3

Auf dem Boden zu schlafen gehörte zu den Vergnügungen der Jugend. Gegen Morgen war Viktor sich darüber endgültig im Klaren. Es war nicht so, dass ihm der Rücken oder die Hüftknochen wehtaten, aber er fühlte sich überhaupt nicht ausgeruht. Noch durch den Traum hindurch ärgerte ihn das Fehlen des Bettrandes ungeheuer. Wahrscheinlich fürchtet sich der Mensch immer, aus dem Bett zu fallen. Aber wenn diese Möglichkeit auf einmal nicht mehr gegeben ist, dann vermutet er etwas Unheilvolles.

Viktor war schon wach, hatte die Augen aber noch geschlossen und drehte sich auf den Rücken. Ja, die Pferdedecke eines Schlachtrosses wäre vermutlich bequemer als diese dünne Decke ...

Die Schabracke eines Schlachtrosses!

Er erinnerte sich an seinen Traum - augenblicklich und in aller Deutlichkeit.

Das sterbende weiße Pferd. Und seine Hand mit dem Dolch. Übel. Er hatte selten so bildhafte, bedrückende Träume. Aber gestern, nachdem Tel aufgetaucht war ...

War sie eigentlich noch da?

Viktor öffnete die Augen. Wäre die Wohnung leer, würde er Erleichterung verspüren. Selbst wenn das Mädchen das

Auf der Liege war niemand zu sehen.

Viktor erhob sich, rückte automatisch Unterhose und Hemd zurecht und lauschte. Absolute Stille. Na also, die primitivste Wende der Ereignisse hatte sich als die richtige erwiesen. Sollte er gleich mal nachschauen, ob das Geld noch da war?

Da drang ein leises Klirren aus der Küche.

Einen Augenblick lang war Viktor unentschlossen, doch dann schlüpfte er erst in seine Jeans, ehe er in die Küche hinüberging.

Tel stand am Herd. Unter der Pfanne brannte die Gasflamme. Das Mädchen kochte etwas.

Etwas sehr Merkwürdiges.

»Guten Morgen«, brachte Viktor heraus und verspürte einen Anflug von Enttäuschung. Besser, sie hätte einen Schein geklaut und ...

»Gut ist er«, stimmte Tel ihm zu, ohne sich umzudrehen. Sie hatte eine fabelhafte Selbstbeherrschung. Oder sie konnte nach hinten sehen. »Ich mache uns Frühstück.«

Viktor ging zum Herd. Er blickte düster in die Pfanne. Anscheinend war das Rührei. Mit Eierschalen. Außerdem konnte man Stücke geschmolzenen Käses, Scheiben von Wurst, kleine Brotbrocken und kümmerliche Zweiglein Dill in der Pfanne ausmachen.

»Danke.« Mehr fiel Viktor dazu nicht ein. Schließlich war das Mädchen krank.

Seine Selbstbeherrschung reichte sogar so weit, dass er anfing, ihr scheußliches Essen zu verzehren. Und seltsamerweise schmeckte es gut. Lediglich die Notwendigkeit, die Schalenstücke rauszufischen ...

»Iss alles«, sagte Tel streng. »Auch die Schale ist gesund.«

Die Situation begann ihn ganz allmählich zu belustigen. In fünf Tagen würde er diese Geschichte unter Lachen erzählen können. Und dem Mädchen sogar noch ein paar zusätzliche Absonderlichkeiten andichten.

»Ich versuche es«, versprach er.

Am meisten beunruhigte Viktor der Gedanke, dass Tel den Entschluss vom Vorabend, nach Hause zu fahren, wieder vergessen haben könnte. Wer weiß, vielleicht gefiel es ihr hier.

»Es wird Zeit.« Wieder hatte sie seinen Gedanken erraten. »Du hast versprochen, mich nach Hause zu begleiten.«

»Natürlich.« Viktor erhob sich erleichtert und gleichzeitig - da war es wieder, sein ewiges Pech! - mit einem merkwürdigen Gefühl der Kränkung. Also war er nicht einmal für so ein kleines, durchgeknalltes Mädchen interessant!

»Ich spüle das Geschirr ab, und du machst dich fertig«, erklärte Tel.

»Lass nur, ich räum später auf.«

»Das geht nicht.«

Während das Mädchen in der Küche lärmend mit dem Geschirr hantierte, suchte Viktor ein frisches Hemd aus seinem Kleiderschrank, wobei er nebenbei überprüfte, ob sich sein Geld noch in dem ach so zuverlässigen, originellen Versteck unter einem Stapel Bettlaken befand. Dann zog er noch einen dünnen Pulli über - draußen schien die Sonne.

»Bist du fertig?«, fragte Tel in forderndem Ton.

Viktor blickte sie müde an. Ein hübsches Mädchen, schöne Augen. Wenn die tatsächlich der Spiegel der Seele waren ...

»Hast du nichts vergessen?«, wollte Tel wissen.

»Wie wär’s mit Phrasen dreschen?«

Tel runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

Viktor seufzte. »Komm mal her.«

Ohne große Umstände drehte er das Mädchen zur Seite, fasste nach dem Pulli - der zu seiner Überraschung sorgfältig gestopft war, na gut, sie musste also Nadel und Faden gefunden haben - und schob ihn hoch. Die Pflaster waren verschwunden. Und die Wunde auch. Er hatte das Gefühl, verrückt zu werden, er drehte Tel zu sich - diese ließ sich gehorsam von ihm hin und her wenden.

Unsinn. Und was hatte er dann gestern mit Wasserstoffperoxid behandelt? Eine aufgemalte Wunde? Sicher. Er war doch nicht im ersten Praxisjahr!

»Tel«, sagte Viktor mit hölzerner Stimme. »Wo ist deine Wunde?«

»Zugewachsen.«

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.«

Er kannte diese sogenannten Reportagen über Extraseancen, bei denen mit Hilfe reiner Willenskraft Wunden geheilt wurden - das war was für die Zeitung. Aber was tun, wenn man es mit eigenen Augen sieht - es gab keinen Schnitt! Und es war auch nie einer da gewesen! Ihre Haut war glatt und rosig wie die eines Babys.

Viktor rückte vorsichtig von dem Mädchen weg. »Schaffst du es nicht auch allein nach Hause?«

»Du hast es doch versprochen«, sagte Tel ein wenig beleidigt.

»Na ja ... ja ...«

»Lass uns gehen.« Sie ließ sich nicht umstimmen.

»Also, was ist mit der Wunde passiert?« Er wollte es einfach wissen. War sie eine philippinische Heilerin oder so was?

»Bei mir heilt immer alles so schnell«, sagte Tel widerwillig. »Komm jetzt, ich erklär es dir, wenn wir bei mir sind, ja? Sobald wir zu Hause sind.«

Sein erster Impuls auf ihre Erklärung war, mit der Hand abzuwinken und die freche kleine Göre endlich aus der Wohnung zu werfen. Wunden heilten bei ihr also schnell, na klar! So etwas gab es gar nicht, das gab es einfach nicht! Schluss aus!

»Du hast es versprochen«, sagte Tel leise. Ihre mandelförmigen Augen, wie die einer persischen Miniatur, schlossen sich gekränkt.

Ach Gott, dieses Mädchen!

»Gehen wir.«

Bloß nicht mit einer Frau streiten, auch wenn sie erst dreizehn ist. Erst recht nicht, wenn sie erst dreizehn ist ...

Es war ein Sonntag, und dazu schien noch die Sonne. In der Metro herrschte riesiges Gedränge. Tel wurde gegen Viktor gedrückt. Und während dieser sich unwillkürlich anspannte, um sie vor dem Druck der aufgeheizten, scharf riechenden Menge abzuschirmen, nahm er plötzlich ihren eigenen Geruch wahr - rein, völlig rein, genau wie der Duft einer blühenden Kamillenwiese. In der Tiefe seines Gedächtnisses regte sich etwas: So etwas Ähnliches hatte er schon einmal wahrgenommen - im Haus von Großmutter Vera.

Woher kommst du, Tel? Du hast in der Welt von Casinos und Mercedes-Limousinen nichts verloren. Aber ebenso wenig in schmutzig-grauen, schlafenden Dörfern ...

Der Metrozug fuhr in die Schtschukinskaja-Station ein, und sie stiegen aus. Weiter ging es mit der Straßenbahn, die gemütlich vor sich hin zuckelte.

Ganz allmählich stieg Verwunderung in ihm auf. Vor ihnen erstreckte sich Wald, genauer gesagt Serebrjany Bor[2], [3] wohnten. Tel sah ganz und gar nicht wie ein Töchterchen aus einem solchen Haus aus.

»Wohin fahren wir?«

»Sei still!«, unterbrach Tel ihn ärgerlich. »Es kann sein, dass sie auf uns warten.«

Wie konnte es sein, dass sich ein erwachsener, erfahrener Mann, der schon einiges gesehen hatte, einem dreizehnjährigen, rotznasigen Mädchen unterordnete? Einen ordentlichen Klaps auf den Hintern hatte sie nötig, nicht mehr.

Dennoch verstummte Viktor aus irgendeinem Grund.

Sie kamen an einem FKK-Strand vorbei. Eine Gruppe nackter Männer hüpfte über den Sand - sie spielten Volleyball. Es war ein komisches Schauspiel, aber die vielen nackten Frauen und Kinder rundherum gaben dem Anblick eine alltägliche Note.

Viktor lag ein ironisches »Ich hoffe, wir müssen dahin« auf der Zunge, aber Tel zog schon die Augenbrauen hoch, und ihm verging die Lust, einen Witz zu machen.

Sie wanderten einen schmalen Pfad entlang, der unerhört menschenleer für einen Tag wie diesen war.

»Jetzt musst du aufpassen«, verkündete Tel. »Für sie ist es am günstigsten, wenn sie uns am Übergang erwischen. Dann gibt es keine Spuren. Weder hier noch dort. Falls etwas passiert, wirf dich zu Boden und zieh den Kopf ein. Ich werd schon allein mit ihnen fertig.«

»Hast du einen schwarzen Gürtel oder was?«, erkundigte sich Viktor. Er hatte früher mal eine Weile Karate gemacht, sicher, er war alles andere als ein Chuck Norris oder ein Bruce Lee, aber er konnte sich ganz gut verteidigen. Natürlich nur, wenn er nicht gerade zehn Mann mit Maschinengewehren gegenüberstand oder mit Schwertern.

»Sei still, bitte! Ich hab es dir doch schon mal gesagt!« Sie behandelte ihn wie eine ältere Schwester ihren kleinen begriffsstutzigen Bruder.

Der Pfad machte eine Biegung und folgte dann einem kleinen Hügel hinunter. Tel blieb stehen.

»Wenn was passiert, wirf dich auf die Erde und zieh den Kopf ein«, wiederholte sie.

»Schon gut, ich hab’s verstanden.« Viktor winkte ärgerlich ab. Das fehlte noch, dass dieser Zwerg ihn ständig belehrte.

»Neun, acht, sieben ...« Tel fing an, die Schritte zu zählen. Viktor überschlug im Geiste die Entfernung - ja, genau zehn Schritte bis zur Stelle, wo der Weg eine Kurve beschrieb und nach unten führte.

»Sechs, fünf, vier.«

Das Mädchen war ungewöhnlich, ja fast übernatürlich konzentriert. Wenn dies ein Spiel war, dann glaubte sie jedenfalls fest daran.

Plötzlich trafen ihn eiskalte Wassertropfen auf der Schulter. Automatisch blickte Viktor zum Himmel - weit und breit war keine Wolke zu sehen, der Himmel war klar, die Sonne strahlte, wie auf Bestellung.

»Lauf los«, schrie Tel. Sie packte ihn an der Hand und stürzte Hals über Kopf um die Kurve. Viktor rannte hinter ihr her.

Ein wahrer Wolkenbruch ging auf ihre Köpfe nieder, Viktor wurde dunkel vor den Augen. Über seinen Rücken liefen kalte Rinnsale. Der Wind pfiff.

»Schneller!«, kreischte Tel. Ihr Gesicht war vor Schmerz verzerrt. So völlig durchnässt hatte sie auf einen Schlag ihre ganze Rätselhaftigkeit eingebüßt. Ein ganz normales kleines Mädchen, das in einen Regenguss geraten war.

Ihre Hände tanzten über ihrem Kopf. Viktor schien es, als ob zwischen ihren Fingern mit den vergoldeten Nägeln Blitze aufzuckten.

Zum Teufel noch mal, was ging hier vor?

Sie rannten den schmalen Pfad hinunter, der augenblicklich aufgeweicht war und sich in einen Morast verwandelte. Unter Tels Füßen spritzten Wasserfontänen auf, sie sank fast bis zu den Knöcheln im Schlamm ein.

Viktor kam nicht dazu, sich darüber zu wundern, dass er selbst ganz normal laufen konnte, höchstens etwas schlitterte. Dabei wog er doch viel mehr als das Mädchen, eigentlich müsste er einsinken ...

Wegen des Regens hielt er seinen Blick vor sich auf die Erde gerichtet. Wahrscheinlich hatte er intuitiv gespürt, wann er den Kopf heben musste.

Sie waren rechts und links von ihnen aufgetaucht, acht durchnässte Figuren in ausgebleichten Trainingsanzügen, wie man sie von den Typen auf den Märkten kennt, die bei den kleinen Händlern Schutzgeld einsammeln.

»Stehen bleiben!«

Tel fasste Viktor an der Hand und zerrte ihn mit solcher Kraft hinter sich her, dass er um ein Haar hingefallen wäre.

»Lauf schneller!«, kreischte das Mädchen. Für einen Moment drehte sie sich zu ihm um - ihr Gesicht war voller Blut. Kleine, dunkelrote Tröpfchen, wie von Stecknadelstichen. Woher?

»Stehen bleiben!«, schrien mehrere Stimmen.

Zum Teufel. Viktor hätte nicht einmal mit der Möglichkeit gespielt, allein mit acht Gegnern fertigzuwerden. Er verspürte keinen Wunsch, stehen zu bleiben. Nicht den geringsten.

Sie rannten weiter. Tel, deren Gesicht sich in eine blutverschmierte Maske verwandelt hatte, gab noch immer das Tempo vor. Und wenn sie es nun nicht schafften, einfach nicht schafften - den glitschigen Abhang hinunter konnten sie nicht so schnell laufen. Wenn nun ...

Der Gedanke war so irrsinnig, dass Viktor sich gar nicht erst damit beschäftigen wollte. Er stürzte weiter, hinter Tel her, schubste sie, stieß sie in die Kniekehlen. Sie schrie empört auf, protestierte, während sie auch schon auf den Rücken in den nassen, glitschigen Dreck fiel. Neben ihr ging Viktor zu Boden.

Sie rutschten und schlitterten abwärts, den aufgequollenen, breiigen Weg hinab, immer weiter, als glitten sie die Rinne einer Wasserrutsche entlang. Hinter ihnen schrien ihre Verfolger; der Regen wurde immer stärker, schlug wie Peitschenhiebe auf sie nieder, inzwischen schoss das Wasser schon in einem reißenden Strom den Weg hinunter wie eine Schlammlawine in den Bergen. Was ging hier bloß vor sich?

Von dem Moment an, als Tel ihn auf dem noch trockenen Pfad kreischend hinter sich hergezogen hatte, funktionierte Viktor wie eine Maschine, dachte nicht nach, als ob jemand in seinem Inneren schon alles im Voraus wüsste. Oder war das am Ende auch so?

Der Himmel über ihnen war noch immer wolkenlos. Der Regen war von selbst gekommen, aus dem Nichts. Das kommt vor. Genau wie Sicherungen, die sich von selbst herausdrehen.

Seltsamerweise wurde Viktor einen völlig unpassenden, dummen Gedanken nicht los: Wie würde Tel sein unerwartetes Verhalten finden? Aus irgendeinem Grund glaubte er, dass die rasende Schlitterpartie ihnen das Leben gerettet hatte. Und dennoch ...

Er beruhigte sich erst, als er Tel lachen hörte. Fröhlich und glockenrein. Als wäre ihr Gesicht nicht blutverschmiert und ihr Körper nicht dreckstarrend. Noch in voller Fahrt fasste Viktor Tels Schulter, und es gelang ihm, sie ein wenig zu sich zu ziehen, so dass ihr Kopf geschützt war. Solange sie in dieser Brühe schlitterten, war der Schaden eher moralischer als physischer Natur, aber der erste Stein oder die erste Wurzel, die ihnen in die Quere kam, könnte das ändern.

Und dann wurde der klare, wolkenlose, hellblaue Himmel, aus dem so unpassend der Regen herabrauschte, plötzlich grau. Sie kamen vom Pfad ab und stürzten in etwas Weiches, Rieselndes, Feuchtes.

In einen gewaltigen Berg Herbstlaub.


Starr presste Loj ihre zierlichen Finger an die Schläfen. Sicher, sie konnte nicht hören, worüber Ritor und Torn sprachen. Beide Zauberer waren von einer undurchdringlichen Barriere umgeben, ohne auch nur die kleinste Beschwörungsformel benutzt zu haben. Und allein diese Tatsache konnte einem tödliche Angst machen. Der Clan der Luft achtete stets darauf, mit niemandem verfeindet zu sein. Aber der Grund dafür, dass Ritor Lojs gesellschaftliche Vergnügungen jahrelang verschmäht hatte, war sicher nicht seine Abneigung dagegen, von Angesicht zu Angesicht mit seinem Feind zusammenzutreffen. Loj war eines klar - sowohl Ritor als auch Torn waren bis zum Äußersten gegangen, riskierten alles - in einem Spiel, das keine Regeln kannte. Sie rechnete mit Mord.

»Loj! Loj, was geht hier vor?« Chor erschien neben ihr wie ein lautloser Schatten. Aber durchaus nicht im Ballanzug, sondern in der Rüstung. »Ich habe Aufklärer ausgesandt,

»Im Gegenteil, Chor. Aber wie es aussieht, werde ich mich jetzt schleunigst ans Küssen machen müssen ... Mein Lieber, sieh nicht hin, ja?« Selbst in dieser Situation war sie noch ganz sie selbst.

»Sie wollen doch nicht etwa ...« Chor stockte mitten im Satz.

»Wenn mich nicht alles täuscht, ja«, antwortete Loj. »Ich gehe jetzt zu ihnen, Chor. Und du machst die Unsrigen bereit.«

»Sollen wir sie unbemerkt aufs Korn nehmen?«, erkundigte sich Chor eifrig. Er galt als unübertroffener Meister im Nahkampf ebenso wie bei scharfen, schnellen Gefechten in der Dunkelheit, wenn man nicht wusste, wer Feind und wer Freund war. Aber wenn es darum ging, wem man aus taktischen Gründen als Erstes ein vergiftetes Pfeilchen ins Auge jagen sollte, verließ er sich voll und ganz auf Loj, die sich noch nie getäuscht hatte. Ein Kampf mit Torns erfahrenen Soldaten wäre vielleicht der Anfang vom Ende für den Clan der Katzen; aber wer hätte Chor nachsagen wollen, dass er Angst hatte?

»Bist du verrückt geworden?« Loj fasste sich an den Kopf ohne Rücksicht auf ihre kunstvolle Frisur. »Das ist auf jeden Fall eine Beleidigung. Im Gegenteil, sie dürfen uns ruhig sehen. Sie sollen begreifen, dass wir kämpfen werden. Bis zum Ende. Und ich ... ich kümmere mich jetzt um die Gäste. Ich sage dir Bescheid, was los ist. Und dann ... ich werde etwas unternehmen müssen. Nur ärgere dich nicht,

»Eines Tages werde ich sie alle erschlagen«, knurrte Chor ohnmächtig, »und zwar ganz ohne irgendwelche Magie!«

»Mach keine Dummheiten, mein Lieber.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn zart auf die Schläfe wie eine Schwester. »Bring die Unsrigen in Stellung. Und ich werde mir eine glühende Rede zurechtlegen ... nein, damit verderbe ich nur alles. Erst mal werde ich gar nichts zu unseren Gästen sagen. Verlier keine Zeit, Lieber! Und verschling mich nicht mit den Augen. Tu was!«


Ritor stand in Gedanken versunken neben dem warmen Hauptstamm, der wie ein lebendiger Körper wirkte. Zauberer unterscheiden sich dadurch von normalen Sterblichen, dass sie in jeder Situation nachdenken können. Selbst wenn ihr eigenes Leben in Gefahr ist, bedeutet das nur ein zusätzliches Thema der Reflexion ... Torn hatte keinen Scherz gemacht. Dazu war er gar nicht fähig, dieser aalglatte, erfolgreiche Anführer des Wassers, der talentierte Zauberer, der fast schon geborene Magier. Er wusste genau, was er wollte, und ging unbeirrbar auf sein Ziel zu. Wenn nötig, ohne jede Rücksicht, aber manchmal auch lavierend. Er war ganz und gar nicht der typische Bösewicht aus dem Buch, kein machtbesessener Tyrann oder etwas in der Art. Er wollte einfach die bestehende Ordnung aufrechterhalten ... oder etwa doch nicht? Warum warf Torn ihm so hartnäckig vor, dass er die Macht usurpieren wolle? Doch nicht, weil er insgeheim selbst danach strebte? Nein, Unsinn. Ritor lachte sogar auf. Viele hatten in der Vergangenheit bereits versucht, ein einziges, allumfassendes Königreich in der

Er dachte nach und hinterfragte sich augenblicklich. Wären sie wirklich nicht auf Widerstand gestoßen? Und er selbst?

Was hast du dir bloß gedacht, Torn? Hat dich die alte, allzu menschliche Eitelkeit gepackt - die dir einredete, dass alle außer dir Dummköpfe sind, dass du allein weißt, was zu tun ist?

Kaum, schließlich bist du alles andere als dumm. Oder siehst du dich als Retter der Welt? Aber selbst wenn du mich besiegst, was möglich ist - des Nachts ist meine Kraft schwach und die Kraft des Wasser stark -, selbst dann wirst du die Angeborenen nicht aufhalten können. Und das bedeutet, dass ich jetzt nicht sterben darf. Ich würde freudig mein Leben geben - sogar dir, Torn -, wenn uns das vorm Untergang bewahren würde. Aber das tut es nicht. Wenn die adlerköpfigen Schiffe aus dem Rauch hervorkommen, bleibt uns nur noch ein Ausweg - in Würde zu sterben. Und wenn die Angeborenen zu zahlreich sind, dann wird uns selbst dieser Weg versagt sein.

Das heißt, ich muss mich durchschlagen, entschied Ritor pragmatisch. Wie satt ich das habe. Es kommt mir so vor, als hätte ich jeden einzelnen Tag meines Lebens damit verbracht, mich durchzuschlagen. Und so etwas gilt dann als größte Heldentat. Ich habe mich durchgeschlagen, als das Schicksal des Drachenbezwingers nur aus diamanten funkelnden Wegen des Ruhmes und des Heldenmuts zu bestehen schien. Damals war ich jung, grausam und dumm.

Ritor umfing eine weiche Wolke warmen Duftes - Iwer war bekannt für ihre selbst gefertigten Parfums. Ein schneller Blick unter den dichten Wimpern hervor, eine kaum merkliche Drehung ihrer biegsamen Hüften, kurz aufblitzende Grübchen - was ist mit dir, Ritor? Deine Kehle ist trocken. Dein Herz hat einen Stich gespürt. Dein diebischer Blick sucht vergeblich, in den tiefen Ausschnitt des Dekolletés vorzudringen. Du siehst begierig auf ihre Beine, die bis über die Knie entblößt sind.

»Du musst dich dessen nicht schämen«, sagte Loj. Sie war ungewöhnlich ernst. »Du hast deine Kraft, und ich habe meine.« Ritor wandte mühsam den Blick ab.

»Du bist ein komischer Mensch, Ritor. Ein mächtiger Magier, der rot wird wie ein kleiner Junge, weil er auf meine Brüste schaut. Du hast schlechte Liebhaberinnen gehabt, Magier der Luft.«

»Warum sagst du so was, Loj?« Wenn sie mit Torn gemeinsame Sache machte und ihn aus der Fassung bringen wollte, würde ihr das nicht gelingen.

»Das ist es, was ich jetzt denke. Und daher sage ich es dir. Es ist sinnlos, vor einem Meister wie dir etwas verbergen zu wollen. Vielleicht hättest du nicht immer meine Katzen verschmähen sollen, Maître?«

»Was hat das für eine Bedeutung?«, fragte Ritor gleichmütig. Es würde ihr nicht gelingen, ihn zornig zu machen.

»Bedeutung hat nur eines«, sagte Iwer mit plötzlicher Schärfe, »nämlich dass du und Torn hier ein Handgemenge anzettelt. Ich pfeife darauf, weshalb ihr euch bekämpfen wollt - ihr von den Elementen seid verrannt in eure Vorurteile -, aber hier werde ich kein Blutvergießen dulden. Und ich werde nicht zulassen, dass sie dich umbringen. Torn hat zu viele von seinen Leuten mitgebracht. Das wird kein Duell, sondern eine Mordhatz. Ich möchte, dass du lebendig hier herauskommst, Ritor.«

»Warum?«, fragte der Magier kaltblütig, und Loj biss sich unwillkürlich auf die Lippe - es schien unmöglich, zu diesem Eisklotz durchzudringen. Sollte sie es etwa vor den Augen des ganzen Saals mit ihm treiben? Amüsanter Gedanke ... aber das würde Chor nicht ertragen.

»Als Mann gefällst du mir besser als Torn«, sagte sie giftig und drehte ihm den Rücken zu. Wie auch immer, sie hatte ihr Ziel erreicht. Ritor hatte seinen Zorn zügeln müssen und Kraft verloren. Sein undurchdringlicher Schutzschild hatte für einen kurzen Augenblick einen Riss bekommen. Natürlich hätten nicht einmal zehn Frauen von Lojs Klasse ihm wirklich etwas anhaben können, dennoch hatte sie etwas in Erfahrung gebracht.

Nämlich, dass es Torn war, der Ritor umbringen wollte. Und nicht umgekehrt.

Was noch zu beweisen war.


»Alles fertig, Chor.«

»Dann fangen wir an.«

Leben kam in die Nacht.

»He, ihr da!«, brüllte Chor, wobei sich seine Stimme beinahe überschlug. »Ihr Leute vom Wasser! Hört gut zu, was ich euch zu sagen habe! Kommt lieber rein zu uns, hier ist es warm, trocken und fröhlich! Wir werden ohnehin nicht zulassen, dass ihr Elementaren hier eure Rechnungen begleicht. Wir sind zehnmal mehr, und selbst wenn jeder von euch neun von uns erschlägt, so wird unser zehnter Mann ihn doch am Ende fertigmachen. Mit bloßen Händen, ohne Waffen. Na also, Degen in die Scheide? Oder wollt ihr euch schlagen ...?«

Die Dunkelheit schwieg.


»Maître Torn ...« Loj setzte sich geziert hin; sie hatte ihre Position so gewählt, dass er bequem über den Rand ihres Dekolletés spähen konnte. »Was für eine Ehre für uns ...«

»Lass doch, Loj.« Sie bemerkte, dass er sich nervös die Lippen leckte. »Seit wann bin ich für dich ›Maître‹? Einfach Torn, nur unser Ritor liebt solche offiziellen Anreden ...«

»Dann lass uns tanzen, Torn.« Graziös legte sie ihm die Hand auf die Schulter.

Der Ball der Katzen war schon voll im Gange. Die Gäste hatten sich wieder beruhigt. Zwei mächtige Magier waren auseinandergegangen, nach außen hin völlig friedlich. Keiner interessierte sich mehr für Ritor und Torn - keiner ahnte, was mit dem Clan des Feuers geschehen war, und keiner wusste, worüber die beiden Magier gesprochen hatten. Die Musik spielte auf; geschmeidig drehten sich die Paare. Über dem dichten Laub blitzten dunkelrote, silberne und hellblaue Lichter. Die Debütantin vom Clan des Wassers tanzte pausenlos.

Torn und Loj reihten sich unter die Paare. Iwers zierliche Finger legten sich sofort um den sehnigen Hals des Zauberers. Er zuckte zusammen.

»Was ist mit dir, reizende Gastgeberin?«

Loj wusste, dass sie keine Zeit verlieren durfte. Chor war bereits unterwegs, und das bedeutete, dass Torn jeden Augenblick ein Alarmsignal erhalten konnte. Und das zu übertönen würde ihr nur auf eine einzige Weise gelingen. Außerdem gehörte er nicht zu den Menschen, denen man lange etwas vormachen konnte. Nur ein zielstrebiger Vorstoß hatte Aussicht auf Erfolg, wie plump das auch aussehen würde. Im Übrigen sagte ihr ihre Erfahrung, dass Männer am leichtesten mit Plumpheiten zu gewinnen waren. »Was würdest du dazu sagen, dass die verruchte Loj allzu gerne in Erfahrung bringen möchte, wie es sich mit einem echten Magier anfühlt?« Sie betonte das Wort »echt«. Durch den dünnen Stoff des Kleides spürte sie, wie seine Handflächen augenblicklich heiß wurden. Er schluckte krampfhaft.

Noch ein kleiner Junge, dachte die Katze verächtlich. Verlangt die hohe Magie der Elemente tatsächlich so viel Kraft und Einsatz von ihren Schülern, dass für ganz normalen Sex kein Platz mehr ist?

Torns Kopf zuckte heftig auf und ab - es war nicht leicht, in dieser hektischen Bewegung ein zustimmendes Nicken zu erkennen.

»Dann lass uns gehen«, flüsterte Loj und drängte sich enger an ihn. Sie lösten sich in der Wand des Ballsaals auf.


Das kleine Kämmerchen hatte Loj extra für diese Art dringlicher Rendezvous eingerichtet. Hier herrschte Dämmerlicht. Torn stand mit hängenden Armen da und atmete schwer -

»Trau dich nur, Maître.« Sie lächelte, während sie sich mit einer einzigen Bewegung von ihrem Kleid befreite.

Er umfasste sie wie ein Ertrinkender einen Rettungsring.

»Aber, aber ...«, flüsterte sie heiser.

Der Magier verlor die Beherrschung, und das war gut so.

Torn presste sich an sie.

»Und jetzt gibst du den Deinigen den Befehl, Ritor ziehen zu lassen«, schnurrte sie zärtlich.

Stahl blitzte an Torns Kehle auf; eine Schneide ritzte in seine Haut.

»Wa-as?!« Es schien, als bräche er leblos zusammen.

»Ich möchte keine Leichen auf meinem Ball«, sagte sie scharf. »Du willst Ritor umbringen. Das werde ich nicht zulassen. Begleicht eure Rechnungen, wo ihr wollt, aber nicht auf meinem Territorium. Hast du verstanden, Torn? Sag deinen Leuten, sie sollen ihn ziehen lassen. Hörst du? Sonst, das schwöre ich dir, schneide ich dir die Kehle durch. Was dann mit mir geschieht, wirst du jedenfalls nicht mehr erfahren.« Wieder berührte sie mit der Klinge seine Kehle.

Torn krächzte.

»Schlampe.«

»Es lohnt nicht, mich zu beschimpfen«, sagte sie weich. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen. Los jetzt!«

Er zögerte einige Augenblicke lang, und Loj dachte, dass er wohl wirklich kein Feigling war.

»Gut! Du hast gewonnen ... diesmal.«

Sie spürte eine Welle der Magie.

»Fertig ...«

»Erklär mir, wie du das geschafft hast«, wollte Chor mit finsterer Miene wissen, nachdem sie sich geliebt hatten.

Loj prustete verächtlich.

»Für einen echten Magier hing er zu stark am Leben«, sagte sie. Als würde sie dem unsichtbaren Torn ins Gesicht spucken.


Die Amerikaner hatten einst eine Form der Bestrafung gekannt, die sich »Teeren und Federn« nannte. Viktor hatte sich nie erklären können, worin bei dieser Maßnahme der erzieherische Effekt lag.

Jetzt, so schien es, wurde ihm das endlich klar. Von Kopf bis Fuß über und über verschmiert mit Schlamm und übersät mit Blättern, die daran klebten, stand Viktor vor der laut lachenden Tel und wusste nicht, was er tun sollte. Lachen, weinen, Reißaus nehmen oder dieser Göre eine Ohrfeige verpassen, die ihn Gott weiß wo reingezogen hatte?

Trotz allem entschied er sich fürs Lachen. Tel sah wirklich zu albern aus. Genau wie er selbst. Viktor streckte die Hand aus und zupfte ein Blatt von der Wange des Mädchens.

»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Tel.

»Du hast doch gesagt, wenn was passiert, soll ich mich auf den Boden werfen«, sagte Viktor ungerührt. »Genau das hab ich getan.«

Tel kicherte wieder los, diesmal leiser. Viktor sah sich um.

Schönes Teufelswerk. Sie befanden sich in einem Wald, aber nicht in so einem aufgeforsteten, schmuddeligen Wäldchen am Moskauer Stadtrand, sondern in einem richtigen Wald, der an ein Gemälde Schischkins[4] erinnerte. Den Hügel, den sie runtergerutscht waren, schien es tatsächlich zu geben, aber von dem schmalen Pfad war weit und breit nichts mehr

Aber das Wichtigste war - rundherum herrschte Herbst. Wahrscheinlich noch nicht sehr weit fortgeschritten, denn es war noch nicht sonderlich kalt, aber dennoch eindeutig Herbst. Die Bäume hatten schon fast alle ihre Blätter verloren, nur in den Wipfeln war noch ein Rest von Braun und Gelb übrig geblieben.

Und es war still, vollkommen still. So wie es in der Nähe von Stränden oder in irgendwelchen öffentlichen Freizeitanlagen niemals der Fall ist. Immer findet sich ein Trottel, der glaubt, dass in ihm ein Talent zum Sänger schlummert, oder eine Gruppe junger Leute, die den Kassettenrekorder auf volle Laufstärke stellen ...

»Wo sind wir, Tel?«, wollte Viktor wissen. Es fiel ihm gar nicht ein, danach zu fragen, wo ihre seltsamen Verfolger geblieben waren. Er spürte einfach, dass sie nicht in der Nähe waren.

»Zu Hause. Bei mir.« Tel fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht und wischte das restliche Blut weg. Eine Wunde gab es nicht.

»Bei dir zu Hause?« Viktor sprach die Worte langsam, Silbe für Silbe. Nur so konnte er die klirrende Leere, die sein Bewusstsein erfasst hatte, ausfüllen. Er konnte an nichts denken. Er glaubte es nicht. Er konnte es nicht glauben.

»Ja. Du hast doch versprochen, mich nach Hause zu begleiten.«

»Und ... wo ist es jetzt, dein Haus? In Serebrjany Bor?«

»Nein.« Tel umfasste fröstelnd ihre schmalen Schultern. »Viel weiter weg.«

»Aha. Parallelwelten.« Viktor versuchte, hämisch aufzulachen, aber es gelang ihm nicht gut.

»Nenn es, wie du willst.« Tel versuchte vergeblich, sich eine dreckstarre Strähne aus dem Gesicht zu streichen. »Lass uns gehen. Nicht weit von hier ist ein kleiner See. Da können wir uns waschen.«

»Bei diesen Temperaturen?« Viktor war entsetzt.

»Sonst erfrieren wir«, sagte Tel belehrend. Jeden Moment krallte sich die Kälte mit unsichtbaren Klauen fester in ihre nasse Kleidung.

»Komm jetzt, los.« Tel zog Viktor an der Hand. Und wieder begannen sie zu laufen.

Der Herbstwald ist vielstimmig und weich. Er umhüllt dich, du verlierst dich in ihm, verschmilzt mit ihm, und schon gehst du nicht mehr, sondern du fliegst, ohne deine Beine zu spüren. So erging es Viktor nicht selten - sogar in den dürftigen, verschmutzten Wäldern der heimatlichen Moskauer Vororte. Hier drang der Wald in ihn ein, vom ersten Moment, vom ersten Atemzug an. Alles kam ihm seltsam bekannt vor, obwohl er viele Bäume nicht bestimmen konnte. Hier zum Beispiel - die Rinde war die einer Hagenbuche, die Blätter aber eindeutig vom Ahorn. Oder dieser hier - sah aus wie eine Erle, aber seine langen silbrig-goldenen Kätzchen an den Zweigen passten zu keinem ihm bekannten Baum.

Der Wald war ihm fremd ... und auch wieder nicht. Viktor hatte das Gefühl, als würde er nach endlos langer Trennung einen Bruder wiedertreffen.

Viktor und Tel rannten über den weichen Teppich aus Blättern, schlüpften durch entlaubtes Gebüsch, vorbei an Waldriesen, die vor langer Zeit umgestürzt waren und nun Platz machten für Licht, Luft und junges Grün. So ist es immer gewesen, das ist kein Grund zu trauern. Der Tod ist eine Waffe des Lebens - nichts weiter.

Bin ich betrunken oder kommt das von der Kälte?, ging es Viktor durch den Kopf. Sein Bewusstsein schwamm. Es erlosch, während es mit Tausenden von Waldstimmen verschmolz, die ihm von allen Seiten ihre Lieder zuraunten. Er konnte ihre Worte nicht verstehen ... bis aus dem Nichts plötzlich das Gesicht von Großmutter Vera vor ihm erschien. Ja! Ja, genau so waren sie durch den entlaubten Novemberwald gelaufen, den durchsichtigen, klingenden Wald, der schon bereit war, das Leichenhemd aus Schnee überzustreifen, sie waren gelaufen, nachdem Viktor in eine Schlucht gestürzt war. Der Großmutter war das silberne Medaillon, das sie immer trug, in die Schlucht gefallen. Und er hatte sich sogleich mit kindlich sorgloser Hilfsbereitschaft darangemacht, die glitschigen Abhänge hinunterzuklettern ...

Seltsam. Als ob sich alles wiederholte. Nur in ausgereifter Form, gewissermaßen eine Umdrehung weiter auf der Spirale der Herausforderungen. Auch die Großmutter hatte ihn damals als Erstes zum Baden an einen See geschleppt. Er hatte gekreischt vor Kälte und Begeisterung, während er im eiskalten Wasser umherplanschte. Und die Großmutter hatte inzwischen am Ufer ein Feuer gemacht - wo zum Glück ein ganzer Haufen Bruchholz herumlag ...

»Warum hast du nicht mit ihnen gekämpft, Viktor?«, fragte Tel im Laufen. »Warum bist du weggelaufen?«

»Ein Kampf ohne die geringste Chance eines Sieges - das ist etwas für Dummköpfe«, antwortete Viktor. Er hatte nie etwas für derartige schöne Sprüche übriggehabt, aber hier in diesem märchenhaften Herbstwald erschienen die Worte passend.

Tel nickte. Geringschätzig? Zustimmend? Oder einfach nur zur Bestätigung?

»Gleich sind wir da«, sagte sie.

Wie fand sie sich hier zurecht? Sie musste tatsächlich von hier stammen.

Und wirklich, sie gelangten an einen See, dessen Wasser stahlgrau glänzte.

»Spring rein!« Tel rannte, als hätten sie nicht gerade mindestens einen Kilometer hinter sich gebracht. »Spring sofort rein, sonst traust du dich nicht mehr!«

Sie ging mit gutem Beispiel voran und flog aus dem Lauf heraus ins Wasser.

Genauer gesagt, flog sie nicht ins Wasser, sondern sie verschmolz mit ihm, tauchte ohne jedes Plätschern und Spritzen mit dem Kopf in den See. Viktor dagegen plumpste wie ein Nilpferd hinein.

Das eiskalte Wasser, so schien ihm, brannte stärker als Feuer. Du kriegst einen Herzschlag, du Idiot, ging es Viktor reichlich spät durch den Kopf.

Aber sein Herz dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

Tel tauchte unerwartet neben ihm auf - ihr fordernder Blick heftete sich auf sein Gesicht. Plötzlich begriff Viktor, dass er keine Kälte spürte. Und auch kein Wasser. Als ob er selbst ein Teil dieses eisigkalten Sees geworden wäre - und dann verschwand das Wasser ganz, verwandelte sich in grauen nebligen Rauch, und mit einem Schlag erschien die Sonne neben ihm. Tief unten erstreckte sich die Erde - leuchtend grün, hellblau, braun.

Grimmig pumpte sein Herz das Blut durch seine Adern. Die mächtigen, angestauten Muskeln forderten einen Kampf. Seinen Körper konnte er nicht sehen - und wozu brauchte er ihn jetzt auch. Dort unten erhoben sich die Türme einer Stadt - sie wuchsen, kamen näher, er eilte ihnen entgegen, er wusste, dass man dort auf ihn wartete ...

Die Stadt war von Angst befallen. Er, der eben noch unterm Himmel gesegelt war, schritt stolz, unsichtbar durch ihre Sträßchen, die leer waren wie zu Zeiten der Seuche. Er war der Richter. Er musste hier richten. Und bestrafen, wenn nötig ...

Dann fühlte er sich plötzlich in einen Palast versetzt. Genauer gesagt, er begriff, dass die mit Mosaiken überzogenen Wände um ihn herum die Wände des Herrscherpalasts waren. Hier gab es Leute. Sie standen dicht gedrängt in einer entfernten Ecke, vermieden es, ihn anzuschauen. Ihn oder jemanden anders? Er wusste es noch immer nicht. Er konnte seinen eigenen Körper nicht sehen - wie bei einem Computerspiel. Nur dass dies kein Spiel war, und sie wussten es, und er wusste es. Zum ungezählten Mal fragte er sich verwundert und zornig, wie jene es wagen konnten, die Gesetze zu brechen, jene, die nicht die Kraft hatten, sich seinem Willen zu widersetzen, die sich nicht trauten, jetzt den Blick zu heben ...

Und dann, ob in einem letzten Anflug von Stolz oder vor schierer Angst, erhob der, der über die Stadt und ihre Leute herrschte, den Blick und sah ihn an - er lächelte. Sein Lächeln war der Tod. Das Urteil und seine Vollstreckung ...

Jetzt konnte er sich umdrehen und gehen. Diese Angst, dieser Augenblick würden für alle Zeiten reichen - sie würden es nie wieder wagen, gegen seinen Willen aufzubegehren. Oder etwa doch?

Warum war es so kalt? Rund um sie herum stand doch alles in Flammen, die Holzwände brannten, die weichen Kissen, die über dem Boden verteilt waren, brannten, und es brannten jene, die es gewagt hatten, gegen ihn aufzubegehren. Warum war es so kalt ...

Tel hatte ihn irgendwie ans Ufer gezogen. Offenbar hatte er das Bewusstsein verloren. Unterkühlung. Woher hatte sie die Kräfte dafür? Viktor schüttelte sich schwach, erhob sich auf die Ellbogen. Alles um ihn herum kam ihm falsch vor, irreal, und er wusste nicht sofort, wo er war. Der Maßstab hatte sich verändert. Im Fiebertraum war er ein Riese gewesen - oder die anderen waren Liliputaner.

Am Ufer brannte ein Feuer. Wie hatte Tel es angezündet? So nass, wie sie war, ohne einen trockenen Faden auf dem Leib, ganz zu schweigen von einem Feuerzeug oder Streichhölzern.

Erst jetzt begriff Viktor, dass er fast ganz ausgezogen war. Seine Jeans, das Hemd und alles andere dampften über dem Feuer vor sich hin. Gott sei Dank trug er wenigstens noch seine Unterhose. Das verrückte Mädchen litt jedenfalls bestimmt nicht an übertriebenen Schamgefühlen.

»So trocknen sie nicht richtig, aber was soll’s«, vernahm er ihre Stimme. »Sonst wärst du erfroren.«

»Tel ...«, begann er. Dieses Mädchen nahm sich eindeutig zu viel heraus! Auch nach allem, was geschehen war. Aber er verstand ohnehin nicht, was hier vor sich ging.

»Alles in Ordnung.« Sie hörte auf, sich ums Feuer zu kümmern, und zog sich schnell aus. Ihr eigener Pullover und die Hose baumelten jetzt neben Viktors Kleidern. Ihre Nacktheit schien ihr kein bisschen peinlich zu sein. »Du hast doch gewählt, nicht wahr?«

»Was gewählt?« Er verstand sie nicht.

Sie richtete sich auf und blickte ihm direkt in die Augen. Streng sagte sie: »Ich darf nicht wissen, was genau du gewählt hast, sag mir einfach, ob du es getan hast.«

Sein Traum kehrte zurück, für einen Moment; er erinnerte sich an die Flamme. Nur an die heiße Flamme. Gewählt?

Viktor sagte nicht »ja« - Tel verstand es von selbst. Sie nickte zufrieden und warf einen weiteren Arm voll Reisig ins Feuer. Viktor bemerkte, dass sie sich aufgekratzt hatte. Aber was machte das schon? Bei ihr heilten ja sogar größere Wunden in einer einzigen Nacht.

»Sitz nicht rum«, sagte Tel. »Du musst dich bewegen, Viktor.«

Er stellte sich die Szene vor, wie sie beide nackt um das Feuer herumhüpften, und schüttelte den Kopf. Aber Tel ließ nicht locker. »Steh auf! Los jetzt!«

Ehe Viktor reagieren konnte, hatte sie sich schon einen glimmenden Zweig aus dem Feuer gegriffen, genaugenommen eher einen Stock mit einem glutroten Ende, und versetzte ihm damit einen Hieb auf den Rücken.

»Du!« Alle Verwirrung war vergessen, und ohne zu begreifen, was er tat, sprang er auf und stürzte hinter Tel her. »Verdammt ...«

Hätte er das Mädchen in diesem Moment erwischt, hätte es einen ordentlichen Schlag abbekommen. Aber Tel zu fangen war schier unmöglich. Nach einer Minute blieb das Mädchen auf der anderen Seite des Feuers stehen und rief: »Viktor! Frieden?«

Schweigend drohte er ihr mit der Faust.

»Ich musste es tun, damit du dich bewegst und deine Durchblutung in Gang kommt«, sagte sie ernst. »Sei nicht wütend. Verzeih mir.«

»Ich kann nicht verzeihen«, sagte Viktor. Und er kam nicht mehr dazu, sich über seine eigenen bösen, pathetischen und gleichzeitig völlig aufrichtigen Worte zu wundern. Die Welt um ihn herum begann zu schwanken ...

Die Flamme ergriff ihn. Schlug, biss, brannte. Böse, unbarmherzig und gleichzeitig hilflos. Er war sowieso stärker.

Er wusste, dass er stärker war. Und immer stärker sein würde ...

»Viktor«, sagte Tel. »Viktor ...«

Er öffnete die Augen, fasste ihre Faust mit der einen Hand und griff mit der anderen Hand ins Feuer. Ohne hinzusehen, tastend, als spürte sein ganzer Körper die Flamme, zog er einen glimmenden Zweig heraus. Und schlug Tel damit leicht auf die Schulter. Das Mädchen kreischte auf und riss sich los.

»Jetzt herrscht Frieden«, sagte Viktor.

Aus irgendeinem Grund war er ganz sicher, dass Tel ihm, wenn sie gewollt hätte, ohne Probleme hätte ausweichen können.

»Ist dir jetzt warm?«, erkundigte sich Tel übergangslos und rieb sich die Schulter. »Zieh dich an, wir dürfen nicht trödeln. Vorerst haben wir die Feinde abgehängt, aber nicht für immer. Sie werden den Pfad finden. Und wir müssen bis zum Abend die Felsen erreichen.«

»Die Felsen?« Viktor lachte nervös. »Also gut, dann auf zu den Felsen. Oder in die Berge. Oder ans Meer?«

»Ans Meer kommen wir später«, sagte Tel ernst. »Erst zu den Felsen. Es ist nicht weit, aber der Weg dorthin ist schlecht. Er verläuft zu nah an der Grauen Grenze.«

Grenze! Die kannte er ... oder es schien ihm, dass er sie kannte. Sollte er Tel fragen?

Nein, er würde sie nicht ausfragen. Dieses Spiel, bei dem sie offenbar davon ausging, dass er alles wusste und verstand, während er doch in Wirklichkeit nichts wusste, hatte einen gewissen Reiz. Grenze? Also gut. Graue Grenze - umso besser.

Sie zogen sich an, wobei sie einander den Rücken zukehrten. Als ob diese Maßnahme auf einen Schlag alles auf ein sachliches Gleis bringen könnte. Viktor wrang mehr schlecht als recht das Wasser aus seiner Unterhose und zog die Jeans darüber. Die Kleidung war getrocknet, die feuchten Schuhe jedoch waren geschrumpft und saßen unbequem. Aber damit musste er sich abfinden.

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