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Viktor legte den rauchenden Hörer auf den Tisch. Alles ereignete sich wie in einem bösen Traum, in dem die normale Welt zusammenbricht, aber nicht auf einmal, sondern nach und nach und voller Hohn. Alles, was er anfasste, starb. Rohre platzten, Bildröhren explodierten, Telefone brannten ... Wie um Himmels willen konnte so ein fast neues, im Ausland produziertes Gerät in Brand geraten?

Die Isolierung der Drähte, irgendein Pulver im Mikrofon? Aber was sollte da für ein Pulver sein, und das erbsengroße Mikrofon würde doch niemals einen so anhaltenden Brandgeruch verursachen!

Unvermindert trat beißender Rauch aus. Er musste an einen albernen Streich aus seinen Kindertagen denken. Mit seinem Kumpel hatte er die erstbeste Nummer aus dem Telefonbuch gewählt, und wenn sich jemand meldete, hatten sie mit energischer, erwachsener Stimme in den Hörer geschrien: »Feuer! In der Telefonzentrale ist Feuer ausgebrochen! Werfen Sie den Hörer sofort in einen Wassereimer!« Dabei hatten sie sich gar nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Dennoch, vielleicht ...

Noch eine Sekunde, und ich fange an zu lachen. Fürchterlich, hysterisch zu lachen, während hinter mir ein Kind

Er beugte sich über die unerwartete Patientin und schob vorsichtig den blutigen Pullover hoch. Das Mädchen drehte sich ein wenig, um ihm dabei zu helfen. Tapfere Kleine.

Der Pulli ließ sich leicht hochziehen, das war gut, aber auch seltsam. Gut, weil es bedeutete, dass das Blut frisch war und die Kleidung noch nicht an der Wunde klebte - also musste auch die Verletzung frisch sein. Seltsam, denn eine frische Wunde müsste eigentlich noch weiter bluten.

»Wie sieht es aus?«, fragte das Mädchen. Ganz ruhig, ohne jenen melodramatischen Beiklang, wie man ihn oft bei erwachsenen Frauen hört, die sich in den Finger geschnitten haben.

»Ganz gut«, antwortete Viktor, erstaunlicherweise im gleichen gelassenen Tonfall.

Er war auf alles Mögliche gefasst. Eine klaffende Wunde, die von einem abgebrochenen Flaschenhals herrührte, oder sogar darauf, dass gar keine Kratzer auf der Haut zu sehen waren, denn womöglich tat die Kleine nur ihren Job und diente einer Bande minderjähriger Gauner als Türöffner.

Und er hatte noch immer nicht die Tür geschlossen!

Aber es gab eine Wunde. Ein dünner, fast chirurgisch anmutender Schnitt. Der nicht mehr blutete.

»Sie haben mich nur leicht erwischt«, sagte das Mädchen, als ob es seine Gedanken lesen könnte. »Beim Übergang. Es hat nicht wehgetan, aber das Blut lief in Strömen ...«

»Beim Übergang - die Unterführung also, alles klar ...«

Viktor blickte wie gebannt auf die Wunde. Das Mädchen hatte Glück gehabt. Offensichtlich hatten sie mit einer Rasierklinge zugeschlagen. Aber der Schnitt war nicht tief und die Haut nur oberflächlich verletzt. Das Mädchen schien eine gute Blutgerinnung zu haben. Und sie hatte nicht die Fassung verloren. Viktor mochte es überhaupt nicht, nachts durch die Unterführung zu gehen - und er war immerhin ein erwachsener und ziemlich kräftiger Mann. Ständig war die Beleuchtung kaputt, es stank ekelhaft, und in den finsteren Ecken raschelten die Obdachlosen, die sich für die Nacht einrichteten. Da war sie also überfallen worden. Schweine. Aber diese Kleine war ein tapferes Kerlchen. Hatte sich losgerissen und war in den nächsten Hauseingang gelaufen, und erst dort war sie zusammengeklappt, aber zum Glück nicht wegen Blutverlusts, wie er zuerst gedacht hatte.

»Alles wird wieder gut«, sagte er. »Ganz bestimmt. Es ist nur eine Schnittwunde, die nicht mal genäht werden muss. Ich desinfiziere sie nur.«

»Gut, Viktor.«

Sie blickte ihm prüfend und ernst in die Augen. Nicht wie ein Kind.

Und sie kannte seinen Namen.

»Woher kennst du mich?«, fragte Viktor scharf.

Das Mädchen schwieg.

Es sah ganz so aus, als würde diese Nacht keine einfachen Antworten für ihn bereithalten.

Viktor ging in den Flur. Eilig schloss er die Eingangstür ab. Er war etwas verwirrt, dennoch nahm er den Schlüssel für das zweite Schloss vom Nagel an der Wand und schloss - was er sonst nie tat - auch dieses ab.

Das hieß es also, sich zu verbarrikadieren! Eine klapprige Tür aus Sperrholz und zwei dürftige Standardschlösser. Mein Haus ist meine Festung ...

Nachtschwarz zeigen sich die Wände


und die Kuppeln perlmuttweiß,


hat die Trauer hier ein Ende,


unsrer Träume Festung sei’s.


Glatt-blau plätschert eine Welle,


Sonnenhonig strömt herab,


aus dem Wolkenland zur Stelle


Kinder, die zum Flug begabt.


Was ist wirklich, was ein Traum,


denk nicht nach, stell keine Fragen.


Ein Gedanke in dir wohnt,


deine Antwort gibt dir Recht.


Der beherrscht die Welt des Tages,


jener ganz allein die Nacht,


aber vom geheimen Feuer


einer nur den Schlüssel hat.

Viktor riss sich von der Wand los. Seine Beine zitterten leicht, aber fürs Erste schien der Unsinn aus seinem Kopf verschwunden. Als spulte er ein automatisches Programm ab, öffnete er die Hausapotheke, die im Flur hing, und entnahm ihr eine Plastiktasche mit Mullbinden und Pflaster.

Wenn das so weiterging, müsste er bald selbst in Behandlung ...

Das Mädchen lag immer noch auf dem Sofa und blickte ihm entgegen. Viktor versuchte sich auf die einfachen Handgriffe zu konzentrieren, er riss ein Stück Mull ab, befeuchtete es mit Wasserstoffperoxid und tupfte vorsichtig über die Schnittwunde. Das Wasserstoffperoxid zischte auf der Wunde und fraß sich in die angetrocknete Blutkruste. Das Mädchen runzelte die Stirn.

»Also, woher kennst du meinen Namen?«, wiederholte Viktor seine Frage, während er eine Packung mit Leukoplast aufriss. Es war immer gut, den Kranken während der Behandlung mit irgendwelchem Gerede abzulenken. Davon abgesehen wollte er es wirklich wissen.

»Ich kenne ihn eben«, ließ sie sich zu einer Antwort herab. Nur leider, ohne irgendetwas zu erklären.

Um die Wunde abzudecken, benötigte er nur drei Stück Pflaster. Nein, sie hatte wirklich Glück gehabt. Eine rein oberflächliche Schnittwunde, abgerutscht vermutlich. Aber woher kam das viele Blut?

»Sie haben mit einer Rasierklinge zugestochen, oder?«, fragte er.

»Nein, mit einem Säbel.«

Ihre Augen blickten ernst. Aber Viktor hatte gelernt, Augen nicht zu vertrauen.

»Ich weiß nicht, wie du heißt«, fing er an, Ärger stieg in ihm auf. »Ich weiß nicht einmal, wo du dich so prächtig aufgeschürft hast ...«

»Tel.«

»Was?«

»So heiße ich - Tel.«

Plötzlich begriff Viktor.

Solche Mädchen und Jungen hatte er schon im Fernsehen gesehen.

Schlampig gekleidet waren sie, trugen die Haare mit Bändern zusammengefasst, und auf dem Rücken hatten sie Holz- oder Metallschwerter. Sie gaben sich genau solche klangvollen Namen und trafen sich irgendwo im Wald, um Rollenspiele zu veranstalten.

Die hübsche Journalistin hatte überschwänglich erklärt, dass dies eine neue Form des Zeitvertreibs unter Jugendlichen sei, bei der sie alternative Formen des Verhaltens erlernen und die Geschichte vergangener Zivilisationen erfahren könnten. Beim Anblick dieser Jugendlichen war Viktor ein wenig beklommen zumute gewesen. Erstens glaubte er an diese vergangenen Zivilisationen der Gnome und Elfen ebenso wenig wie an das Reich des unsterblichen Koschtschej oder die Hexe Babajaga.[1] Zweitens hatte er das Gefühl, dass die Augen dieser jungen Leute, die ihre Jugend dem Studium der Elfensprache widmeten, allzu fanatisch leuchteten.

Wahrscheinlich spielte auch das Mädchen hier, diese Tel, solche Spiele. Streifte in der Gesellschaft ihrer Elfenkameradinnen umher, malte sich die Nägel mit goldfarbenem Lack an, übte Fechten mit rostigen Eisenstangen. Na, und jetzt hatte sie ein kleines Souvenir fürs Leben abbekommen.

Wunderbare Erklärung. Was Besseres hätte er sich nicht ausdenken können. Und zu dieser späten Stunde hatte er nicht die Absicht, einfache, verständliche Erklärungen in Zweifel zu ziehen.

Aber woher kannte sie seinen Namen?

Vielleicht hatte sie ihn im Krankenhaus gesehen. Gelegentlich hatte er in der Kinderabteilung Bereitschaftsdienst. Die Göre hatte sich sein Gesicht und den Namen gemerkt, und als sie nun zufällig in seiner Wohnung gelandet war,

»Tel«, sagte Viktor, so sanft er nur konnte. »Ich muss jetzt deine Eltern anrufen ... hm ...«

Er berührte das Telefon, das inzwischen nicht mehr rauchte, aber ...

»Tel, ich gehe eben runter, da ist ein öffentlicher Fernsprecher«, sagte Viktor.

Das Mädchen lächelte.

»Du musst nirgendwo anrufen.«

»Haben deine Eltern kein Telefon?«, folgerte Viktor.

Es war schon nach Mitternacht. Eine schöne Bescherung!

»Steh auf«, sagte er schließlich. »Dir ist nichts Schlimmes passiert. Ich bringe dich mit dem Taxi nach Hause.«

Tel schien nur auf seine Erlaubnis gewartet zu haben. Langsam setzte sie sich auf, zog den Pulli zurecht und faltete die Hände auf den Knien. Ein ordentliches, gut erzogenes Mädchen. Kaum zu glauben, dass sie solche Flausen im Kopf hatte.

»Mit dem Taxi kommt man nicht zu mir, Viktor«, teilte das Mädchen ihm mit. Ganz sachlich, ohne Ironie und auch nicht provokativ. Ganz im Gegenteil, eher so, als fände sie seinen Vorschlag schmeichelhaft.

»Und was machen wir dann?«

Insgeheim hoffte Viktor, dass sie aufstehen und fortgehen würde. Allein. Zu Fuß.

Nein, natürlich nicht, es wäre wohl kaum richtig, ein Kind, noch dazu ein verletztes, in die Nacht hinauszuschicken.

Aber tief in seinem Inneren machte sich eine kalte Vorahnung breit, die ihm sagte: Wenn dieses Mädchen jetzt

Warum waren diese verdammten Vorahnungen nur immer so einseitig? Und was würde geschehen, wenn er das Mädchen jetzt rauswarf? Wäre das etwa besser?

Tel blickte ihm in die Augen.

»Wir gehen jetzt schlafen«, sagte sie mit bestechender Schlichtheit.

Sie dachte einen Moment lang nach, dann fügte sie hinzu: »Ich bin klein, wir passen zu zweit auf das Schlafsofa. Und morgen bringst du mich nach Hause.«

Endlich begriff Viktor alles.

»Ja«, sagte er, fasste das Mädchen um die Schulter, hob es hoch und trug es wortlos in den Flur. Sogleich waren ihm eine Reihe Unannehmlichkeiten in den Sinn gekommen, die sich hinter ihrem Vorschlag verbergen konnten. Solche, von denen er in der Zeitung gelesen hatte, und andere, die ihm seine eigene Fantasie spontan unterbreitete. Noch eher harmlos war die Vorstellung, am nächsten Morgen in einer ausgeräumten Wohnung aufzuwachen ... denn was gab es bei ihm schon zu klauen? Weiter fielen ihm unrasierte Mitbürger kaukasischer Herkunft, eingeschaltete Bügeleisen, Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder Verführung Minderjähriger und ähnliche Leckerbissen für die Boulevardpresse ein.

»Viktor!« Das Mädchen befreite sich aus seinen Armen und drückte sich an die Wand unterhalb des vermaledeiten Sicherungskastens.

»Verschwinde von hier, aber dalli!« Viktor bemühte sich, seine Stimme böse und entschieden klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Dieses Mädchen wirkte nicht wie eine, die schmutzige Dinger drehte! Ganz und gar nicht! Ja, es sah

»Warum?«, fragte sie völlig verwirrt.

»Warum?« Viktor deutete auf den Boden. Sicher, die große Lache war draußen, aber auch hier waren einige braune Flecken. »Das ist nicht dein Blut! Sonst würdest du hier nicht rumspringen, Tel ... oder wie du wirklich heißt!«

»Es ist nicht nur meins«, stimmte sie, ohne zu zögern, zu. »Ich hab mich gewehrt.«

Die Geschichte wurde jeden Augenblick noch komplizierter! Lag vielleicht unten auf der Treppe eine Leiche?

»Er ist abgehauen. Ich wollte ihm nicht nach. Ich bin zu dir gekommen.«

Die Selbstverständlichkeit, mit der sie nicht gestellte Fragen beantwortete, beunruhigte ihn.

»Wieso zu mir?«

Viktor rechnete nicht mehr mit einer normalen Antwort. Vielleicht erhielt er deswegen auch keine.

»Weil unsere Vorfahren sich kannten.«

O Gott, schon dieser Jargon! Vorfahren! Und doch erklärte das einiges. Viktor ging im Geiste sämtliche Freundinnen seiner Mutter und deren Töchter durch, die er nur selten gesehen hatte. Dunkel erinnerte er sich an ein paar rothaarige Mädchen. Er musste Mama anrufen. Sie fragen, welche von den Enkelinnen ihrer Freundinnen sich lieber mit selbst gemachten Schwertern als mit Puppen und Computerspielen die Zeit vertrieben ... Ja, natürlich. Anrufen.

»Gehen wir ins Zimmer«, sagte Viktor müde. »In Ordnung. Schon gut. Ich bin ein Idiot. Ein vertrauensseliger Trottel, der keinerlei Erklärungen und Beweise verlangt. Aber sag mir eins - woher kennen sich unsere Vorfahren?«

Das Mädchen runzelte beleidigt die Stirn. »Sie haben zusammen gekämpft.«

»Was?«

Einige Sekunden war Viktor damit beschäftigt, sich Mama oder Papa im Krieg vorzustellen. In einem jener Kriege, die nicht erklärt worden waren. Die kleine, pummelige Mathematiklehrerin im Dschungel von Vietnam, oder sein kurzsichtiger Vater mit den daumendicken Brillengläsern in den Bergen Afghanistans ... Alle Achtung, was für ein Märchen!

»Hör mal, Tel. Meine Eltern haben nicht gekämpft. Niemals und nirgendwo. Glaub mir. Und die beiden wurden auch nicht mit Fallschirmen hinter den Linien des Feindes abgeworfen.«

»Ich meine nicht deine Eltern«, widersprach Tel ruhig. »Dein Großvater und deine Großmutter haben gekämpft ...«

Viktor blieb die Antwort im Hals stecken. Die Eltern seines Vaters hatte er nie kennengelernt. Sie waren früh gestorben, und außerdem erinnerte man sich bei ihm zu Hause nicht gerne an sie. Anscheinend gab es da etwas in ihrem Leben, auf das man nicht gerade stolz sein konnte. Großmutter Vera dagegen ...

Als Kind verbrachte er jeden Sommer bei ihr. Damals wie heute lebte Großmutter Vera in einem abgelegenen Dorf im Kreis Rjasan. Es gibt eine Sorte Menschen, die das Stadtleben einfach nicht erträgt. Selbst in die Kleinstadt, in der Mama lebte, reiste Großmutter Vera nur selten und höchst ungern. Bei ihm in Moskau war sie noch nie gewesen, obwohl ihre Gesundheit - toi toi toi - es ohne weiteres zugelassen hätte.

Großmutter Vera war groß und aufrecht und ohne eine Spur von alterstypischer Gebrechlichkeit. Ihre bernsteinfarbenen

Der kleine Viktor hatte sie seinerzeit, wie das so üblich war, mit Fragen gelöchert: »Erzähl, wie du die Faschisten getötet hast!« Großmutter Vera hatte es ihm erzählt. Und zwar so detailliert, dass Mama sich, nachdem sie von ihrem begeisterten Sohn in die Einzelheiten eingeweiht worden war, zum ersten und einzigen Mal mit Großmutter Vera stritt. Die Decke über den Kopf gezogen, lauschte Viktor erschrocken dem heftigen Wortwechsel aus dem Nebenzimmer. »Mama, bist du verrückt geworden!«, schrie seine Mutter die Großmutter an. »Den Hals also von der richtigen Seite durchschneiden, ja? Sonst spritzt einem das Blut entgegen ... Was erzählst du dem Kind? Es kriegt doch ein Trauma davon, ein psychisches Trauma!« Und dann hörte er Großmutters Stimme, ruhig, eisig ... wie Tels ... ja, wie Tels! Sie sagte etwas über das Angesicht des Todes und den Wert des Lebens. Und dass Viktor nicht schlafe, sondern alles mithöre und dass er viel eher von Mamas hysterischem Geschrei ein Trauma abbekommen würde.

Großmutter wusste immer, wann er schlief und wann er nur so tat. Und sie nannte ihn immer Viktor. Niemals rief sie ihn Vitenek oder Vitjuschek oder mit sonst einem dieser Namen, die jedem Jungen peinlich sind. Viktor konnte Mama oder Papa anschwindeln, aber bei der Großmutter versuchte er es gar nicht erst.

»Glaubst du mir?«, fragte Tel plötzlich.

Viktor zuckte mit den Schultern und antwortete ehrlich: »Nein.«

Im Sicherungskasten knackte es, und das Licht ging aus.

»Kommt das öfter vor?«, fragte das Mädchen aus der Dunkelheit mit lebhaftem Interesse.

»Geh mal vom Sicherungskasten weg.« Viktor fasste sie an der Hand und zog sie ins Zimmer. »Warte hier.«

Er schaffte es in die Küche, wobei er ständig irgendwo anstieß, dort suchte er tastend nach einer Kerze. Schluss aus, für heute hatte er genug vom Kampf mit den Sicherungen. Morgen würde er den Elektriker rufen.

Es dauerte eine Weile, bis er eine Kerze fand. Warum hatte er es in fünf Jahren nicht gelernt, sich in der eigenen Wohnung zurechtzufinden? Kaum ging das Licht aus, schon hatte er das Gefühl, als ob die Wände zusammenrückten und die Decke von oben runterkam und ihn erdrückte. Er hatte doch nie in einer weitläufigen, luxuriösen Wohnung gewohnt ...

Viktor entzündete die Kerze und trug sie ins Zimmer, wobei er die züngelnde Flamme mit der Hand abschirmte. Tel stand nicht mehr im Flur, sondern saß auf der Liege und blätterte in einer Ausgabe des Schützen.

Die Zeitschrift hatte vorher auf dem Bücherregal gelegen.

»Sehr witzig«, sagte Viktor und stellte die Kerze auf den Tisch. »Also, wir machen es so: Es geht auf zwei Uhr zu, deshalb bleibst du für heute hier.«

»Danke«, antwortete das Mädchen höflich.

»Du legst dich auf das Schlafsofa, und ich schlafe auf dem Fußboden. Morgen bring ich dich nach Hause.«

»Versprichst du es?« Tels Stimme klang fordernd. Als ob Viktor sie mit einer List in diese Wohnung gelockt hätte und sie nun nicht gehen ließe. Er musste ein paarmal tief

»Ja, ich schwöre.«

»Ich glaube dir«, stimmte Tel zu. Sie legte die Zeitschrift zur Seite und sah zu, wie Viktor eine zusätzliche Decke und ein Kissen aus dem Schrank hervorholte. Eine Zimmerecke war schon früher überraschenden Übernachtungsgästen vorbehalten gewesen, Freunden, die gelegentlich bis in die Nacht bei ihm versackten. Dort bereitete er sich ein Lager. Zum Glück bot sie ihm nicht ihre Hilfe an, Viktor war ohnehin aufs Äußerste gereizt.

»Mein Bett ist die Pferdedecke eines Schlachtrosses«, sagte Viktor düster, während er sich auf die doppelt gefaltete Decke setzte.

»Kannst du reiten?«, fragte Tel neugierig.

Er machte sich nicht die Mühe, zu antworten, sondern erhob sich wieder und trat zur Kerze hin. Während er mit den Fingern schon die Flamme zerdrückte, sah er noch aus den Augenwinkeln, wie Tel sich den Pullover über den Kopf zog und ihren völlig nackten Oberkörper entblößte.

Zum Teufel! Entweder war sie die pure Einfalt oder die zynische Verruchtheit in Person. Tel war genau in dem Alter, in dem ein derartiges Verhalten noch keine eindeutige Aufforderung bedeutete ... aber auch nicht mehr absolut nichts.

Er war sicher, dass er in dieser Nacht überhaupt nicht würde schlafen können. Aber kaum hatte Tel es sich auf der Liege bequem gemacht, war er bereits auf seinem Lager eingeschlafen. Als ob nichts Besonderes vorgefallen sei, als ob er in völliger Sicherheit und ganz allein schliefe.

Viktor träumte von einem sterbenden Pferd, einem schönen Schimmel, der auf einer grünen Wiese lag. Die Schabracke,


In ihren Bewegungen lag eine unnachahmliche, übermenschliche Grazie. Loj Iwer, der Kopf des Clans der Katzen, berührte mit ihrer zarten Fingerspitze das goldene Puder, das nachlässig in die grobe hölzerne Schale gefüllt worden war. Ein hübscher Kontrast zwischen Luxus und Schlichtheit ... wenn man darüber hinwegsah, dass in der Mittelwelt keine Rosenhölzer wuchsen.

»Du siehst allmählich schon wie eine Puppe aus«, rief Chor aus dem Schwimmbecken. »Genug geschmiert, Loj.«

Die Frau tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie strich mit der Fingerspitze unter den Augen entlang und hinterließ dort eine goldglänzende Spur. Ihr Gesicht, das in Saphirtönen, Gold und Silber geschminkt war, hatte tatsächlich ein puppenhaftes Aussehen angenommen. Die dunkelblauen Augen, die goldenen Haare und die elfenbeinfarbene Haut wurden von Schminke in der jeweils gleichen Farbe karikaturhaft unterstrichen.

»Juckt dir nicht die Haut von diesem ganzen Dreck?«, sagte Chor mit ärgerlich erhobener Stimme.

»Doch, sie juckt«, bekannte Loj.

»Dann hör auf mit der Schmiererei.«

»Meine Schönheit ist mir wichtiger.«

Chor gab einen grunzenden Laut von sich. Entweder weil er lachte oder weil er sich ärgerte.

»Weshalb hast du das nötig, Loj?«

»Was? Den Ball?«

»Nein. Die spöttischen Blicke unserer Dummköpfe, die falschen Komplimente der Gäste ...«

»Und die glühenden Blicke der Jünglinge ...«, flüsterte Loj mit weicher Stimme.

»Geile Katze«, sagte Chor. Es war keine Beleidigung. Nur eine Feststellung.

»Chor ...« Loj wandte sich vom Spiegel ab und ging zum Becken. »Wenn sie in mir nur eine niedliche, geschminkte Närrin sehen, ist es einfacher ...«

Er bespritzte sie mit Wasser. Scheinbar spielerisch, dabei wusste er genau, wie wenig Loj das mochte und wie schnell sich die komplizierten Muster der verschiedenen Puder in schmutzige Rinnsale verwandeln konnten. Loj wandte sich ab und schüttelte den Kopf.

»Also gut. Ich verstehe. Ich verspreche dir, Chor, heute werde ich nicht nach dem zweiten Pokal Wein durch die Gegend taumeln und unvornehm laut lachen. Und ich werde auch nicht mit den genusssüchtigen Magiern der anderen Clans rumknutschen.«

Voller Zweifel blickte Chor sie aus dem warmen schwebenden Wasser an. Er war groß und muskulös, und jede seiner Bewegungen verriet den Kämpfer in ihm. Auch er kannte keinen Mangel an Verehrerinnen, genau wie Loj, die immer eine Schar von Kavalieren um sich hatte. Schon seit zehn Jahren bekräftigten die Frühlingskämpfe sein Recht darauf, Lojs Freund zu sein.

Und noch immer war er eifersüchtig.

Er konnte nicht anders. Loj war ihm ein ewiges Rätsel. Sie war leichtfertig und treu, sie war fähig, bis zum Umfallen zu tanzen und dann wieder wochenlang über halbvermoderten magischen Traktaten zu sitzen, sie konnte das Gold des Clans für eine spontane Laune verschwenden und gleichzeitig mit eiserner Hand regieren, und sie verstand es, geschickt zu lavieren zwischen den anderen Clans, die immerzu bereit waren, sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Ihre dunkelblauen Augen waren manchmal bodenlos tief, dann wieder völlig undurchdringlich wie schwarze Steine in einem stillen Gewässer - vor allem, wenn sie über jemanden ein Todesurteil fällte. Loj vermochte auf eine Art den Saal zu durchqueren - einerlei ob im durchsichtigen Ballkleid oder vom Hals bis zu den Fußspitzen in Schwarz gehüllt -, dass den Männern der Atem stockte, ihr Mund sich mit gierigem Speichel füllte und ihr Verstand nur mit äußerster Not dem Ansturm des toll gewordenen Fleisches standhielt, das in den Tiefen der Leidenschaft entbrannt war. In diesen Minuten stand Chor - wie sonst nie - am Rand des Wahnsinns, buchstäblich einer mordlüsternen Besessenheit.

Und Loj wusste das, wie es schien, sehr genau. Dennoch gefiel es ihr, ihn zu reizen, mit dem Feuer zu spielen, am Abgrund zu balancieren, am seidenen Faden zu zerren; im Grunde bestand genau darin die Quintessenz dessen, was als »Geist der Katzen« bezeichnet wurde - immer bis zum Äußersten zu gehen, auf dem Kamm der Wellen dahinzugleiten, sich nicht einzumischen und sich nirgendwo unterzuordnen. Die Katzen standen im Ruf, die besten Intriganten dieser Welt zu sein. Und Loj war die beste unter ihnen. Böse Zungen behaupteten, dass die Katzen sogar in der Lage seien, sich mit den Angeborenen zu einigen; und

Außerdem waren sie für ihre Bälle berühmt, wo sie mit den unglaublichsten Zaubertränken und Vergnügungen aufwarteten. Wo, entsprechend eines ungeschriebenen, aber ehernen Gesetzes, niemals und unter keinen Umständen Rechnungen beglichen wurden und wo die Mitglieder verfeindeter Clans ungestört und ohne Waffe in der Hand miteinander sprechen konnten. Aus irgendeinem Grund waren alle bereit, auf den Bällen der Katzen auf einen Schlag alle Kränkungen und Beleidigungen zu vergessen.

Loj warf Chor aus halbgeschlossenen Augenlidern einen prüfenden Blick zu. Heute war ihr ohnehin nicht nach Flirten zumute. Irgendetwas Unerquickliches war dem Clan des Feuers zugestoßen. Für gewöhnlich waren sie die ersten Gäste, die eintrafen. Aber diesmal war keiner von ihnen zu sehen. Lediglich ein blasser Jüngling mit einem dunkelroten Tuch aus Gaze um den linken Arm drückte sich kümmerlich in einer Ecke des Saals herum - das war alles.

Andererseits konnte sie sich freuen, dass dies bisher die einzige Auffälligkeit war. Alle übrigen Stammgäste waren wie immer erschienen.

Für die Herrscher des Waldes war Loj Iwers Ballsaal ein vertrauter Anblick. Magie hatte eine junge Eiche in einen

Iwer hatte für alles Sorge getragen. Unter den Wurzeln des Kolosses sprudelte eine eisige Quelle hervor; Loj mochte, wie das für Katzen typisch ist, Wasser nicht besonders; aber die gläsernen Tropfen auf dem grünen Blätterwerk waren so schön, funkelten so spielerisch im Widerschein der gewaltigen Feuerstelle, dass sie nicht widerstehen konnte.

Unter dem dunkelgrünen - oder je nach Jahreszeit auch sattgoldenen - Laub bewegten sich die Winde frei hin und her. Loj erinnerte sich noch genau, wie viel Mühe es sie damals gekostet hatte, den berühmten Ritor zu überreden. Der Drachentöter hatte sich lange geweigert, aber am Ende doch nachgegeben und den nötigen Zauber gewirkt. Tatsächlich aber war er danach aus unbekanntem Grund nie mehr auf einem ihrer Bälle erschienen. Sehr schade. Iwer war durchaus ehrgeizig. Ihre Vorgängerin hatte immerhin den Feuertanz mit Kaedron getanzt, jenem Herrscher Kaedron, der als junger Drache den Singenden Wald besucht hatte. Lojs Großmutter, Iwer die Erste, hatte es zu ihrer Zeit fertiggebracht, auf einem ihrer Bälle einen Prinzen der Angeborenen willkommen zu heißen, der bei einem zufälligen Seegefecht gefangen genommen worden war. Vertreter vom Clan der Luft brachten den Prinzen mit, sie hatten drei ihrer besten Magier im Kampf verloren und konnten sich kaum auf den Beinen halten - aber die Großmutter gab nicht nach, setzte

Ach, was für Intrigen hier gesponnen wurden, was für spitzfindige Zusammenstellungen aus dem Nichts entstanden, was für Verbindungen, Pakte und Allianzen hier eingegangen wurden, nur um - gleich Gespenstern - nach einigen Monaten spurlos zu verschwinden oder sich in ganz und gar andere Achsen, Ligen oder Unionen zu verwandeln! Wie viel Geschicklichkeit und Schläue waren vonnöten, um stets im Zentrum zu stehen und doch am Rand zu bleiben! Die Clans hatten die Angeborenen zweimal zurückgeschlagen, beim ersten Mal sogar in einem echten Krieg; aber jener entscheidende Kampf - damals, noch lange vorher, zu der Zeit, als, wie die Drachen zu sagen pflegten, »der Hüter selbst noch jung war« -, dieser entscheidende Kampf war und blieb ein für alle Mal verloren. Auf die Bitterkeit der Niederlage hatte die ebenso bittere Flucht gefolgt. Die Clans hatten immer, seit ihrem ersten Tag in der Mittelwelt, am Rande einer großen, allumfassenden blutigen inneren Fehde gestanden. Und hätten sie sich nicht am Ende in zwei etwa gleich starke Lager geteilt, so wäre diese Fehde wohl zum Ausbruch gekommen. In früheren Zeiten hatten die Drachen das verhindert - Loj fürchtete sich nicht davor, die Herren der Vergangenheit beim Namen zu nennen, denn sie glaubte nicht an die böse Magie des Sextagrammaton -, und dann waren sie, die Katzen, allein geblieben. Nicht jeder wusste, wer das Leben des letzten der Geflügelten Herrscher ausgelöscht hatte, aber Loj wusste es natürlich.

Ja, ja, wahrscheinlich hatten gerade sie, die Katzen, dafür gesorgt, dass kein allumfassender Krieg ausgebrochen war,

Inzwischen war es in dem gewaltigen Ballsaal Herbst, und das Auge ruhte sich aus, erfreute sich am tiefgoldenen, schmeichelnden Farbenspiel auf den unzähligen gemeißelten Blättern. Die letzten, verspäteten Gäste trafen ein. Loj bog vorsichtig einen Zweig zur Seite. Von oben bot sich ein großartiges Gemälde: die kohlrabenschwarzen Umhänge der Männer, die mit funkelnden Diamanten-Girlanden geschmückt waren, und die prächtigen vielfarbigen Kleider der Frauen; angefangen bei jenem aus Topas-Faden gewebten Gewand Kanian Tais, der skandalträchtigsten und schönsten Dame der Erdkinder, sowie einer ganzen Welle bebender meeresblauer Seide, die eine schöne Unbekannte schmückte (Wer um alles in der Welt war diese Neue vom Clan des Wassers? Loj fühlte sich gekränkt - wie war es möglich, dass sie diese Schönheit nicht kannte?), bis hin zu schmückenden Blütenblättern aus echtem Feuer, Wasserfällen und strömenden Kaskaden sowie dem fast völligen Fehlen jeglicher Kleidung im Falle der stolzen Panther, die für Schamgefühle und Konventionen nur Verachtung übrighatten. Der Glanz von Colliers und Diademen verband sich mit dem weichen Leuchten des gläsernen Taus, den Lojs

Arrogante Schneeleoparden, gekleidet in schneeweiße, gerade herabfallende Gewänder, schritten umher und ignorierten alle Pracht; sie waren - nach den Gnomen - die besten Waffenschmiede in der Mittelwelt. Ruhige, phlegmatische Bären schlenderten durch die Gegend; aber jeder wusste, dass sie, einmal in Wut versetzt, nicht mehr zu halten waren. Sie bevorzugten, ebenso wie die Elfen, Grünund Brauntöne und trugen dicke goldene Ketten aus rohen Klumpen. Wölfe in allen Grautönen streiften unablässig herum und waren immerzu bereit, sich in einen Kampf zu stürzen. Unerschütterliche Wanderfalken und noch jede Menge anderer Vertreter von den Totemistischen Clans waren gekommen.

Und wie immer abseits und für sich, an den Ehrenplätzen unweit des gewaltigen Baumstamms, führten die Gäste der vier Elemente ohne Hast ihre Gespräche. Genaugenommen war nur der Clan der Erde in voller Besetzung erschienen - seine Angehörigen liebten Feierlichkeiten. Von der Luft waren lediglich zwei Vertreter anwesend, und das Feuer hatte nur jenen einzelnen armseligen Jüngling mit dem dunkelroten Tuch geschickt. Vom Wasser hatte sich eine größere Gruppe herabgelassen zu kommen; das Fehlen ihrer Anführer wurde durch die zauberhafte

Loj spürte eine leichte Unruhe. Irgendetwas stimmte nicht. Noch nie zuvor hatten sich so wenige Vertreter der Elemente auf ihrem Ball eingefunden. Wollten sie ihre Stärke demonstrieren? Im Geiste ging sie noch einmal die letzten Misserfolge durch - nichts Ernstes, nichts, was eine derartig heftige Reaktion rechtfertigen würde. Dieses Verhalten kam schon fast einer Aufkündigung der diplomatischen Beziehungen, einer Kriegserklärung gleich.

Sie musste Chor rufen. Und Kundschafter losschicken. Und ... auch wenn sie versprochen hatte, es nicht zu tun, würde sie wohl nicht umhin können, ein paar rein geschäftliche Küsse in der Ecke auszutauschen ... und vielleicht nicht nur Küsse.

Und dann ... dann erzitterten plötzlich die Zweige, die den Eingang verhängten, erzitterten wie vor Schreck und schwangen zur Seite. Ein kalter dunkler Wind fegte herein und fachte die ängstlich flackernden, vielfarbigen Flammen der strahlenden Leuchter an. In der ovalen Öffnung des Eingangs erschienen mehrere Gestalten - schon von weitem erkannte Loj die unvergleichlich zarte Aura der Luft, die jedoch demonstrativ von einem Streifen brodelnden Blutes zerteilt wurde.

Das Zeichen des Drachenbezwingers. Das man wohl verbergen, jedoch niemals verlieren, rauben, teilen oder sich aneignen konnte.

Ritor kam zu Loj Iwers Ball.

Der berühmte Magier war allein. Neben ihm gingen die besten Kämpfer des Clans des Wassers und warfen aufmerksame

Und dennoch wäre Loj Iwer nicht die, die sie war, wenn sie nicht im selben Augenblick das Unheil gespürt hätte. Es war etwas wahrhaft Furchtbares geschehen. Wenn Ritor hier war ... was kam als Nächstes? Wer war er - der Vorbote des Krieges, eines inneren Krieges, den die Katzen immer so sehr gefürchtet hatten?

Sie musste es wissen. Ebenso wie sie in Erfahrung bringen musste, warum das Feuer so schwach vertreten war.

Ritor konnte sich kaum erinnern, wie er von dem verfluchten Ort weggekommen war. All seine Gefährten waren tot. Und keiner wusste, was die Magier des Wassers, die nicht weniger kunstfertig waren als er selbst, nun mit den Körpern der Toten vorhatten. Was flüsterten sie Klatt dem Jüngeren, der grausam vor Durst vertrocknet war, ins Ohr? Wahrscheinlich versprachen sie ihm jene weiche, erfrischende Nässe im Überfluss, die gleich einer köstlich kühlenden Kugel durch die Kehle rinnt; und ganz recht, keiner würde es fertigbringen, einen Toten dafür zu verurteilen, dass sich seine tote Hülle als so viel schwächer erwies als sein Geist.

Auf alle Fälle hatte er, Ritor, überlebt. Und nun war es an der Zeit, über Rache nachzusinnen. Jene, die diese Gräueltat erdacht und ausgeführt hatten, sollten sterben. Ihr Tod würde seine Freunde nicht auferstehen lassen, vielleicht

Die Zeit verging, näherte sich dem Moment, in dem die Kraft im Zenit stand, dennoch ging Ritor hartnäckig zu Fuß, wobei er sich durch unwegsames Gelände schlagen musste. Dieser Teil des Landes, in dem vor langer Zeit der Krieg getobt hatte, war so ausgebrannt, dass weder Menschen noch Gnome, Elfen oder andere Bewohner der Mittelwelt hierher zurückgekehrt waren. Da, wo Magie die Wälder in Staub und Asche verwandelt hatte, spross nun frisches Grün, aber hier und da waren ekelerregende Flecken übrig geblieben, die mit dem ewigen Weiß des Schimmels überzogen waren; sie befanden sich überall dort, wo die Kämpfenden das schlimmste Gift von allen ins Spiel gebracht hatten, den Lebensbruch, den die schwarzen Alchimisten der Clans einst ersonnen hatten ...

Das Land der Schattenwälder grenzte geradewegs an die östliche Grenze von Loj Iwers Besitztümern. Der Singende Wald war auf wundersame Weise völlig unversehrt geblieben, obwohl er sich am Rande der unerhört grausamen und heftigen Kämpfe befunden hatte. Wahrscheinlich hatte auch hier der berüchtigte Geist der Katzen als unsichtbarer Beschützer des Clans gewirkt, dachte Ritor mürrisch.

Und plötzlich erinnerte er sich an den Ball. Er konnte es noch schaffen. Loj hatte ihn mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit mit Einladungen überhäuft, ungeachtet der Tatsache, dass Ritor Bälle sein ganzes Leben lang als müßiges Getümmel und Keimzelle der Revolte betrachtet hatte.

Der Magier blickte zum Himmel. Immerhin war er schon ziemlich weit fort, und die Kraft des Wassers ließ um diese Stunde deutlich nach. Er bewegte die Schultern hin und

Wie leicht es war ... wenn er doch während der Morgendämmerung nur über einen kleinen Teil dieser Kraft verfügt hätte ...

Heute würde er auf den Ball gehen. Er würde Loj aufstöbern, selbst wenn er dafür ihren Orgasmus unterbrechen musste. Er würde sie zwingen, alle Gerüchte preiszugeben und ihre Spione zu befragen. Sie würde ihm alles sagen. Aus irgendeinem Grund hatte Ritor keine Zweifel, dass er vom Haupt der Katzen erfahren würde, wie und von wem der Verrat begangen worden war. Denn er glaubte nicht, dass die erfahrenen Zauberer des Feuers sich so leicht ergeben hätten, selbst wenn sie unerwartet in Gefangenschaft geraten waren.

Außerdem wollte er denjenigen Vertretern vom Clan des Wassers in die Augen blicken, die es wagten, nach allem, was geschehen war, auf Lojs Ball zu erscheinen.

»Sehr angenehm, dich zu sehen, Ritor«, schlug ihm eine Stimme entgegen - weich, fließend, wie eine eisige Quelle.

Der Anführer des Wassers stand da, eingehüllt in einen Feldumhang. Ruhig und mit erhobenem Kopf blickte er um sich, ohne Spott und ohne Herausforderung, in seinen Augen lag nur eine ganz gewöhnliche unverbindliche Freundlichkeit, als hätte es nie einen Kampf in der Burgruine gegeben.

»Du scherzt, Torn.« Ritor hatte seine Stimme und seine Miene ebenso gut in der Gewalt wie sein Feind. »Wenn wir nicht auf dem Ball wären ...«

»Ich verstehe dich sehr gut«, sagte Torn ohne Lächeln. Er war groß gewachsen und schmal und machte einen zerbrechlichen

»Also, was willst du dann?«

»Ein Gespräch. Hier kommst du nicht fort, Ritor.«

Ritor spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Was war das? Konnte es sein ...?

Sie ließen den Gang hinter sich. Vor ihnen öffnete sich der gewaltige Saal - zweifellos ein schönes Werk, wenn auch stilistisch allzu stark von den Elfen inspiriert; die geschmückte Menge stand um Tischchen mit Speisen, ein prächtiges Orchester war dabei, die wundersamsten Blasinstrumente zu stimmen (aus irgendwelchen Gründen erkannten die Katzen keine Saiten- und Tasteninstrumente an), und das ganze Schauspiel war in den Glanz gläsernen Taus, in das satte Gold des Laubs, in den leichten Atem eines frischen Windes getaucht.

Und in das Murmeln fließenden Wassers. In Loj Iwers Ballsaal waren alle Elemente gleich stark vertreten.

»Von Loj kommst du nicht fort«, wiederholte Torn hartnäckig; sein spitzes Kinn vollführte eine komplizierte Bewegung, als würde den Magier des Wassers sein loser blauer Kragen unerträglich drücken. »Du musst das verstehen. Die Sache ist zu weit fortgeschritten, als dass wir auf irgendwelche dummen Traditionen Rücksicht nehmen könnten. Du hast die Wahl, Ritor - Kampf oder Tradition. Wir können dich nicht ziehen lassen, auch wenn das bedeutet, dass es bei den Katzen ein Blutvergießen gibt.«

»Sie werden alle ohne Ausnahme über euch herfallen«, war das Einzige, was der Magier der Luft dazu sagen konnte.

»Du täuschst dich.« Torn vergaß nicht, höfliche Verbeugungen mit entgegenkommenden Gästen auszutauschen und den Damen unter liebenswürdigem Lächeln Komplimente zu machen. Ritor brütete finster vor sich hin und starrte auf den Boden. »Du täuschst dich, o Drachenbezwinger. Einigkeit gab es nie und wird es auch nie geben. Uns wird schon etwas einfallen, wenn es einer wagen sollte, eine Erklärung zu fordern. Sicher, eure Freunde werden sich an uns rächen wollen; aber wir werden uns auch mit ihnen einigen. Auch wenn uns dieser Ort hier natürlich für alle Zeiten versagt sein wird.« Er seufzte gekünstelt. »Im Übrigen wird er das ohnehin sein, solltest du deine Absichten verwirklichen und den Drachen in unsere Welt rufen.«

»Den Drachen kann man nicht rufen«, sagte Ritor mit dumpfem Kummer in der Stimme. »Er kommt von selbst, wenn seine Zeit anbricht ...«

»Das haben wir schon einmal von dir vernommen«, erwiderte Torn spöttisch. »Genaugenommen haben wir beide ein und dasselbe Ziel, Ritor. Hinter deinen hochtrabenden Phrasen strebst auch du nach der Macht. Nach der Macht über alle Clans der Mittelwelt. Du glaubst, wenn du nur möglichst viele Verbündete unter den Magiern gewinnst, wirst du auf diese Weise vielleicht den Drachen von deiner - sagen wir mal - Nützlichkeit überzeugen können. Ein schlauer Plan, ohne Zweifel. Die Geflügelten Herrscher wussten treue Dienste stets zu schätzen, allerdings verachteten sie Verräter. Genau wie wir übrigens. Was zuckst du so? Willst du mir eine Ohrfeige versetzen, eine einfache Backpfeife ohne jeden magischen Schnörkel? Der Wahrheit tut das keinen Abbruch.«

»Was willst du, Torn?« Ritor war berühmt für seine Selbstbeherrschung. Doch diesmal schien sie bis aufs Äußerste strapaziert zu werden.

»Ich genieße es einfach, in deine verzerrte Miene zu blicken. Ich beleidige dich, ich lache dir ins Gesicht, und du kannst nichts anderes tun, als hilflos mit den Zähnen zu knirschen. Denn du weißt so gut wie ich, dass ich die Wahrheit sage.«

»Du lügst, Torn«, sagte Ritor gleichgültig und mit unerwarteter Erschöpfung. Die Gleichgültigkeit kostete ihn unendlich viel, aber das konnte der Anführer des Wassers nicht ahnen. »Du weißt doch genau, dass ich nie nach Macht gestrebt habe, obwohl ich, so wahr es die Winde wissen, die Möglichkeit gehabt hätte. Und du weißt auch, dass nur der Drache in der Lage ist, uns vor dem Angriff der Angeborenen zu retten. Insbesondere wenn sie der Erschaffene Drache anführt.«

»Wir wissen, was wir ihrem Drachen entgegenstellen können, Ritor. Hast du das vergessen?«

»Ich bin zu alt. Ich habe alles verloren, was ich besaß. Und wer weiß, ob unser neuer Drachentöter zu helfen vermag, Torn? Wer weiß, was die Angeborenen in ihr Scheusal hineinlegen? Diesmal ist die Angelegenheit zu ernst. Nur die Große Kraft, die reine Große Kraft vermag die Mittelwelt zu retten. Also, warum willst du meinen Plan durchkreuzen? Du fürchtest meine Diktatur? Unsinn, dafür bist du zu klug und zu lange mit mir verfeindet. Sag, Torn, klingeln womöglich Münzen aus der alten Heimat in deinen Taschen?«

»Willst du sagen, die Angeborenen hätten mich gekauft?«, fragte der andere, ohne im Geringsten beleidigt zu sein, und lachte dabei auf. »Nun ja, du wirst nicht viel auf mein Wort geben, dennoch sage ich dir, nein, ich habe mich nicht kaufen lassen. Ich weiß nur einfach zu genau, wer diese Drachen sind.«

»Auch ich weiß das«, sagte Ritor trocken. »Ich erinnere mich an die Bösartigkeit, den Zorn und die Herzlosigkeit der Herrscher. Deshalb erklärte ich mich bereit ... damals. Aber man darf nicht die ganze Große Kraft der Welt vernichten. Und wahrscheinlich ist es auch nicht nötig ...«

»Der Clan des Wassers wird sich nie mehr unter fremde Herrschaft begeben, ganz gleich wie gütig und barmherzig diese am Anfang auch scheinen mag«, antwortete Torn ernst. »Ganz gleich, ob es die Herrschaft der Angeborenen, der Geflügelten Herrscher oder des Besten unter uns Magiern ist. Merk dir das, Ritor. Wir werden kämpfen. Deshalb haben wir den Clan des Feuers ausgekundschaftet, deshalb nahmen wir sie gefangen und vergossen ihr Blut. Denn wärst du mit ihnen zusammengetroffen, dann hätte ein neuer, mächtiger und unbezwingbarer Drache seine Rechte auf den Thron angemeldet. Ja, wir haben einen Drachentöter gerufen! Er ist schon auf dem Weg! Deshalb hör zu, Ritor, selbst wenn dein Plan sich doch noch erfüllt - wenn du auf wunderbare Weise von hier entkommen solltest, denn dir steht der Tod bevor, der Saal ist umzingelt -, einen neuen Drachenherrscher wird es in unserem Land nicht geben. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Ritor?«

»Voll und ganz«, sagte der Zauberer.

»Dann«, Torn machte eine großzügige Geste mit dem Arm, als sei er der Gastgeber des Balls, »nutze die Gelegenheit. Iss, trink und vergnüge dich, denn nur so, mit freudigem Geist, sollte ein wahrer Magier aus dem Leben treten. Und ich rate dir - geh wenigstens dieses eine Mal zu den Mädchen. Diese Katzen ... mhm!« Er schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen wie ein Sklavenhändler auf dem

Erst jetzt begriff Ritor, dass der ganze Saal entsetzt zu ihnen herüberblickte.

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