Loj Iwer streckte ihren müden Körper wohlig auf den kühlen Steinen aus, während sie auf dem Bauch liegend Wasser aus dem Bach trank. Von der Seite sah es albern aus: Eine schöne Frau in zerrissenen Kleidern lag in einer merkwürdigen, für einen Menschen unbequemen Haltung da, ihr Kinn nickte über den schnellen Wasserstrudeln auf und ab, und ihre rosa Zunge blitzte auf; die Frau warf kurze Blicke nach rechts und links, ehe sie den Kopf wieder zum Bach beugte.
Aber niemand sah Loj Iwer von der Seite. Niemand interessierte sich für die mit Dickicht bewachsene Senke, wo sie sich versteckt hielt, um sich nach ihrer Flucht vor Ritor und seinen Gefährten zu erholen. Nur eine neugierige Meise sprang von Ast zu Ast und beobachtete den unerwarteten Gast. Loj kniff die Augen zusammen, blickte zu dem Vogel hinüber und sagte: »Mi-ia-au!«
Die Meise reagierte überhaupt nicht.
Loj lachte auf und schüttelte dabei die ganze Anspannung ab, die ihr noch in den Knochen steckte. Der kluge, edle Ritor! Ha, dem hatte sie es gegeben! Ach, wie wütend der jetzt wohl war! Na ja, reg dich nicht auf, reg dich nicht auf, mein Lieber, du wirst schon noch begreifen, dass ich
»Ruhst du dich aus, Loj?«
Das Wasser im Bach geriet in Aufruhr, schwoll zu einem Hügel an. Weiße Schaumkronen deuteten Torns Haare sowie die dicken Augenbrauen an, und zwei winzige Wasserfälle seine Augen. Das verzerrte, gläserne, sich im ständigen Fluss befindliche Gesicht des Wassermagiers blickte Loj von der Oberfläche des Gewässers an.
»Esel!« Loj konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. »Du ... du hast mich erschreckt!«
Die durchsichtige Maske lachte glucksend. Die Lippen des Magiers, die aus zwei kleinen Wellen bestanden, teilten sich, und Torn spritzte Loj einen feinen Wasserstrahl mitten ins Gesicht.
»Du Kretin!« Sie hatte sich schon wieder gefasst, fuhr aber fort, sich zu empören. Sollte Torns Eitelkeit sich doch geschmeichelt fühlen. Tatsächlich hatte der Magier ja auch allen Grund, stolz zu sein, immerhin hatte er sie allein mit Hilfe des schwachen Fadens der Kraft, die sich von dem Bach speiste, aufgespürt.
»Gut, gut, nimm es mir nicht übel«, sagte Torn versöhnlich. »Es war wirklich sehr komisch, wie du dich erschreckt hast. Sonst bist du es doch immer, die sich über arme alte Magier lustig macht ...«
»Wann hab ich mich über dich lustig gemacht?«, erregte sich Loj. Sie hatte sich aufgesetzt und brachte mit leichten Bewegungen das Wasser in Aufruhr, so dass über Torns Gesicht ein stetiges Kräuseln lief, das wie Falten aussah. »Es ist nicht sehr nett von dir, schwache Frauen zu beleidigen.«
»Mach dich nicht absichtlich klein.« Torns Gesicht drehte sich, schwamm auf der Oberfläche. Er streckte seine lange dünne Zunge heraus, leckte beiläufig Lojs Knöchel und löste sich in einer Garbe glitzernder Spritzer auf. »Denk lieber an Ritor! Unser nicht mehr allzu liebenswürdiger Freund ist außer sich vor Wut und droht damit, dir das Fell über die Ohren zu ziehen.«
Also verfolgte Torn ganz genau alles, was sich ereignete! Vor Schreck wäre Loj um ein Haar vom Bach weggesprungen.
»Was ist denn mit dir?«, fragte Torn. »Du hast die Magier der Luft so geschickt getäuscht ... Ich bin begeistert! Nein, wirklich, vielen Dank! Ritor hätte um ein Haar alle meine Pläne durchkreuzt.«
Es sah ganz so aus, als meinte er es aufrichtig, und Loj nickte und nahm den Dank würdevoll entgegen. Nach kurzem Zögern fragte sie: »Torn, warum hat dein Strafkommando Viktor verfolgt? Warum haben sie in Luga versucht, ihn umzubringen?«
»Aha, du weißt also schon Bescheid«, gluckste Torn zufrieden. »Ich habe mich immer gewundert, wie der Clan der Katzen es schafft, über alles auf dem Laufenden zu sein.«
»War das ein Ablenkungsmanöver?« Loj ließ nicht locker. »Um Ritor zu verwirren?«
»Nicht nur das, Loj, nicht nur das ...« Torn versank in Nachdenken, die durchsichtige Maske sank auf den Grund des Baches, um kurz darauf wieder an der Oberfläche aufzutauchen. Das Wasser schwoll merklich an, offenbar zog die Magie alle Säfte der Quelle heran. »Schön. Du hast das Recht, gewisse Dinge zu erfahren. Der Drachentöter erlangt die Kraft im Kampf, im Duell. Der Hass im Kampf ist es, der ihn nährt und ihm die Gewalt über die Elemente verleiht. Der arme Gotor ... aber er wollte es selbst so. Er reizte den Drachentöter, trieb ihn an. Vernichtete jene, die an dessen Seite kämpften. So lange, bis der Drachentöter endlich die Kraft des Wassers annahm.«
»Das heißt, Ritor hat sich selbst geschadet?«, rief Loj aus. »Als er Viktor angriff, half er ihm, die Kraft der Luft zu erkennen?«
Torns Lippen verschwammen zu einem Lächeln.
»Du spielst klug, Torn.« Loj schüttelte den Kopf. »Du siehst weit voraus ...«
Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen, dass jemand mit solchen Fähigkeiten ab und zu auch mal zurückblicken sollte, aber die Katze schwieg wohlweislich. Sie hatte viel erfahren von dem, was sie wissen wollte. Und selbst hatte sie nichts preisgegeben.
»Jetzt wirst du herumrätseln, wie die Einzelheiten der Drachentöter-Weihen vonstatten gehen ...« Torn runzelte die Brauen. »Plag dich nicht damit. Du gehörst nicht zu den Elementaren und musst dich nicht mit überflüssigem Wissen belasten.«
»Ach ja? Und was schlägst du mir vor, was ich stattdessen machen soll?«, fragte Loj boshaft.
»Liebe, zum Beispiel.« Torn lachte lauthals.
Wie kühn er aus dieser Distanz war! Loj zerschmolz zu einem Lächeln. »Geliebter! Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich begehre! Allein schon bei der Erinnerung wird mir warm.«
»Nun ja, Wärme kann ich nicht versprechen, aber alles andere ...«
Das Wasser begann sich aufzublähen, der Grund des Baches wurde sichtbar. Auf dem sandigen Boden sprangen ängstlich Jungfische herum. Ein Gebilde aus Wasser, das Torn aufs Haar glich, stand vor Loj. In dem durchsichtigen Körper wirbelten Strudel umher, mächtige Strahlen der Bachströmung flossen durch ihn hindurch. Ein Fisch, der sich zufällig in dem sich belebenden Wasser befunden hatte, flitzte erschrocken in der Brust umher, als wollte er den Herzschlag parodieren.
Torn, besser Torns Doppelgänger, war nackt. Eine ausgezeichnete Kopie! Nur in einer Hinsicht war der Magier nicht der herben Wahrheit des Lebens gefolgt ...
»Oho ...«, war alles, was Loj sagen konnte, als sie Torn betrachtete.
»Aha«, sagte Torn selbstzufrieden. Er streckte die Hand aus und begann Loj die Reste ihres Kleids vom Leib zu ziehen.
»Hör mal, ich schätze dich wirklich außerordentlich, aber was meine Wasserliebe angeht ...«, versuchte die Katze zu protestieren. Aber der erregte Magier hörte ihre Einwände nicht, sondern fiel mit der Begeisterung eines Halbwüchsigen über sie her.
Vielleicht würde es ja ganz lustig werden!
Loj zwang sich, die Küsse der kalten, nassen Lippen zu erwidern, ließ sich folgsam ins Gras zurücksinken. Die durchsichtige Gestalt mit den männlichen Vorzügen von unerhörtem Ausmaß hing über ihr.
»Ich bin mächtig!«, schrie der Magier.
Ach ...
Die fassungslose Loj versuchte verzweifelt herauszufinden, ob es ihr gefiel oder nicht. Vielleicht, wenn man das Wasser anwärmen würde ... aber so, da konnte sie auch gleich einen Gartenschlauch nehmen ...
»Luder ...«, seufzte der Magier zärtlich und schmachtend. »Ach, Loj!«
Das Wasser in ihm wirbelte nur so, der Fisch warf sich hin und her, von der Strömung getrieben.
»Loj ...« Der Magier stöhnte.
Das durchsichtige Gesicht lächelte dümmlich, die Wasserfallaugen verengten sich. Torn begriff zu spät, dass er die Kraft nicht länger kontrollieren konnte.
»Entsch...«, gluckste er, als das Wasser, befreit von den magischen Fesseln, in einem Schwall auf Loj einstürzte.
Völlig durchnässt und am ganzen Körper mit Gänsehaut überzogen, wälzte sich Loj Iwer in einem hysterischen Lachanfall durchs Gras.
Torn, Torn ...
Wie oft würde sie noch erklären müssen, dass es nicht um die Größe ging! Nein, nein, sie würde ihm nicht sagen, dass es ihr überhaupt nicht gefallen hatte.
Im warmen Wasser, in der Badewanne, nach einem harten Arbeitstag ... bitte, da ließ sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
Aber genug gelacht, jetzt musste sie sich dringend um das arme Fischlein kümmern.
Mit dem größten Vergnügen hätte Viktor sich dem Schlaf überlassen. Der Wagen rollte vor sich hin, die Hufe des Pferdes klapperten gleichmäßig, die Holzräder ächzten, Tel
»Wow, schau nur, wie diese Kutsche vom Erdclan dahinjagt!«, sagte Wasja voller Begeisterung. »Wenn du erst Zauberin bist, wirst du auch so durch die Gegend reisen, mit Gardisten und allem Drum und Dran.«
Viktor setzte sich sogar auf und blickte der Kutsche hinterher. Er sah nichts Besonderes. Die Fenster waren dicht verhängt, und die Leibwächter erinnerten überhaupt nicht an Magier.
»Magst du Milch?«, fragte der Kutscher. »Die muss getrunken werden, sonst wird sie sauer.«
Nachdem Viktor die warme, fette Milch ohne Freude ausgetrunken hatte, legte er sich wieder hin. Es wäre so schön einzuschlafen ...
Und am Ufer unter dem Himmel, an dem keine Sonne schien, aufzuwachen? Zur Freude des Fresssacks?
Er dachte an den regelmäßigen Begleiter seiner Träume schon wie an einen richtigen Menschen. Einen, der unangenehm war, böse und zynisch, der ihm aber doch eine gewisse Achtung abnötigte. Dieser verfluchte Geheimniskrämer, was bedeuteten all diese Andeutungen und halbfertigen Sätze? Sollte Viktor vielleicht einschlafen und eine Prügelei anzetteln? Nein, daraus würde ohnehin nichts, denn in der Welt des Fresssacks ging alles nach dessen Regeln ...
Die Welt des Fresssacks, war das die Welt der Angeborenen?
An diesem Gedanken war nichts Überraschendes. Wenn seine Visionen schon nicht zufällig waren - und da war Viktor sich ziemlich sicher -, dann musste er vermutlich bei den Angeborenen nach ihrem Urheber suchen. Bei denen, vor denen sich sogar die mächtigen Magier fürchteten ...
»Und überhaupt, das sind Scheusale!«, rief Wasja plötzlich. Offenbar stritten er und Tel sich schon eine Weile.
»Und du, hast du je einen Drachen gesehen?« Viktor hob den Kopf, als er Tels Antwort hörte. Aber das Mädchen achtete nicht auf ihn. Ihre Stimme gellte vor Zorn. »Du bist ein kleiner Junge!«
Wasja erzitterte sogar. »Und du? Was bist du? Etwa eine Fallsüchtige? Als ob du einen gesehen hättest!«
»Ich ... ich weiß es!«
»Woher?« Der Kutscher lachte nervös. »Woher willst du das denn wissen? He, Vitek, was ist mit deiner Schwester los?«
»Ich weiß es!« Tels Stimme hob sich. »Die Erde erinnert sich noch an ihre Schritte, die Felsen zertrümmerten! Sie hatte Mühe, die Drachen zu tragen, denn Berge sind leichter als deren Herzen! Die Luft winselte vor Schmerz, wenn die Drachen ihre Flügel ausbreiteten! Die Wirbelstürme änderten ihre Bahn, um ihnen nicht zu begegnen! Die Meere kochten von ihrem Atem! Die Flüsse trockneten aus, wenn die Drachen ihren Durst aus ihnen stillten! In den Kratern der Vulkane wärmten sie sich! Ihre Schuppen brannten heller als die Sonne!«
Stille trat ein. Das Pferd begann zu wiehern und fiel in Trab. Benommen sah Wasja zu Tel hinüber, während er langsam auf der Kutschbank von ihr abrückte. Dann rief er
Tel lachte verächtlich. »Was denkst du, Junge?« Ihre Stimme war süß und doch scharf wie eine Rasierklinge. »Glaubst du, ich schimpfe auf die Drachen? Oh, da liegst du falsch. Völlig falsch. Sie waren der Leib der Erde und der Atem des Himmels. Ihre Seele floss in jeder Quelle, und ihr Licht vertrieb die Nacht. Der Feind wagte es nicht, die Mittelwelt anzugreifen, solange die Drachen sie beschützten. Wenn du den Flug eines Drachen am Nachthimmel gesehen hättest, Junge ... Du wärst auf die Knie gefallen, wärst zu Stein erstarrt und unfähig gewesen, den Blick abzuwenden! Und wenn der Drache mit dem Himmel verschmolzen wäre, dann wärst du nicht mehr derselbe gewesen wie zuvor. Und wenn deine Kräfte gereicht hätten ... wenn nur die Kühnheit gereicht hätte ...«
Tel lachte laut auf.
Wenn die Kräfte gereicht hätten?
Viktor nahm wahr, wie blutroter Nebel vor seinen Augen aufstieg. Tel und der Kutscher verschwammen darin, und auch der Weg und die entgegenkommende Kutsche waren nicht mehr zu sehen.
»Ja, ihr Zorn war furchtbar, Junge! Aber dafür war auch ihre Liebe heller als ein Blitz! Und die Liebe war es, die sie am Ende umbrachte! Denn die Drachen konnten nicht stärker werden als der Drachentöter, dessen Kraft allein im Hass lag!«
Blutroter, blutroter, blutroter Nebel ...
Die Welt war in eurer Gewalt. Und die Städte, die ihre Angst vor den Geflügelten Herrschern vergessen hatten, brannten. In blutroten, blutroten, blutroten Flammen ... Die Menschen
Der Augenblick der Abrechnung ist gekommen.
Es ist kein Blut, kein Feuer, sondern es wird schwarz vor Augen. Vom Leuchten der schwarzen Eisenhaut, vom Strahlen des Schwerts. Er ist stark, der letzte Drache. Der, der wahrhaftig der letzte sein wird. Er ist sehr stark, jeder seiner Schläge bringt den Tod. Aber der Drachentöter spürt keine Wunden, denn was sind Wunden für einen, dessen Fleisch aus Stein ist und dessen Seele ein eisiger Schneesturm, dessen Bewegungen schneller sind als fließendes Wasser und dessen Kraft eine versengende Flamme ist.
Wer kommt da von hinten angekrochen? Deine Freundin, letzter Drache? Lächerlich, dass sie es wagt, sich in unser Duell einzumischen! Ein Schlag mit der Flachseite, damit sie nicht stört, und das Mädchen fällt betäubt. Der Mann im schwarzen Harnisch schreit vor Wut auf - aber seine Kräfte reichen nicht mehr aus, allzu viel brodelt in seiner Seele, Liebe, Angst, Verzweiflung und erst an letzter Stelle Hass. Der Mann schreit und wendet für einen Moment den Blick ab, sieht zu der gestürzten Frau hinüber ...
Deine Zeit auf dieser Erde ist vorbei, Drache!
Ein Schlag, und der Säbel aus weißem Metall trifft die Beine des Ritters in Schwarz.
Du kannst die Flügel nicht mehr aufspannen, Drache!
Ein Schlag, und an der Klinge kocht das Blut, und das dünne Schwert fällt in den klebrigen Schmutz.
Ich nehme dir dein Leben, Drache!
Ein Schlag, und der schwarze Harnisch erzittert und gleitet wie eine Hülle vom Körper.
Für dich verlöscht das Licht, Drache!
Ein Schlag, und die hellen Haare werden dunkel, und er sieht die Augen des Drachen.
Noch ganz junge Augen.
Der Drachentöter lässt die Klinge sinken. Der Letzte der Drachen kniet vor ihm, er hat keine Kraft mehr zu stehen. Sein Leben verlässt ihn, mit jedem Herzschlag, mit jedem Atemzug.
Und doch kann er noch sprechen.
»Bist du glücklich, Drachentöter? Wärmt mein Tod deine Seele?«
Der Drachentöter rührt sich nicht. Drachen sind heimtückisch.
»Glaubst du wirklich ... man kann einen Drachen töten? Für immer töten?«
Wie langsam er stirbt. Wie viel Kraft in seinem Körper steckt - sogar jetzt, nachdem er ein Mensch geworden ist.
»Die Zeit wird kommen, Ritor. Die Zeit wird kommen, Töter der Drachen!«
Da ist eine Flamme in seinen Augen - goldene Funken, ein glitzernder Weg ins Nichts, ein Tunnel, durch den die Seele des Drachen fliegt. Sie jagt davon - weit, weit weg, und niemand kann sie einholen, niemand vermag ihren Flug zu unterbrechen. Da hilft kein Schwert, und auch nicht die Kraft der vier Elemente.
»Die Zeit wird kommen, da wirst du diesen Augenblick verfluchen. Du wirst den Drachen suchen, zur Verteidigung. Du wirst dich selbst umbringen, Ritor. Wirst töten, ohne zu begreifen, was du anrichtest. Du wirst wieder Böses tun im Namen des Guten, Ritor ...«
Ein Schwingen, und der silberne Stahl durchschneidet die Luft; wie kann sie es wagen zu prophezeien, diese erbärmliche,
Aber die Luft, die gehorsame Luft, ist ein Verräter. Und dem Drachen gelingt es, zu lächeln durch das Blut.
Durch das blutrote, blutrote, blutrote Blut ...
Der letzte Drache hatte die Mittelwelt verlassen.
Ritor, der die Weihen durchlaufen, der alle vier Elemente in sich aufgenommen hatte, ließ die Klinge sinken. Und der weiße Stahl, der das Leben der Geflügelten Herrscher getrunken hatte, zerfiel zu Staub.
So war es entschieden worden.
Der Drachentöter verliert die Kraft, wenn das letzte Opfer gestorben ist.
Nur der Hass bleibt.
Die Frau, die mit dem Drachen gekommen war, erhob sich vom Erdboden. Machte einen Schritt, fiel, kroch zum letzten der besiegten Herrscher hin. Sie war noch am Leben - denn sie war kein Drache.
Es gibt keine weiblichen Drachen!
Ritor schrie auf, als er begriff, dass er sich doch getäuscht hatte. Er hätte sie zuerst töten müssen! Was konnte er jetzt gegen sie ausrichten, so ohne Waffe, ohne die Kraft, jetzt, da auch für ihn der Regen wieder kalt und die Flamme verbrennend war. Was konnte er mit der Frau, die neben dem Körper des getöteten Drachen saß, tun?
Er drückte seine Finger an ihrem schmalen Hals zusammen. Stürzte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und drückte die Frau auf die Erde. Sie setzte sich nicht einmal zur Wehr. Sie bebte vor Schluchzen, keuchte und schnappte nach Luft, während sie in die Augen des ehemaligen Drachentöters blickte.
Ritor begriff selbst nicht, wie es geschah.
Der Hass, der in seinen Adern kochte, der Hass: Du bist schuld. Er musste die Frau besitzen, direkt neben dem Leichnam des Herrschers.
Der Regen peitschte auf ihre Körper nieder, Wolken weißen Rauches zogen von dem brennenden Wald zu ihnen herüber, als Ritor in sich die Kraft fand, ihr in die Augen zu blicken. In die gleichmäßige gelbe Flamme, die einem Drachenfeuer glich.
Töte mich, bat sie schweigend.
Geh fort ... auch er sprach in Gedanken zu ihr.
Ich kann nirgendwohin mehr gehen. Und wozu soll ich noch leben, Ritor, Drachentöter?
Sie brauchten keine Worte, der Hass verband sie stärker miteinander als die Liebe.
Jetzt kann ich dich nicht töten. Geh fort. Ich lasse dich frei. Du bist keine Gefahr für die Mittelwelt. Keine Gefahr und kein Nutzen. Geh fort. Die Andere Seite wird dich aufnehmen und zu Ende bringen, was ich begann.
Das Feuer in ihren Augen flackerte heller.
Bist du sicher, Ritor? Ganz sicher, Drachentöter?
Unser Streit ruft ein Echo in jener Welt der Menschen ohne Kraft hervor. Feuer und Tod erwarten dich am Ende des Pfades. Du wirst sowieso nicht überleben. Geh fort.
Ich weiß nicht, ob du Gutes oder Böses tust. Aber auf jeden Fall begehst du einen Fehler, Drachentöter ...
Die Frau stand auf, und zu ihren Füßen wurde der Pfad sichtbar. Ritor, der Drachentöter, erhob sich ebenfalls vom Erdboden, der von Vergewaltigung und Tod entweiht war, und die Mittelwelt lag vor ihm, befreit von den Geflügelten Herrschern.
Die Kraft hatte den Drachentöter zuerst verlassen. Jetzt verließ ihn der Hass.
Er drehte sich um und versuchte durch den Regen die Frau des letzten Drachen zu sehen. Aber nur das Gold ihrer rotblonden Haare leuchtete in der Dunkelheit auf.
In der blutroten, blutroten, blutroten Dunkelheit ...
Sie wird sich für immer in deinen Augen festsetzen, Ritor ...
»Schlag ihm auf den Kopf, na los!« Wasjas Stimme war erschrocken und aufgeregt. »Mit einem Stock, damit die Tollheit vergeht! Dann kommt er zu sich - er wird sich noch bei dir bedanken! Das tut ihm nur gut!«
»Wehe, du wagst es ...« Viktor zwang sich, die Augen zu öffnen. Noch immer schwamm blutiger Rauch vor seinen Augen, aber der Hass, jener Hass, der das Herz des Drachentöters verbrannt hatte, war verschwunden. Über ihm hingen die erschrockenen Gesichter von Tel und dem Kutscher.
»Wieso?«, wunderte sich Wasja. »Mich haben sie auch schon zigmal mit einem Stock wieder zur Besinnung gebracht, damit die Tollheit sich nicht in einem festsetzt! Das weiß man doch ... Bist du zu dir gekommen? Wirst du auch nicht rumschreien und mit Händen und Füßen um dich schlagen?«
Seine Hände zitterten noch, vom Gewicht des Säbels aus weißem Metall, von der Angst und dem Ekel, vom Duell am Rande der Welt. Viktor schob Tel beiseite, kroch zum Rand des Wagens, blickte sich kurz um und übergab sich dann in den Straßenstaub.
»Er hat sich den Magen an der Milch verdorben«, sagte Wasja mit Entschiedenheit. »Eindeutig. Außerdem hat ihm die Hitze zugesetzt, und dann musste er sich noch deine Geschichten anhören!«
Tel antwortete nicht. Sie wartete, bis Viktor sich die Lippen mit einer Handvoll Stroh abgewischt und sich entkräftet wieder hingelegt hatte.
»Ich hab schon mal gehört, dass man besser nicht über die Drachen sprechen soll!«, rief Wasja aus. »Aber ich hab es nicht geglaubt! Das nächste Mal jag ich dich vom Wagen - solche Weggefährten wie ihr zwei bringen noch Unglück!«
Ohne eine Reaktion abzuwarten und weiter vor sich hinbrummend, kletterte Wasja auf den Kutschbock. Er schnalzte mit den Zügeln und trieb das Pferd an.
»Was hast du gesehen?«, fragte Tel flüsternd. »Was?«
Viktor lag da, und noch immer strömte klebriger Schweiß aus seinen Poren. Sein Körper kam erst langsam zu sich, noch glaubte er nicht daran, dass um ihn herum ein sonniger, heiterer Tag herrschte und nicht der graue Nebel, in dem er als Drachentöter für immer mit den Geflügelten Herrschern der Mittelwelt abgerechnet hatte.
»Ich war der Drachentöter ...«
»Wieder!«
»Ich ... ich habe den letzten Drachen getötet. Es war ganz leicht. Es zerriss ihn in Stücke ... die Gier, zu kämpfen, die Angst um seine Frau, der Wunsch, sich zu rächen, und die Hoffnung zu überleben. Zu viele Emotionen, zu viele Wünsche. Und ich, ich wollte nur eines - ihn vernichten.«
»Und du hast es getan.«
In Tels Stimme lag keinerlei Spott, sie stellte nur die bloße Tatsache fest.
»Ja«, sagte Viktor im gleichen nüchternen Tonfall. »Fast ...«
»Wieso fast?«
»Ich ließ die Frau laufen, die mit ihm kam. Sie war kein Drache ... ich konnte so handeln. Aber erst ...« Viktor krümmte sich bei der Erinnerung.
»Sprich!«, forderte Tel.
»Ich habe sie vergewaltigt. Ohne jede ... ohne jede Lust. Der Hass suchte einen Ausweg.«
Ihre Blicke trafen sich. Tel schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Vorwürfe. Das warst nicht du.«
»Ja. Ritor war es. Der Magier der Luft, der auserwählt wurde und die Weihen empfing. Ritor tötete den Drachen. Aber ...« Viktor hielt den Atem an. »Aber ich ... ich bin genau so. Meine Seele ist die Seele eines Drachentöters.«
Tel schwieg.
»Du ... du hast die Drachen gelobt ...«
»Nein! Ich habe nur gesagt, wie sie wirklich waren.«
»Egal. Ein Mensch hat nicht das Recht, einen Drachen zu töten.«
»Er hat das Recht, wenn er ihm ebenbürtig ist. Ritor war das. Er hat ihn herausgefordert. Und besiegt. Es wäre eine Lüge, ihn der Niedertracht zu bezichtigen. Unrecht war, dass er die Frau laufen ließ.«
»Warum? Ich erinnere mich, was er dachte: Sie ist kein Drache.«
»Sie war die Frau eines Drachen. Und sie könnte ... die Mutter eines Drachen werden.«
Viktor schloss die Augen. »Nein, Tel. Könnte sie nicht. Das wäre nicht geschehen, verstehst du? Sie war noch nie mit jemandem zusammen - vor Ritor.«