In der Dämmerung, während all die Kutscher und Treiber noch auf ihren Fuhrwerken schliefen, machten sie sich auf den Weg. Tel war auffallend nervös, ständig blickte sie sich um, manchmal blieb sie abrupt stehen und starrte reglos in die Ferne, obwohl da nach Viktors Ansicht absolut nichts zu sehen war außer ein paar blassen und weit entfernten Lichtern, die schnell von der aufgehenden Sonne verschluckt wurden.
Mit der Sonne überkam ihn eine merkwürdige Mischung aus Leichtigkeit und Unbekümmertheit. Der Zustand, wenn man sich dem trügerischen Gefühl hingibt, dass man unverwundbar ist und jedes Hindernis leicht überwinden kann.
Viktor begann sogar zu pfeifen. Weit ist der Weg, der hinter uns liegt, weit ist der Weg, er führt uns ins Dunkel, weit ist der Weg ... Puh, was für ein Quatsch! Und woher kam das jetzt bloß auf einmal?
Bergab fiel das Gehen leichter, aber die Gesichter von Loj Iwer und Tel verfinsterten sich aus irgendeinem Grund zusehends.
»Sie erwarten uns dort ... Viktor«, sagte die Frau endlich. Es waren die ersten Worte, die sie an ihn richtete seit ihrem nächtlichen ... hm ... Gespräch.
Tel nickte nur schweigend. In den letzten paar Stunden war sie regelrecht hohlwangig geworden; von ihr war, wie es so schön hieß, nichts als die Augen übrig, oder vielleicht wäre es besser, zu sagen, nichts als eine hervorstechende Nase. Und auch ihre frühere Gelassenheit war fast vollständig verschwunden.
»Viktor ... wie es aussieht, haben sie uns tatsächlich überholt.« Sie klang schuldbewusst, als wäre das allein ihr Versehen. »Sie haben die Trasse von Norden und von Süden her abgeriegelt. Hinter uns steht der ganze Clan der Erde. Sie warten darauf, dass wir umkehren und ihnen geradewegs in die Arme laufen. Vor uns warten Ritor und der Clan des Feuers.«
»Und Torn?«, fragte Loj scharf. »Spürst du ihn auch, Magierin vom Geheimen Clan?« In Lojs Worten und in ihrer Stimme war zum ersten Mal so etwas wie Respekt, wenn nicht sogar Ehrfurcht wahrzunehmen.
»Torn kann ich nirgendwo spüren«, bekannte Tel wiederum schuldbewusst.
»Warum wohl? Das wüsste ich nur zu gern«, murmelte Iwer vor sich hin. Tel gab keine Antwort.
»Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte Viktor geschäftig. Bei dieser Geschichte konnte er sich auf nichts als auf seine Erfahrungen aus amerikanischen Fernsehstreifen verlassen. Frei nach dem Motto: Wer kein Klopapier hat, der nimmt eben Schmirgelpapier.
»Es gibt keinen anderen Weg.« Die Katze schüttelte den Kopf. »Über Felsbrocken könnte man vielleicht irgendwie klettern, aber dort sind nur senkrechte Wände, Überhänge und Abbrüche.«
»Aber wenn es keinen anderen Weg gibt ...«
»Viktor, denk bitte dran, wir brauchen das Feuer!«
Da war sie wieder, die Frau Oberlehrerin, die dem dummen Schüler ihre Lektion einpaukte.
»Dann gehen wir eben weiter, Schluss aus jetzt mit dem Gerede!«, sagte Viktor wütend. Er hatte das alles so satt. Was war das für ein alberner Retter der Welt, dem die Hälfte der Leute, die er retten sollte, mit Feuereifer auf den Fersen war, um ihn so schnell wie möglich auszuschalten ... Und wenn er auf seine Verfolger treffen sollte, dann würden wieder unzählige unschuldige Menschen sterben.
Er erinnerte sich an den Wahnsinn im Waggon und konnte nur mit Mühe einen heftigen Würgereiz unterdrücken.
Ob es Gott hier gab? Oder war auch hier alles beim Großen Knall entstanden? Die Gnome und Elfen und die Angeborenen ...?
Apropos Angeborene, was hatte Loj über sie gesagt? Der Fluch unserer Welt? Keine besonders freundliche Empfehlung ...
»Sag mal, Tel, warum könnt ihr nicht einfach mit den Angeborenen verhandeln? Was wollen sie denn genau von euch?«
Sowohl das Mädchen als auch Loj fassten sich mit der gleichen bildhaften Geste an den Kopf.
»Bei allen Großen Kräften, was hat das denn jetzt für eine Bedeutung!«, brach es aus Tel heraus.
»Es interessiert mich eben«, schnappte Viktor zurück. »Vielleicht habe ich ja nie mehr die Gelegenheit, es zu erfahren, wenn wir erst mal da unten angekommen sind; also sei so nett und erklär es mir jetzt! Wenigstens, wer sie eigentlich sind. Sind sie Menschen? Ungeheuer?«
»Hast du es immer noch nicht verstanden? Die Andere Seite ist eine Welt ohne Magie, die Mittelwelt verfügt über beides, über Zauberformeln sowie Dampf und Elektrizität.
»Aha ... also so eine Art universelle Bösewichte.« Viktor seufzte. »Ich habe es trotzdem noch nicht verstanden. Warum kämpft ihr? Was gibt es zu teilen? Könnt ihr euch nicht absprechen?«
»Es gibt Magier, die vertreten die Auffassung, dass für die Angeborenen Aggression die einzig mögliche Form des Seins ist«, erklärte Loj trocken. »Verstehst du, Viktor? Du musst dir klarmachen, dass sie keine andere Wahl haben, als ununterbrochen ihre kämpferischen, zerstörerischen Formeln zu wirken. Und die müssen ja auf irgendwen gerichtet sein!«
»Das passt nicht zusammen ...«, begann Viktor. Eigentlich wollte er Loj erläutern, dass es in einem solchen Fall für die Angeborenen sinnlos wäre, überhaupt irgendetwas zu erobern, wenn sie ohnehin alles zerstören mussten. Allerdings hing hier alles vom Ausmaß ab ...
»Viktor, Tod und Zerstörung sind das Wesen jener, die hinter dem Heißen Meer zurückgeblieben sind«, fuhr Loj hitzig fort. »Ich verstehe schon, man hat dir beigebracht, dass alles im Leben Ursachen und Folgen hat, dass es keine absoluten Bösewichte gibt und dass man immer einen Kompromiss finden kann ... Das will ich nicht bestreiten. Meistens kann man das. Wir haben hier mit der Zeit gelernt,
»Langsam, langsam.« Viktor schüttelte den Kopf. »Beruhige dich und bleib sachlich, keine blumigen Vergleiche, bitte. Ihr seid doch selbst aus der Welt der Angeborenen hierhergekommen! Also ... vielleicht nicht ihr, aber eure Vorfahren ... Soll das heißen, ihr konntet euch hier eingewöhnen und kommt jetzt miteinander aus, ihr konntet Tod und Zerstörung überwinden, und die, die dort geblieben sind, haben sich für immer der Rachgier verschrieben? Wie sieht es dort aus, stehen dort Schlösser aus menschlichen Knochen, fließen dort Flüsse von Blut, wurde dort ein Imperium des Bösen errichtet, ein Königreich des Lasters? Warten dort abstoßende Monster nur darauf, die Mittelwelt endlich zu zerstören?«
»Kein Imperium und kein Königreich.« Loj schüttelte den Kopf. »Und über ihr Aussehen kann ich dir nichts
Tel hatte Lojs Monolog aufmerksam gelauscht und schüttelte den Kopf. Sie lächelte sogar ein wenig. Vielleicht weil sie der Ansicht war, dass das nichts mit Neid zu tun hatte?
»Wie sie leben? Stell eine einfachere Frage. Nicht einmal die Geflügelten Herrscher wussten etwas darüber ... wahrscheinlich. Und unsere Vorfahren bewahrten keine Erinnerungen in ihrem Gedächtnis, nachdem sie jene fernen Ufer verlassen hatten. Nicht einmal die Kriegsgefangenen der Angeborenen konnten uns etwas erzählen, denn auch sie hatten ihr Gedächtnis verloren. Und die Angeborenen wollten sie später nicht mal mehr zurücknehmen.«
Tel nickte.
»Die Angeborenen sind alles. Und gleichzeitig sind sie nichts. Absolute Freiheit und totale Versklavung. In ein und demselben Wesen. Sie sind unfähig, sich zu verändern. Bei all ihrer unvorstellbaren Veränderlichkeit. Eine Magie, die dir selbstverständlicher ist als das Atmen oder Sehen, wird dir keinen guten Dienst erweisen. Du hörst auf, den eigenen Armen zu vertrauen. Du schließt dich in dir selbst ein. Du selbst bist die Welt, und die ganze Welt ist in dir, und du beherrschst sie. Das ist eine Versuchung ...« Tel schüttelte den Kopf. »... sich als grenzenloser Herrscher zu fühlen. Wahrscheinlich ist den Angeborenen deshalb allein schon der Gedanke an unser Dasein verhasst. Weil wir für uns selbst existieren, wir sind nicht in ihnen und
Ach ja, ein allzu schönes, greifbares Bild hatten die beiden da für ihn gezeichnet! Viktor blickte Loj voller Zweifel an, aber die Zauberin schien aufrichtig gesprochen zu haben. Sie selbst war von ihren Worten überzeugt. Aber sollte Viktor sich diesem Glauben wirklich anschließen?
»Und deshalb ...«, Loj atmete tief durch, »... kommen manchmal Schiffe über das Heiße Meer zu uns. Schöne Schiffe, die Buge mit Adlerköpfen verziert ...«
»Warum gerade mit Adlern?«, fragte Viktor. »Ist das ihr Wappen?«
»Wappen?« Loj schien verwirrt. »Nein ... sie haben keine Wappen. So sind einfach ihre Schiffe, das versteht sich doch von selbst! Na, sie werden doch nicht in normalen Handelsschiffen daherkommen!«
»Und Flaggen?«
»Flaggen haben sie. Schwarz mit Gold. Und in der Mitte einen Adlerkopf. Als wir das letzte Mal gegen sie kämpften, haben wir eine Menge Trophäen erbeutet. Aber wir konnten sie nicht bewahren. Sowohl ihre Waffen als auch ihre Harnische und Flaggen - alles löste sich auf. Wie Nebel. Die Magier waren darüber sehr verbittert.«
»Das ist ja interessant«, warf Viktor nachdenklich ein. »Vielleicht sind sie ja nur Gespenster?«
»Gespenster? Wenn du sie je getroffen hättest ...«, empörte sich Loj. »Physischer kann man kaum sein! Sie können einfach sein, wie sie wollen; das habe ich dir doch schon erklärt.«
»Und die Leichname ihrer Toten? Bleiben die?«
»Sie sind verbrannt.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wenn sie tot sind, halten sie die Schwere unserer Welt nicht aus. Deshalb können sie sich hier nicht festsetzen. Und deshalb müssen sie unsere Welt entweder ganz erobern, oder sie werden wieder zurückgeworfen. Willst du sonst noch etwas wissen?«
Viktor blickte in ihr angespanntes Gesicht und beschloss, dass es jetzt wohl an der Zeit war, seine Fragen zurückzustellen.
»Da vorne wartet eine Hundertschaft Magier auf uns, die uns in Stücke zerfetzen will«, sagte Tel vorwurfsvoll, »und ihr plaudert hier, als wären wir auf einem Sonntagsausflug. Vielleicht haben sie uns ja schon bemerkt! Vielleicht kommen sie uns schon entgegen!«
»Beruhige dich, Tel«, sagte Loj. »Sie gehen nirgendwohin. Sie sitzen da unten, haben sich eingegraben und warten. Sie wissen genau, dass wir an ihnen vorbeimüssen. Sie brauchen sich doch gar nicht zu bewegen. Erzähl uns lieber, was du über Oros weißt.«
»Als ob du dort keine Spione hättest«, brummte Tel.
»Natürlich habe ich die«, parierte Loj gelassen. »Aber je mehr wir wissen, desto besser. Kennst du vielleicht ihre Abwehrformeln? Losungsworte? Durchgänge und Zugänge? Fallen?«
Tel schüttelte langsam den Kopf.
»Es hat keinen Sinn, direkt in die Stadt vorzudringen. Wir müssen nur ans Ufer kommen.«
»Und dann?«, hakte Loj nach. »Treiben sie uns zum Wasser hin in die Enge und töten uns?«
»Am Ufer kann ich die Tür öffnen«, sagte Tel in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. »Und durch diese Tür
»Der Clan des Feuers hat keinen einzigen Magier ersten Ranges mehr«, erinnerte sich Loj mit einem Mal. »Das heißt ... Torn, Ritor und ich. Keine schlechte Verteilung.« Ihre Stimmung hellte sich spürbar auf.
Tel musterte sie von oben bis unten, presste unfreundlich die Lippen zusammen, sagte aber nichts. Wahrscheinlich ist sie eifersüchtig, dachte Viktor. Und überlegt, wie wir Iwer loswerden könnten. Aber jetzt ist es schon zu spät dafür. Man kann schließlich niemanden in den sicheren Tod schicken. Und wer weiß, wofür so eine Gefährtin wie Loj noch gut ist. Einmal hat sie uns ja schon geholfen.
Der Weg begann sich zu winden. Der Pass verlief mal nach links und mal nach rechts in Serpentinen zum Meer hinunter. Hier hatte der Feuerclan offenkundig Hand angelegt: Die Wände flossen in erstarrten steinernen Strömen abwärts. An manchen Stellen war der alte Pass begradigt und der Weg neu angelegt worden; aber im Laufe der Jahre hatte die Vegetation wieder die von den Flammen ausgezehrten Steine überwuchert.
»Sie haben wahrscheinlich einen Spähtrupp ausgeschickt«, sagte Tel finster, während sie den Hals reckte und versuchte, etwas auf den vernarbten Gipfeln zu erkennen. »Und natürlich haben sie uns längst bemerkt.«
»Warum sollten wir uns dann noch verstecken?«, fragte Loj mit erhobener Augenbraue. »Viktor könnte doch einfach dafür sorgen, dass ihnen die Lust, uns heimlich zu beobachten, vergeht.«
»Nein, nein!«, antwortete Tel erschrocken. »Bloß nicht ... wir dürfen nur im äußersten Notfall töten. Nur wenn sie von sich aus versuchen, uns zu töten.«
»Wird es dann nicht reichlich spät sein?«, fragte Loj bissig.
Tel zuckte schweigend die Schultern.
Auch Viktor spürte einen fremden Blick. Als ob zwei klirrend kalte Eisstücke, die einfach nicht schmelzen wollten, auf seiner Stirn festgeheftet wären; und von diesen Eisstücken zogen sich zwei unsichtbare Leinen, so dass er sich wie eine ungeheure Küchenschabe mit unverhältnismäßig langen Fühlern vorkam.
Er gab sich seiner Wut hin, die langsam wuchs und sich tief in seinem Inneren zu einer angespannten Faust der Kraft ballte. Im Moment war sie noch formlos, aber bereit, jeden Augenblick das Antlitz eines zerstörerischen Wirbelsturms anzunehmen oder eines Wassertornados oder einer alles mit sich reißenden Steinlawine. Sie wagten es, ihm in den Weg zu treten? Sie erdreisteten sich, ihn heimlich zu beobachten? Wenn es ihm möglicherweise gerade in den Sinn kam, sich mit einer seiner Gefährtinnen zu vergnügen?
Puh, puh! Viktor erschrak: Was war das, was da plötzlich in seinem Kopf herumspukte? Der schwarz-rote Nebel löste sich langsam wieder auf. Die zusammengepressten Fäuste öffneten sich. Er blickte zu Tel und Loj hinüber, sie hatten offenbar nichts bemerkt.
»Hinter der nächsten Biegung liegt Oros«, formte Tel lautlos mit den Lippen. »Ihre Späher verstecken sich nicht mal.«
Und richtig: Vor dem hellblauen Hintergrund des Himmels sah man auf dem höchsten Felsen vor ihnen deutlich den hochroten Fetzen eines Umhangs zucken.
»Sieh mal einer an, diese dreisten Schurken«, stieß Loj zwischen den Zähnen hervor. Sie fuhr die Krallen nach Katzenart aus und hob die Hand. »Mal sehen, ob er es wagt ...«
»Loj!« Mit einem Sprung hing das Mädchen an der Schulter der Katze. »Lass das! Es ist zu früh! Du führst diesen Schlag, ja, aber dann können sie deine Formel entziffern und schicken ihn zurück!«
»Na gut, wenn du meinst.« Unzufrieden ließ Iwer die Hand sinken. Aber es war offensichtlich, dass Tels Worte Eindruck auf die stolze Katze gemacht hatten.
»Wir dürfen nichts unternehmen, ehe sie uns von sich aus angreifen.« Tel sah Viktor bittend an. »Versprichst du das? Bitte!«
»Und werden sie uns nicht mit ihrem ersten Schlag schon fertigmachen?«, erkundigte sich Viktor scheinbar unerschütterlich.
»Alles hängt von dir ab«, seufzte Tel. »Uns brauchen sie nicht ... nun ja, vielleicht will Ritor sich an Loj rächen. Aber ansonsten mach dir um uns keine Sorgen. Jetzt wollen sie vor allem dich und nur dich.«
»Dann lasst uns gehen«, formten Viktors Lippen.
Es sieht ganz so aus, als wüsste ich jetzt endlich, was es heißt, das Herz in der Hose zu haben, dachte Viktor. Nein, ich eigne mich einfach nicht zum Helden. Weder als Conan noch als Terminator. Ich sehe mich schon ganz deutlich daliegen, tot und präpariert, in einer Anatomiestunde für angehende Magier. Es wäre schön, sich auf den Beinen zu halten, sich nicht vor Angst in die Hose zu machen. Warum hatte Tel ihm nie gezeigt, wie man zaubern konnte?
Der Späher auf dem Felsen blieb hinter ihnen zurück. Loj winkte ihm sogar zu.
Die letzte Kurve.
»Da liegt Oros«, sagte Tel leise. Eine Bucht. Steinstrand, ganz ähnlich wie auf der Krim, etwa in Sudak oder Planerskoe. Am äußersten Ende der Mole, die weit hinter die
Dem Anschein nach gab es hier weit und breit kein lebendiges Wesen. Aber Viktor spürte deutlich die hundertfachen Blicke, die seine Brust durchbohrten. Wie rücksichtslose Hände, die ihn abtasteten, mit unsauberen Fingern an ihm herumzupften, versuchten, in ihn einzudringen, sein Gehirn in Stücke zu zerpflücken, sein Gedächtnis im Wind auszuschütteln und alles Schädliche, wie sie glaubten, auszutreiben.
So hört schon auf.
»Viktor, ich habe Angst«, vernahm er Lojs Flüstern, die sich von der Seite an ihn drückte. »Sie werden uns umbringen. Ritor ... er ist wahnsinnig geworden. Ich glaube, diesmal entkommen wir ihm nicht.«
»Na, hast du einen Schreck bekommen, Katze?«, schoss Tel augenblicklich los. »Keiner hat dich gezwungen mitzukommen. Du wolltest es selbst so.«
»Hier stehen fast hundert Magier. Und an die fünfhundert Krieger. Sowohl des Feuers als auch der Luft. Ritor hat alle versammelt, die er bekommen konnte. Und von seinem Clan hierher verlegt.« Loj schüttelte den Kopf. »Er hat keine unnötige Zeit mit der Jagd nach uns verloren, sondern ist gleich hierhergekommen. Wirklich clever. Alle Achtung.«
»Sei bitte still«, zischte Viktor, ohne sich nach ihr umzudrehen.
»Verzeih ...«, hörte er ihr Flüstern. Gott, wenn er auf der Anderen Seite so ein Flüstern hören würde, wäre er sicher, dass die Frau wahnsinnig verliebt ist.
Die drei standen an der Biegung des Bergwegs, so dass alle an den Abhängen vor ihnen versteckten Krieger sie gut sehen konnten. Sowohl Tel als auch Loj drückten sich an Viktor. Aber er stand da, versteinert wie ein Dummkopf, blickte nach unten und hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun sollte.
Nach strategischen Gesichtspunkten hätte ihre Position kaum schlechter sein können, sie stachen für jedermann sichtbar hervor. Andererseits konnte Viktor selbst, wie auf seiner Handfläche ausgebreitet, die ganze Stadt sehen, bis zu ihren äußersten Grenzen. Und es kam ihm in den Sinn, sie »zuzudecken«; das hätte er mit einem einzigen Handgriff vermocht.
Weder Loj noch Tel wagten es, ihm irgendwelche Ratschläge zu geben.
Was jetzt? Sie warteten also, bis die anderen angriffen. Viktor fühlte sich unerträglich dumm. Aber er wollte nicht gegen Tels Bitte handeln.
Leicht, ganz leicht fing der Wind an seinen Schläfen an zu heulen. Wie eine Vorwarnung. Wie ein Horn, das zum Duell aufruft. Schön ...
»Viktor!«, vernahm er Tels verzweifeltes Flüstern. Sie zitterte am ganzen Körper, hatte es sie, die Furchtlose, diesmal etwa auch erwischt? »Das ist eine Schlinge. Sie werfen eine Schlinge auf uns ... Viktor, versuch um Himmels willen nicht, eine von uns zu retten! Wenn du das Feuer bestehst, dann wird es dir auch gelingen, die Tür zu öffnen. Aber wenn du erst anfängst, mich oder Loj hier herauszuholen ...«
»Mich muss keiner rausholen«, unterbrach Loj das Mädchen wütend. »Und dich, Geheime, dich werde ich höchstpersönlich rauszerren. Selbst wenn ich dafür mit allen vier Elementen gleichzeitig vögeln muss!«
»Still, ihr beiden!«, fuhr Viktor ihnen über den Mund. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in die Höhe, dort, wo sich, für das gewöhnliche Auge unsichtbar, langsam die graue Schlaufe des ungeheuren Lassos entfaltete. Das war nur der erste Schritt, das war noch nicht mal ein Angriff, sondern diente nur dazu, seine Verteidigung zu prüfen; sie wollten sehen, wie er sich verteidigen würde.
Unten im dichten Grün blinkten kleine Feuer. Dutzende kleiner Feuer. Winzige Flammenkronen, die über den Köpfen der kampfbereiten Krieger des Feuerclans hingen.
Und im nächsten Augenblick zog Ritor die Leine der Schlaufe fest an.
Tel kreischte auf. Loj hockte sich geschmeidig hin und warf den rechten Arm mit ausgefahrenen Krallen nach vorne in die Luft, nahm eine kriegerische Haltung an. Viktor stand tatenlos da und sah zu, wie die Welt um ihn herum immer grauer wurde, während sich die durchsichtigen Umrisse der Schlinge näherten, und er begriff, das dies das Ende war und ... unternahm nichts.
»Vi-ik-tor!« Loj kreischte auf. Die Schlaufe erfasste sie an Schulter und Hals, warf sie um und schleifte sie erbarmungslos über den Weg, so dass Kleid und Haut aufgerissen wurden.
Wie zauberte man im Kampf? Wie schuf man tödliche Magie? Wie lenkte man die dem eigenen Willen unterworfenen Elemente? Durch einen Wunsch? Mit einem direkten Befehl? Musste man ihnen gebieten?
»Vi-i-ik-tor!«
Tel warf sich auf Loj, packte sie im Fallen an der Schulter und drückte sie auf die Erde. Aber auch ihre Kräfte reichten nicht aus. Ein Mädchen allein, selbst eines vom Geheimen Clan, vermochte nicht mit fünfzig Zauberern fertig zu werden.
In der Luft über dem Städtchen ballte sich eine gewaltige graue Wolke zusammen. Viktor wusste, dass nur er sie sah. Er sah Ritors magische Formel, bereit zum Schlag, die ihn niederreißen würde, in den Staub des Weges drücken, die Felsen mit seinem Blut bespritzen, seinen zerschmetterten Körper über den Rand des Abgrunds reißen würde, auf die Steine und Dornen.
»Nein, Ritor!«, schrie er auf. Er gestikulierte mit den Händen, zielte mit der Faust auf das straff gespannte Seil, an dem die verzweifelt strampelnden Frauen über den Weg geschleift wurden.
Eine scharfe Wasserpeitsche raste mit der Geschwindigkeit eines Blitzes vorwärts. Dort, wo Wasser auf Luft prallte, flogen weiße Spritzer in alle Richtungen, wie magisches Blut. An den Stellen, wo die Spritzer auf der Erde aufkamen, wirbelten Staubfontänen in die Höhe, als hätte jemand eine Maschinengewehrsalve in den Sand gefeuert.
Das Luftseil wurde durchtrennt. Unten in der Stadt stürzte ein Baum um, als wäre er von einem mächtigen Orkan umgerissen worden.
»Gib es ihnen, Viktor«, kreischte Loj.
Die Antwort von unten ließ nicht auf sich warten. Viktor spürte, wie die Luft aus seinen Lungen gesaugt wurde und sich ihnen eine magische Peitsche näherte, die alle Hindernisse überwand; ohne nachzudenken, reagierte er mit dem Erstbesten, was ihm in den Sinn kam: Er streckte die Hand aus, zeigte nach unten, dorthin, wo sich das Herz des Widerstands
Das Heulen war so durchdringend, dass Loj und Tel sich mit schmerzverzerrten Gesichtern die Ohren zuhielten. Unten sauste die mächtige Luftfaust nieder, und es klang, als würden Hunderte von Ballons gleichzeitig platzen. Von den Felsen fielen die ersten Steine. Sie flogen hoch in die Luft, beschrieben einen Bogen und stürzten wie Flugzeugbomben auf das Städtchen nieder. Die ersten hundert explodierten noch in der Luft, denn die Feuerpfeile der Verteidiger rasten ihnen entgegen. Ein Teil wurde von einer eilig erschaffenen Welle aus Luft abgelenkt, aber die meisten Steine durchbrachen alle Barrieren.
Unterdrückte Schreie waren zu hören. Viktor sah, wie seine Luftfaust einen Baum nach dem anderen umstürzte, die Ziegel von den Dächern riss, wie die Säulen der Windhosen Staub aufwirbelten, Hausrat, Trümmer und menschliche Körper durch die Luft fegten.
Ein Feuer brach aus, aber natürlich konnte es seinen Gebietern nichts anhaben. Die Zungen der Flammen sprangen hoch und fielen dann wieder zusammen.
Dennoch, auch Ritor galt nicht umsonst als stärkster aller Magier. Er begriff schnell, was zu tun war. Viktor war allzu sehr mit seiner Attacke beschäftigt. Daher schickte Ritor seine eigene Verteidigung zum Teufel und stürzte sich seinerseits in den Angriff.
Sein Schlag warf Viktor hinterrücks zu Boden. Vor seinen Augen zogen bunte Kreise vorbei. Irgendwo aus fernster Ferne erklang Tels jämmerlicher Schrei; und sogleich rückte das Feuer vor. Der Schmerz bohrte sich in sein Hirn, aber Viktor gelang es, sich wieder auf die Knie zu setzen. Eine Welle trockener Hitze näherte sich, das Feuer vollführte
Und von oben kam der Tod. Viktor sah ihn, einen in perlmuttfarbenem Licht erstrahlenden Speer von aufs äußerste verdichteter Luft. Der Speer zerschmetterte den Gesteinsbrocken, den Viktor ihm im verzweifelten Versuch, sich zu verteidigen, instinktiv entgegengeschleudert hatte, zerschmetterte ihn in kleinste Teile; im letzten Moment duckte Viktor sich weg.
Sein Gesicht brannte vor Schmerz, am Hals quoll Blut hervor. Sowohl Tel als auch Loj waren verschwunden, eingehüllt von der um sie aufsteigenden Feuerwolke. Die Felsen brannten, die Kiefern auf den Felsvorsprüngen glühten, und immer neue Pfeile stießen mit Geheul auf sie herab, auf seine Schultern legte sich eine ungeheure Schwere. Viktor begann zu keuchen, jeden Atemzug musste er mit riesiger Kraftanstrengung in seine Lungen hineindrücken; in einem Anfall heftigen Hustens fiel er nach vorne.
Zwei Hände fassten ihn unter den Achseln, rissen ihn kraftvoll nach oben und zwangen ihn aufzustehen. Er drehte sich um und sah Loj. Ihr Gesicht war verzerrt, blutig und dreckverschmiert; ihre Augen blickten wahnsinnig.
»Steh schon auf, Viktor! Bitte, steh auf!«
Ein neuer Schlag. Loj wurde auf den steinernen Boden geschleudert, sie stöhnte kurz auf und umfasste ihren Kopf mit beiden Händen; zwischen ihren Fingern quoll Blut hervor.
»Ich werd’s euch zeigen!«, schrie Viktor. Und eine süße Raserei breitete sich in ihm aus. Wasser und Luft vereinigten sich. Ein donnernder Strom brach aus dem berstenden Felsen hervor, Granitbrocken ließen ihre seit Jahrhunderten angestammten Plätze im Stich; eine bräunlich-graue
Das Feuer heulte in Agonie, denn der Wind fachte es nicht an, sondern zerriss die Flammen und ließ sie ohne Nahrung zurück; und auf den Wind folgte das Wasser und vollendete die Niederlage. Aus dem Rauch tauchte Tel auf, völlig zerrissen und voller Schrammen, wieder warf sie sich auf Loj, umfasste sie, als wäre sie ihre Mutter.
»Hinab! Zum Ufer!«, schrie das Mädchen.
Loj erhob sich schwankend.
»Los, los!«
Unten traf die Lawine auf ein eilig errichtetes Schild vom Clan der Luft. Der Wind heulte blindwütig, wieder fielen Bäume, die zusammenprallenden Ströme fegten alle Häuser in ihrer Nähe weg, ein brüllender Wasserstrom schoss hoch in den Himmel und versuchte, sich über die plötzlich aufgetauchte Ebene hinwegzusetzen. Die Welle bog sich wie ein unbekanntes Tier vorm Sprung und begegnete dem ihr entgegensprudelnden Feuerstrom mit der Brust.
Wahrscheinlich hatte der Clan des Feuers alle von ihm in dieser Welt freigelassene Kraft dafür aufgewandt. Dampfschwaden quollen hinauf in den Himmel und höher; sie vertrieben die bedrohlichen Wolkentürme. Ein senkrecht niedergehender Blitz schlug vergeblich ein und spaltete eine unschuldige Platane.
Viktor spürte, wie beißender, heißer Schweiß in seine Augen lief, als würden seine Poren eine kochende Flüssigkeit von sich geben. Um ihn herum breitete sich eine tote
»Bleib stehen! Ergib dich, elender Feind!«, ertönte hinter ihm ein Heulen. Und augenblicklich hallten Musketenschüsse wider.
»Die Erde«, flüsterte Loj. Ihre Augen brannten mit unauslöschbarem Feuer, und sie erinnerte fast unerträglich deutlich an eine vor Wut rasende Katze. »Haben sie uns doch eingeholt ...«
»Herr Andrzej.« Tel ballte die Hände zu Fäusten. »Halte aus, der Magier ...«
»Legt euch endlich hin, ihr Närrinnen!«, brüllte Viktor, denn die Kugeln pfiffen nun schon ganz in ihrer Nähe durch die Luft.
Aus dem Nebel hinter ihnen tauchten einer nach dem anderen die Gestalten der Gardisten auf. Man konnte sagen, was man wollte, aber sie waren erstklassig geschult. Sie schossen aus dem Stand, ohne Auflage für die Muskete und dabei noch gut gezielt. Eine Kugel prallte dicht neben Viktors Kopf in einen Felsblock und wurde zusammengedrückt.
Das ist endgültig der Untergang. Jetzt haben sie uns in der Zange, dachte Viktor. Er musste auf der einen Seite gegen die Formeln der Luft und des Feuers bestehen und gleichzeitig auch noch den ehrwürdigen Herrn Andrzej ausfindig machen.
Ach, es war schwer ...
Aha, da bist du, Freundchen - hinter den Musketieren, die hoch zu Ross näher kamen, blitzte die bekannte ausgemergelte Gestalt auf.
Und unter Viktors Füßen bebte die Erde.
»Ji-i-ij!« Lojs Hand durchschnitt scharf die Luft, als sie das Zeichen eines Kreuzes andeutete. Der kräftige Bursche, der bereits mit dem aufgesteckten Bajonett auf sie zustürmte, fasste sich an die aufgeschlitzte Kehle und stürzte wie ein Mehlsack zu Boden.
Viktor spürte mit der Haut, wie sich Andrzejs Formel um sie zusammenzog; wieder war sie unerhört kompliziert, verworren, Anfang und Ende waren ineinander verwoben, die Schatten irgendwelcher Monster tauchten auf; in Wellen erschienen Tiere, Katzen, Bären, riesige Insekten, gigantische Eidechsen; Schwindel überfiel Viktor. Er fühlte, dass die Macht dieser Formel ungeheuer groß war; und sobald sie ungehindert auf sie losbrach, würden die Felsen Loj, Tel und Viktor zu Staub zermalmen, und selbst seine Erdweihe würde ihm dann nichts mehr nützen.
Er hatte nicht die Zeit für einen ordentlichen Gegenschlag, gleich würde seine dünne Schutzhülle platzen; Viktor schickte einen pfeifenden Luftspeer los. Und wie es aussah, warf der Speer den Erdmagier um. Seine Gardisten hatten ihrerseits die Lust verloren, auf sie loszustürmen, nachdem Loj noch zwei ihrer Kameraden aufgeschlitzt hatte.
»Lauft los!«, rief Tel. Schwankend setzte sich Viktor in Bewegung. Der Schlammstrom hatte einen neuen Weg geschaffen, als hätte ein riesiges Tier ihn mit der Zunge ausgeleckt.
Bergab zu laufen war leicht. Weiter rechts von ihnen kämpften die Krieger vom Clan der Luft und vom Feuer noch mit den Ungeheuern der Luft, des Wassers und der Erde, die Viktor erschaffen hatte. Hier brüllte eine Flamme, dort heulte ein Wirbelsturm. Tel hatte wohl beschlossen, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Hinter ihnen prasselten
Wahrscheinlich war es der letzte Vorstoß, ein verzweifeltes Unterfangen. Sie hatten schon begriffen, dass sie den Drachentöter nicht überwältigen würden, aber sie wollten es sich einfach nicht eingestehen. Und dieser Schlag der Luft, der besser gezielt war als alle vorherigen, hätte um ein Haar sein Ziel erreicht.
Viktor wurde umgerissen und über den Erdboden geschleift. Er hatte das Gefühl, zu hören, wie seine Rippen knackten, und das stumpfe Ende eines todbringenden Speers begann sich geradewegs in sein Herz zu bohren.
Nein!
Tel hatte geschrien, oder war das seine eigene, vom Schmerz heisere Stimme gewesen, während er sich im Todeskampf herumrollte?
Ausrotten würde er sie!
In diesem Moment hörte er auf, an sich selbst zu denken. Fast blind vor Schmerz streckte er sich mit allen verbliebenen Kräften seinen Feinden entgegen. Luft, Erde und Wasser vereinigten sich. Vor den schreckstarren Augen seiner Widersacher entstand ein richtiges kleines Haus, das wie in Zeitlupe in Stücke gesprengt wurde. Zum Dach hinaus in die Luft spritzten Erdfontänen, als würde ein schweres Geschütz nach dem anderen in seinem Inneren explodieren.
Für einen Moment waren die Silhouetten eines Jungen, einer fülligen Frau und dreier Männer zu sehen, ehe sie in einem unvorstellbaren Wirbel verschwanden.
Augenblicklich wich der Schmerz von Viktor.
Viktor, Loj und Tel erreichten bereits das Ufer am Rand der Stadt, als aus einem Winkel eine schmale Gestalt auf
»Eine Formel«, krächzte Loj.
Das Mädchen stand einfach so da, ohne sie anzugreifen. Ihre Augen waren voll und ganz auf Viktor gerichtet. Er hatte keine Kräfte mehr übrig. Und vor allem keine Wut.
»Gleich ...« Loj trat mit schwerem Schritt auf die Magierin des Feuers zu. »Diese verdammte Göre war auch bei Ritors Hinterhalt dabei ... gleich werde ich sie ...«
Der dünne Arm der Magierin war geradewegs auf Viktors Brust gerichtet. Und der stand da, zwinkerte unbeholfen mit den Augenlidern, war nicht fähig sich zu rühren, sich wenigstens auf den Boden zu werfen, zu ducken ...
Aus den Fingern des Mädchens floss eine Flamme.
Eine grimmige, surrende, versengende Flamme; eine rötliche Welle traf Viktor an der Brust, aber sie warf ihn nicht um und verbrannte ihn auch nicht. Durch das wahnsinnige Tanzen der rötlichen Zungen tauchte das Gesicht der Magierin auf. Ihre Augen blickten ihn an ... Mit Hass? Voller Furcht? Oder ... mit Begeisterung? Mit Ehrfurcht vor der Kraft? Ihre Lippen bewegten sich lautlos, Viktor konnte die Worte nicht verstehen. Das Feuer drängte sich in ihn, kroch in sein Innerstes und richtete sich dort ein, wie ein Tier in einer Höhle, das bereit ist, jeden Augenblick ins Freie zu springen.
Die Kraft seufzte weich. Jetzt war sie ganz. Vier Elemente verschmolzen im Gleichgewicht miteinander, und Viktor fühlte, dass sein Körper unvorstellbar leicht wurde, alle Erschöpfung und Schmerz vergingen und seine Sicht sich klärte; ihm schien, dass sich an seinem Rücken Flügel entfalteten, die bereit waren, ihn in den Himmel zu tragen,
Aber plötzlich wurde der Flammenstrom unterbrochen. Loj Iwer warf die junge Magierin zu Boden. Mit einem einzigen Hieb ihrer Krallen verpasste sie dem Mädchen vier tiefe Wunden auf der Brust, aus denen Blut quoll. Mit unweiblicher Stärke schleuderte Loj den zusammensackenden Körper beiseite.
Viktors verzweifeltes »Nein!« kam viel zu spät.
Und Tel glitt schon am Meeresufer entlang; mit gebieterischer Stimme forderte sie ihn auf: »Komm! Mir nach!«, und zwang Viktor, das unglückliche Opfer zurückzulassen. Er wandte sich der Brandung zu, die heftig, aber gleichmäßig dahinrollte, unbehelligt von dem am Ufer tobenden Sturm. Und mitten in den kochenden Wellen öffnete Tel die Tür.
Ritor hätte niemals gedacht, dass der Drachentöter über solche Kräfte verfügte. Es war zum Verzweifeln. Keine Formel hatte es vermocht, den unerwartet starken Schutzwall des Mannes zu durchdringen. Oder wenigstens jene beiden zu erreichen, die sich an seiner Seite befanden.
Im Städtchen herrschte völliges Chaos. Der Drachentöter schlug mit tödlicher Gewalt zu, mitleidlos, schonungslos. Ritor spürte den versengenden Hass dort vor ihm, den Hass, der zur Kraft geworden war. Grimmige Wirbelstürme entwurzelten jahrhundertealte Platanen und Zypressen. Eine Serie von Schlägen zerstörte Ritors Wall, und die Kraft von beinahe fünfzig Magiern wurde vollständig davon absorbiert, diesen blindwütigen Einfall aufzuhalten.
Der wild gewordene Wind fegte Dächer von den Häusern, Ziegel formten wundersame rote Fächer in der Luft. Dachstühle
Der Drachentöter kannte die Grenzen seiner Kraft selbst nicht.
Ritor hörte die schrecklichen Schreie derer, die lebendig begraben waren, das Weinen der Kinder, ihr Flehen um Hilfe - und er konnte nichts tun. Was ist los, Andrzej, was zögerst du noch, beißt du dir wieder einmal selbst die Zähne an deinen verworrenen Zauberformeln aus? Pfeif auf deine Weisheit, und gebiete deinem außer Kontrolle geratenen Element Einhalt!
»Meister!«
Asmund war bereits verletzt, über seine Wange lief Blut.
»Ich halte ihn noch, Lehrer!«
»Wo sind Solli, Sandra und Boletus?«
»Sie kommen schon!«
Den Magiern gelang es, eine Barrikade gegen die auf sie zustürmenden Formeln des Drachentöters zu errichten.
»Zum letzten Mal, Freunde ...«
Sie mussten nichts wiederholen. Ihre Kräfte vereinigten sich.
Und dieses Mal erwischten sie ihn beinahe. Ritor fühlte den Schrecken des Feindes, spürte dessen Schmerz und Verzweiflung ... und genau darum gelang es ihm noch, »In Deckung!« zu rufen, als Schmerz und Angst des Drachentöters sich in Hass und damit in die tödlichste aller Waffen verwandelten und sich gegen die Urheber des Angriffs richteten.
Der Gegenschlag war verheerend. Die unsichtbare Streitaxt des Drachentöters zerstörte beiläufig ein Haus in der Nähe, ehe sie auf die fünf Magier niederstürzte, ihnen die Luft aus der Brust presste und diese in eine Mischung aus Wasser und Sand verwandelte. Pflastersteinhagel prasselte auf Ritor und seine Gefährten herunter; der Zauberer sah, wie Solli blutüberströmt zu Boden fiel; wie Sandra mit verzweifelter Anstrengung einen Steinblock von Asmunds Rücken wälzte; wie sie selbst stürzte, unfähig, die schneidende Wasserpeitsche zu parieren; und wie Asmund röchelnd und Blut spuckend zusammenbrach und sich dabei an die Brust fasste.
Ritor benötigte nur wenige Sekunden, um zu begreifen, dass der Kampf verloren war. Der Drachentöter hatte sie abgeschüttelt. Er war schon am Ufer und empfing die Kraft des Feuers.
Solli war tot, tot war auch der hakennasige Eduljus; und Sandra befand sich im Schmerzschock, die ganze linke Seite war eine riesige Wunde, ihr Blut vermischte sich mit klebrigem Dreck; Asmund krümmte sich zu Ritors Füßen, fast alle seine Rippen waren gebrochen, aber vermutlich würde er am Leben bleiben. Er stöhnte nur, unfähig zu sprechen, aber Sandra flüsterte etwas vor sich hin. Ritor neigte sich zu ihr, ließ mit einer leichten Bewegung etwas Kraft in sie fließen. Ganz wenig nur, denn es war nicht der Moment, sich selbst zu schwächen, indem man Freunde rettete ...
»Me siento mal ... duele el corazón ...«
Offenbar fand die Zauberin im Schock zu ihrer Muttersprache zurück. Ritor legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und sagte: »Halt durch! Kan wird dir helfen. Halt durch, alte Meereshexe ... Piratin ...«
Sandras Augen blickten für einen Augenblick klar. »Was für eine Piratin ... mir wird doch schon bei schwachem
Und da begann Ritor zu lachen. Mit schrecklicher Grabesstimme. Der Stimme eines Mannes, der keine Ruhe findet. Er würde die Jagd nicht aufgeben. Auch wenn ihm klar war, dass die Sache so gut wie verloren war. Der Drachentöter war schon auf der Insel ... Er selbst würde bedeutend länger brauchen, um dorthin zu kommen.
»Kümmert euch um sie!«, bellte er Kan an, der an seiner Seite auftauchte. Endlich war sein Bruder mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort. »Schnell!«
Er musste Kan nicht zweimal bitten.
»Ich benötige Magier, Ritor! Sie sind sehr schwer verletzt!«
»Hol dir, wen du brauchst. Ich muss weiter!«
»Das ist Wahnsinn, Bruder!«
Ritor versetzte Kan mit aller Kraft eine Ohrfeige. Eine ganz normale, nicht magische Ohrfeige. »Sandra und Asmund müssen am Leben bleiben! Wenn sie sterben, vernichte ich dich!«
Kan schwankte und blickte seinen Bruder entsetzt an. Aus seiner gebrochenen Nase schoss Blut.
»Schnell, hierher! Kommt gefälligst hierher! Kümmert euch um die Verletzten!«, schrie Ritor mit durchdringender Stimme. Mehrere Magier, sowohl der Luft als auch des Feuers, rührten sich.
Ritor gestattete sich eine weitere Sekunde der Verzögerung. »Verzeih, Kan. Ich muss weiter.«
»Ich bin dir nicht böse, Bruder«, erwiderte der Giftmischer leise. »Den Jungen kann ich retten ... aber Sandra ... das weiß ich nicht, ich werde tun, was in meiner Macht steht ...«
»Leb wohl, Kan.«
»Leb wohl, Ritor ...«
Natürlich war am Ufer weit und breit keine Spur von einer Tür zu sehen. Es gab eine Bruchstelle, das Flimmern dunkelroten Feuers in einem von goldenem Leuchten erfüllten Schlund. Ein Brunnen verdrängte Erde und Wasser und führte in die Tiefe; Tel stand bereits auf dem Brunnenrand wie auf einer Schwelle und duckte sich zum Sprung.
Die blutrünstig lächelnde Loj rannte zu ihr, mit dem weichen Schritt einer jagenden Raubkatze. Im Lauf leckte sie sich die blutigen Finger der rechten Hand, und Viktor konnte nur mit Mühe begreifen, dass sie mit diesen fünf Fingern, die so zärtlich sein konnten, soeben einen menschlichen Körper aufgeschlitzt hatte, so dass ihre blutigen Krallen am Rücken des Opfers wieder heraustraten. Sein Schrei war viel zu spät gekommen. Loj hatte ihn eben verteidigt, so gut sie es vermochte.
»Schneller! Ritor wird gleich hier sein!«, rief Tel. Ihre Stimme brach.
Trotzdem neigte sich Viktor doch zu dem leblosen Mädchen vom Feuerclan, berührte mit unsichtbaren Fingern ihr stilles Herz ... und von seiner Berührung erzitterte es, pumpte das Blut, einmal, zweimal - und das Mädchen stöhnte auf.
Sie wird leben, dachte er ganz banal.
Viktor wandte sich zu Tel. Hinter ihm schoss ein mächtiger Schlammstrom heran, bis zum Kochen aufgeheizt von den Anstrengungen der Feuermagier; der Strom wälzte sich aufs Meer zu und begrub unterwegs Häuser, als wären sie Spielzeugschachteln; die Verteidigung der beiden Clans war zusammengebrochen, und sie waren nur noch dazu imstande,
Aus dem Rauch, aus Dampf- und Staubwolken trat noch eine weitere menschliche Gestalt hervor. Der Magier der Erde, Herr Andrzej, er sprang mit Anlauf aufs Ufer.
»Aha«, rief er böse aus. Voller Abscheu packte er die Schöße seines verdreckten Umhangs und watete ins Wasser. Bis zur Brust schritt er hinein und erreichte die Tür; sein Gesicht war von Schmerz verzerrt, aber dennoch folgte der Magier seinem Vorgänger.
Ganz zum Schluss erschien der nicht sehr groß gewachsene Magier des Wassers mit Namen Torn. Er tauchte aus den Wellen auf und lächelte zufrieden über das Chaos, das der Drachentöter angerichtet hatte; dann trat auch er auf die Bruchstelle zu.
Das Wasser schloss sich über dem Brunnen und verschluckte die Tür, die bereits wieder hermetisch verschlossen war.