19

Vermutlich war es kein Traum im eigentlichen Sinne des Wortes. Eher eine Art Ohnmacht. Viktor fiel lange ins Dunkel und kam schließlich von jenem Dämmerlicht umgeben wieder zu sich, das er schon aus seinen Alpträumen kannte.

Viktor wunderte sich kein bisschen, als der Fresssack auftauchte. Verwunderlich war nur, dass er sich nicht wie bisher an der Küste wiederfand. Zum ersten Mal war Viktor geradewegs an den Fuß der Berge versetzt worden. Als wäre er von einer geheimen Kraft dorthin geschleppt worden. Die matten, durchsichtigen Hänge leuchteten von innen heraus, die Luft roch nach Schwefel und Benzin.

Nein, bestimmt nicht. Sein Körper fühlte sich auf bekannte Weise leicht und fast trunken an. Weder Tel noch Loj waren zu sehen ...

Der Herr seiner Träume gab mit einem Blick auf Viktor ein zustimmendes Nicken von sich. Und dann sah er zu einem riesenhaften Krater hinüber, über dessen Öffnung eine dichte milchig-weiße Rauchwolke hing. Er flüsterte: »Die Zeit wird knapp. Ich wundere mich selbst, wie knapp ...«

Viktor antwortete nicht. Auch er blickte dorthin, wo sich die weiße Wolke über die Ränder aus durchsichtigem,

»Der Brei ist fertig.« Der Fresssack hüstelte. Seine Stimme hatte einen träumerischen Klang angenommen, er sprach ein bisschen schleppend und langsam, wie ein verweichlichter Adeliger, der in Erinnerungen an seine Heldentaten auf dem gesellschaftlichen Parkett schwelgt. »Wie viel Kraft es gekostet hat! Nein, du würdest es nicht glauben ... Der Auszug, ja, der ist schon lange her. In jenen Zeiten ... du verstehst schon.«

»Nein.«

Der Fresssack warf ihm einen schnellen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Lüg nicht, du verstehst alles. Als sich der Blick der Menschen veränderte ... als die Welten sich voneinander trennten. Glaubst du, dass das allen leichtfiel? Glaubst du, dass das Alte in Vergessenheit geriet? Mag es auch am Anfang so ausgesehen haben, als sei es für immer. Ach nein! Alles ist eng miteinander verbunden, Viktor.«

Er wunderte sich nicht, dass der Fresssack seinen Namen kannte.

»Wie viele Jahre, wie viele Jahrhunderte ...« Wieder änderte sich der Ton des Fresssacks, diesmal nahm er einen melodischen, gemessen melancholischen Klang an. »Und immer ist es ein und dasselbe! Als damals die Magier fortgingen, das Ufer einnahmen und das Völkchen der Elfen zur Ordnung riefen - da hat sich nichts geändert! Ja, schön, es war ihre Zeit. Das verstehe ich! Aber man muss wissen,

Viktor schwieg. Der weiße Rauch wallte immer dichter und dichter. Die Erde unter seinen Füßen zitterte leicht.

»Herrscher und Sklaven, Helden und Hasenfüße, großartige Ritter und gemeine Verräter. Liebe und Hass, Gut und Böse ...« Der Fresssack spuckte zu Boden. »Es reicht. Wie lange noch? Du, als du noch auf der Anderen Seite lebtest ... ich weiß es, ich weiß alles, na, schau mich nicht so an! Weißt du noch, wie es da war? Sag selbst! Hast du an Märchen geglaubt?«

»Nein.«

»Tatsächlich?«

»Ich habe an nichts geglaubt.«

»Genau darum geht es!« Der Fresssack verschränkte die Arme. »So kann es nicht mehr weitergehen, so nicht! Neue Zeiten brechen an, Viktor!«

»Bist du sicher?«

»Und wie!« Der Fresssack legte die Arme auf seinem Wanst zusammen. Zufrieden starrte er in den brodelnden Rauch. »Wenn du wüsstest, wie viel in die Sache investiert wurde, wie viel zusammengeklaubt, auf den Futterböden zusammengescharrt, bis zum Boden ausgekratzt wurde, noch das kleinste Krümelchen.«

»Ist da ein Drache drin?«, fragte Viktor.

Der Fresssack schwieg, dann nickte er unwillig. »Er ... ist aus der Heimat ...«

»Und alles für einen Krieg mit der Mittelwelt? Für eine Handvoll Magier, die sich sowieso gegenseitig ausrotten?«

»Ein Drache ist kein Panzer, der gegen das Fußvolk vorrückt, Viktor. Ein Drache ist auch ein Symbol. Ein Zeichen. Der Inbegriff der Kraft. Es gab einmal eine Zeit, da glaubte

»Wir alle?«

»Das weiß ich nicht.« Die Stimme des Fresssacks wurde plötzlich weicher. »Manchmal denke ich, alle haben es getan! Niemand braucht sie mehr, jene Fähigkeit, ein Schwert zu erheben und gegen den Machthaber zu kämpfen. Na gut, dann ist sie eben beim Teufel! Wozu auch? Alle haben es doch schon verstanden: Auf dem Schlachtfeld ist der Krieger nicht allein, und dem Schicksal die Wahl zu überlassen ist eine scheußliche Sache; dann schon besser, sich im sicheren Grüppchen zusammenrotten, die Zähne fletschen, als Truppe durch die Gegend ziehen ... Und sie stampfen und stampfen, jene ... und wenn sie wieder fort sind, stehen die Häuser leer, die Herzen sind tot und die Städte brennen; und des Nachts schreien sie, wissen aber selbst nicht, warum ... Sie haben keinen Drachen im Herzen, keinen Feind, gegen den sie ihr Schwert erheben könnten ...«

Der Fresssack hustete und fügte etwas verwirrt hinzu: »Schwert, das meine ich im übertragenen Sinn ... du weißt schon.«

»Aber wie ist euer Drache? Der Erschaffene Drache?«

»Oho!« Der Fresssack drohte Viktor mit erhobenem Zeigefinger. »Da hast du was aufgeschnappt, hä? Hast also die

Viktor lächelte nur.

Der Fresssack atmete tief ein. »Du willst sagen, dass sich trotzdem welche finden werden, die gegen ihn sind, welche mit einem Drachen im Herzen?«

»Ja.«

»Aber sag mal ...« Der Fresssack blickte Viktor neugierig ins Gesicht. »Sag, ist es einfach, einen Drachen zu töten?«

»Es ist schwer. Man ... man muss dafür beinahe selbst ein Drache sein.«

»Richtig.« Der Fresssack nickte zustimmend. »Es ist keine einfache Aufgabe, die Verkörperung der Kraft zu sein. Man muss dem Drachen wenigstens ebenbürtig sein. Und was noch ... hast du verstanden, was man noch braucht?«

»Hass.« Das Wort kam Viktor schwer und gezwungen über die Lippen.

»Genau!« Der Fresssack hob den Finger. »Man kann sagen, was man will, aber darin waren die Drachen unterlegen. Ihr Zorn war ungeheuerlich und ungestüm ... aber vor der reinen Zerstörung fürchteten sie sich doch. Und sie liebten das Leben. Liebten es sehr ...«

»Und dieser hier?«

Der Fresssack dachte nach. »Wie soll ich es am besten erklären ... dass du es verstehst. Nimm eine Pferdeherde. Und dazu Wölfe. Das eine oder andere Tier werden sie reißen, und von dem einen oder anderen Tier bekommen sie einen Huf an die Stirn. Und jetzt nimm eine Schafherde und ...«

»Einen Hund.«

»Natürlich. Er wird sie wohl hüten ... aber Fleisch liebt auch er.« Der Fresssack lachte auf. »Nur ist der Hund den Schafen viel vertrauter als der Wolf. Es gibt weniger Blut, und sie fühlen sich in Sicherheit. Sollen die Schäflein nur immer an ihren Gräsern knabbern, damit sie Fett ansetzen. Und womit der Schäfer den Hund füttert, das geht das Schaf nichts an.«

»Menschen sind keine Schafe.«

»Denkst du?« Der Fresssack zuckte mit den Schultern. »Vielleicht siehst du mehr ... aber ich bezweifle es. Wenn ein durchdringender Schrei ertönt ...« Er holte tief Luft und plapperte mit dünner Stimme weiter: »Wie lange kann man so weitermachen? Immer das Gleiche, mit dem Schicksal kämpfen, sich selbst bis zum Letzten verteidigen? Es ist an der Zeit, friedlich zu leben, die Welt bewohnbar zu machen, nett zu sein, gut und sich innerlich zu vervollkommnen ...«

»Mach dich nicht lustig!«

»Wer, ich? Nein, Viktor. Ich wiederhole es doch nur. Alle sind müde, verstehst du? Von den Kämpfen, von den Gefechten, davon, dass sie sich entweder versklaven lassen oder zum Kampf herausfordern müssen. Sie wollen das nicht mehr! Das heißt ... heißt eindeutig, dass es Zeit für einen neuen Drachen ist. Einen guten, freundlichen, unauffälligen Drachen. Einen Schäfer. Wenn sie sich selbst das Schaffell überziehen, wird auch der Wolf bereit sein zu bellen. Aus Gutmütigkeit, von Herzen ...«

Seine Stimme ging im Donnergrollen unter. Die grauen Berge begannen zu beben. Rauch schoss wie eine Fontäne empor und ergoss sich über den Himmel.

»Genug gewartet«, sagte der Fresssack fröhlich. »Jetzt kommt er! Der Drache kommt! Der Erschaffene Drache!«

»Das ist noch nicht alles!« Viktor hielt den Dicken an der Schulter fest und schüttelte ihn. »He! Wenn es einen Drachen gibt, wird es auch einen Drachentöter geben!«

»Wer?«, wunderte sich der Fresssack. »Doch nicht etwa du?«

»Vielleicht sogar ich!«

»Dann kämpfe mit ihm, Viktor! Tritt ihm entgegen! Und ich werde zusehen! Der Drachentöter hat nur die Fähigkeit zu zerstören, nicht, sich zu verteidigen! Erschlag den Drachen, versuch es! Aber was wirst du mit jenen tun, die sich schon daran gewöhnt haben, unter seinem wachsamen Auge zu leben? Sie sind alle hier, Viktor! Sie sind ein Teil des Drachen! Ihre Welt hat sich geleert, und sie fürchten nur die eigenen Träume. Ihnen geht es gut unter den stählernen Flügeln!«

Weiße Ranken aus Rauch tanzten und verwoben sich zu undeutlichen Figuren. Es schien, als müsste man nur die Augen anstrengen, um sie zu begreifen, zu erkennen.

Ein verschwommener, schwankender Schatten schlich heran, kam näher, bis er bei Viktor war; aber als Viktor ihn direkt ansah, löste er sich auf und schmolz, und es blieb nur die Empfindung eines fremden, ätzenden, wahnsinnigen Blickes ...

Etwas Wirbelndes, Jagendes, Erdrückendes, Loderndes - vollständiger Schmerz und das Geheul des Grauens ... durchsichtige Schlösser, wolkige Städte im Rauch und aus Rauch, über deren Straßen körperlose Geister wandeln ... Mauern, Mauern, endlose Mauern - ein Käfig aus Nebel, ein saugender Trichter, eine Einzelzelle im Gefängnis ...

»Ihr erschafft uns selbst, Viktor! Ihr ruft uns von der Anderen Seite, ihr lockt uns an! Und wir kommen! Die Zeit der Drachen ist vorbei.« Der Fresssack blickte ihm ins Gesicht.

Aus dem Trichter quoll dunkles, rötliches Licht. Die Rauchschwaden färbten sich zinnoberrot. Etwas Orange-Rötliches blitzte auf, wie Lava. Seine Hand glitt wie von selbst zum Griff seines Schwertes.

»Es ist noch nicht zu spät, Viktor.« Der Fresssack schubste ihn zum Trichter hin. »Sie sind alle hier! Diejenigen, die sich in ihrer Einsamkeit verirrt haben, diejenigen, die ihrer Ängste müde sind, die, die ihre Seele verbrannt haben - alle sind hier! Gesell dich zu ihnen!«

Viktor zerrte das widerstrebende Schwert aus der Scheide. Die Lava floss immer noch ...

Lava?

Ein formloser Körper, ganz aus Feuer, von der Farbe geronnenen Blutes. Pfoten aus schuppigem Stahl, sein Schlund ein rauchender Krater. Gläsernes Blitzen der bewegungslosen runden Augen. Der Drache war gewaltig, plump, er drehte sich und zog die dunklen Flächen seiner riesigen Flügel an die Oberfläche.

»Und?«, rief der Fresssack herausfordernd. »Bist du auf unserer Seite?«

Der Drache öffnete seinen Schlund. Seine Zähnen blitzten auf, blinkende Hauer, die in die Schaufel eines Grubenbaggers passen würden. Heiße Dunstschwaden wälzten sich über den Erdboden. Die Pfote streckte sich nach Viktor aus - langsam, ohne jede Bedrohlichkeit. Als ob sie dazu einlüde, auf sie hinaufzuklettern und sich in einem langen, endlos langen Schlaf zu verlieren, in der zärtlichen Wärme des Drachenschoßes, unter der Aufsicht wachsamer Augen ...

Mit dem Schwert gegen so einen?

Die Welt erzitterte, wandelte sich. Schwamm nach allen Seiten fort, als hätte sich das Blickfeld verändert, und Viktor sah jetzt in einen bauchigen Spiegel. Die Erde flüchtete nach unten. Der Fresssack war eine winzig kleine Gestalt zu Viktors Füßen geworden.

Zu seinen Pfoten, die den Pfoten des Erschaffenen Drachen um nichts nachstanden.

Um mit dem Drachen zu kämpfen, muss man einer werden.

Das ist der Weg des Drachentöters.

Viktor schrie auf in einer Welle blinden Zorns, in bereits vertrauter Kampfesgier. Ein Feuerwall schlug zu, verspritzte Rauch, floss über den Erschaffenen Drachen.

Und jener brüllte auf.

»Na gut!«, piepste der Fresssack weit unter ihm. »Komm schon!«

Der Erschaffene Drache flog in den Himmel hinauf, in einer Aureole von Flammen und unter heißen Windstößen; von seinen schweren, schwarzen, bleiernen Flügeln fielen Steine, und in seinen reglosen Augen brannte Spott.

Viktor riss sich von der Erde. Hinterher.

Er wunderte sich nicht darüber, dass er fliegen konnte, und auch nicht darüber, dass er diesmal nicht mit Luftflügeln, sondern mit seinen eigenen flog, sich mit seinem biegsamen, regenbogenfarbenen Leib in die Lüfte erhob. Sein Körper war riesig, erfüllt von unermesslicher Kraft. Der heftige Luftstrom fegte den Fresssack von den Füßen, er stürzte und rief noch: »Kämpfe! Kämpfe mit ihm, Drachentöter!«

Ein dickflüssiger Strudel - keine reine Flamme - kochendes Pech, verdichtetes Benzin. Der Erschaffene Drache schien zu spucken und schoss im Vorbeifliegen ein Feuergeschoss auf Viktor ab.

Nicht schlimm ...

Die Flamme verlöschte im Wind. Sie flogen immer höher und höher. In Kreisen stiegen sie auf, ohne die Augen voneinander abzuwenden.

Der Drache und der Drachentöter.

Was hatte der Fresssack gesagt? Werde einer von uns?

»Nicht nur das«, vernahm er eine Stimme an seinen Ohren. »Wenn du das nicht willst, dann werde selbst einer?«

»Einer, wer ist das?«, rief Viktor lautlos aus.

Weit unten wurde die winzige Gestalt des Fresssacks in einem Staubwirbelsturm herumgeschleudert.

»Ein Erschaffener Drache«, folgte die lakonische Antwort. »Der, der alles annimmt und umfasst. Und alle beruhigt. Der Hund bei der Schafherde.«

Der Fresssack sprach jetzt sogar anders. Wo waren seine Witzeleien und sein ganzer Hokuspokus hingekommen?

Viktor antwortete nicht. Sein Blick hielt fasziniert den eisernen Körper des Erschaffenen Drachen fest, die gleichmäßig schlagenden schweren Flügel aus nacktem schwarzem Blei, die toten gläsernen Augen. Erstickender Hass brach in einem Strom zornigen Feuers aus Viktor heraus. Auf seinem Weg explodierte die Luft selbst; über seinem gekrümmten Rückgrat sammelte sich das angespannte Knäuel einer Wasserpeitsche; und unter ihm begannen sich unter Donnergrollen die Erdschollen aus ihren jahrhundertealten Höhlen zu heben.

Der Zorn der Elemente ist in dir und mit dir, Viktor von der Anderen Seite: Sieg dem Drachentöter!

Eine frohlockende Flamme traf den Erschaffenen Drachen an der Unterseite eines Flügels. Einer der Flügel aus Lamellen hob sich sinnlos in die Höhe, und das eiserne Ungetüm stürzte in die Tiefe. Aus seiner Kehle, diesem rotglühenden

Ehe du wieder zu dir kommst, du Ungetüm ...

Viktor hatte nicht gewusst, dass Hass so süß war. In keiner Welt konnte es etwas vergleichbar Süßes geben. Weder Wein noch Gold noch Frauen, nichts konnte sich mit Hass messen. Den fallenden, sich in seiner Agonie krümmenden Feind zu sehen, zu wissen, dass er in deiner Hand ist ...

Du scheinst ja nicht allzu stark zu sein, Erschaffener Drache.

Das Ungetüm verlor an Höhe. Der angeschlagene linke Flügel schlug seltener und nur mit Mühe. Viktor musste ihn töten und überließ dem Wasser das Feld.

Die aufs Äußerste gespannte Wasserpeitsche schnellte vor, ging machtvoll auf die glühende Panzerung der Schnauze nieder. Und zerstob, verflog wirkungslos, löste sich in eine Wolke harmlosen Dampfes auf. Aber der Erschaffene Drache kreischte dumpf auf und schlug plötzlich und kraftvoll mit beiden Flügeln; augenblicklich befand er sich wieder auf Viktors Höhe.

Luft! Blitze!

Der schwarze Himmel platzte. Die vom Ruf des Drachentöters zusammengeballten Wolken entließen eine Flut blendend weißer, vielfach verästelter Blitze. Ein dichtes Strahlengeflecht umgab den unförmigen Körper des eisernen Ungetüms, saugte sich an seinen blutroten Längsseiten fest, und der Erschaffene Drache wurde von heftigen Krämpfen

Du fällst, du bist am Ende!, wollte Viktor rufen.

Jedoch, das Ungetüm aus der Welt der Angeborenen weigerte sich hartnäckig zu sterben. Wieder gewann sein Flug die alte Gleichmäßigkeit zurück. Wieder stützten sich seine riesigen Flügel auf die Luft. Und obgleich der Drachentöter die Weihe der Luft erlangt hatte, konnte er das Element nicht zwingen, vor den bleiernen Flügeln des Feindes zurückzuweichen, damit dieser wie ein Stein auf die spitzen Felsen tief unter ihnen stürzte ...

Der Drachentöter konnte nur hassen. Und vernichten. Im Angriff. Er war ebenso wenig fähig, etwas zu schöpfen, wie ein Wurm in der Lage war zu fliegen.

Der Erschaffene Drache erhob sich wieder in die Lüfte. Seine Augen brannten vor bösartigem Hohn. Ich habe drei Schläge von dir eingesteckt, schien er zu sagen. Nun bin ich an der Reihe. Pass auf dich auf, Drachentöter!

Was konnte ihm jetzt den Rücken stärken?, fragte Viktor sich. Der wahnsinnige »Lauf zum Meer«, die Weihen, die er ohne jedes echte Verständnis erlangt hatte? Was genau sollte er jetzt mit ihnen anfangen? Hier in dieser fremden, absurden Welt, wo er wie ein Spielzeug war, eine Marionette in den Händen kunstfertiger Puppenspieler? Und der geliehene Hass, konnte der ihm helfen? Ritor, ja, der hatte wahrhaftig gehasst ...

Der Erschaffene Drache näherte sich. Das triumphierende Geheul des Ungetüms schlug sogar die bedrohlichen Wolkenberge in die Flucht. Ein graues Himmelsgewölbe wurde sichtbar; die eisernen Kieferknochen wichen auseinander,

Er schrie auf.

Sein Schrei entrang sich seinem Kehlkopf, brach hervor, als ob er sich selbst in die Kraft verwandelt hätte, die danach strebte, den Feind zu vernichten. Die Welt wurde dunkel; es schien, als fiele er, eingehüllt in eine rauchende Flamme, zur Erde; klebriges Feuer leckte über seine Schuppen und suchte nach einem Spalt.

Wind, Wasser, Feuer! Zu Hilfe! Erde!

Ein Sturzregen. Schrecklich, wenn der ganze Himmel sich in eine einzige Flut verwandelt. Aber auch die war nicht imstande, das klebrige Feuer aus brennbarem Pech zu löschen; endlich, zusammen mit dem Wind riss das Wasser die lodernde Hölle von Viktors Panzer.

Mit einem Mal breitete sich unter ihm ein kleiner Wald gigantischer Gräser aus. Myriaden riesiger grüner Halme. Viktors glühender, gepanzerter Körper prallte mit ungebremster Kraft auf sie herab.

Die Grasriesen federten seinen Sturz. Ihr grüner Saft wusch die Reste des giftigen Pechs ab, das ihn stark an Napalm erinnerte.

Viktor hatte wieder seine alte Gestalt angenommen, er stand da, die Hand am Schwertgriff. Und am Himmel segelte stolz der Erschaffene Drache.

Dein Hass ist zu schwach, Drachentöter. Das ist nicht deine Welt.

»Was ist?« Viktor wunderte sich nicht, als er die Stimme des Fresssacks an seinem Ohr vernahm. »Ist was schiefgelaufen? Na ja, es musste schieflaufen.«

Das grüne Dickicht starb vor seinen Augen dahin, die gigantischen Halme lösten sich in graue Asche auf.

»Mit den Elementen richtest du hier nichts aus«, sagte der Fresssack zufrieden. »Unser Drache, sieh nur, da kreist er ... Und du, Viktor, bist schon am Ende deiner Kräfte. Was glotzt du so? Glaubst du mir nicht? Dann versuch es doch noch mal, flieg auf. Oder spuck Feuer. Das bringt alles nichts. Denn du bist nur dem Namen nach der Drachentöter. Du hast viele Zweifel.«

»Weil ich noch nicht alle Weihen durchlaufen habe. Und die Dracheninsel«, krächzte Viktor. Merkwürdigerweise war er unversehrt, das klebrige Feuer hatte nicht die kleinste Verbrennung hinterlassen. Nur eine heftige Schwäche war zurückgeblieben; er hatte das Gefühl, wenn der Fresssack ihn jetzt anpusten würde, flöge er davon wie das schwerelose Knäuelchen eines Pappelflaums.

»Nein.« Der Fresssack schüttelte den Kopf. Er winkte dem Erschaffenen Drachen. »Das nützt auch nichts ... obwohl du natürlich dorthin gelangen kannst. Dein Mädelchen wird dich schon hinführen. Mit ihr hast du Glück gehabt ... sie ist geschickt. Aber dann auf der Insel ...« Er seufzte mitfühlend. »Da nützt das alles nichts. Mit dem Hüter dort musst du selbst fertig werden. Aber ist das wirklich nötig? Was meinst du?«

»Hüter?«

»Mach dir keine Hoffnungen, Viktor. Ich werde dir nichts über ihn verraten. Das musst du schon selbst herausfinden.« Der Fresssack schnaufte beleidigt. »Es macht keinen Spaß mit dir. Den Drachen konntest du nicht besiegen ... Langweilig ist das.« Er drehte Viktor herausfordernd den Rücken zu.

»Bleib stehen!« Viktor streckte seinen Arm aus, um den dreisten Kerl an der Schulter zu packen - und wachte von einem heftigen Ruck auf.

Er lag auf Steinen am äußersten Saum der Meeresbrandung. Vor seinen Augen nahm er einen weichen, goldfarbenen Widerschein wahr. Die Steine waren warm und glatt und schienen von innen heraus zu leuchten.

Viktor hob den Kopf. So sah sie also aus, die Dracheninsel!

In diesem Augenblick vergaß er Loj vollständig und sogar Tel.

Über ihm erstreckte sich ein niedriger stürmischer Himmel, an dem sich schwarze Wolken türmten. Die bleiernen Wellen warfen sich mit hungrigem Zorn ans Ufer, leckten gierig über die goldfarbenen Steine, und der zurückweichende Schaum nahm einen matt limonenfarbenen Glanz an. Ein schmaler Weg, der mit jenen goldfarbenen Gesteinsbrocken ausgelegt war, begann direkt am Wasser. Er führte um einen abgerundeten Vorsprung herum, stieg allmählich an und verlor sich dann aus dem Blick.

Rechter Hand lag das Meer, und links erhob sich ein steiler Felsen, kohlschwarz und glänzend wie frisch mit Wasser übergossen. Er war vollkommen glatt, ohne die kleinste Spalte oder Unebenheit, wie es in der Natur nie vorkommt; er schien wie die Schöpfung geheimer magischer Kräfte. Der Weg brach vor Viktors Füßen ab und mündete geradewegs in den Schaum der Brandung.

Trotz des dichten Wolkenschleiers war es ziemlich hell, entweder von den goldenen Steinen oder von den Sonnenstrahlen, die auf irgendeine Weise doch durch die schwarze Decke über dieser Welt drangen.

Viktor hob den Kopf. Der Weg kletterte wie eine Spirale in vielen Windungen den gigantischen schwarzen Schieferkegel hinauf, der unmittelbar aus den Meereswellen aufragte.

Und der Weg selbst war nur am Anfang glatt. An den Hängen des gewaltigen Berges erblickte Viktor Höhlen voller Feuer, über die hier und da schmale Brücken hinüberführten. Teilweise waren die Windungen des Weges fast vollständig hinter schwarzen Staketen spitzer Felsbrocken verborgen, die wie unheimliche Wächter entlang des Wegrands errichtet waren und den goldenen Widerschein fast ganz verschluckten.

Viktor sah Trichter von Wirbelstürmen, die reglos in der heißen Luft hingen; seine Haut spürte, wie die Winde zu unvorstellbar schrecklichen Attacken bereit waren. Und die friedvoll heranrollende Brandung konnte sich jeden Augenblick in einen wütenden Angriff wahnsinniger Wellen verwandeln.

Und noch höher, auf dem flachen Gipfel des Kegelberges, sah Viktor ein Schloss. Es sah aus, als wüchse es aus den Knochen der Erde heraus. Es schien die Verlängerung der schwarz-goldenen Berghänge zu sein; und gleichzeitig konnte Viktor sich einfach nicht von der Illusion befreien, dass das Schloss nicht auf dem Felsen stand, sondern in der Luft schwebte, dass eine dünne Schicht aus Nichts seine Fundamente von der flachen Schnittstelle des Gipfels trennte.

Die Mauern des Schlosses waren von undurchdringlichem Schwarz. Sie waren nicht glänzend tiefschwarz wie das umliegende Felsgestein und auch nicht wie kostbarer Achat, sondern schwarz wie jene immerwährende Finsternis, aus der einst alles Wahrhaftige geschaffen wurde, ehe noch »Es werde Licht!« erklang. In diesen Mauern ertrank

Und über dem Kranz zinnenbewehrter Mauern und spitzer Wehrtürme hingen matte, perlmuttfarbene Kuppeln. Ihre weichen Rundungen schufen einen wundersamen Kontrast zu der Schärfe und Zackigkeit der Außenmauern. Für einen Moment kam es Viktor sogar so vor, als ob er riesenhafte, frisch gelegte Eier sähe, Eier, aus welchen ans Licht der Welt zu gelangen es nur den großen Echsen, den Doppelgängern der Geflügelten Herrscher gebührt.

Viktor sah das Schloss von einem günstigen Punkt aus; es führte noch ein zweiter Weg dort hinauf, und er konnte nicht feststellen, auf welchem er sich befand. Einer endete neben einer blinden Schlossmauer und der zweite vor den Toren, die in der Riesenhaftigkeit des Schlossbergs winzig klein aussahen. Noch ein weiterer dritter Weg führte zu den Toren, und zwar von einem weitläufigen Platz her, der durch eine Schlucht vom Schloss abgetrennt war. Diese Schlucht führte so steil in die Tiefe, dass sie aussah wie ein Spalt, der vom Hieb einer ungeheuerlichen Axt herrührte. Über diesen Abgrund spannte sich eine Brücke ... eine sehr merkwürdige Brücke, die an einen Regenbogen erinnerte. Nebel in allen Farben ballten sich über der Schlucht, dunkelrote, blaue und dunkelviolette Schwaden verliefen über dem weit geöffneten Rachen des Abgrunds ineinander.

Der ungeheuerliche Spalt zog sich etwa bis zur Mitte des Kegels; dann ragten auf der Viktor zugewandten Seite schwarze Felsen in die Höhe empor, jedoch war Viktor selbst aus irgendeinem Grunde fest davon überzeugt, dass der Abgrund weit tiefer als bis zum Meeresboden reichte, weit hinab in die mächtige Erdkruste - und war da nicht

»Viktor!« Tel kam hinter einem Stein zum Vorschein. Sie war völlig verdreckt und ihre Kleider zerrissen. »Wo ist Loj? Hast du sie gesehen?«

»Nein.«

»Wir müssen sie suchen! Und wir müssen den Weg nach oben nehmen, zum Schloss! Sie jagen uns ...«

»Wer jagt uns?«, fragte Viktor verwundert.

»Ein Magier ersten Ranges kann durch die Tür gehen. So wie Loj es konnte. Und jetzt sind Ritor, Torn und Andrzej hinter uns her.«

»Ach, der auch?«, wunderte sich Viktor noch mehr.

»Der ganz besonders.« Tel konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. »Wie du ihm den Kübel über den Kopf gestülpt hast! Welcher Magier würde das hinnehmen! Vielleicht, wenn du ihn im magischen Duell besiegt hättest, nach allen Regeln der Kunst - aber so war es ja eine schreckliche Blamage und das auch noch vor seinen Vasallen! Er wird lieber Erde fressen, als uns in Ruhe zu lassen. Na gut! Scherz beiseite. Wo ist Loj?«

»Ich bin hier«, vernahmen sie eine finstere Stimme.

Ziemlich zerzaust und mit neuen Rissen im Kleid tauchte Loj bei ihnen auf.

»Nicht jeder reist auf diesem Weg so bequem wie auf der Route der Gnome«, erklärte sie. Sie schüttelte sich - wobei sie wirklich haargenau wie eine durchnässte Katze aussah! - und blickte nach oben. Augenblicklich beschattete sie mit der Handfläche die Augen.

»Bei den Großen Kräften ... ich hätte nie geglaubt, dass ich es irgendwann einmal mit eigenen Augen sehe ... das Schloss über der Welt, Viktor! Sieh nur, das Schloss über der Welt!«

»Ja«, bestätigte Tel mit einem gewissen Triumph in der Stimme. »Das Schloss über der Welt. Der Anfang aller Wege. Und auch ihr Ende. Das Schloss des Hüters.«

»Du hast mir nie von ihm erzählt, Tel.«

»Das konnte ich nicht, Viktor. Du musst mit ihm reden. Und sonst keiner.«

»Und was ist mit dir, Geheime?«, bohrte Loj.

»Ja, schon.« Tel nickte unwillig. »Unter besonderen Umständen ... kann auch ich. Nur möchte ich das nicht. Weil diese Umstände sehr ungünstig wären.«

»Das heißt, ich muss nur zum Schloss hinauf und mit dem Hüter sprechen?« Viktor konnte es kaum glauben.

»Ja, du musst nur hingelangen.«

»Und warum gibt es mehrere Wege?« Viktor ließ nicht locker.

In den Augen des Mädchens blitzte es bedrohlich.

»Lass uns gehen! Die Magier werden sich bald hierher durchgeschlagen haben!«

»Wieso sollten wir sie fürchten?«, sagte Loj plötzlich. »In Oros waren sie viel mehr und konnten doch nichts gegen uns ausrichten.«

»Loj, auf der Dracheninsel verstärken sich die Kräfte eines jeden Magiers.«

»Und Viktors Kräfte ...«

»... sind genauso groß wie vorher«, schnitt Tel ihr das Wort ab. »So kommt doch endlich, wir stehen schon lange genug hier herum!«

Endlich brachen die drei auf, den spiralförmigen Weg hinauf. Die Insel der Drachen erwies sich als riesiger Felsen, der inmitten des öden Meeres einsam in den Himmel aufragte. Auf ihr wuchs nichts, kein Grashalm. Es gab nur

Etwa eine Viertelstunde lang gingen sie schweigend dahin.

»Und das ist die ganze Prüfung?« In Viktors Stimme schwang sogar so etwas wie Enttäuschung mit. »Den Weg bis zum Ende zu gehen?«

»Angeblich ja.« Tel runzelte die Stirn. Irgendetwas gefiel ihr ganz und gar nicht.

»Feuergräben«, bemerkte Loj. »Tornados. Und andere elementare Feinheiten.«

Tel krauste ihre kleine Nase.

»Das gehört einfach zur letzten Prüfung ... die Macht über die vier Urgründe ... Viktor muss sie bestehen. Ich habe gehört, dass diese Prüfung in früheren Zeiten erschaffen wurde, als noch viele die Tür zu öffnen vermochten ... und einen Angriff auf die Kraft und die Macht des Hüters versuchten. Aber ohne die vier Weihen würde niemand auch nur die ersten Windungen der Spirale überstehen.«

»Gut.« Loj fühlte sich offenbar nicht wohl. »Lasst uns weitergehen, aber wir müssen uns regelmäßig umsehen; ich spüre, dass die drei nicht mehr weit entfernt sind.«

Schritt, Schritt, Schritt. Es war seltsam, wie ihre Reise zu Ende ging. Abgerissen, schmutzig, erschöpft, schritten sie beharrlich immer weiter, vorbei an wundersamen Zeichen, die in die aufrecht stehenden Steine gemeißelt waren: heilige Symbole aller bekannten und unbekannten Religionen sowie ineinander verschlungene Runen, Hieroglyphen, arabische Kalligraphie und die längst vergessene babylonische Keilschrift.

Was bedeutete das alles? Diese Schriftzeichen lockten mit uralten Geheimnissen, älter als das Meer, älter sogar als

Das erste Hindernis erwartete sie, als sie den Berg einmal fast umrundet hatten. Ein Graben voller Feuer, im Grunde nicht allzu schwierig. Er war nicht breiter als zwei Meter, und vermutlich konnte man ihn mit Anlauf einfach überspringen. Tel und Loj blieben stehen und gingen nicht näher als bis auf zehn Schritte zum Rand des Grabens hin.

Viktor näherte sich vorsichtig. Und sogleich heulte die Flamme auf, Feuerzungen schlossen sich zu einer dichten Wand zusammen, Hunderte Hitze versengende Hände streckten sich ihm entgegen ... Hier würden sie kaum rüberspringen. Natürlich könnte er auch fliegen, ja, vielleicht sollte er das tun? Loj und Tel konnten hier warten, und er würde schnell zum Schloss fliegen und zurück ...

Puh, was für eine gemeine, dumme Idee, dachte Viktor. Derjenige, der sich diese Prüfungen ausgedacht hatte, hatte offenbar nicht mit einem Menschen von der Anderen Seite gerechnet.

Warum willst du mir schaden, Feuer? Warum willst du mich erzürnen? Soll ich dich mit Wasser stürmen, damit du erlischst? Oder soll ich die Wände dieser Höhle zwingen zusammenzurücken? Ganz gleich. Du wirst mich nicht aufhalten.

Er hörte nur das Heulen der wahnsinnigen Flammen.

Erde war die Antwort.

Der Weg unter ihren Füßen stöhnte schwer. Ein kurzer Krampf lief durch die Steine hindurch, wie wenn sich ein ungeheures Tier von einer Seite auf die andere dreht, ohne die im schweren Winterschlaf fest geschlossenen Augen zu

Die Zunge aus Steinen streckte sich langsam über den Graben. Um zu siegen und nicht unbedingt zu zerstören.

Die Erde unterwarf sich nur mit Mühe. Viktor hatte das Gefühl, als stemmte er mit letzten Kräften eine Stange, die eigentlich zu schwer zum Anheben war. Das Feuer winselte beleidigt und wich zur Seite.

»Lasst uns gehen«, sagte Viktor unter Keuchen. »Es wäre schön, wenn es auch weiter so funktionieren würde ...«

Unmittelbar darauf dachte er, dass es nicht schlecht wäre, die Brücke zu zerstören, für den Fall, dass ihre Verfolger doch bis hierher kamen, damit sie kein allzu süßes Leben hätten.

»Tu das nicht«, vernahm er plötzlich. Tel blickte ihn so durchdringend an, dass die Worte, die auszusprechen er schon im Begriff war, von selbst abstarben und nicht einmal sein Bewusstsein erreichten.

»Gut.« Viktor nickte, und die Brücke blieb, wie sie war: ein leichter Weg für Ritor. Obwohl jener es wahrscheinlich vorziehen würde, zu fliegen.

Und wieder gingen sie schweigend. Tel schleppte sich mühsam vorwärts, gebeugt und wie erloschen, und blickte stumpf vor sich hin. Loj führte sie an der Hand und warf dem Mädchen immer wieder beunruhigte Blicke zu.

Was würde als Nächstes kommen?

Als Nächstes hing das reglose graue Gespenst eines Wirbelsturms vor ihnen über dem Weg. Er war lautlos und völlig starr, wie zur Reglosigkeit verurteilt. Auf dem goldenen Absatz herrschte nicht das kleinste bisschen Wind, und kein Geräusch war zu vernehmen. Viktor konnte sich lebhaft vorstellen, wie ein anderer Magier diesen Weg entlangkam

»Tel, was ist mit dir?«

»Lass uns gehen, Viktor, lass uns gehen«, sagte Loj voller Unruhe. »Sie wird schwächer ... ihre Kräfte begannen zu schwinden, sobald du den Feuergraben überschritten hattest.«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, ertönte Tels kraftlose Stimme. »Lasst uns gehen, schnell ... Sobald wir das Schloss erreichen, wird alles in Ordnung sein ... in Ordnung ...« Sie wiederholte diese Worte wie eine Beschwörung.

Vor ihnen hingen die gespannt wartenden Ringe des Wirbelsturms. Und er spürte eine gewaltige Versuchung, sie mit einem einzigen Hieb zu zerschlagen ... sie mit der Klinge einer Wasserpeitsche zu zerschneiden ... sie mit einem stürmischen Wall zorniger Flammen wegzufegen ... den Weg noch einmal zu zwingen, sich zu krümmen, zu einem Tunnel, um durch ihn die gefährliche Stelle zu passieren. In gewisser Weise erinnerte ihn das an ein Computerspiel.

»Ich hasse diese Spielchen«, brummte Viktor vor sich hin. Nein, er wollte keine verschlossene Tür aufbrechen. Tel stützte sich schwer auf Loj Iwers Arm, hing fast auf ihr.

»Schnell, Viktor! Ich kann ihr keine Kräfte von mir abgeben. Die Formel wirkt nicht!«, rief die Zauberin.

Was ist mit dir, Luft? Ich bin bereit, ohne jedes Zauberwerk zu dir zu kommen. Du hast es doch wahrscheinlich selbst satt, den Launen irgendwelcher dummer Magier nachzugeben. Du willst doch wahrscheinlich auch deine Ruhe. Und wer wird zählen, wie viele allerkleinste Teilchen der Kraft sich jetzt im endlosen Tanz drehen, verzaubert und von mächtigen Formeln unterworfen? Warum könnt ihr mich nicht durchlassen? Einfach so? Ohne Krieg?

»Viktor! Was tust du?« Loj stieß einen Schrei aus.

Er wandte den Kopf nicht nach ihr um. Wahrscheinlich hätte der Drachentöter den Wirbelsturm tatsächlich weggefegt, ihn zu Staub zermalmt ... Nein. Der Wind würde vor ihm zurückweichen, weil er sein Herz aufgespürt hatte, dort in der Tiefe des Wirbels.

»Kommt mir nach!«, bellte Viktor. »Schnell!«

Iwer erhob keine Einwände und fragte nicht länger, sondern zerrte das Mädchen hinter sich her, wobei sie schmerzlich das Gesicht verzog.

Der Wirbel fiel in sich zusammen. Er zerstreute sich, entspannte seine tödlichen Ringe. Die ungeheuerliche, unsichtbare Schlange existierte nicht mehr.

Das zweite Hindernis lag hinter ihnen. Jetzt mussten sie noch Wasser und Erde abwarten.

»Du kommst gut voran«, vernahm Viktor Tels leise Stimme. »Hier war keine Kraft nötig ... wir sind einfach durchgegangen ... aber die Magier werden durchbrechen müssen. Obwohl Ritor schlau ist. Und für ihn gelten die Gesetze hier nicht, denn er ist den Weg ja schon einmal gegangen. Und das ...«

»Schweig still, du kannst doch ohnehin kaum mehr laufen«, unterbrach Loj sie. In den Worten der Katze schwang eine überraschende Zärtlichkeit mit. Als hätte sie Mitgefühl

»Loj!« Tel machte einen kläglichen Versuch, sich loszureißen.

»Denk lieber gar nicht erst daran! Vorwärts, Viktor, vorwärts!«

Wieder eine volle Umrundung auf der Spirale.

Jetzt stand eine Regenwand vor ihnen. Dem Aussehen nach nicht besonders schrecklich, es war nicht mal ein besonders starker Regen. Aber warum wehte dann so ein deutlicher Geruch nach Tod von ihm herüber?

Der Regen rauschte. Wasserstrahlen hämmerten auf die verloschenen Steine, die jetzt nicht mehr golden, sondern einfach gelb waren. Schäumend rauschte das Wasser dahin, schoss über die Schieferfelsen in die Tiefe.

Schneller, schneller, Viktor. Du musst den Schlüssel finden!

Nein. Leere, die erfüllt war von diesem Regen, mehr nicht. Die Regentropfen rammten sich in die Steine auf dem Weg, vergingen zu Tausenden, aber irgendwann in der Zukunft würde ihr sinnloser Ansturm von Erfolg gekrönt sein. Das Wasser tropfte unablässig in die Spalten zwischen den Platten, höhlte ihr Fundament aus, und eines schönen Tages würde der ganze Weg den Felsen hinabrauschen, in einem goldenen Fluss den Abhang hinabfließen ...

Aber was, wenn das hier nur eine Falle war? Magier sind allzu sehr daran gewöhnt, zu zerschmettern und zu vernichten.

Viktor streckte seine Hand vor sich aus und schritt gedankenlos auf den Regen zu. Hinter seinem Rücken klammerten

Er wandte sich um und winkte Loj und Tel. Das Wasser blieb hinter ihnen zurück.

Deine Aufgaben sind verdächtig leicht, Schloss über der Welt, dachte Viktor. Ja, sie waren so leicht, dass er unwillkürlich begann, zum Ende hin mit einer besonders abartigen Widerwärtigkeit zu rechnen.

Jetzt war nur die Erde übrig.

Aber sie hatten bereits eine ganze Umrundung hinter sich, dann eine zweite ... Tel schleppte sich mehr schlecht als recht dahin, aber von weiteren Fallen gab es keine Spur.

Viktor kam nicht dazu, sich darüber zu wundern. Der Weg machte eine letzte Biegung. Die schwarzen Wände des Felsens verschwanden wie von Zauberhand im Nichts. Vor sich erblickten sie in all seiner Pracht das Schloss über der Welt.

Aber der Weg, über den sie so schnell und ohne besondere Schwierigkeiten aufgestiegen waren, führte nirgendwohin. Sie hatten also trotz allem den falschen Weg genommen. Er endete am Rand eines finsteren Abgrunds; rechts und links ragten schwarze Steilwände in die Tiefe und vor ihnen ...

Viktor trat vorsichtig an den Rand des Abgrunds. Die unfassbare, bodenlose Tiefe umgab das ganze Schloss. Auf ihrem Grund lag Finsternis; aus ihr heraus erwuchsen wie aus einer Ursubstanz die Wände der Drachenfeste. Und irgendwo weit, weit unten in der Tiefe schillerte etwas Flammenrotes.

Hier führte kein Weg mehr weiter. Allerdings schien es Tel deutlich besser zu gehen. Sie richtete sich auf ... Loj blickte sie besorgt an und achtete einen Augenblick nicht auf Viktor ...

Wenn dies die Prüfung der Erde war, dann war sie wiederum nicht schwer.

Viktor hob langsam die Hand.

Und ließ sie ebenso langsam wieder sinken.

Ein unsichtbarer Wind trug aus der Ferne eine Welle fremder Kraft herbei. Wirklich großer Kraft.

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