbst mehr im Klaren. Tel, wein nicht ...«
Das Mädchen schwieg eine Weile, ehe es wieder sprach. »In Ordnung, Viktor. Ich hör schon auf. Und ich werde mir was einfallen lassen ...« Mit einem Ruck löste sie sich, ging zum Wasser und begann sich das Gesicht zu waschen. Dann sagte sie im Befehlston: »Los jetzt, schenk mir endlich Wein ein!«