»Freunde, ich möchte euch Liz vorstellen, sie ist vom Clan des Feuers und Magierin dritten Ranges.«
»Schon fast des zweiten«, verbesserte das Mädchen Ritor eilig. »Die Prüfung habe ich schon bestanden ... aber der Maître starb und ...«
Sandra nickte. »Sehr gut, Liz. Ich bin Sandra ... erster Rang. Und das ist Asmund. Er hat bisher erst den siebten erworben - vorab.«
»Wurdest du erst entdeckt?«, fragte das Mädchen erfrischend direkt und streckte dem errötenden Asmund ihre Hand zum Kuss hin. Sandra presste eifersüchtig die Lippen aufeinander, aber Ritor warf ihr einen warnenden Blick zu, so dass sie sich einen Kommentar verkniff.
»Mhm«, nickte der Junge. »Maître Ritor ...«
»Später, Asmund«, unterbrach ihn der Zauberer. »Liz, dies sind unsere Magier, Maître Solli ... Maître Boletus ... herausragende Kämpfer ... großartige Jungs. Und dies hier sind mein Bruder Kan und sein Schüler ...«
Nachdem Liz geschmeichelt von jeder Menge unverhüllter männlicher Aufmerksamkeit alle begrüßt hatte, hob Ritor die Hand und gebot Schweigen.
»Freunde, dies wird unsere letzte Gelegenheit sein, den Drachentöter zu fassen. Ich werde nicht müde zu wiederholen: Diesmal dürfen wir nicht versagen. Er kommt jetzt geradewegs auf uns zu. Er nimmt den Weg über den Kanal. Vermutlich hat er keinen Führer an seiner Seite, sondern folgt seinem Instinkt. Er wird jetzt vom Erdelement angezogen ... oder vom Feuer. Aber nach Oros führt nur ein Weg, nämlich der über die Ländereien der Erde. Deshalb sind wir hier. Ich kann seinen Weg mit meiner Formel überwachen. Wir werden ihn erst im allerletzten Moment angreifen. Erst wenn er unmittelbar in unserem Sichtfeld ist; wir Zauberer machen seinen Schutzwall unschädlich - auf mein Kommando hin schlagen wir alle gemeinsam zu -, und dann tretet ihr auf den Plan, Jungs. Wir wollen seinen Kopf, ist das klar?«
Erik und Kevin nickten. Ebenso die älteren Partner der übrigen sieben Paare.
»Wir warten hier, bis er auftaucht, in diesem kleinen Tal. Wenn er an Land geht, werden wir ihn aufspüren. Vergesst nicht, Jungs, er vermag vieles. Das Beste wäre, ihn aus der Entfernung zu erschießen ... aber auf so viel Glück wage ich nicht zu hoffen. Na gut, es ist nicht meine Aufgabe, euch zu sagen, wie ihr am besten gegen ihn kämpft. Wir decken euren Angriff ... alles Übrige ist eure Angelegenheit.«
»Wir werden euch nicht enttäuschen«, sagte Erik leise. »Nicht wahr, Kevin?«
»Wir werden euch nicht enttäuschen«, stimmte der andere zu. »Oder wissen wir etwa nicht, mit wem wir es zu tun haben?«
Ritors Lager befand sich in einem abgelegenen kleinen Talkessel. Auf den Abhängen ringsum wuchs dichter Wald. Der Magier hatte sich keine große Mühe gegeben, einen
Das Warten begann. Nach Ritors Berechnungen waren sie dem Drachentöter mehrere Stunden voraus - bald würde die Stunde der größten Kraft schlagen. Der Kahn oder das Floß, je nachdem, was der Drachentöter gewählt hatte, würde festmachen, und jener würde an Land gehen. Er wusste ja nicht, dass er verfolgt wurde. Er würde den üblichen Weg zu den Grenzen des Erdclans wählen. Und da würden sie ihn zu fassen bekommen. Zusammen mit Liz ... jener war noch nicht in der Lage, gleichzeitig gegen zwei Elemente zu bestehen. Ganz gleich, wie gut sein Schutzwall war, er wäre noch nicht fähig, ihn mit äußerster Kraft zu nutzen. Fünf Magier der Luft und ein Magier des Feuers - gegen sie würde der Drachentöter nicht bestehen können.
Wenn es sein muss, opfere ich alle meine Kämpfer, dachte Ritor kalt, aber wir werden den Drachentöter vernichten. Koste es, was es wolle. Ich spüre schon die Vibrationen unsichtbarer Saiten ... nur für mich wahrnehmbare Vorzeichen, und sie kündigen die baldige Ankunft des Drachen an ... Und wenn der Drachentöter auf ihn trifft, dann ist die Katastrophe unvermeidlich. Denn dieser Drache ist tatsächlich der letzte. Vielleicht wäre Torn in der Lage, den ersten Ansturm der Angeborenen abzuwehren, obwohl ich das kaum glaube, aber den zweiten wird er ganz sicher nicht überstehen. Denn allein im Kampf gegen den anderen, den Erschaffenen Drachen, werden zwei Drittel seiner Soldaten sterben, und für das restliche Drittel reicht den Angeborenen ein adlerköpfiges Schiff.
Die aufgehende Sonne vertrieb unbarmherzig die letzten Fetzen der Nacht; eigensinnig kletterte sie am Himmelsgewölbe in die Höhe, und Ritor fühlte sich unwillkürlich an die größte Angst seiner Kindheit erinnert; damals hatte er gefürchtet, dass die goldene Kugel den steilen Aufstieg an der hellblaugläsernen Kuppel nicht aushalten, abrutschen und in einem verzehrenden Flammenmeer auf die Erde stürzen würde.
Erik und Kevin scheuchten ihre Leute unermüdlich durch die Gegend und arbeiteten irgendwelche Taktiken aus, die nur ihnen verständlich waren; die Jungen »zur Hand« schlichen durchs Gebüsch und verschmolzen buchstäblich mit den Pflanzen wie flinke Schlangen. Sandra und Asmund saßen abseits und flüsterten miteinander; Solli und Boletus unterhielten sich mit Liz. Das Mädchen hatte gerötete Wangen und erklärte den beiden Magiern der Luft in diesem Moment etwas; ihre zarten Finger huschten hin und her, und zwischen ihnen loderten die blassen Zünglein rauchloser Flammen auf - Liz führte offenbar irgendwelche Details ihrer Angriffskunst vor.
Alles war in Ordnung. Seine Truppe war bereit. Bald würden sie aufbrechen.
Ritor blieb eine Weile lang auf einem alten, vertrockneten Ast sitzen und genoss einen kurzen Augenblick grenzenlosen Friedens. Viel zu selten wurde ihm diese Wohltat zuteil. »Morgen zieh ich in den Kampf, bis dahin ...«[20] - wie von selbst fielen ihm die Worte ein. Vor nicht allzu langer Zeit war einer von der Anderen Seite zum Clan der Luft gestoßen; er hatte leider nicht das geringste Talent zur Zauberei, dafür konnte er Verse rezitieren und Lieder singen, dieses hier und noch unzählige andere ...
Der Magier der Luft prüfte mit größter Sorgfalt seine Überwachungsformel; gespannt und aufs Äußerste konzentriert
Ritor hob schweigend die Hand. Im gleichen Moment erstarrte das ganze Lager.
Der Zauberer benötigte einige Sekunden, um herauszufinden, wo und wie der Drachentöter sich vorwärts bewegte. Ja ... alles klar. Ganz wie er es vorhergesehen hatte, der nichtsahnende Mann hatte die viel bereiste Hauptstraße von den Anlegestellen zu den Ländereien der Erde gewählt. Und genau das hatte Ritor von ihm erwartet. Jetzt war es nur eine Kleinigkeit. Sie mussten ihn umzingeln und ... das Begonnene zu Ende bringen.
»Gehen wir«, befahl das Oberhaupt der Luft mit leiser Stimme. Er sah Asmunds vor Aufregung zerbissene Lippen, Sandras hochgezogene Augenbrauen und Liz’ weiße, ineinander verschränkte Finger; nur Solli und Boletus waren ganz gelassen. Wer sein Leben um ein Haar unter dem ungezügelten, rasenden Ansturm der großen Windflügel gelassen hatte, den konnte ein Drachentöter nicht aus der Ruhe bringen.
Bis zu besagter Hauptstraße waren es zwei Stunden Fußmarsch. Die Herbstsonne schien weich, und das Laufen war angenehm. Ritors Truppe bewegte sich in einer langen Reihe vorwärts. Kevin und Erik und dahinter Blade bildeten die Vorhut, Jerome und Ben deckten die Seiten. Für alle Fälle. Keiner rechnete mit einem Überfall, aber wer wusste schon, was Torn vorhatte?
»Halt, wir machen Rast«, befahl Ritor, als in Sichtweite vor ihnen das helle Band der befahrenen Straße auftauchte. Er wollte, dass seine Truppe ausgeruht war. Sie hatten
Die Trasse vor ihnen leerte sich. Verschreckte Siedler auf dem Weg zum Markt, Handelsfuhren, die Ladungen von den Kähnen aufnahmen, gewöhnliche Reisende - mit einem Wort, alles, was normalerweise auf dieser Straße unterwegs war, hatte nichts Eiligeres zu tun, als der Kampftruppe zweier Elementarer Clans aus dem Weg zu gehen. Sogar die Totemistischen Clans, einschließlich der stolzen Panther, beschlossen nach kurzem Zögern, dass es besser war, dem großen Ritor nicht in die Quere zu kommen.
Der Magier der Luft hatte eine Stelle gewählt, wo der Weg eine Biegung um einen flach auslaufenden, ganz mit Wald bewachsenen Hügel machte. Es war der ideale Ort für einen Hinterhalt. Wieder eine Art Talkessel mit Böschungen; zwei Schritte vom Weg entfernt begann dichtes Buschwerk und undurchdringliches Gehölz. Der Drachentöter konnte nirgendwohin fliehen.
Kevin und Erik gaben ihre Befehle und stellten ihre Leute auf. Die übrigen Älteren und ihre Jungen versteckten sich im Unterholz; nach wenigen Augenblicken standen nur noch die Magier auf dem Weg.
»Hör zu, Liz. Solli und ich kümmern uns um die erste Schicht seines Walls. Ich bin mir fast sicher, dass sie mit Wassermagie zu tun hat. Dann kommen Sandra und Asmund und schalten die zweite Schicht aus - ich denke, die wird was mit unserem Arsenal zu tun haben. Danach bist du an der Reihe. Boletus gibt dir Deckung für den Fall eines Gegenschlags. Ich nehme an, deine Attacke wird er ebenfalls abwehren ... aber mach dir nichts draus. Denk dran, unsere Aufgabe ist es, ihn bloßzustellen. Soll er alle seine Kräfte an uns abarbeiten, indem er unsere Angriffe abwehrt.
Liz errötete und nickte.
»Verteilt euch jetzt, Freunde«, sagte der Magier. »Er ist nicht mehr weit entfernt.«
Allmählich belebte sich der Weg wieder. Zweirädrige Karren und Fuhrwerke ratterten vorbei, zogen Fußgänger und Reiter dahin; sie vernahmen das Quietschen von Rädern und die müden Rufe der Treiber, das Blöken von Schafen, die in Herden vorbeigetrieben wurden - alles war wie immer.
Ritor lag da, ganz verdeckt von den dichten immergrünen Zweigen einer Magnolie. Die Zauberer vom Clan der Erde hatten viel Mühe darauf verwenden müssen, um den empfindlichen Gast vom Heißen Meer in diesem trockenen, kalkhaltigen Boden anzusiedeln ...
Der Magier wartete. Na, na, was war da los? Aus Furcht, sein Opfer aufzuschrecken, ließ Ritor das Band seiner Überwachungsformel erschlaffen. Im Augenblick konnte er es nicht riskieren, den Drachentöter aufzuspüren, da dieser schon ganz nahe sein musste.
Halt! Und wer war das?
In einem einfachen, staubigen Kleid, barfüßig und mit zerzausten Haaren kam Loj Iwer höchstselbst den Weg entlang.
Ritor hätte sich nicht gewundert, Torn zu sehen. Aber Loj? Was tat die hier?
Die Frau blieb stehen und musterte mit eindringlichem Blick das Gebüsch.
»Gestatte mir, mich dir zu nähern, ehrwürdiger Ritor«, rief sie leise. »Ich habe wichtige Nachrichten für dich. Sie betreffen den Drachentöter. Ich habe das Gefühl, er entwischt dir.«
»Komm her, ehrwürdige Loj«, sagte der Magier, so ruhig er konnte. »Komm her und erkläre mir, was vor sich geht.«
Lojs Erzählung nahm nicht viel Zeit in Anspruch.
»Ich war bei Torn und habe dort alles erfahren.«
»Du warst bei Torn, und er hat dich nicht augenblicklich getötet?«, fragte Ritor aufrichtig verwundert.
Loj lächelte leicht verächtlich. »Mich? O nein. Wir sind zu einer Übereinkunft gekommen. Ich habe ihm Schmerzensgeld für seine Demütigung bezahlt.« Lojs verschmitztes Lächeln trieb Ritor die Röte in die Wangen. Natürlich, schon klar, was das für ein Schmerzensgeld war ... Ach, Loj, geile Katze ... Im Übrigen hatte sie ihm das Leben gerettet. Es stand ihm nicht zu, über sie zu richten.
»Und dann habe ich den Drachentöter ausgekundschaftet. Das war nicht leicht, Ritor. Er hat schon zwei Weihen durchlaufen, er ist sehr gefährlich. Er vertraut niemandem, nicht mal seinem eigenen Schatten. Jetzt ist er auf dem Weg zum Clan der Erde - aber wie es aussieht, ahnte er die Falle.«
»Wie das?« Ritor runzelte die Stirn.
»Man müsste schon ein Dummkopf sein, wenn man nach dem Scheitern des ersten Anschlags nicht mit einem zweiten rechnet«, sagte Loj mit der für sie so typischen Lässigkeit. »Ich glaube ... ich bin nicht sicher, aber ... er hat sich anscheinend von deiner Leine fortgerissen.«
»Wie?« Ritor war fassungslos.
»Ach, allerehrwürdigster Magier, sogar ich konnte deine Formel auf ihm spüren ... und da er die Luftweihe schon
»Das kann nicht sein«, schrie Ritor. »Iwer, mir ... ich ... das kann nicht sein ...«
»Ich habe mich so beeilt, dir Bescheid zu geben.« Loj drehte sich beleidigt weg. »Hab mir die Hacken wundgelaufen ... mich abgehetzt ... und was muss ich als Antwort hören?«
»Schon gut ...« Ritor spürte Reue. Warum sollte Loj denn lügen? Erst recht, nachdem sie ihm schon das Leben gerettet hatte ...
»Oder glaubst du, Torn hat mich auf seine Seite gezogen?«, flüsterte die Katze verständnisvoll. »Denk selbst nach, welchen Grund hätte ich dazu? Ja, ich war bei ihm ... und ich war mit ihm zusammen ... Wir Katzen benötigen Frieden, wir können uns keinen Krieg mit den Elementaren Clans leisten. Außerdem weißt du ja, wie wir zu den Drachen standen ...«
Das stimmt, dachte Ritor. Die Geflügelten Herrscher interessierten sich nicht für die Katzen, dafür hatten sie den Clan auch nie bei seinen Intrigen gestört. Unter der Herrschaft der Drachen nahmen die Katzen unter den Totemistischen Clans sogar eine höhere Stellung ein als jetzt.
»Außerdem kannst du meine Worte ja leicht überprüfen«, flüsterte Loj. »Mach dich noch mal auf die Suche nach ihm, dann kannst du dich selbst überzeugen. Und wenn ich lüge, kannst du mich töten. Oder ...«, sie zwinkerte ihm spielerisch zu, »du kannst mich deinen Soldaten überlassen. Allen gleichzeitig. Ich schätze, es würde ihnen gefallen.«
»Du und deine Scherze, Loj«, sagte Ritor vorwurfsvoll. »Aber meine Jungs werde ich schonen. Ich weiß schon, dir
»Und wirst dich davon überzeugen, dass ich Recht habe«, verkündete Loj in gekränktem Tonfall.
Ohne große Anstrengung belebte Ritor seine Überwachungsformel. Das unsichtbare Band erzitterte, ein schwacher, kaum spürbarer kleiner Wind erhob sich auf sein Ziel zu ... prallte gegen eine nackte menschliche Seele und flog zurück.
Ritor konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Das war ganz sicher nicht der Drachentöter! Nur ein junger Mann, der einen Schubkarren voller Wassermelonen vor sich her schob, und ein Mädchen in ärmlichem Kleid, das die grünschwarz gestreiften Kugeln an der linken Seite stützte, damit sie nicht über die Bretterwand kullerten.
An diesem Mann war absolut nichts Auffälliges. Und nicht das kleinste bisschen Kraft. Ja, äußerlich hatte er eine gewisse Ähnlichkeit ... aber mehr auch nicht.
»Dieses hinterlistige Scheusal!«, stöhnte Ritor und ballte die Fäuste vor Wut. »Aber pass nur auf, du entkommst mir nicht! Sandra, Asmund, Solli! Boletus! Alle zu mir! Ihr müsst helfen!«
Allen war bewusst, dass es schlecht um ihren Plan stand, wenn Ritor um Hilfe bitten musste ...
Asmund strengte sich besonders an. Und wie es so geht, Neulinge haben immer Glück, stieß ausgerechnet er auf den Drachentöter.
Ja, natürlich! Ritor fragte sich, wie er den Feind nur so hatte unterschätzen können! Selbstverständlich hatte jener seine Schlüsse aus den Vorfällen in Chorsk gezogen; er hatte die Haupttrasse gemieden und eine Route über abgelegene, kleine Feldwege gewählt, von einem Gehöft zum
Aber in einem hatte der Drachentöter sich doch getäuscht. Er war zu nah an der Hauptstraße geblieben.
»Mir nach!«, befahl Ritor.
»Nun, Ritor, glaubst du mir jetzt?«, hörte er Lojs Stimme.
»Wieder hast du mir geholfen, Loj Iwer.« Der Magier fasste die Frau an beiden Händen. »Das werde ich dir nicht vergessen. Wenn das hier überstanden ist, würde ich mich gerne erkenntlich zeigen. Ich stehe in deiner Schuld, aber sei versichert, dass ich nicht lange in dieser Rolle bleiben werde.«
»Ich werde warten«, sagte Loj mit leichtem Lächeln.
»Gut, wir haben es eilig. Kommst du mit uns?«
»Natürlich, ehrwürdiger Ritor.« Die Katze zuckte mit ihren makellosen Schultern. »Wie könnte ich mich von dieser Unternehmung fernhalten?«
Sie liefen querfeldein, durch dichten Wald und Unterholz. Es war ein langer, beschwerlicher Marsch, der sie all ihrer Kräfte beraubte. Es schien, als ob die Zweige besonders tief herunterhingen, um ihnen den Weg zu versperren, und die Wege absichtlich ins Abseits führten. Ritor hielt die Formel aufrecht und spürte die zunehmende Kraft, der sie sich mit jedem Schritt näherten. Der Drachentöter hielt es offenbar nicht für nötig, sich zu verstecken. Er schien voller Selbstbewusstsein ... in seiner Annahme, dass er sich von dem Zauberband losgerissen hatte.
Nein, mein Lieber, gleich wirst du dich davon überzeugen, dass man den Clan der Luft nicht zweimal besiegen kann.
Nur ganz selten blitzte vor Ritor die lange Reihe seiner Krieger auf. Die Jungen »zur Hand« waren vollkommen unsichtbar
Der Wald endete unvermittelt, als hätte ein riesiges Schwert ihn gefällt. Vor ihnen erstreckten sich Felder und Gärten, und das schmale Band eines Feldwegs wand sich hindurch. Ein junger Mann in einer schwarzen Jacke und mit einem kurzen Schwert am Gürtel ging den Weg mit schnellen, angespannten Schritten entlang.
Die Kraft des Drachentöters klatschte Ritor wie eine Welle giftiger Spritzer ins Gesicht.
»Attacke!«, schrie Ritor, ohne einen Gedanken an Deckung zu verschwenden. Und er sandte selbst die erste Formel aus. Das Heulen des Windes, ein Staubtornado auf dem Acker ... ein Feuerkranz, der sich über Liz’ Kopf drehte ...
Der Mann vor ihnen warf sein Schwert zu Boden, setzte sich hin und fasste sich an die Hosenbeine; auf seinem Gesicht lag tierisches Grauen. Ah, du zitterst, du Scheusal? Denk an jene, die deinetwegen auf dem Bahnhof von Chorsk sterben mussten! Bitte sie um Verzeihung, solange du noch Zeit dazu hast!
Oder kämpfe und stirb, wie es sich für einen Drachentöter gehört! Ich kenne deine Gefühle, ich erinnere mich an diesen stolzen Kraftrausch, das Bewusstsein der Schicksalhaftigkeit, diesen hehren Flug des Geistes; du musst das Gleiche empfinden; warum spiegelt sich auf deinem Gesicht das Entsetzen?
Der Mann fiel auf die Knie. Ritors magischer Angriff hatte sich wie eine unsichtbare Sense auf den Schutzwall des Drachentöters gestürzt, ihn durchdrungen und unschädlich gemacht.
Was ist da los?, dachte Ritor bestürzt. Du kannst dich doch wehren, du hast doch all deine Kräfte zur Verfügung; warum kämpfst du nicht?
Der Drachentöter schien jedoch nicht einmal an Widerstand zu denken. Seine Hosenbeine hatten sich dunkel verfärbt. Er rutschte durch den Staub auf die ihn umzingelnden Krieger zu, rang die Hände und winselte vor Angst.
»Ach, große Not ... ach, bin nur eine Waise ... ach, verschont mich, gute Leute ... seht nur, seht, ein Kreuz ... nicht im Traum ... hab mir nichts zuschulden kommen lassen, ehrwürdiger Magier, ganz bestimmt, bin unschuldig ...!«
Der Mann weinte dicke Tränen, während er sich weiter im Staub wand und Unverständliches vor sich hinstammelte. Ein scharfer Geruch ging von ihm aus.
Die Krieger standen um ihn herum und behielten den Mann im Visier. Keiner von ihnen fiel auf so eine plumpe Falle herein. Sie warteten auf Ritors Kommando.
»Und das ist der Drachentöter, ehrwürdiger Ritor?« Liz zog die aristokratische Nase kraus. »Ich glaube, dass dieser Mann hier nur ein kleiner Dieb ist, der sich vor Angst in die Hose gemacht hat, weil er jemandem das Schwert klaute.«
Der Magier der Luft trat vorsichtig näher.
Wo bei allen Großen Winden war dessen Kraft? Wo verbarg sie dieses auf den ersten Blick so erbärmliche Wesen? Vielleicht war dies eine gemeine Falle, und der Drachentöter wartete nur darauf, dass seine Gegner ihre Entschlossenheit verloren und sich entspannten, ehe er den ersten Schlag gegen sie führte.
»Versuch nicht zu fliehen oder uns mit Zauberei zu täuschen!«, warnte Ritor den Mann.
»Nein, nein, Väterchen, im Leben nicht, niemals, ich liege ganz still, bitte, Väterchen, bin nur eine arme Waise,
»Woher hast du das Schwert?«, fragte Ritor streng.
»Schwert? Welches Schwert? Das ist doch nur ein Stock ...«, stammelte der Unglückliche.
Ritor schüttelte den Kopf. Warum nur war es ihm so vorgekommen, als ob dieser Mann eine Waffe bei sich trüge? Wo es sich doch in Wirklichkeit nur um einen einfachen Stock handelte, mit einem Ästchen, das ein wenig an einen Griff erinnerte ...
»Abtasten, schnell!«, befahl Ritor.
Eine kleine, billige Seele. Ein wenig Gier, Angst, Lüsternheit und Dummheit. Im Moment vor allem - ungeheure Angst. Weiter nichts. Absolut gar nichts!
Wie konnte das nur sein? Das Zauberband hatte doch ganz deutlich ...
»Dies ist nicht der Drachentöter, Maître Ritor«, sagte Liz verächtlich. »Man hat uns hinters Licht geführt.«
Alles, was die junge Feuerfrau nicht geäußert hatte, war deutlich in ihren Augen zu lesen.
Loj! Loj Iwer. Die ihm das Leben gerettet hatte. Die so überzeugend gewesen war. Die ihnen so eilig zu Hilfe gekommen war.
Und die auf einmal verschwunden war.
Eben war sie noch gemeinsam mit ihnen durch den Wald gehetzt, hatte Hände geschüttelt und mit den Fingern ihre niederträchtigen Katzenformeln gewunden, sogar seinen Blick gesucht und ihn angelächelt. Und jetzt war sie auf und davon. Schnell und unbemerkt, wie es nur die Katzen konnten.
Dieses käufliche Luder! Ja, sie war zu Torn gestürzt, hatte ihn um Verzeihung angefleht ... die er schließlich gewährt
Der arme Mann vor ihnen war völlig erstarrt und winselte nur noch schwach vor sich hin.
»Freunde, man hat uns verraten. Loj Iwer hat uns verraten. Sie hat dem Drachentöter geholfen zu entwischen. Und wahrscheinlich hat sie ihm auch beigebracht, wie man das Zauberband abstreift. Das ist keine schwierige Aufgabe, wenn einem ein erfahrener Magier hilft. Und wie man es auch dreht und wendet, Loj Iwer ist eine Magierin ersten Ranges. Wenn auch eines Totemistischen Clans. Natürlich, so war es, genau so ...«
Ritor sprach gemessen und ohne Hast; wie im Unterricht. Die Magier und Krieger um ihn herum blickten ihn mit wachsender Unruhe an; sie durften jetzt nicht aufgeben, sie mussten ihn erneut ausfindig machen, vielleicht gelänge es ihnen noch.
Ritor jedoch redete und redete. Und keiner wagte es, den Magier mit dem glasigen Blick zu unterbrechen.
»Es gibt so ein Verfahren. Der Drachentöter kapselt die Kraft in sich ein, so dass man sie nur aus nächster Nähe erkennen kann. Und einem Ersatzmann, hier diesem unseligen Dieb zum Beispiel ... wird für eine kurze Zeit der Umhang der Kraft übergehängt ... es ist eine Maskierung, eine Tarnung, wie man auf der Anderen Seite sagt. Und wir sind auf diesen Trick hereingefallen ... weil, nun, weil der Drachentöter ja eigentlich erst ein paar Tage in unserer Welt ist, weil er keinen Führer hat, und keinen Lehrer, das heißt, er hatte keinen Lehrer bis vor kurzem ... Aber dann tauchte Loj Iwer auf! Ach, Torn, das war clever, ganz ganz clever von dir ...«
»Ritor!« Sandra unterbrach ihn entschieden. »Hör auf, Ritor, ich bitte dich. Wir müssen jetzt nachdenken, wie wir den Drachentöter noch einholen. Wir müssen hier alles durchkämmen.«
»Durch die Ländereien der Erde führen viele Wege. Und wenn er sich versteckt hat ...« Ritor winkte resigniert ab. »Verstehst du nicht, was diese Katze angerichtet hat? Sie hat ihm beigebracht, wie er sich verstecken kann. Jetzt werden wir ihn nur noch erkennen, wenn wir ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.«
»Und wo ist Loj?«, kreischte Sandra. »Wo ist dieses intrigante Miststück? Ich werd sie ...«
»Zu spät.« Wieder winkte Ritor ab. »Dafür sind die Katzen berühmt. Die ist auf und davon. Und da wird auch kein Durchkämmen mehr helfen.«
»Du darfst nicht aufgeben, Ritor!«, schrie Boletus. »Auf keinen Fall. Brich jetzt nicht ein, Ritor!« Er vergaß seine Position und packte das Oberhaupt des Clans am Kragen. »Ritor, Ritor, komm zu dir! Wir müssen sie erwischen! Den Drachentöter und diese Verräterin! Wir sind genügend Leute, wach auf, Ritor!«
Der Magier hob den Kopf. Langsam wurde sein Blick wieder klar. Der Schleier der Verzweiflung hob sich.
»Ritor. Wir müssen ihn finden.« Sandra sprach mit ihm wie mit einem kleinen Kind, dem man alles erklären musste. »Bündle unsere Kräfte, du hast ihn doch wahrscheinlich gesehen! Wir werden ihn suchen, dem Gesicht nach ...« Sie begriff selbst, wie gering ihre Chancen waren. Wenn es nur so einfach wäre ...
»Er kann die Kraft nicht lange wie ein Reisebündel zusammengeschnürt mit sich herumtragen«, mischte Liz sich ein. »Früher oder später wird er sie ausbreiten, sie benutzen
Mit Mühe blickte Ritor in die Runde der Gefährten.
»Gut«, sagte er kaum hörbar. »Gehen wir ...«
Saft troff von der Wassermelone und fiel in feinen süßen Spritzern in den Straßenstaub. Viktor schüttelte die schwarzen Kerne aus dem Stück und verzehrte es mit einem Bissen. Vorzüglich! Und ganz ohne Chemie ... höchstens mit ein bisschen Magie? Oder war Magie auch ein ökologisch schädlicher Faktor? »Kommt, ihr ehrlichen Leute, selbst gezogene Wassermelonen, ohne jede Magie!« Wirklich, ganz vorzüglich! Es tat ihm jetzt schon leid, die Schubkarre, die ihren Dienst erfüllt hatte, fortzuwerfen. Hatten sie die eigentlich gebraucht? Loj zufolge schon. War dem wirklich so? Womöglich hatten sie sich umsonst in dieser Hitze abgeplagt, als sie die schwere Last vor sich her schoben. Der Meinung war jedenfalls Tel.
Viktor wischte sich das vom Saft verschmierte Kinn ab, griff nach seinem Schwert und zerteilte die nächste Melone in zwei Hälften. Tel schnappte sich sogleich eine und grub die Zähne in das weiche Fruchtfleisch - »Lutscher«, hatten sie als Kinder gesagt.
Wäre er vor drei Tagen auf die Idee gekommen, dass er mit einem Elfenschwert eine Wassermelone aufschneiden würde - einem Schwert, mit dem er zuvor einen Menschen getötet hatte! -, um dann das süße, saftige rote Fruchtfleisch zu verzehren? Viktor versuchte Ekel zu empfinden, Abscheu oder wenigstens Verachtung für sich selbst. Wie konnte er nur so sein?
Wie sich herausstellte, war es ganz einfach.
»Nein, das reicht«, sagte er und warf die grünschwarze Schale fort. »Wenn ich noch ein einziges Stück esse,
Tel schnaubte und blickte ihn von der Seite an. »Du bist ganz verschmiert.«
Sie ließen den Schubkarren stehen, bogen vom Weg ab und machten an einem Bächlein halt. Die Erde war steinig und trocken, selbst am Ufer wuchsen keine Pflanzen, und der allgegenwärtige Staub legte sich augenblicklich auf ihre vom Saft klebrige Haut.
»Du siehst auch nicht besser aus«, bemerkte Viktor. Er wusch sich mit dem kalten Wasser. Sein Bauch war schwer und aufgedunsen wie eine Trommel; er fühlte sich wie eine Riesenschlange, die einen Elefanten, einen Hut und auch noch Saint-Exupéry selbst verschlungen hatte. »Wenn du willst, ich ...« Die Idee war verlockend! »Wenn du willst, könnte ich versuchen, die Luft dazu zu bringen, dass sie den Staub von unserer Haut fortbläst ...«
»Auf keinen Fall!«, schrie Tel. »Du bist verrückt! Zeig keine Kraft!«
Viktor schwieg eine Weile. »Tel, du hast doch selbst gesagt, dass Lojs Befürchtungen Unsinn sind!«
»Ja! Vermutlich sind sie das! Aber was, wenn nicht?«
Gegen dieses Argument konnte er nichts einwenden. Es war immer besser, auf Nummer sicher zu gehen. Komisch war nur, dass er bei Tel bislang keine besondere Neigung zur Vorsicht wahrgenommen hatte.
»Ich tu’s nicht«, sagte Viktor ergeben. Die Zauberformeln, die Loj ihm beigebracht hatte, waren ihm verlockend deutlich in Erinnerung. Es war alles ganz einfach. Sollte es wirklich so leicht sein, sich die Kunst der Magie anzueignen? Nein, wahrscheinlich nicht für alle. Die Fähigkeiten des Drachentöters halfen ihm vermutlich, eben jene, derentwegen
»Gut so«, lobte Tel ihn. »Ich werd mich jetzt auch waschen.«
Viktor begriff erst, was Tel meinte, als sie sich das Kleid über den Kopf zog und zum Wasser ging. Also, sie war wirklich ein außergewöhnlich schamloses Mädchen! Nein, er würde sich nicht dümmlich abwenden und auf das Thema Anstand zu sprechen kommen, ganz im Gegenteil, er folgte ihr mit den Blicken. Ungeniert war sie. Und schön, da wäre es wirklich ein Jammer, sich zu verstecken.
Sie lockte ihn doch nur! Der Gedanke war beunruhigend und kränkend. Die Verliebtheit kleiner Mädchen in erwachsene Männer nahm für gewöhnlich nicht derart offene, provokante Formen an.
Tel plätscherte hinter ihm und quietschte vor Kälte, aber Viktor wälzte in Gedanken immer noch seinen verspäteten Verdacht. War es tatsächlich möglich, dass ein halbwüchsiges Mädchen bei diesem wahnsinnigen Treiben der Zauberer und Zauberinnen mitmachte - ein Mädchen vom Geheimen Clan?
Ja, das war möglich.
Außerdem - hätte Tel ihn tatsächlich verführen wollen und an die haltbarste aller Leinen legen wollen, nämlich jene, die aus Verliebtheit, Begehren und Schuldgefühlen besteht, dann hätte sie das doch längst getan. Zum Beispiel in jener ersten Nacht im Hotel, als er verwirrt gewesen war und unsicher, ob alles um ihn herum überhaupt Wirklichkeit war. Oder des Nachts auf dem Kahn, unter dem nachsichtigen Schleier der Dunkelheit, leicht angetrunken und aufgerieben, wie er war, nicht nur physisch, sondern vor allem seelisch - da hätte er nirgendwohin flüchten können ...
Viktor räusperte sich.
Nein, in der kommenden Nacht würde Tel schön schlafen, und er würde Loj einen Spaziergang im Mondschein vorschlagen. Unter dem jungfräulich-reinen Mond, der nicht von Astronautenschritten entweiht war, und durch zartes, junges Gras, das so sehr zum Niederlassen einlud. Und Loj war ohne Frage eine freizügige Frau. So freizügig, dass er sich nicht scheute, sie als Luder zu bezeichnen. Loj lebte davon; Sex war für sie eine ebenso selbstverständliche Beschäftigung wie ein beiläufiges Gespräch oder ein Glas Wasser zu trinken ...
»Willst du dich nicht waschen?«, fragte Tel.
»Das Wasser ist kalt.«
»Dann lass uns gehen.« Tel erschien wieder in ihrem ursprünglichen Aufzug; mit dem hässlichen, kaputten Kleidchen, das ihr als Verkleidung gedient hatte, rieb sie sich, ohne zu zögern, die Beine trocken. »Wir gehen noch ein Stück den Hauptweg entlang, bald wird wieder mehr los sein. Vielleicht nimmt uns jemand mit. Du hast doch noch Geld, oder?«
»Und was ist mit Loj?«
»Wieso, willst du etwa auf sie warten?«
»Loj hat uns gebeten, nicht vor dem Abend weiterzuziehen.«
»Viktor!« Tel setzte sich vor ihn hin und schüttelte ihr feuchtes Haar. Viktor lächelte unwillkürlich über diese Geste. Verdammt, hatte sie tatsächlich schon bemerkt, welche Bewegungen er an ihr mochte? »Warum benimmst du dich wie ein kleiner Junge? Warum soll ich die Suppe für uns beide auslöffeln?«
»Was meinst du damit?«
»Ich traue Loj nicht«, sagte Tel mit fester Stimme. »Erstens tut sie immer so rätselhaft. Sie sagt uns nicht alles.«
»Das ist möglich.«
»Und zweitens wird sie nichts verheimlichen können, falls die Magier sie erwischen sollten. Ein erfahrener Zauberer holt sogar aus einem toten Zauberer die Wahrheit heraus.«
»Aus einem toten Zauberer?«
»Die Toten sind schutzlos«, sagte Tel in einem Ton, der ihn an den Wächter der Grauen Grenze erinnerte. »Die Toten verfügen über keine magische Kraft mehr, Viktor! Ach, ich Dummchen, ach ja ...«
Mit ihrem ganzen Wesen brachte Tel auf einmal Reue und Verwirrtheit zum Ausdruck.
»Was ist los?«
»Na ja, Loj ist eine schöne Frau ...« Tel blickte ihm nicht in die Augen. »Und schrecklich erfahren, wie hunderttausend Frauen auf einmal, wahrscheinlich ... Du begehrst sie, oder? Nun ja, so ist das doch bei Erwachsenen ...« Sie klimperte verwirrt mit den Augenlidern.
Viktor hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Tel mit ihm spielte. Nur hatte er nichts gegen sie in der Hand. Der Blick des Mädchens war aufrichtig und ganz und gar unschuldig, und ihre Wangen waren sogar gerötet.
»Sie ist wahrscheinlich schon so um die hundert«, fügte Tel nachdenklich hinzu. »Vielleicht auch zweihundert. Magier ersten Ranges sterben nicht an Altersschwäche ... Du könntest es so schön mit ihr haben, und ich, ich störe ...«
»Hau mir bloß ab damit!« Viktor sprang auf. »Was redest du da für einen Mist ...«
»Übers Alter?«
»Über mich! Ich will mit den Intrigen greiser Kokotten nichts zu tun haben! Los, gehen wir!«
Es war tatsächlich nicht weit bis zu einem stärker befahrenen Abschnitt des Wegs. Sie brauchten nur eine halbe
»Schmoll nicht«, sagte Tel plötzlich, als könnte sie seine Gedanken lesen. »Bitte. Wenn Loj nichts zugestoßen ist, findet sie uns sowieso.«
»Bewacht sie uns mit einer Zauberformel?«, fragte Viktor trocken.
»Jetzt sei doch nicht sauer.« Tel fasste seine Hand. »Na komm schon ... Loj braucht keine Formeln, sie ist nicht umsonst eine Katze. Die wissen, wie man ausspioniert, wie man sich versteckt, flüchtet, lügt - das ist Teil ihrer Kraft.«
»Aha, alles klar. Sie nimmt also unsere Witterung auf, folgt ihren niedrigsten Instinkten ...«
Als er sich die bezaubernde Loj vorstellte, wie sie auf allen vieren den Weg entlang irrte, musste Viktor lächeln. Und wenn es stimmte, dass sie tatsächlich schon über hundert Jahre alt war ...
»Aber wenn ihr etwas zustößt, weil wir nicht auf sie gewartet haben«, sagte Viktor mit drohender Stimme.
»Ich weiß, ich weiß. Das würdest du mir nie verzeihen, du würdest es mir sehr übelnehmen, mich in ein Waisenhaus oder ein Kloster stecken ... Mach dir keine Gedanken um Loj! Weißt du nicht, dass Katzen neun Leben haben?«
»Ah, da bin ich ja beruhigt ...«
Einige Augenblicke später sagte Tel unerwartet: »Aber ich bin sehr froh, dass du dich um Loj sorgst; wenigstens um irgendwen ...«
»Sich um dich Sorgen zu machen wäre so, als ob man einen Fisch im Wasser mit einem Schirm vorm Regen schützen wollte.«
So standen sie gegenseitig stichelnd eine halbe Stunde am Straßenrand und warteten. Dann saßen sie eine weitere halbe Stunde im Gras. Gut ein Dutzend Karren und andere Fahrzeuge kamen in dieser Zeit vorbei. Aber Tel rümpfte immer nur verächtlich die Nase; und auch Viktor reizte die Vorstellung nicht, in einem Wagen zusammen mit fünf dicken, freundlich grunzenden, fröhlichen Schweinen zu reisen oder in einem riesigen Gefährt, das wie ein Eisenbahnwaggon aussah und voller betrunkener, lustiger Gnome war. Im Gegensatz zu der Gegend um die Graue Grenze gab es hier praktisch keine Elfen; vielleicht mochten sie nicht so weit weg von den Wäldern siedeln, vielleicht hatten sie aber auch, einmal vertrieben von den Magiern, nicht mehr zurückkehren wollen.
»Weißt du, was mich wirklich wundert?«, fragte Viktor rein rhetorisch. »Wie ihr hier miteinander auskommt.«
»Wer? Alle? Oder die Clans?«
»Ach, lass mich mit den Clans in Ruhe! Wie viele Magier gibt es denn in jedem Clan? Hundert, tausend? Die haben doch keine andere Wahl, als miteinander auszukommen.«
»Sag das nicht.«
»Euch sticht doch nur der Hafer.« Viktor schmetterte Tels Einwände einfach ab. »Nein, ich meine, wie kommt es, dass die Elfen und Gnome nicht übereinander herfallen?«
»Gelegentlich fallen ja welche übereinander her«, warf Tel nachlässig ein. »Und es gibt ja auch nicht mehr viele. In den Bergen zum Beispiel trifft man ab und zu noch auf Trolle, aber sie sind selten geworden. Alle, die sich nicht eingewöhnen konnten, sind ausgestorben.«
Viktor dachte an den Kapitän ihres Kahns und fragte: »Gibt es hier noch Hobbits?«
»Was?«
Er erklärte es ihr, so gut er konnte.
Tel schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal klang ihre Stimme unsicher: »Ich hab noch nie davon gehört. Und ganz bestimmt noch keine getroffen. Das muss eure Erfindung sein.«
Endlich erschien ein Fuhrwerk auf dem Weg, das Tel mit einem Nicken guthieß. Es war eine Art Planwagen, dessen Bögen im Augenblick nicht von Planen verhängt waren. Ein junger Mann saß auf dem Kutschbock vor dem eingespannten Pferd und lenkte den Wagen, indem er in der einen Hand die Zügel hielt, gleichzeitig Sonnenblumenkerne knackte und mit der anderen Hand in einem abgegriffenen Büchlein blätterte. Der Anblick des Buches rief bei Viktor fast die gleiche unerhörte Gier hervor wie die Zeitungen am Bahnhof. Wie man es auch drehte und wendete, die Tatsache, dass er keine Möglichkeit hatte, etwas zu lesen, blieb nicht ohne Folgen.
»He, he!« Der Junge winkte ihnen freundlich zu. »Wollt ihr mitfahren?«
»Ja, nimm uns mit!« Tel zog Viktor hinter sich her. »Komm schon, schnell!«
Der Junge hatte offensichtlich nicht vor, das Pferd zum Stehen zu bringen, aber der gemächliche Schritt der phlegmatischen Stute stellte kein Hindernis dar. Tel sprang so leicht auf den Wagen, dass der Kutscher beifällig schnalzte. Viktor dagegen lief eine Weile schmachvoll hinter dem Wagen her, ehe er durch die offene Hinterwand hineinkletterte. Entlang der Längsseiten des Wagens standen zwei hölzerne Bänke, dazwischen häuften sich Berge von Heu.
»Wie weit wollt ihr fahren?«, fragte der junge Mann und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Auf der Anderen Seite würde er als ein ganz gewöhnlicher junger Mann
»Nach Feros«, sagte Tel und lächelte ebenfalls. »Mein Bruder und ich wollen uns als Magier versuchen.«
Was sollte denn das jetzt wieder, mein Bruder und ich?, überlegte Viktor.
»Den ganzen Weg kann ich euch nicht mitnehmen, aber bis zu den Fürstenhöfen gern.«
Viktor versuchte, Tels Aufmerksamkeit durch ein Hüsteln auf sich zu ziehen, aber die war vollauf mit ihrem kleinen Flirt beschäftigt.
»Die Leute sagen, ich hätte Talent. Am Ende wird aus mir wirklich eine Magierin, denk doch nur!«
»Das wäre ja toll! Na, versuch’s nur!« Der Junge legte das Buch zur Seite, ließ die Zügel los, worauf das gehorsame Pferd nicht im Geringsten reagierte, und hielt Tel in der offenen Hand Sonnenblumenkerne hin. »Da, nimm dir welche! Mein Bruder Sascha hat sie geröstet.«
»Danke dir.« Tel setzte sich neben ihn. »Und du, wie heißt du?«
»Wasja.«
»Ich heiße Tel. Hübsch, nicht wahr?«
Mit einiger Fassungslosigkeit betrachtete Viktor dieses Kind der Mittelwelt. Was würde sich ändern, wenn man es auf die Andere Seite versetzte? Vermutlich nichts.
Jetzt wandte sich der Junge an ihn. »Magst du auch? Keine Sorge ...« Eine Handvoll Kerne landete in Viktors Handfläche.
»Viktor.«
»Aha. Na, Vitek, knack dir ein paar Kernchen. Ich sag dir - süß wie Zucker!«
»Dürfte ich vielleicht ...« Viktor zeigte auf das Buch.
»Kannst du lesen?« Der Tonfall des Jungen war auf einmal nicht mehr nur freundlich, sondern regelrecht vertraulich. »Ich liebe es auch! Nimm nur, aber mach dir vorher die Hände sauber.«
Viktors Ansicht nach hatte das arme Buch nicht mehr viel zu verlieren. Der Papiereinband war so abgewetzt, dass man die Farben nicht mehr erkennen konnte. Auch der Titel war unlesbar geworden. Dennoch rieb sich Viktor gehorsam die Handflächen an den Jeans ab und öffnete das dicke Bändchen an der Stelle, wo ein Strohhalm aus den Seiten herausragte.
Hierher kamen sie nach kurzer Instruktion[21] direkt aus den Zellenversammlungen, sie schritten schweigend dahin, einzeln oder zu zweit, höchstens zu dritt, und jeder von ihnen trug in seiner Tasche ein Mitgliedsbuch mit dem Aufdruck »Kommunistische Partei (Bolschewiki)« oder »Kommunistischer Jugendverband der Ukraine«. Das eiserne Tor konnte nur passieren, wer ein solches Büchlein vorwies. Im Hörsaal hatten sich bereits viele Menschen eingefunden. Der Raum war hell erleuchtet, die Fenster waren mit Segeltuchplanen verhängt. Die versammelten Bolschewiki machten Witze über diese Vorsichtsmaßnahmen und rauchten seelenruhig ihre »Ziegenbeine[22]«.
Viktor hatte das Gefühl, wahnsinnig zu werden, ratlos blickte er Wasja an.
Der Junge nickte. »Aha! Hat’s dich gepackt? Flott erzählt, was?«
»Woher ... hast du das?«
»Es ist eben so ein Buch«, erklärte der Junge geduldig. »Fantasy. Schon mal davon gehört? Das heißt, sie lügen, aber spannend und zusammenhängend.«
»Das ist ein Buch von der Anderen Seite«, bemerkte Tel nach einem kurzen Blick. »Wie bist du daran gekommen?«
Wasja lächelte voller Stolz, gab aber keine Antwort.
»Und ... verstehst du das alles?« Viktor konnte sich sein leidenschaftliches Verhör nicht verkneifen.
»Na ja ... nicht ganz. Wie sie da Ziegenbeine rauchen können - ist mir echt ein Rätsel. Und dann all diese Bolschewiken und ... Komsomolzen. Die sind wohl so was wie die Gnome bei uns - bauen auch die ganze Zeit an der Eisenbahn. Oder sie sind eine Art Magier, die für Ordnung sorgen und die Abgaben eintreiben.«
Viktor war drauf und dran zu antworten, aber Wasja interessierte sich augenscheinlich mehr für Tel als für Fragen des Bolschewismus.
Er schlug Viktor wohlmeinend auf die Schulter und wandte sich wieder an das Mädchen: »Wo liegt denn deine Kraft?«
»Ich kann das Gras wachsen lassen, außerdem spüre ich Wasser ...«
»Das ist großartig!«
»Ich hab damit sogar den Gnomen bei der Route geholfen! Und zweimal bin ich schon auf eine Erzader gestoßen ...«
»Wirklich?« Der Junge stieß einen Pfiff aus. Er hatte ganz offensichtlich eine hohe Meinung von sich selbst. Das war schon an seinem Gesichtsausdruck zu erkennen, ganz so, als ob er nur zufällig auf diesem Kutschbock gelandet sei
Viktor nickte finster. Warum Tel es für nötig befunden hatte, einen zufälligen Wegbegleiter zu täuschen, konnte er ganz und gar nicht verstehen. Aber für irgendwas würde es schon gut sein ...
Andererseits war es auch nicht nötig, Tels Lüge aufzudecken, schließlich wollte er sich an ihrem Gespräch nicht beteiligen, sondern viel lieber über Pawel Kortschagin weiterlesen. Er streckte sich auf dem Boden des Wagens aus und blickte in den klaren Himmel. Kein Wölkchen, nirgendwo Rauch. Die Räder quietschten vor sich hin, der Wagen wurde ein bisschen durchgeschüttelt, aber nicht allzu sehr, denn die Trasse war stark befahren und die Erde zu einer Fahrrinne festgedrückt. Tel und Wasja hechelten die Magier durch. Aber natürlich respektvoll und voller Vorsicht.
Warum fuhr er nach Feros?
War es nicht an der Zeit, Tels Plänen nicht länger gehorsam zu folgen? Ja, ja natürlich, das Mädchen half ihm. Aber sie ließ doch auch ihre eigenen Ziele nicht aus den Augen. Schließlich hatte sie erst einen Nichtschwimmer ins Wasser gestoßen, ehe sie ihm jetzt stolz den Rettungsring zuwarf. Er musste endlich offen mit ihr reden ...
Plötzlich begriff Viktor, dass Loj Iwer in all seinen wütenden Gedankengängen eine Rolle spielte. Die graziöse Loj, wie sie ihre langen, wohlgeformten Beine ausstreckte und ihn vollkommen unzweideutig anlächelte. Verdammt! Was strahlte diese Frau nur für eine Faszination aus? Selbst wenn sie schon Hunderte von Jahren alt war, wie Tel gesagt hatte ...
Wie alt war wohl Tel?
Er hob den Kopf und blickte zu dem Mädchen hinüber. Genau im richtigen Moment, denn soeben legte Wasja ihr den Arm um die Schulter; er bekam postwendend eine leichte Ohrfeige und nahm ohne jedes Zeichen von Gekränktheit seinen Arm wieder weg.
Es gelang Tel, sich sehr unterschiedlich zu präsentieren. Mal war sie eine ernsthafte Lehrmeisterin, dann ein erschrockenes Kind, dann wieder eine erbarmungslose, kalte Frau. Wie sie über den Grenzer und seine Söhne einfach gesagt hatte: »Sie sind glücklich gestorben.« Beiläufig und nachlässig. Das war nicht der Zynismus einer Halbwüchsigen, wie er anfangs gedacht hatte. Und wenn er dann noch Lojs Worte über den Geheimen Clan in Betracht zog ...
Tel drehte sich zu ihm um, streckte ihm die Zunge raus und zupfte den Kutscher spielerisch am Genick. Viktor wandte verwirrt den Blick ab.
Nein, ganz gleich, wie viele Rätsel sie ihm aufgab, vorerst war es noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Ach, wenn Loj doch nur hier wäre! Die spielte zwar auch ihr Spielchen, aber zumindest ein sehr viel durchsichtigeres. Wo war sie jetzt, die Zauberin Loj Iwer?