Ritor bezahlte.
Es lag etwas Grauenhaftes darin. Noch vor kurzem hatten die Leute sich im Schmerz die Haare gerauft, vor Verzweiflung gekreischt, weinend über den Leichen ihrer Angehörigen gelegen oder einfach mit leeren Augen ins Nichts gestarrt - was schlimmer war als alles andere.
Jetzt hatte sich vor dem Dienstzimmer des Stationsvorstehers eine lebhaft diskutierende Schlange gebildet. Jeder, der herauskam, wurde neugierig ausgefragt, die Wartenden erkundigten sich nach der Summe und den Einzelheiten des Gesprächs. Einige antworteten, andere nicht, je nachdem, wie ihre seelische Verfassung und ihre Angst vor den Magiern es zuließen.
Ritor bezahlte.
»Den Ernährer, unseren Ernährer habe ich verloren ...« Eine ältere Frau knetete ein Tuch und wischte sich die Tränen damit ab. »Wovon soll ich jetzt leben? Wie soll ich die Kinder großziehen?«
»Ihr Ehemann?«, fragte Ritor leise.
Die Frau stockte. »Mein Vater ...«
»Wie alt war er?«
Auf diese Frage wollte die Leidtragende nicht antworten.
Ritor seufzte. »Und er hat eure Familie unterhalten?«
»Er war ein guter Handwerker! Stiefelmacher!« Die Frau ging sofort zum Angriff über. »Er hat nicht einen Tag ohne Arbeit gesessen!«
»Und Ihr Mann?«
»Ach, ein unglückseliger Trunkenbold ...«
Was konnte man da machen? Ritor zählte schweigend das Gold ab und reichte der Frau eine Quittung über eine nicht allzu hohe Summe. Diese schien noch zu überlegen, ob sie nicht mehr fordern sollte, aber unter Sandras eisigem Blick geriet sie in Verwirrung und verschwand eilig.
»So eine Kröte!«, fauchte Sandra, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. »Barrakuda ... soll sie sich doch von Aas ernähren ...«
»Sandra, lass das«, bat Ritor sie. »Ja, sie lügen. Sie schachern mit dem Blut ihrer Angehörigen. Aber was können wir dagegen tun? Sie abweisen? Damit es in unseren Ländern heißt, der Clan der Luft opfert seine Diener?«
»Es ist abscheulich.« Wie immer, wenn sie sehr erregt war, vergaß Sandra jeglichen Jargon. »Auf der Straße sitzen zwei Frauen, sie weinen über ihre Toten und denken nicht einmal an Geld. Und diese hier ... Leichenfledderer ...«
»Geh zu ihnen und zahl ihnen eine Entschädigung aus. Eine ordentliche Summe. Sag ihnen, dass der Clan seine treuen Diener um Verzeihung bittet.«
»Wir werden bald ganz ohne Geld dastehen ...«
»Sandra!«
Die Magierin erhob sich.
»Ich werde einen Kredit bei den Gnomen aufnehmen. Das ist nicht zu ändern. Zahl du diejenigen aus, die nichts
»Da sind noch Kinder«, sagte Sandra unwillig. »Ein Säugling und zwei kleine Mädchen. Alle Angehörigen sind umgekommen.«
»Wir nehmen sie unter die Obhut des Clans. Schick sie zum Spitzzahn. Wenn sie die Fähigkeiten dazu haben, erziehen wir sie zu Magiern. Andernfalls finden wir schon ein Plätzchen für sie.«
»Sollten wir sie nicht lieber ins Heim geben?«
»Nein, dort wachsen sie mit Hass im Herzen heran. Und bei uns voll Dankbarkeit. Ruf jetzt den Nächsten rein.«
Der Nächste aus der Schlange war ein kräftiger, solide gekleideter Bärtiger. Kein Bauer, wahrscheinlich ein Müller oder Schmied. Er verbeugte sich vor Ritor, setzte sich ohne Aufforderung hin und sagte: »Als Erstes meine Frau. Sie war nicht mehr jung, aber noch ganz hübsch und ein Wirbelwind bei der Arbeit. Sie kannte die Wirtschaft; wusste, welches Vieh welches Futter bekommt, was wo liegt ... Hundert Münzen, auf keinen Fall weniger. Die Tochter hatte ich schon als Braut versprochen ... fünfzig. Und für das verloren gegangene Vermögen dreißig, wenn’s recht ist.«
Ritor schloss verzweifelt die Augen. Mit dem größten Vergnügen hätte er den Verwandten dieses Mannes eine Entschädigung für ihn bezahlt.
Nein, nein, nein.
Es blieb ihm nichts übrig, als zu handeln, um den unangemessenen Preis zu drücken, und am Ende würde er bezahlen.
Es verstand sich von selbst, dass sie nicht nach Chorsk zurückkehrten. Tel vermutete, dass ihre Verfolger - die Magier
»Lehnsbesitz«, erklärte Tel mit wiedererlangter Sorglosigkeit. »Viele haben sich darum gestritten, aber in den letzten Jahren war die Luft dort an der Macht. Es ist kein besonderes Städtchen, aber sehr günstig gelegen. Und sie machen gute Schwerter dort. Es gibt ein Theater ...«
Sie gingen durch die Grassteppe entlang des Waldrandes und entfernten sich immer weiter vom Fluss. Tel hielt es auch nicht für zweckmäßig, zur Eisernen Route zurückzukehren, zumindest nicht im Augenblick. Denn dort würden sie Viktor als Erstes suchen. Stattdessen hatte Tel die Idee, sich zum Kanal durchzuschlagen, um von dort auf einem Lastkahn nach Süden zu fahren, und Viktor stimmte ihr ohne weiteres Nachfragen zu.
»Sehr gut, dass sie mich nicht gesehen haben«, sagte Tel. »Wunderbar. Ich werde mir was ausdenken, was dir nicht mal im Traum einfallen würde. Wir werden sie austricksen ...«
Viktors Zuversicht wuchs nicht unbedingt durch dieses Versprechen. Er wäre lieber nach seinem eigenen Willen verfahren. Aber andererseits wollte er nicht mit Tel streiten.
»Schau doch mal, wie schön!« Vor Freude jauchzend, lief das Mädchen los. »Viktor!«
Das Meer blassblauer Blumen versetzte Viktor nicht gerade in Euphorie; und es rief erst recht nicht das Verlangen in ihm wach, sich darauf plumpsen zu lassen, die Arme von sich zu strecken, mit den Fersen darauf einzuschlagen und dabei wie ein Welpe zu fiepen.
»Das ist Schollenkraut«, erklärte Tel, die sich inzwischen beruhigt hatte und Viktor lächelnd beobachtete. »Das Symbol vom Clan der Erde. Es heißt, wenn man sich auf ihm wälzt, nehmen die Kräfte zu, und das Gehen fällt leichter.«
»Wirklich?« Viktor legte sich bereitwillig neben sie.
»Natürlich nicht«, lachte Tel. »Es ist nur ein Märchen. Aber es ist trotzdem herrlich, sich so zu wälzen und auszuruhen ... Außerdem ist es ein Zeichen.«
»Was denn wieder für ein Zeichen?«
»Du hast den Angriffen zweier Elementarer Clans standgehalten. Dem des Wassers und dem der Luft. Du hast ihre Kräfte erfasst.«
»Davon merke ich nicht viel. Mir tun die Beine weh, und ich bin müde wie ein Hund.«
»Die Kräfte zu erfassen bedeutet nicht, sie zu beherrschen. Aber du hast die Weihen zweier Clans hinter dich gebracht.«
»Und ich muss noch alle anderen bestehen?«
»Ganz, wie du willst«, antwortete Tel. »Du kannst natürlich auch nach Hause zurückkehren. Du wirst sehen, der Pfad wird sich dir offenbaren. Aber zufällig liegt hier gerade das Land des Erdclans vor uns.«
»Wie wunderbar! Schon lange hat keiner mehr versucht, mich umzubringen.«
»Ja, du hast Recht«, stimmte Tel verdächtig schnell zu. »Das ist das Schwierigste für dich. Aber schau nur, das Feuer ... beherrschst du sogar ohne Initiation.«
»Na klar.« Viktor wühlte in seiner Tasche nach dem Feuerzeug und drückte mit dem Daumen auf den Anzünder. »Ich bin der Herrscher des Feuers.«
»Das heißt, nach Oros ... Oros. Ach, ich liebe diese Stadt.«
Tel setzte sich auf, brachte ihre Haare in Ordnung und blickte Viktor an, und dabei spielte ein feines trauriges Lächeln um ihre Lippen. »Ich bin sehr froh, dass ich dich getroffen habe. Die Andere Seite hat dich nicht gebrochen. Dafür müssen wir uns bei deiner Großmutter bedanken, aber du selbst bist auch ein feiner Kerl.«
»Sag mal, Tel ... als Großmutter Vera mich zwang zu springen ... und später ins eisige Wasser zu hüpfen ... was war das?«
»Eine Prüfung.«
»Wenn sie geahnt hat, wohin es mich verschlagen könnte, warum hat sie es mir dann nicht gesagt?«
»Weil dein Schicksal nur dein Schicksal ist. Aber deine Wahl triffst du selbst. Du hättest auch anders erzogen werden, was anderes lernen können. Aber wozu, da doch keiner wusste, wie dein Leben verlaufen würde? Du musstest nicht zwangsläufig hier landen. Etwa, wenn ich nicht durchgekommen wäre. Oder wenn du ein ganz anderer Mensch geworden wärst; denk doch, nur ein kleiner Schritt, und die Andere Seite hätte dich verschluckt. Es hätte schon ausgereicht, dass etwas dich bei euch hält ... ein Fädchen, eine Wurzel, ein Anker, dann hättest du nicht weggehen können.«
»Vielleicht wenn ich glücklich gewesen wäre«, flüsterte Viktor.
»Ja, sicher.«
»Aber es gefällt mir hier. Wirklich. Trotz allem.«
Der Weg zum Kanal war weit. Die Sonne stand schon tief, als Tel und Viktor ihn endlich erreichten.
Der Kanal war breit und schön anzusehen. Die Uferböschung war an manchen Stellen mit Holzbalken verstärkt; auf dem Wasser glitten breite Flöße und dicke Lastkähne
»Tel ...« Viktor konnte seine Frage nicht zurückhalten. »Wie ist das möglich ... dass sie in beide Richtungen von selbst schwimmen?«
Das Mädchen blickte nicht mal zu den Kähnen hin. »Diesen Kanal haben Wasser und Erde gemeinsam ausgehoben, Viktor. Die Magier des Wassers haben Strömungen in beide Richtungen hineingewirkt. Vorwärts und rückwärts. Und zwar so raffiniert, dass ein schwer beladener Lastkahn mit der gleichen Geschwindigkeit dahingleitet wie ein leerer. Ihre Kraft ist groß, da kann man sagen, was man will.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Was meinst du? Wir gehen zum Ufer und halten ein Schiff an. Passagiere werden gerne aufgenommen.«
Das Mädchen ging energischen Schrittes zum Rand der Uferböschung, die hier mit einer niedrigen Mauer aus Holz verstärkt war. Sie postierte sich und streckte die Hand zu einer Geste aus, wie sie auch auf der Anderen Seite bekannt war, nämlich zu einer geschlossenen Faust, aus welcher der Daumen in die Höhe ragte.
»Irgendwer wird uns schon mitnehmen«, sagte Tel.
Sie mussten nicht lange warten. Zunächst schwamm ein langes Floß vorbei, das offenbar Bauholz nach Süden transportierte; der nächste Kahn, der darauf folgte, glitt aufs Ufer zu. Er war etwas kleiner als die meisten anderen, wirkte gut in Schuss, war frisch mit brauner Farbe gestrichen und trug am Bug in dunkelroten Buchstaben den Namen Elberet.
Elberet, Elberet ... irgendwie kam ihm das bekannt vor ...
»He!«, rief jemand auf der Barke. »Springt rüber! Hier können wir nirgends festmachen, seht ihr das nicht?«
Tel hüpfte grazil an Bord. Viktor sprang als Zweiter und stellte überrascht fest, dass die Luft ihn fürsorglich unter den Armen fasste, als fürchtete sie, er könne abstürzen, obgleich zwischen der Kahnwand und dem Ufer nicht mehr als eineinhalb Meter Wasser lagen.
Aus dem niedrigen hölzernen Deckhaus achtern trat ein Mann auf sie zu. Er war groß, mit schmalen Schultern, ging etwas gebeugt, und seine langen Haare wurden über der Stirn mit einer Perlenspange zusammengehalten. Sein Gesicht war braungebrannt und wettergegerbt, und über die Schultern hatte er seltsamerweise einen langen schwarzen Mantel geworfen.
»Hallo!« Er streckte ihnen seine Hand entgegen. »Wohin wollt ihr?«
»Bis zum Ende, Kapitän«, sagte Tel mit einem bezaubernden Lächeln. »Nehmen Sie uns mit?«
»Was soll die Frage? Natürlich. Habt ihr Futter dabei? Eine Matte zum Schlafen finde ich schon für euch ...«
»Essen haben wir keines ...«, seufzte Tel.
»Drei Münzen pro Nase am Tag«, beschied ihr der Kapitän. »Wie heißt ihr? Ich bin Eleneldil.«
»Welcher Rasse gehörst du an, verehrter Eleneldil?«, fragte Tel überrascht. »Das ist doch kein menschlicher Name?«
Viktor brachte den Namen mit einem bekannten tschucktschischen Rentierzüchter[16] in Verbindung und musste lächeln.
»Na ja ... ehe ich hierherkam, war ich Nikolaj«, lachte der Kapitän.
»Warte mal«, mischte Viktor sich ein. »Was meinst du damit?«
»Ja, ja. Ich bin von der Anderen Seite. Schon mal gehört? Übrigens siehst du ...« Nikolaj-Eleneldil kniff die Augen zusammen. »Du siehst selbst so aus, als ob ... Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte Viktor, schüttelte dem Kapitän die Hand und nannte seinen Namen.
»Woher bist du?«
»Aus Moskau.«
»Aus Moskau?« Der Kapitän war aufgeregt. »Ich auch! Wo hast du gewohnt?«
»An der Elektrozawodskaja-Station.«
»Und ich an der WDNCh. Hör mal, Vitja, dein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor. Warst du nicht öfter mal mit von der Partie?«
»Wo?«, fragte Viktor verständnislos.
»Wie wo, na im Neskutschnik[17]. Da haben wir doch jeden Donnerstag abgehangen.«
Viktor schüttelte wieder verständnislos den Kopf.
»Ach was soll’s, was vorbei ist, ist vorbei ... darüber ist längst Gras gewachsen.« Der Kapitän wirkte für einen Augenblick verlegen. »Jedenfalls bist du ein Landsmann, also ... seid ihr heute meine Gäste. Kommt schon!«
Es sah ganz so aus, als wäre außer Eleneldil kein Mensch auf dem Kahn. Allerdings bewegte sich das Boot auf dem Kanal so gleichmäßig und gemächlich, dass dazu auch keine Veranlassung bestand. Der Kahn glitt von selbst vom Ufer weg und zurück ins Zentrum der Strömung.
»Es ist halt langweilig hier«, bekannte Eleneldil. »Dafür ist es keine anstrengende Arbeit, man lebt im Wohlstand ... erst recht, wenn man was Verbotenes transportiert ...« Er zwinkerte Viktor zu und flüsterte: »Ich hab im Laderaum einen ganzen Ballen Gras! Wie steht’s, rauchst du nicht gern mal was?«
Viktor fühlte sich wie ein zufälliger Zuschauer in einem absurden Theaterstück und schüttelte nur den Kopf.
»Verdammt, was bist du für ein rechtschaffener Kerl! Und deine Freundin? Wie heißt du?«
»Tel.«
»Bist du von hier?«
»Voll und ganz.«
»Das ist gut. Lass deinen Kerl nicht hängen, hilf ihm, sich hier einzugewöhnen ...«
Sie gingen hinter dem Kapitän ins Deckhaus. Man sah auf einen Blick, dass nur eine Person darin lebte, und zwar ein Faulpelz und dazu noch ein Mann.
Auf dem Tisch lagen angebissene Äpfel, schmierige, fleckige Karten, leere Teller, Instrumente, Zigarettenkippen, Wattebäusche - wozu nur? -, Holzstücke in seltsamen Formen, Reste getrockneten Fisches, klebrige Gläser mit trüben Bierresten.
Vor dem Fenster, das zum Bug ging, ragte ein kleines Handrad aus dem Boden. Jetzt begann es sich langsam und quietschend zu drehen und verursachte ein Schaukeln des Schiffbugs. Die Handgriffe des Steuerrads, die einmal lackiert gewesen waren, sahen so aus, als drückte jemand ständig seine Zigaretten auf ihnen aus.
In der Ecke türmte sich ein Berg Kleidung, dem Aussehen nach teils sauber, teils dreckig und zerknüllt. Oben auf den Hemden und Socken lag einsam ein Büstenhalter.
»Gestern hatte ich Gesellschaft«, sagte Eleneldil kein bisschen verlegen. »Hab ein Mädchen kennengelernt ...« Er zwinkerte Viktor zu. »Hab sogar bedauert, dass ich verheiratet bin!«
Tels Gegenwart hinderte ihn nicht daran, über seine Liebesabenteuer zu erzählen.
»Aber es lief nicht so ... hab also dieses Mädchen aufgegabelt, dachte, ich verkürz mir den Abend. Das war vielleicht
»Rada?«, rief Viktor aus.
»Ja, Rada war ihr Name ... Warum bleiben die hübschen Mädchen nicht zu Hause? Irgendwoher kriegen sie ein Schwert ... na toll! ... und schon spazieren sie los auf der Suche nach Abenteuern.«
Also saß Konams Tochter mitnichten in ihrem gemütlichen Restaurant! Am Ende war Viktor selbst schuld daran - vielleicht hatte er ihre Seele in Unruhe versetzt.
»Wenn du willst, kann ich hier für Ordnung sorgen«, bot Tel an. Das Gespräch über Rada schien ihr ganz und gar nicht zu behagen.
»So was lob ich mir!« Das Gesicht des Kapitäns erhellte sich, und er lächelte. »Nein wirklich, das ist gut! Tel, du bist ein Herzchen. Wenn Viktor dich nicht gut behandelt, dann kommst du zu mir! Wir Männer bleiben derweil an Deck, um dich nicht zu stören ...«
Er ergriff ein kleines Holzfässchen, das am Boden stand, und wollte die Kajüte verlassen.
»Erst bringt ihr mir zwei Eimer Wasser, einen Besen und Lappen«, kommandierte Tel.
»Wasser bring ich gleich ... aber Lappen ...«
Tel beugte sich schweigend über den Kleiderhaufen. »Willst du das noch tragen?«
Der Kapitän strich sich über das Kinn, während er das an vielen Stellen durchgescheuerte Hemd voller Ölfarbe und Risse studierte. »Nun ja, vermutlich nicht ... na ja, nimm es! Was man für Sauberkeit nicht alles opfert!«
Erst zehn Minuten später, nachdem sie Wasser geholt und den Tisch sowie das schmale Bett in die Mitte des Zimmers gerückt hatten, durften sie zurück an Deck gehen. Sich vorsichtig umsehend, schüttelte der Kapitän den Kopf. »Nein, ich bin natürlich für Hygiene und so ... aber das ist schon übertrieben ... Und, wollen wir was trinken?«
Sie machten es sich am Bug des Schiffes bequem. Aus der Kajüte drang ungeheurer Lärm, Rumpeln und unzufriedenes Knurren; es waren ganz sicher nicht die Geräusche, die man von einem zierlichen Mädchen erwartet hätte, vielmehr klang es nach einem Zug betrunkener Soldaten, die ein Nonnenkloster gestürmt hatten und dort ein Gelage veranstalteten.
Viktor nickte. Er hatte das Bedürfnis, das Glas abzuspülen, aber nicht unbedingt mit Kanalwasser, denn dort hinein hatte sich soeben ein älterer Gnom mit verschlagenem Gesicht von einem entgegenkommenden Kahn aus erleichtert.
Zum Glück erwies sich das Bier als stark, sättigend und schmackhaft, obwohl es reichlich warm war. Sie stießen an und tranken aus.
»Darf ich dich Nikolaj nennen?«, fragte Viktor.
»Na klar.« Leichten Herzens stimmte Eleneldil zu. »Nur nicht Nik ... das hasse ich ...«
Er schenkte die Gläser wieder voll. »Es ist schön hier, nicht wahr?«
»Ja, nicht schlecht«, antwortete Viktor vorsichtig.
»Bist du schon lange da?«
»Drei Tage.«
»Oh! Darauf müssen wir trinken.«
Aus irgendeinem Grund hatte Viktor das Gefühl, dass auch eine Frist von einer Woche oder einem Monat diese
»Und du, Kolja?«
»Fast drei Jahre ...« Nikolaj knöpfte den Mantel auf, und erst jetzt begriff Viktor, warum der Kapitän ihn überge zogen hatte; darunter trug er nichts als weite Boxershorts. »Ach ... ich schaffe es einfach nicht, braun zu werden. Immer hocke ich nur in der Kajüte. Willst du?«
Er zog einige selbstgedrehte Zigaretten aus der Manteltasche und hielt Viktor eine davon hin.
»Nein, danke.«
»Selbst schuld ...« Nikolaj zündete eine Zigarette an und sog gierig an ihr. Süßlicher Rauch von Marihuana machte sich breit.
»Und wie geht’s dir ... hier?«, fragte Viktor.
»Was meinst du?«
»Wie lebst du so? Hast du kein Heimweh?«
»Das fehlt gerade noch.« Nikolaj schnaubte. »Wenn du es genau wissen willst, ich habe immer von einem solchen Leben geträumt! Diese Andere Seite ... hing mir dermaßen zum Hals raus! Glaub mir, um in diese Welt zu kommen, hätte ich mein Leben aufs Spiel gesetzt.«
»Ernsthaft?«
»Jep! Was hatte ich da verloren? Ich hab als Programmierer gearbeitet und mir die Augen am Bildschirm ruiniert. Nur mit der Seele konnte ich entkommen - ich habe Fantasy-Romane gelesen oder mit den Jungs Rollenspiele im Wald veranstaltet ... Und weißt du, was? Ich habe nie auch nur im Geringsten daran gezweifelt, dass es eine solche Welt tatsächlich gibt! Eine echte Welt! Mit Elfen, Gnomen, Magiern!«
»Dann hast du ja richtig Glück gehabt ...«
Nikolaj schenkte wieder Bier ein. »Und wie! Und du, sag schon, hast du nie davon geträumt, hier zu landen?«
»Nein. Fantasy habe ich höchstens gelesen, wenn ich nichts anderes hatte. Und an Elfen habe ich auch nicht geglaubt. Tut mir leid.«
»Seltsam.« Nikolaj schüttelte den Kopf. »Normalerweise tauchen vor allem Leute hier auf, die auf der Anderen Seite nicht so richtig klarkommen! Irgendwas in dir hat dich hergezogen. Du hast dein Glück nur noch nicht begriffen!«
Viktor zuckte mit den Schultern. Tel tauchte aus der Kajüte auf und blickte missbilligend zu ihnen herüber, ehe sie einen Eimer Schmutzwasser über Bord kippte.
»Nein, ich bin froh. Sehr froh sogar«, fuhr Nikolaj fort. »Ich hab damals zusammen mit Stepka, einem Kumpel, richtig gutes Gras gekauft ...« Wieder zwinkerte er Viktor zu, als wollte er ihn dazu auffordern, endlich vernünftig zu werden und sich ihm anzuschließen. »Wir haben uns jeder eine Tüte gedreht ... Stepka konnte Tüten drehen, du glaubst es nicht, bei ihm steckte eine ganze Philosophie dahinter. Und dann ging es ab ... ich weiß noch, dass Stepka Lieder sang, solche ... eso... exot... exoterischen Lieder ... seit ich die ganzen schlauen Wörter nicht mehr benutze, vergesse ich sie allmählich ... Dann haben wir uns noch einen Joint reingezogen und noch einen. Irgendwas drängte mich dazu, ihm meine geheimsten Wünsche zu offenbaren. Ich weiß noch, ich hab ihm die ganze Zeit davon erzählt, wie gerne ich in einer echten Welt leben würde! Dann hab ich mich auf den Heimweg gemacht, musste mich vor den Bullen verstecken ... bin in einen Graben gefallen ... na, du weißt ja, wie das wirkt, wenn man zu viel von dem Zeug raucht ... du siehst einen Mast da stehen und lächelst ihn an, denn er ist dein bester Freund! Jedenfalls hab ich mich
Er schwieg eine Weile und sog gierig an seinem Zigarettenstummel. Schließlich beendete er seine Geschichte.
»Nein, ich habe wirklich Glück gehabt! Pures Glück! Die ersten Tage dachte ich, dass ich auf einem Trip wäre, einfach Hallus hätte. Ich habe drauf gewartet, dass einer der Gnome sich in einen Arzt mit Spritze verwandelt und mir erzählt, wie sie mir den Magen ausgepumpt haben. Aber ich hab trotzdem versucht, mich einzuleben. Und irgendwann hab ich kapiert, dass das hier alles echt ist. Was meinst du, wie ich mich gefreut habe!«
»Und was hast du dann getan?«
»Na ja, zuerst habe ich ein Elfenlager aufgesucht. Sie nehmen nicht gerne Menschen auf, aber ich habe sie regelrecht angebettelt ... ich habe ihnen erklärt, dass ich immer davon geträumt habe ... Zwei Monate habe ich bei ihnen verbracht ...« Nikolajs Stimme klang plötzlich wütend. »Aber diese Schweine, diese erstgeborenen, die ganze Drecksarbeit haben sie auf mich abgewälzt! Ich musste Holz hacken, die Zelte saubermachen, ihre Kräuter sortieren, waschen ... Ich hab es wirklich lange ausgehalten. Und abends, wenn die Elfen zur Laute greifen, wenn sie ihre Lieder singen - über Berge und Meere und darüber, wie der Wind singt und die Sterne flüstern ... dann legst du dich in ihre Nähe - ans Feuer darfst du nicht, denn sie sagen, dass wir Menschen riechen - du liegst so da und träumst ... Aber dann ... als ich anfing, einer Elfe den Hof zu machen ... da haben sie mich davongejagt, einfach so. Die Schweine!«
Viktor nickte mitfühlend.
»Also habe ich mir überlegt, was ich noch machen könnte. Ich wollte Soldat werden oder Magier oder was anderes, aber dann tauchte dieser Kahn auf ... ich hatte ein ganz ordentliches Kapital ... Willst du immer noch kein Zigarettchen?«
»Nein, danke.«
»Na, dann genehmige ich mir noch eins ... Wie gesagt, Kapital hatte ich ... denn diese Schweine ist ihre Dreistigkeit teuer zu stehen gekommen. Erst wurde ich Teilhaber, später hab ich den Kahn dann ganz übernommen. Man kennt das ja, ich diente in der Flotte, und da musste ich überhaupt nichts tun. Vor einem Jahr habe ich mich endgültig niedergelassen. Ich hab ein Haus hingestellt! Ein anständiges Holzhaus, mit einem Wellblechdach und einem Ölofen nach Gnombauart. Ich habe eine Kuh - das ist der Hit! Fünf Schweine, eine Ziege. Und geheiratet habe ich auch. Ein ordentliches Frauchen; sie ist zwar Witwe und hat einen Jungen, aber das macht nichts, ich liebe Kinder. Und Haus und Hof sind immer in Ordnung. Das Bier hier ... hat sie selbst gebraut. Und, schmeckt es dir?«
»Sehr gut«, antwortete Viktor. Er begann das hausgemachte Gebräu, das er auf den Wein getrunken hatte, allmählich zu spüren. In seinem Kopf dröhnte es, aber nicht nur das. Er ging zur Bordwand und folgte dem Beispiel des Gnoms.
»So leben wir, ohne uns zu plagen«, fasste Nikolaj zusammen. »Ich hab schon überlegt, einen zweiten Kahn zu kaufen. Wenn du willst, stell ich dich als Kapitän an. Gewissermaßen über Beziehungen ... Hast du dir schon überlegt, was du machen willst?«
»Bei mir ist offenbar schon alles festgelegt«, sagte Viktor, ohne auf Einzelheiten einzugehen.
»Nun ja, wenn sich das Mädelchen da um dich kümmert ...« Nikolaj kniff zufrieden die Augen zusammen. »Das ist gut so, ganz ausgezeichnet. Aber denk dran, ich bin immer bereit, einem Landsmann zu helfen.«
Der Kahn trieb langsam auf eine Brücke zu. Entweder kreuzte an dieser Stelle die Route der Gnome oder eine andere Trasse, das war vom Wasser aus nicht zu erkennen. Am Ufer standen, wie es Brauch war, ein Wachhäuschen, und neben einem melancholisch aussehenden, gesattelten Pferd ragte ein Wächtergnom mit einer Armbrust über der Schulter empor. Viktor winkte ihm freudig zu. Aber Nikolaj schien diese Sympathie nicht zu teilen. Er beobachtete den Gnom mit finsterem Blick, hieb ärgerlich mit der Faust aufs Holzdeck und heulte auf, weil er sich offenbar wehgetan hatte. »Zum Teufel mit ihnen ...«
Viktor hatte keine Ahnung, womit die Gnome der Brückenwache den Kapitän des Kahns so erzürnt hatten. Und er fragte auch nicht. Vielleicht hatten sie Abgaben verlangt. Ein ganzer Zug kleiner Boote kam ihnen entgegen. Sie waren mit weißen Marmorbrocken und Holz beladen. Das Leben in der Mittelwelt brodelte und kochte, es wurden Schlösser und Serails gebaut, dem Leben waren die Unstimmigkeiten zwischen Nikolaj und den berittenen Armbrustschützen völlig gleichgültig.
»Nein, es gibt keine Vollkommenheit auf der Welt, nein ...« Der zweite Joint hatte den Kapitän philosophisch gestimmt. »›Ach ... wenn wundersame Feen unter der Knute der eisernen Blumen stöhnen ...‹«
Viktor wurde unruhig. Wenn der betrunkene Nikolaj jetzt anfing, Gedichte zu rezitieren, würde er das Weite suchen
»He, ihr Trunkenbolde! Kommt! Der Stall ist sauber!«
»Da hast du einen tollen Fang gemacht«, sagte Nikolaj wohlwollend. »Dünn ist sie, und jung, aber sie arbeitet gut. Nein wirklich, da kann ich dir nur gratulieren!«
Im Deckhaus herrschten wahrhaftig Ordnung und Sauberkeit. Tel hatte sogar die Fenster geputzt, und die Sonne, die allmählich am Horizont unterging, spiegelte sich im frisch geschrubbten Boden. Auf dem gescheuerten Tisch stand in einem ausgespülten Glas ein Blumenstängel Schollenkraut. Wann hatte Tel das gepflückt?
»Mann ...« Nikolaj öffnete die Arme. Wahrscheinlich hegte er wie alle echten Faulpelze eine zarte, platonische Liebe für Sauberkeit. »Lass dich umarmen, Mädchen!«
Zu Viktors Überraschung ließ sich Tel vom Kapitän bereitwillig einen nicht allzu väterlichen Kuss auf die Backe drücken. Aus den Augenwinkeln blickte sie zu Viktor hinüber, der sich verärgert abwandte.
»Gut, jetzt bin ich an der Reihe!«, erklärte Nikolaj. Er öffnete den Schrank, stieß einen Pfiff aus - auch da drin war offenbar Ordnung gemacht worden - und holte verschiedene Tüten hervor. »Speck ... vom eigenen Keiler übrigens! Gürkchen, Tomätchen ... ein Hühnchen ... das ich gestern in Chorsk gekauft habe, also noch frisch, aber das muss gegessen werden ... Liköre habe ich keine, tut mir leid, aber Bier und Wodka gibt es genug.«
Gemeinsam deckten die drei den Tisch, und wenig später saßen sie beim Abendbrot. Viktor genehmigte sich noch ein weiteres Glas Bier - das, wie ihm schwante, vermutlich eines zu viel war, denn er fühlte sich ohnehin schon ganz schwer vom Essen und Trinken.
»Du möchtest bestimmt gern wissen, was sich zu Hause so tut?«, fragte er Nikolaj.
»Zu Hause? Na was schon, da ist alles in Ordnung. Meine Frau besorgt den Haushalt, und der Kleine füttert wahrscheinlich gerade die Schweine ...«
»Ich meine auf der Anderen Seite.«
»Ach ... auf der Anderen Seite ...« Nikolaj stürzte noch ein Glas Bier hinunter. »Na, ich weiß nicht. Wozu denn? Zurückkehren würde ich ohnehin nicht, selbst wenn ich könnte. Über meine Verwandten weißt du nichts ... Es wird ja wohl kein Krieg herrschen, oder?«
»Nein.«
»Und sonst?« Der Kapitän dachte nach. »Ist sonst ... irgendwas Interessantes passiert? Haben sie fliegende Untertassen gefangen oder ein Medikament gegen Aids gefunden oder ...«
Er versank wieder in Nachdenken, ehe er mit der Hand abwinkte. »Eigentlich möchte ich nichts wissen, Vitja. Ich will mich nicht mal dran erinnern! Und das rate ich dir auch: Vergiss die Andere Seite einfach! Das hier ist unser Leben! Zum Warmen Ufer bringen wir Weizen und Fleisch, von dort holen wir Fisch und Wein. Die Natur ist voller Wohlgerüche! Die Mädchen ...«, er zwinkerte Tel zu, die ihn zur Antwort anlächelte, »sind verspielt und wunderbar! Bier kostet nur ein paar Groschen! Wenn du krank wirst, gehst du zu einem Magier, der hilft dir besser als jeder Arzt! Wenn es dich zur Zivilisation zieht, dann musst du dich in der Nähe der Eisernen Route niederlassen; von den Gnomen bekommst du heißes Wasser und sogar Elektrizität. Ich zum Beispiel habe vor, ein geheiztes Klo einzubauen. Wenn das kein Paradies ist? Na?«
»Soweit ich weiß, gibt es hier Kriege«, bemerkte Viktor.
»Ha! Kriege! Jedenfalls weniger als bei uns! Und die Steuern sind, wenn man sich auskennt, völlig human. Und dass ein Bulle ... mit einem Gummiknüppel ...« Nikolaj seufzte auf. »Niemals! Nicht mal die Elfen ... auch wenn sie Mistkerle sind. Ganz egal. Und seit ich vermögend bin, heuere ich sie einfach ab und zu mal an. Dann kommen sie mit ihren Lauten und Schalmeien, setzen sich in den Garten und singen. Und ich mach es mir auf der Veranda gemütlich und lass mir Bier und Speck schmecken!«
Sie saßen noch eine halbe Stunde so da. Nikolaj schenkte sich fleißig Bier ein und malte Viktor die Vorzüge der Mittelwelt in allen Farben aus. Tel lächelte nur spöttisch. Viktor selbst schwieg die meiste Zeit.
Dieser Kerl, sein Landsmann, hatte irgendwie etwas Trauriges an sich.
Nein, wenn er wirklich den Elfenfrauen nachgestellt hätte, oder mit den Gnomen auf der »Eisernen« arbeiten würde oder versuchte, ein Magier zu werden ... Wahrscheinlich könnte sich Viktor dann für ihn freuen. Aber diese Art, seine Träume zu verwirklichen, indem man eine Elfentruppe anheuerte und beim Bier ihrer Musik lauschte ... Bedeutete das am Ende, dass alle, die von der Anderen Seite in die Mittelwelt gelangten, bei Tageslicht besehen längst nicht so begeistert von Zauberei und Wunderwerken waren, wie sie selbst es immer geglaubt hatten? Es war eine Sache, sich eine Welt voller Magier vorzustellen, aber eine ganz andere, wenn man versuchen wollte, in ihr zu leben.
»Na schön, ich glaube, wir müssen jetzt schlafen gehen«, sagte Viktor. »Benötigen wir hier an Bord Nachtwachen?«
»Nichts da!« Nikolaj klopfte auf das Bierfässchen. »Ich stelle nur das Steuerrad fest, die Strömung trägt uns sowieso von selbst ... die ganze Arbeit besteht darin, aufzupassen, dass wir nirgends leckschlagen. Komm, trinken wir noch eins?«
Viktor schüttelte den Kopf.
»Na, dann haut euch aufs Ohr. Ich geb euch noch’ne Matte ...« Leicht schwankend stand der Kapitän auf und holte eine eng zusammengerollte Bastmatte aus dem Schrank; nach kurzem Zögern legte er noch eine schmutzige Wolldecke obendrauf. »Was ich hab, das geb ich gern ... na, macht es euch auf Deck bequem ...«
»Danke dir.« Insgeheim hegte Viktor die Befürchtung, dass Nikolaj Tel vorschlagen würde, mit ihm die Kajüte zu teilen. »Wir sind da vorne am Bug, ja?«
»Fallt nur nicht ins Wasser. Ich werd noch ein wenig hier sitzen.«
Als sie schon in der Tür waren, rief Nikolaj ihnen noch hinterher: »Wenn ihr nicht schlafen könnt, kommt einfach zurück ...«
Viktor war nicht ganz klar, an wen dieses indirekte Angebot in erster Linie gerichtet war. In der immer dichter werdenden Dunkelheit rollte er die Bastmatte an Deck aus. Sie versprach keinen besonderen Komfort, aber immerhin ... Er zog Jacke und Pullover aus, rollte sie zusammen und legte sie auf das eine Ende der Matte.
»Statt Kissen.«
»Mhm.« Tel setzte sich auf den Rand der Matte und streckte die Beine aus. »Ich bin wirklich müde. Danke. Ich hatte schon Angst, dass du bis zum Morgen mit diesem ... Nikolaj sitzen würdest ...«
Viktor lachte. »Warum, hat er dir nicht gefallen?«
»Ein Schmutzfink«, sagte Tel verächtlich. »Und ein Saufbold.«
»Warum hast du dich dann von ihm küssen lassen?« Viktor konnte sich die Frage nicht verkneifen.
Tel lachte. Dann fragte sie lauernd: »Bist du eifersüchtig?«
Viktor schnappte nach Luft vor Empörung. »Was? Tel ... also ... du bist ... nicht so ganz mein Geschmack, und außerdem ... bist du noch zu jung.«
»Was heißt, nicht dein Geschmack?«
»Ich bevorzuge blonde Frauen.«
»Puh ...« Tel schüttelte den Kopf. »Wie gewöhnlich. Ich dachte, du hättest mehr Stil.«
»Das geht dich nichts an ...« Viktor schwieg eine Weile und blickte verlegen zu Tel hinüber. Dann lächelte er. »Schon gut. Ich gebe mich geschlagen! Tel, mir war es wirklich unangenehm, dass dieser Kapitän dich immer so wohlgefällig angesehen hat.«
»Du bist eifersüchtig«, seufzte das Mädchen. »Heißt das, dass ich Chancen bei dir habe? Wenn ich älter bin und mir die Haare färben lasse?«
»Das hängt von deinem Benehmen ab.«
»Ich werde mich sehr anstrengen«, sagte Tel in einem Ton, der wenig Anlass zur Hoffnung gab. Sie streckte sich auf der Matte aus und schob sich Viktors Pullover und die eigenen Handflächen unter den Kopf.
Ein Kahn kam ihnen entgegen - bauchig und mit einem niedrigen Aufbau am Bug. Daneben standen ein Junge und ein Mädchen ... vermutlich nur wenig älter als Tel. Der Junge winkte zu ihnen hinüber.
Viktor machte leise »Hm« und winkte unsicher zurück. Er folgte dem Kahn mit seinen Augen und wunderte sich erneut darüber, wie genau voneinander abgegrenzt die gegenläufigen
»Ich würde wohl nicht darauf bestehen, dass du dir die Haare färbst«, sagte Viktor. »Hörst du mich, Tel?«
Tel hatte den Kopf in das improvisierte Kissen gedrückt und schlummerte friedlich. Viktor seufzte, deckte sie mit der Decke zu und stand noch eine Weile neben ihr. Das Mädchen musste wirklich erschöpft sein, dass es so schnell eingeschlummert war. Und er hatte sich wie ein egoistischer Klotz benommen und sie nicht einmal gefragt, wie es ihr ergangen war, wie sie ihn am Fluss gefunden hatte ...
Er streckte sich auf dem freien Rand der Matte aus und starrte lange mit geöffneten Augen in den Himmel, der inzwischen in einem Sternengewirr explodierte, und auf die Kronen der Bäume, die entlang des Flussufers in die Höhe ragten. Er lauschte dem Plätschern der Wellen. Was trieb ihn vorwärts? Was suchte er in Oros? Und wozu brauchte er die Clans und ihre Magier? Könnte er nicht doch hier irgendwo ein Plätzchen finden und sich niederlassen? Was war denn eigentlich so schlimm an Nikolajs Weg? Morgen würde er Tel sagen, dass er nirgendwohin mehr reisen wollte. Er würde beim nächsten Städtchen von Bord gehen. Er verfügte über gewisse Kräfte und würde sich schon zu wehren wissen, falls ihm noch mal eine Gruppe verrückter Magier an die Kehle wollte ...
Nachdem er diesen beruhigenden Entschluss gefasst hatte, schlief Viktor ein.
Das Merkwürdigste war, dass er schon gänzlich aufgehört hatte, sich über irgendwas zu wundern. Ein weiteres Mal befand er sich inmitten der durchsichtigen Berge, des violetten Walds und der verkohlten Überreste des Laboratoriums.
»Wieder erwischt«, sagte Viktor. »He, Scheusal, du hast mich wieder erwischt ...«
Den dreisten Dickwanst für die Wiederholung seiner Träume verantwortlich zu machen war natürlich dumm. Beim ersten Mal hatte der jedenfalls ganz sicher nichts damit zu tun gehabt und sich selbst über Viktors Besuch gewundert. Aber jetzt wurde Viktor den Gedanken nicht mehr los, dass jede beliebige Handlung seinerseits dem Fresssack zur Belustigung diente.
»He«, schrie er. »Scheusal! Diesmal will ich nichts mit dir zu tun haben!«
Der Wald schwieg und ebenso die grau gewordenen Ruinen des Gebäudes (hatte es hier geregnet oder was?); nur die Wellen antworteten mit zustimmendem Rollen, und der Wind erfasste seine Worte und trug sie in die Ferne.
»Gute Nacht!«, wünschte Viktor den unsichtbaren Beobachtern. Er ging ein Stück weg vom Ufer, zu einer trockenen Stelle, legte sich hin und schlief ein.
Zum zweiten Mal. Und er wunderte sich nicht einmal darüber, dass man im Traum einschlafen konnte.
Diesmal wirkte Ritor die Zauberformel allein. Sie erforderte nicht viel Kraft, denn der Drachentöter konnte nicht weit gekommen sein. Der Magier war auf das flache Dach des Bahnhofs geklettert, wo er jetzt mit halb geschlossenen Augen saß und spürte, wie sich eine unsichtbare Windspirale
Nur zwanzig Kilometer entfernt von der Stadt stieß er auf die Spur. Ritor knirschte vor Zorn mit den Zähnen, als er feststellte, wie nahe der Drachentöter war. Was für eine Dreistigkeit! Er hatte sich nicht einmal bemüht fortzukommen ... sondern war ans Ufer geschwommen und hatte sich schlafen gelegt.
Während das unsichtbare Windgeflecht gehorsam die Erde, das Wasser und den Himmel abtastete, wartete Ritor. Der Drachentöter sollte es spüren ... Leider hatte dieser durch sein Bestehen im Kampf gegen Ritor und die übrigen Magier nun auch die Weihe der Luft erhalten. Der halbe Weg lag bereits hinter dem Drachentöter. Es blieben noch die Erde und das Feuer. Die Erde würde ihm, wie es aussah, keine besonderen Schwierigkeiten bereiten, aber um das Feuer würde er sich kümmern müssen. Das Feuer würde ihn nicht einfach so ziehen lassen. Sobald sie Wassermagie spürten ... würden sie um jeden Preis versuchen ihn umzubringen. Obgleich, auch dort in Oros war das Meer zur Hand. Wer weiß, vielleicht würde er entwischen.
Ach, ihr Großen Kräfte, wie dringend bräuchten wir jetzt den Clan des Feuers, dachte Ritor. Wenn zwei Elemente zusammen ... wenn noch ein Feuermagier an meiner Seite wäre, dann könnte der den Angriff des Wassers auf sich ziehen ... und ich würde diesen nichtswürdigen Halunken endlich vernichten.
Ritor hatte keinen Zweifel mehr daran, dass der Drachentöter genau das war, ein nichtswürdiger Halunke; ganz sicher war er kein unglückseliger Mensch, der sich in sein
Aber nachträgliches Lamentieren brachte ihn nicht weiter. Der Plan des Drachentöters war einfach und wirksam. Er musste noch die Weihen zweier Clans durchlaufen, die des Feuers und die der Erde, und zwar weit im Süden, am Warmen Ufer. Wenn er der Route folgte, wäre er ein bis zwei Tage unterwegs. Jetzt reiste er vermutlich auf dem Kanal, dort gab es genug Schiffsverkehr, und die Flößer und Kapitäne der Frachtkähne nahmen gerne Passagiere auf. Drei Tage würde der Drachentöter brauchen, um sein Ziel zu erreichen.
Sollte Ritor einen Boten zum Clan der Erde schicken? Das würde wohl kaum etwas nützen, denn die Geflügelten Herrscher, die Drachen, waren dort zutiefst verhasst. Der Clan des Feuers war noch geschwächt von dem verheerenden Anschlag, den er vor kurzem erlitten hatte. Ritor hatte also keine andere Wahl, er würde den Drachentöter verfolgen müssen in der Hoffnung, ihn einzuholen, ehe dieser die Besitzungen des Erdclans erreichte.
Aufsteigen und hinfliegen, ohne Rücksicht auf die eigenen Kräfte? Das wäre möglich ... sie könnten die Stunde ihrer Größten Kraft abwarten und zu dritt, mit Sandra und Asmund, mit aller Macht zuschlagen. Aber dann würde der Drachentöter einfach in den Kanal springen, und Ritors Macht endete an der Grenze zwischen Luft und Wasser. Nein, das war keine Lösung. Es blieb nur ein Ausweg, sie
Sie hatten etwas Zeit gewonnen. Der Donnerpfeil würde das Warme Ufer innerhalb eines Tages erreichen, so dass sie wenigstens noch zwei Tage für die Vorbereitungen übrig hatten. Mehr als genug.
Schüttle deine Zweifel ab, Ritor. Dein Weg ist der einzig richtige. Du verfügst über das, was jetzt am wichtigsten ist - Erfahrung. Du bist dem Drachentöter mehrere Schritte voraus; ein zweites Unglück wird, ja, kann nicht geschehen. So wenig, wie ein Apfel, der sich vom Baum löst, ohne Hilfe von Magie in die Höhe fliegen kann.
Es war an der Zeit zurückzukehren; sollte Sandra die armen Kinder mitnehmen, die durch die Schuld des Drachentöters zu Waisen geworden waren. Die Erschütterung durch das Grauen und den Hass hatte die Kinder möglicherweise verändert ... vor allem den Säugling, denn Kleinkinder waren besonders sensibel. Vielleicht würde er zu einem mächtigen Magier heranwachsen, immerhin war er auf dem Territorium der Luft gezeugt und geboren worden.
Ritor kletterte vom Dach.
Der Bahnhof war mit schneller Hand schon wieder halbwegs in Ordnung gebracht worden. Den zertrümmerten Waggon hatte man auf ein Abstellgleis geschoben, die Toten waren fortgebracht, die Verletzten in ein Krankenhaus transportiert worden; die Blutflecken auf dem Bahnsteig hatte man mit frischem Sand bestreut. Ritors Truppe saß finster wie eine Trauergesellschaft im Wartesaal »Nur für Magier«.
Sandra hielt den im Schlaf schmatzenden Säugling in den Armen. Asmund war es schon gelungen, die Mädchen
Sogar Erik und Kevin hatten ihre übliche Maske des kalten Gleichmuts und der Verachtung abgelegt. Ihre Jungen hielten sich besser. Im Alter von zwölf empfindet man den Tod noch nicht so stark. Vor allem den von Fremden. Und besonders, wenn er im Kampf eintritt.
»Wir kehren um«, sagte Ritor ohne Vorrede. »Der Drachentöter wird auf dem Kanal reisen. Dort können wir uns seiner nicht bemächtigen. Er hat jetzt nur ein Ziel, er will nach Süden, zum Clan der Erde und von dort zum Feuer. Wir müssen ihn überholen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Wir müssen ihm eine Falle stellen. Und zwar an einer Stelle ... wo keine Menschen sind.«
Alle schwiegen. Warteten darauf, dass er weitersprach.
»Ich werde Hilfe anfordern. Von unserem Clan und vom Clan des Feuers. Das ist unsere letzte Chance, eine weitere bekommen wir nicht. Wenn er erst drei Weihen hinter sich hat ... verbleibt dem Drachentöter nur noch ganz wenig. Das heißt, es darf nichts schiefgehen, haben das alle verstanden? Kevin, Erik? Beim nächsten Mal soll euch nichts ablenken. Wir werden uns um seinen Schutzwall kümmern. Und töten müsst ihr ihn.«
Kevins Wange zuckte. Sein Auge war schon wieder in Ordnung.
»Es wird schwer sein, dieses Schwein zu erwischen. Erik und ich schaffen das nicht allein.«
»Wie viele Paare benötigt ihr?«, fragte Ritor ruhig, obwohl er innerlich erstarrte. Wenn Kevin schon zugab, dass er etwas nicht allein vermochte ...
»Mindestens vier, besser fünf«, sprang ihm Erik unerwartet bei.
»Also fordern wir sieben an«, fasste Ritor ungerührt zusammen.
»Jonathan, Randor, Ben, Jerome, Bert, Avel, Blade«, zählte Erik mit gemessener Stimme auf.
Ja, das waren die Allerbesten.
»Und wer bleibt dann beim Clan?«
»Die beiden Jungen, die vor kurzem dazugestoßen sind, Danka und sein jüngerer Bruder[18]. Sie zählen für vier, nur in die Magie wurden sie noch nicht eingeführt, dafür ist es noch zu früh«, erklärte Kevin.
»In Ordnung«, nickte Ritor.
Es würde eine blutige Angelegenheit werden. Nur wenige würden nach Hause zurückkehren. Aber das war nicht von Bedeutung. Die Älteren kannten ihre Pflicht. Und sie würden sie ihren Partnern erklären.
Loj Iwer dachte nach. Sie saß bequem da und stützte ihr Kinn auf die verschränkten Finger ihrer Hände; auf dem Tisch vor ihr lagen runde, hölzerne Spielmarken in verschiedenen Farben.
Folgendes hatte sich ergeben: Ritor wartete auf den Drachen. Torn wollte ihn vernichten ... und nicht nur ihn, sondern beide, den Drachen samt Ritor. Zu alledem kam noch die drohende Invasion der Angeborenen hinzu. So weit, so gut. Und wenn man dann noch die Berichte der Kundschafter berücksichtigte ...
Bereits zwölf Stunden nach dem Kampf am Bahnhof von Chorsk war Loj von den dortigen Vorfällen in Kenntnis gesetzt worden. Und jetzt saß sie da, konnte nicht schlafen und wendete die Neuigkeiten hin und her.
Noch davor waren die Nachrichten vom Zusammenstoß am Bahnhof in Luga und über die Ereignisse an der Brücke eingetroffen. Ihre Spionage funktionierte wieder gut ...
Noch mal eins nach dem anderen. Also, Chorsk. Nehmen wir ein paar Marken, und stellen wir die Situation mal nach. Ritor, Sandra und der neue Magierjunge - wo war eigentlich die alte Garde abgeblieben, Solli, Eduljus und die Brüder Gaj und Roj? -, diese drei jedenfalls versuchten einen gewissen Mann, der vor kurzem von der Anderen Seite gekommen war, zu töten. Der Magier Gotor und ein weiterer Magier vom Strafkommando des Wassers mischten sich in den Kampf ein und mussten dabei ihr Leben lassen.
Die Nachrichten waren dürftig. Aber Loj presste aus ihnen heraus, was sie vermochte.
Der Mann von der Anderen Seite, um dessentwillen Ritor seinerseits selbst mit einem regelrechten Todeskommando im Schlepptau ausgezogen war und seinen Clan sich selbst überlassen hatte, dieser Mann konnte niemand anderes sein als der potenzielle Drachentöter, der noch nicht alle seine Weihen erhalten hatte. Es war klar, warum Gotor sich in den Kampf eingemischt hatte, er hatte den Mord abwenden wollen.
Aber warum war dann derselbe Magier des Wassers mit seinem Gefolge zu einem früheren Zeitpunkt über den Mann hergefallen? Warum versuchten sie ihn in Luga zu töten? Wenn er doch der Drachentöter war, jener Mensch, den Gotor schützen sollte ... was er ja zu guter Letzt auch getan hatte ... aber erst als dieser durch Ritor bedroht wurde. Bis dahin aber, so schien es, hatte Gotor selbst ganz ernsthaft versucht, den Mann zu töten.
Loj hielt es nicht mehr aus und sprang auf. Hier verbarg sich etwas ... etwas unvorstellbar Wichtiges ...
Die einfachste Erklärung war, dass Gotor den Drachentöter angegriffen hatte, um Ritor abzulenken. Dafür sprach auch, dass es zu dem Zeitpunkt noch sehr viel einfacher hätte sein müssen, den Kerl zu töten als jetzt, da dieser immerhin zwei Weihen durchlaufen hatte. Ja, das war möglich. Ritor hatte von den Angriffen erfahren, er hatte sich vergewissert und war zu dem Schluss gekommen, dass Torn ihn nur täuschen wollte; er hatte über die unbeholfene Schläue gelacht und war selbst in den Kampf gezogen.
So ergab es Sinn. Und dennoch ... irgendetwas ließ Loj keine Ruhe; es wirkte alles schon zu logisch.
Sicher, sogar sie selbst, als Oberhaupt der Katzen, war nicht vertraut mit den Geheimnissen der Weihen. Das ärgerte sie, ja, es machte sie wütend, denn Loj war es nicht gewöhnt, im Dunkeln zu tappen. Aber etwas anderes blieb ihr im Moment nicht übrig. Sie würde es riskieren müssen. Und zwar allein, ihr Clan sollte nicht mit hineingezogen werden.
Die graue Spielmarke des Katzenclans lag etwas abseits, in der Nähe der Gruppe der Luft. So war die Aufstellung ...
Es war ein Leichtes gewesen, Torn zu erobern. Ritor war ein anderes Kaliber. Bei ihm würde sie nicht mit primitiven Tricks zum Ziel kommen. Genaugenommen hatte Loj noch nicht entschieden, wen sie in diesem Krieg unterstützen würde. Sich neutral zu verhalten und im Abseits zu bleiben würde ihr diesmal kaum glücken; man konnte von Torn halten, was man wollte, aber er war ein außergewöhnlich starker Magier. Und wenn er eine bevorstehende Invasion der Angeborenen prophezeite, dann konnte man sicher sein, dass dem auch so war.
Aber wenn die Angeborenen vom Erschaffenen Drachen angeführt würden ...
Loj zog fröstelnd die Schultern hoch. Über ein derart grauenvolles Szenario wollte sie nicht einmal nachdenken. Und was, wenn es Ritor auch noch gelänge, den Drachentöter umzubringen? Dann wären die Clans am Warmen Ufer praktisch chancenlos. Sie hatten nur die Wahl zwischen einem heroischen Tod oder einer Flucht nach Norden in der schwachen Hoffnung, ihr Leben um ein paar Jahre zu verlängern ...
Nein, dazu würde es mit den Angeborenen nicht kommen. Die würden weder am Warmen Ufer noch am Singenden Wald, nicht in den Steppen und den nördlichen Wäldern und auch nicht an der Grauen Grenze haltmachen: Sie würden erst haltmachen, wenn sie sich der ganzen Welt bis zum letzten Sandkörnchen bemächtigt hatten. Es war sinnlos, sich mit falschen Hoffnungen zu trösten.
War es am Ende ein Fehler gewesen, dass sie Torn an dem Mord an Ritor gehindert hatte? Hatte sie selbst dem grauenvollen unbesiegbaren Ungeheuer von der Bruchstelle der Welten den Weg zum Warmen Ufer gebahnt?
Nein, sagte sie sich. Ihre Intuition hatte sie noch nie im Stich gelassen. Und auf was hätte sie sich sonst verlassen sollen, da sie doch über keine Informationen verfügte? Diese Intuition hatte Loj früher nie getäuscht, und das war gewiss auch dieses Mal nicht der Fall. Ritor war kein Hasardeur. Er würde sich nicht selbst der einzigen Hoffnung auf einen Sieg berauben.
Das heißt, genaugenommen hatte er ja noch eine andere ...
Die Rückkehr des alten Drachen.
In einer Ecke des Tisches hatte Loj eine hellblaue Marke platziert - hellblau für die Magier des Wassers; nun warf sie eine weitere zwischen die Marke des Wassers und die
Loj biss sich auf Lippen. Bloß nicht abergläubisch werden! Was war nur mit ihr los? Wollte sie ihr Schicksal etwa orakeln? Ausgerechnet mit den bunten Spielmarken, die Chor und seine Katzen als Spielgeld beim Kartenspiel benutzten?
Ganz sicher nicht! Ob die goldene Marke jetzt hochkant stand oder von einer Seite zur anderen kippelte, das war ihr egal.
Ritor hegte jedenfalls keinen Zweifel daran, dass sie die Invasion der Angeborenen nur mit Hilfe des Drachen überstehen würden. Und Ritor hatte viel Erfahrung - vermutlich war er der erfahrenste Magier am Warmen Ufer. Er war bereit, die Existenz seines Clans aufs Spiel zu setzen, Hunderte, sogar Tausende von Menschenleben, damit der Drache zurückkehrte.
Und damit jener nicht von einem vollendeten Drachentöter, der alle Weihen bestanden hatte, empfangen würde.
Aber was würden sie mit dem Drachen anfangen, wenn sie den Angriff der Angeborenen mit seiner Hilfe abgewehrt hatten? Wie sahen Ritors Pläne für diesen Zeitpunkt aus? Würden die Geflügelten Herrscher wieder herrschen? Würde es wieder Beschränkungen der Magie, grimmige Gesetze und schwere Tribute und Abgaben geben?
Nein, danke. Davon hatten sie genug. Für immer genug. Nicht umsonst hatten damals alle Clans Ritor geholfen ... dem Einzigen, dem zuzutrauen war, dass er die schwierige Aufgabe des Drachentöters erfüllen konnte.
Loj konnte ein wütendes Fauchen nicht unterdrücken. Es gab keinen Ausweg, so oder so sah es schlecht aus. Grimmig [19], holst du sie nicht mehr zurück.
Vermutlich zum ersten Mal überhaupt befand Loj sich in einer Situation, in der sie selbst keine eindeutige Entscheidung zu treffen vermochte. Bisher hatte sie sich nur um die Interessen ihres Clans kümmern müssen, um seinen Schutz. Sie hatte zusehen müssen, dass sie nicht in irgendwelche Streitereien verwickelt wurden. Dieses Mal fiel ihr offensichtlich die Aufgabe zu, zu entscheiden, wer die besseren Chancen hatte, Ritor oder Torn. Die Waagschalen schwankten noch in einem fragilen Gleichgewicht, aber die kleinste Zugabe auf der einen oder anderen Seite würde den endgültigen Ausschlag geben. Würde Loj Iwer sich in den Kampf einschalten, oder würde sie es, wie sonst auch, den Gegnern überlassen, ihre Verhältnisse unter sich zu klären?
Ganz sicher hätte sie noch bis vor kurzem nach dem Grundsatz gehandelt: »Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte.« Nicht so diesmal. Ritors Befürchtungen durfte sie nicht ignorieren.
Ebenso wenig wie Torns Überzeugung, dass die Clans allein, ohne Drachen, gegen die Invasoren bestehen konnten. Sie würden nur erst den feindlichen Drachen töten müssen ... und zusätzlich auch noch den anderen, wenn es diesem dann tatsächlich einfallen sollte, in der Mittelwelt zu erscheinen ...
Loj spürte, dass sie immer verwirrter wurde. Früher half ihr in solchen Situationen immer harmloser, unangestrengter Sex. Jetzt verursachte ihr schon der Gedanke daran Übelkeit.
Der Drachentöter ... Wie schade, dass sie so wenig über seine Entstehung wusste. Eifersüchtig hüteten die Elementaren dieses Geheimnis.
Und daraus ließ sich ein simpler Schluss ziehen. Sie musste den zukünftigen Drachentöter aufsuchen und mit ihm reden. Sie musste ihn aushorchen, vorsichtig - immerhin war sie eine Magierin ersten Ranges, wenn auch nur eines totemistischen Clans. Vielleicht konnte sie dann eine Entscheidung treffen.
Schließlich war es ja nicht zwangsläufig so, dass der Drachentöter alle Drachen tötete. Oder dass er sie sofort tötete. Vielleicht würde er das erst später tun.
Chor würde sehr unzufrieden sein, aber da war nichts zu machen.
Sie traf keine langen Vorbereitungen.
Den Drachentöter aufzuspüren würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten. Vermutlich führte man ihn auf dem Kanal in Richtung Süden. Das hieß, dass sie ihn dort abfangen konnte. Auf dem Kanal würde Ritor sich nicht zum Angriff entschließen, denn das war Territorium des Wassers. Aber das Wasser war dem Clan der Katzen jetzt nicht feindlich gesinnt.
Als sie den Raum verließ, knallte Loj die Tür so wütend hinter sich zu, dass die goldene Marke auf dem Tisch in Bewegung geriet. Sie rollte über die Platte, kippte und lag da ... aber es war niemand da, um nachzusehen, auf welcher Seite sie gelandet war.
»Ihr bleibt hier«, befahl Ritor. »Ich mache mich auf zum Clan des Feuers. Ich werde hinfliegen. Für den Zug reicht die Zeit nicht. Sandra, Asmund, das Wichtigste ist, dass euch der Drachentöter nicht entwischt. Ihr unternehmt nichts,
»Mach dir keine Sorgen, Ritor, uns wird nicht das kleinste Fischchen durchs Netz gehen«, versprach die Zauberin finster.
Die Stunde der größten Kraft war nah, gehorsam füllte der Wind die unsichtbaren Flügel und hob Ritor in die Lüfte.
Die Besitzungen des Feuerclans lagen am südlichen Rand des Warmen Ufers. Oros war eine nicht allzu große Stadt, die eingezwängt zwischen Bergen und Meer lag; nicht einmal den arbeitsamen Gnomen war es gelungen, ihre Route bis dorthin zu verlegen, sie brach unmittelbar an der Grenze zum Territorium der Luft ab. Zur Sicherheit flog Ritor einen weiten Bogen um die Gegend von Stopolje.
Das zärtliche Meer spülte träge über das sanft ansteigende felsige Ufer. Dunkles Grün immergrüner Zypressen und das Geflecht schon entlaubter Äste bestimmten die Landschaft - der Clan des Feuers liebte das Grün; ihre Stadt ertrank in Blumen, und sogar im Winter blühten in ihren Orangerien wundersame Pflanzen, die sie aus der fernen Heimat mitgebracht hatten und bis zum heutigen Tag sorgsam hegten und pflegten.
Der Clan des Feuers verfügte über die mächtigste aller Kriegsmagien und verzichtete daher stolz auf jede Form der Befestigung. Es gab keine Stadtmauern, keine Gräben, keine Bastionen. Aber seit vielen Jahren und durch viele Kriege hindurch war es niemandem je gelungen, sich ihres Hortes
Von oben erblickte der Magier die sauberen weißen Häuschen mit ihren Ziegeldächern und die geraden Gassen; alles magische Wirken und Werk des Clans verbargen sich tief unter der Erde. An der Oberfläche sah man nur, was der Clan nicht zu verlieren fürchtete.
Der Clan des Feuers unterhielt nicht einmal einen Markt. Das Umland, das man den felsigen Bergen mühevoll abgerungen hatte, war hübschen Dörfern sowie Gärten und undurchdringlichen Pflanzendickichten vorbehalten; was man fürs Leben benötigte, wurde übers Meer oder einen schmalen Gebirgspass herangeschafft. Das Feuer war ungeheuer reich, denn seine Lehensbesitzungen zogen sich weit bis ins Landesinnere. Es gab alles im Überfluss. Allerdings, jetzt nach den jüngsten Verlusten ...
Das einzige hohe Bauwerk in Oros war ein Wachturm; alle anderen Gebäude, sogar die Magierschule, waren niedrig und hinter Bäumen verborgen; die üppige Vegetation wurde aus Aquädukten versorgt, die man eigens aus den Bergen hinunter verlegt hatte.
Ritor verbarg sich nicht, und die Wächter des Feuers bemerkten ihn schon von weitem. Auf der hohen Spitze des Leuchtturms, auf dem für immer die Unauslöschbare Flamme brannte, erschien ein Signalgeber. Eine lange Zunge grünlichen Feuers schoss hoch in die Luft, fast bis zu den Wolken, und zeigte an, dass der Weg offen war.
Ritor schalt sich selbst, dass er dem Clan des Feuers in der Hetze der letzten Tage keinen Besuch abgestattet hatte.
Verdammtes Misstrauen. Wie viele Leben waren um seinetwillen schon vergeudet worden, und wie viele würden noch vergeudet werden!
Das grüne Feuer bedeutete auch den unmissverständlichen Befehl zu landen und auf jegliche Magie zu verzichten, sobald seine Füße den Boden berührten. Andernfalls würde er als Feind betrachtet werden, mit allen Konsequenzen.
Ritor gehorchte selbstverständlich.
Die ordentlichen Häuschen, eines wie das andere, trugen schwarze Trauerflaggen. Der Clan trauerte um seine ermordeten Angehörigen.
Der Magier der Luft spürte mehrere Dutzend Formeln, die auf ihn gerichtet waren. Der Clan des Feuers war bereit, alles in den Kampf zu werfen, was er besaß.
Der kleine, von Zypressen gesäumte Platz am Stadtrand war leer. Ritor stand ruhig da und tat keinen Schritt. Der Clan des Feuers hatte allen Grund, ihm zu misstrauen. Üblicherweise hätte ein solcher Besuch lange Vorgespräche, möglicherweise über einen Vermittler, etwa die Katzen, erfordert; aber die Zeit war knapp und ließ solche Umstände nicht zu.
»Bleib stehen, Ritor, rühr dich nicht«, befahl eine Stimme hinter den Zypressen.
»Habt ihr wirklich noch nicht herausgefunden, was passiert ist, Siward?«, fragte Ritor den unsichtbaren Magier.
»Das meiste haben wir herausgefunden, Ritor«, antwortete der Zauberer des Feuers. »Torn zählt schon seine Verluste, und ich schwöre dir bei der Unauslöschbaren Flamme, dass er das noch lange Zeit tun wird. Wir haben die Leichname gefunden. Unsere und eure. Aber es ist trotzdem noch allerhand im Unklaren. Vielleicht hattest du dich mit Torn abgesprochen ... und er ist dir dann in den Rücken gefallen. Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht sollten wir das nicht auf der Straße besprechen, Siward.«
»Auch Nawacho hatte es nicht eilig, mit dir das Brot zu brechen, Drachentöter.«
»Das ist lange her, Siward. Die Zeiten haben sich geändert. Nawacho und ich wollten etwas anderes besprechen. Aber solche Gespräche führt man besser unter einem Dach.«
Eine Zeit lang herrschte Schweigen unter den Zypressen. Ritor hätte die hinter den Bäumen verborgenen Männer leicht sichtbar machen können, aber er untersagte sich jede Form der Magie, zu seinem eigenen Besten.
»In Ordnung. Nawacho und die Alten sind tot. Ich werde für sie entscheiden müssen, und natürlich kennen wir längst noch nicht alle Einzelheiten«, sagte der junge Zauberer schließlich.
»Wohin gehen wir, ehrwürdiger Siward?«, fragte Ritor höflich.
Ja, es war nicht leicht für den Clan des Feuers, jetzt, da nur Siward übrig war und die Rolle der Alten übernehmen musste. Er war ein guter Zauberer, aber er war erst im zweiten Rang. Das bedeutete, für ihren Kampf blieben nur Magier des dritten und vierten Ranges ... nicht besonders ermutigend. Nawacho, Ogastes, Ripli - alle waren sie ermordet
»Hast du den Weg vergessen, Ritor?« Siward konnte sich die Frage nicht verkneifen.
»Nein, Siward. Ich wollte dir nur keinen Anlass geben, dich zu ärgern.«
»Spar dir deine Mätzchen«, gab der junge Magier wütend zurück. »Lass uns gehen. Sag, was du von uns willst - denn ich bin ziemlich sicher, dass du nicht gekommen bist, um über Vergangenes zu reden.«
»Da hast du Recht, Siward.«
Ritor lehnte es ab, zunächst eine Mahlzeit zu sich zu nehmen und sich von der Reise auszuruhen. Es mussten unverzüglich Entscheidungen getroffen werden.
Der Rat des Feuerclans war merklich ausgedünnt. Die alten Magier waren ermordet worden und mit ihnen auch eine ganze Reihe jüngerer, die in ihrem Gefolge mitgereist waren. Ebenso der Hauptmann des Strafkommandos und der beste Giftmischer des Clans; alle waren sie dort im Hinterhalt des Wassers umgekommen.
Man konnte sehen, dass sich Siward, der hoch gewachsene, schwarzäugige, schwarzlockige Kerl, der die Mädchenherzen höher schlagen ließ, im Grunde ziemlich verloren fühlte, obwohl er sich bemühte, das hinter wilder Kühnheit zu verbergen. Ohne es zu wollen, war er gezwungen gewesen, die Verantwortung zu übernehmen.
Der Ratssaal des Feuers hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem bescheidenen Raum von Ritors Clan. Der Clan des Feuers hatte keine Kräfte gescheut und flammende Feuerklingen tief in die Erde hineingestoßen, um so zu
Die Höhle wurde nur von einer einzigen unterirdischen Flamme erhellt. Die dunkelroten Steinwände waren mit nichts als mit Feuermeißeln behauen. Es gab grobe steinerne Sitze. Hier herrschte die reine Kraft der Flamme; natürlich gab es keinen Tropfen Wasser, und die Erde war nur in Form von in unterirdischen Feuertiegeln umgeschmolzenem Stein vorhanden. Und sogar die Luft war verbraucht, leblos und gehorchte Ritor nicht. Es bedurfte ungeheurer Kraft, um aus dem dritten Element alles herauszubrennen bis auf jene leblosen Atome, aus denen das menschliche Blut bestand und die es dem Menschen erlaubten zu atmen. Ritor sog die Luft unwillkürlich tiefer ein; es war befremdlich, sein Element zu spüren und doch keine Macht darüber zu besitzen.
»Setz dich, ehrwürdiger Ritor, Magier ersten Ranges, Oberhaupt des Clans der Luft und Töter des Drachen«, sagte Siward feierlich. Der Magier des Feuers, der einen blutroten Umhang und ein flammendrotes Stirnband trug, hätte sich auf dem leeren Platz des Clanoberhaupts niederlassen können, aber er setzte sich nach kurzem Zögern auf den Sitz daneben. Der schwarzrote Thron Nawachos, des alten Magiers, eines Zauberers ersten Ranges und nach Ritor und Torn der drittstärkste Magier der Mittelwelt, blieb leer. In Gedanken hieß Ritor dieses Vorgehen gut; es war klug und diplomatisch von dem Jüngling, er hatte verstanden, dass er den Unmut der zwar weniger starken, aber älteren Magier auf sich gezogen hätte, wenn er den frei gewordenen Platz eingenommen hätte.
Ritor betrachtete den Rat. Viele Gesichter sah er zum ersten Mal, was nichts Gutes verhieß. Die Entscheidung, die hier getroffen werden musste, war einfach zu wichtig.
»Was hat den ehrwürdigen Gast zu uns geführt?«, fragte Siward höflich.
Ritor legte die Handflächen vor dem Gesicht zu einer Geste der Bitte zusammen.
»Ehrwürdiger Siward, ehrwürdige Ratsmitglieder! Ich wage es zu behaupten, dass eure Gedanken mir bekannt sind. Ihr habt soeben Nawacho verloren ... und viele andere ebenso verdiente Gefährten. Ich und mit mir der ganze Clan der Luft beweinen euren Verlust ebenso wie ihr. Wir haben es gleichzeitig mit der Bedrohung durch einen inneren Krieg wie mit einer drohenden Invasion zu tun.«
Der Rat blieb stumm, denn das war inzwischen keine Neuigkeit mehr.
»Und außerdem ... nun, vielleicht wird das eure Herzen erfreuen. Ihr Ehrwürdigen vom Clan des Feuers ... ich wollte diese Angelegenheit mit Nawacho besprechen, aber ich kam zu spät. Das, was uns in der Vergangenheit zu Feinden machte, wird zurückkehren - und das ist so wahr wie die Tatsache, dass mein Name Ritor ist.«
Es fiel kein Wort im Ratssaal, aber der Magier der Luft konnte Schweißtropfen an Siwards Schläfen sehen.
»Willst du damit sagen, verehrter Ritor, dass ...« Der junge Zauberer hatte nicht die Kraft, seinen Satz zu beenden.
»Die Zeit des Drachen bricht an.« Ritor nickte. Was für eine böse Ironie. Dieselben Worte hatte er schon zu Torn gesagt, als dieser sich unter der Maske des Feuers verbarg! Worte, die für das Feuer bestimmt gewesen waren! »Der Geflügelte Herrscher soll zurückkehren. Genau deshalb rief
Ritor musste gegen seinen Willen alles wiederholen, was er schon gesagt hatte.
Der Rat des Feuers hörte ihn aufmerksam an, respektvoll und ohne ihn zu unterbrechen, ganz wie es angemessen war bei einem so hohen Gast. Aber in den Köpfen der Ratsmitglieder setzte sich nur eine Nachricht fest, nämlich die, dass der Drache zurückkehren würde!
Und das war kein Wunder. Der Clan des Feuers hatte den Geflügelten Herrschern länger als alle anderen die Treue gehalten. Die Feuerweihe hatte Ritor seinerzeit im Geheimen bestehen müssen, nur mit der Unterstützung einer kleinen Gruppe Andersdenkender aus dem Feuerclan. Siward hatte leider nicht dazu gehört.
Natürlich würde hier keiner fragen, ob er sich seiner Sache sicher war. Wenn ein Magier ersten Ranges, und erst recht einer wie Ritor, verkündete, dass der Drache zurückkehren würde, dann wusste jeder, dass dem so war.
»Das heißt, du hast deine Meinung geändert, Ritor?« Siward konnte die Frage nicht zurückhalten. Bis jetzt hatte nur er mit dem Magier der Luft gesprochen. Alle anderen hatten geschwiegen, nur das Feuer brannte immer heißer und heißer in der gewaltigen schwarzen Feuerstelle. »Jetzt unterstützt du den Herrscher? Hast du begriffen, dass du gemeinen Verrat an ihm begangen hast, Ritor?«
So durfte man nicht mit einem Magier reden, und erst recht nicht mit einem, der Ritor hieß. Der Magier der Luft
»Ich verstehe nicht, was das mit unserem Anliegen zu tun hat, ehrwürdiger Siward«, erklärte Ritor mit kalter Stimme. »Haben wir uns hier versammelt, um über die Vergangenheit oder über die Zukunft zu sprechen? Was vergangen ist, ist tot, und keiner wird es mehr ändern. Aber die Zukunft könnte uns alle dem Erdboden gleichmachen, begreifst du das, ehrwürdiger Siward? Ferner ...«
»Wenn du nicht so eifrig gewesen wärst, ehrwürdiger Ritor, dann würden wir jetzt nicht vor dieser Wahl stehen«, widersprach Siward im gleichen Ton. »Der Geflügelte Herrscher wäre ein zuverlässiger Schutz vor den Angeborenen; niemals würden sie es wagen, wieder gegen uns vorzurücken. Es wäre niemals zu dieser Fehde mit Torn gekommen, und Nawacho wäre noch am Leben. Verstehst du, ehrwürdiger Ritor? Gib endlich zu, dass eben du der Schuldige für all unser Unglück bist.«
Es gehörte sich nicht, einen Magier zu unterbrechen, und dazu noch ein Clanoberhaupt, das vor dem Rat sprach. Ritor beherrschte sich.
»Du erwartest also eine Rechtfertigung von mir, ehrwürdiger Siward?«, fragte er. »Deine Fragen sind nicht an mich gerichtet. Was willst du von mir? Reue? Dass ich euch auf Knien um Verzeihung bitte, Asche auf mein Haupt streue? Entschuldige bitte, aber ich verstehe dich nicht.«
Eine solche Antwort hatte Siward nicht erwartet. »Du bist also der Meinung, dass du das Recht hast, uns um Hilfe zu bitten, ohne dabei Reue zu zeigen?«
»Wenn der Rat des Feuerclans meine Bitte um Hilfe ablehnt, werde ich gehen.« Jetzt war Ritors Stimme noch kälter.
»Und du, hast du ehrlich gekämpft, als du den letzten Drachen tötetest?«, schrie Siward.
»Forderst du mich heraus, Siward, Magier zweiten Ranges?«, donnerte Ritor und erhob sich von seinem Platz.
Siward geriet in Verwirrung. Er hatte die Beherrschung verloren, sich seinem Zorn überlassen und sich damit in eine vertrackte Situation gebracht.
Ein Duell mit Ritor würde praktisch einem Selbstmord gleichkommen. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich im Kriegszustand mit dem Wasser befanden.
Ritor begriff, dass der Magier nicht zurücktreten konnte, ohne sein Gesicht zu verlieren.
»Wenn der Rat des Feuerclans darauf besteht, bin ich bereit, eine Entschuldigung vorzubringen«, sagte Ritor. »Ich bedaure, dass unsere Clans verfeindet sind. Ich werde jetzt keine Ode an die Freiheit anstimmen ...«
»... die sich in Blut und Kriege verwandelt hat!«, rief eine sehr junge Stimme. Ritor blickte in die Richtung, aus welcher der Zwischenruf gekommen war, und sah ein junges Mädchen von höchstens achtzehn Jahren. Sie stand im dritten Rang, was für ihr Alter sehr beachtlich war.
»Ich gebe euch mein Wort, das Wort Ritors, dass ich, wenn ... wenn das alles vorbei ist, dass ich dann zu euch kommen werde und jedem, den es danach verlangt, Satisfaktion
Siward schwieg. Ein älterer Magier vom Strafkommando, ein kräftiger Mann um die vierzig mit kahl rasiertem Schädel, ergriff überraschend das Wort.
»Wir waren dem Geflügelten Herrscher treu. Das ist wahr, denn wir sind der Meinung, wer einmal sein Wort gegeben hat, der muss es halten. Andernfalls darf man es gar nicht erst geben. Aber darüber hinaus, Ritor, sind wir nicht überzeugt, dass der Mann, den du im Visier hast, wirklich der Drachentöter ist.«
»Ich bin bereit, alle Beweise vorzulegen ...«, begann Ritor.
»Halt ein, Verehrtester. Ich will deine Worte nicht in Zweifel ziehen. Es ist klar, dass du selbst glaubst, dass dieser Mann der Drachentöter ist ... Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass du uns nur trickreich hinters Licht führst. Wer weiß das schon? Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass der Geflügelte Herrscher zurückkehrt, und du weißt, dass deine Kräfte nicht mehr reichen, und versuchst uns auf deine Seite zu ziehen. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Erinnere dich daran, Ritor, einmal hast du uns schon belogen. Damals, als deine Anhänger in unserem Clan dir halfen, die Feuerweihe zu erhalten ...«
Ritor zuckte nicht, senkte nicht den Kopf und wandte auch den Blick nicht ab, obwohl die Worte des Kämpfers ins Schwarze trafen.
»Ich bin bereit, euch mein Bewusstsein zu öffnen«, sagte er. Er wusste, den Verlauf dieses Streits konnte er nur noch mit starken, überraschenden Mitteln ändern. »Dann könnt
Der junge Zauberer erhob sich.
»Es sieht so aus, als wärst du tatsächlich zu allem bereit, Ritor«, sagte er mit Verwunderung in der Stimme. »Bereit, obwohl du weißt, was das für dich bedeutet. Verehrter Rat, ich glaube, unser ehrwürdiger Gast lügt nicht.«
»Und außerdem war Ritor seinerzeit bereit, sein Leben für seine Prinzipien aufs Spiel zu setzen; Prinzipien, die er für so wertvoll hielt, dass er den hohen Preis nicht scheute«, sagte unerwartet ein anderes junges Mädchen mit bodenlangen offenen Haaren von der Farbe tanzender Flammen. »Er wurde zum Drachentöter, weil sein Gewissen das von ihm verlangte. Genau wie unser Gewissen verlangte, dass wir unseren Herrschern treu bleiben. Es ist sinnlos, darüber zu streiten, wessen Prinzipien besser waren; und erst recht, deswegen Blut zu vergießen oder unseren ehrwürdigen Gast zum Duell herauszufordern und damit das Gesetz der Gastfreundschaft zu verletzen. Ich glaube Ritor und erkläre mich freiwillig bereit, mit ihm zu gehen. In unserer Welt ist kein Platz für den Drachentöter ... erst recht, falls unser Herrscher zurückkehren sollte.«
»Gut gesagt, Liz.« Siwards Wange zuckte nervös. »Bist du wirklich bereit zu gehen? Was ist, wenn der ehrwürdige Klearch Recht hat und der Drachentöter gar nicht der Drachentöter ist?«
Ritor musste innerlich lächeln. Einige vom Feuerclan sehnten die Rückkehr des Drachen so gierig herbei, dass sie sogar in einem dahergelaufenen Neuankömmling von der Anderen Seite den wiedergeborenen Drachen vermuteten.
So etwas kam gelegentlich vor.
Ritor schüttelte den Kopf und erzählte von den Vorfällen im Zug.
Grabesstille war die Antwort. Gegen dieses Argument ließ sich nichts einwenden. Drachen waren nicht zu solchen Tricks fähig. Sie hatten sich niemals dazu herabgelassen, das Bewusstsein ihrer Untertanen zu manipulieren. Sie zogen es vor, gehasst zu werden. Sie wollten die Leute nicht mit Magie dazu bringen, sie zu lieben.
Er sah, wie die Gesichter in der Ratsrunde einen angespannten Ausdruck annahmen. Nun, was würden sie tun?
»Ich denke, wir sollten Liz gestatten, mit ihm zu gehen«, sagte Siward nicht sehr überzeugt.
Das Mädchen mit dem flammenden Haar hieß Liz ... Liz? Elisaweta? Elisabeth? War sie von der Anderen Seite?
»Aber warum mobilisieren wir nicht den ganzen Clan, wenn er tatsächlich der Drachentöter ist?«, rief das Mädchen.
»Weil wir im Krieg mit Torn sind«, bellte Siward. Er revanchierte sich für die eigene Schlappe bei dem lächerlichen Streit mit Ritor. »Wir haben drei von Torns Burgen angezündet, jetzt müssen wir mit einem Gegenschlag rechnen! Ich kann den Clan nicht verlassen. Selbst wenn du allein gehst, kann ich die Lücke nur schließen, indem ich alle Jungen und Mädchen aus den älteren Klassen mit aufstelle.«
Ritors Lippen zuckten einen Moment lang. Sogar zehn Zauberer des fünften oder sechsten Ranges konnten keinen Magier des zweiten Ranges ersetzen. Es stand schlecht, wenn Siward das nicht begriff ...
»Ich werde Liz so schnell wie möglich zu euch zurückschicken«, versprach Ritor. »Und ich bürge für ihre Sicherheit.«
»Fliegen wir?«, fragte das Mädchen unvermittelt, scheinbar aus rein sachlichem Interesse. Aber Ritor spürte ihre versteckte kindliche Aufregung und die Neugier auf eine fremde, ihr unzugängliche Magie.
Er lächelte. »Natürlich. Wir warten nur auf die Stunde der Kraft.«