Ritor beschloss, im Flug zu den Besitzungen seines Clans zurückzukehren. Das fehlte noch, dass er sich nach allem, was geschehen war, zu Fuß dorthin schleppte. Die Stunde der größten Kraft war bereits vorbei, aber es blieb noch genug Zeit, um die Strecke zwischen dem Singenden Wald und dem Spitzzahn der Vier Winde zu überwinden.
Als die Magie zu wirken begann und weiche Windwirbel seinen fast gewichtslosen Körper erfassten, hatte Ritor endlich Zeit zum Nachdenken. Er ärgerte sich über sich selbst - sein Verdacht bezüglich Loj hatte sich nicht bewahrheitet, und der Magier mochte es gar nicht, wenn er sich in den Leuten täuschte, und erst recht nicht, wenn es sich um jemanden handelte, den er schon so lange kannte. Iwer hatte nichts mit dem Verrat zu tun. Jemand anderes hatte den Clan des Feuers an Torn verraten - vielleicht sogar jemand vom Feuer. Und natürlich konnte er auch nicht ausschließen, dass jemand von seinen eigenen Leuten das Feuer verraten hatte. Auch das kam vor, erst recht in diesen Zeiten, wo längst nicht alle vom Clan der Luft Ritors Ansicht teilten, dass man die Drachen zurückholen sollte.
Ruhigen Gewissens konnten sie Verrat begehen ... ihre Ideale dienten sozusagen als Rechtfertigung.
Es würde nicht leicht sein, den Verräter zu finden. Aber ohne ihn gab es auch keine Hoffnung auf Rache. Eigentlich, verbesserte Ritor sich selbst, ging es schon nicht mehr um Rache. Das hier war ein richtiger Krieg. Der Clan der Luft und der Clan des Feuers waren durch keine Union miteinander verbunden, dennoch hatte Ritor die Absicht, auch für dessen Tote Rache zu nehmen. Und natürlich für seine eigenen Gefährten, die bei den Ruinen gestorben waren. Alle bis zum letzten Mann. Ohne Rücksicht darauf, dass diese Rache die Clans der Mittelwelt am Vorabend einer Invasion der Angeborenen schwächen würde. Der Aufruhr musste im Keim erstickt werden. Keiner sollte glauben, dass sich der Clan der Luft so etwas gefallen ließ.
Dennoch war Ritor sich ganz und gar bewusst, dass die Kräfte der Clans in etwa gleich stark waren. Selbst wenn er persönlich ein wenig stärker war als Torn - jedenfalls fürchtete der Magier der Luft kein offenes Duell -, so verfügte der Clan des Wassers doch über sehr viel mehr Magier in der zweiten Reihe, und - was noch mehr zählte - diese waren viel erfahrener. Die Nachbarschaft ihrer Lehensländer zur Grauen Grenze machte sich bemerkbar: aufrührerische Elfen, unbefriedbare Fabelwesen und ähnliches Gesindel. Wenn doch wenigstens Taniel, die Brüder Klatt und Schatti noch am Leben wären. Obgleich ... ein, zwei oder selbst drei zusätzliche Kämpfer würden in einem offenen Kampf - Clan gegen Clan - am Ende nicht über den Ausgang entscheiden. In einem solchen Fall spielte auch der Zufall eine Rolle.
Das Wasser und die Luft würden sich gegenseitig schwächen, auch das Feuer konnte sich die Rache nicht versagen,
Dieser Plan taugte also auf keinen Fall. Selbst wenn der Boden unter den Füßen der Angeborenen einbrechen würde, Berge sich in Bewegung setzten, Vulkane sich ihnen in den Weg stellten - es wäre zu spät. Sie mussten den Schiffen der Angeborenen auf dem Meer begegnen, damit nur noch ein armseliger Rest der Armada die Mittelwelt erreichte. Anders würde diese nicht standhalten.
Ritor knirschte mit den Zähnen. Er wunderte sich über sich selbst, über seinen plötzlich erwachenden Blutdurst ... und mit einem Mal erinnerte er sich, ja, genau so war es damals gewesen, so trunken vor Vorgenuss war er auf das heiße, strömende Drachenblut, das in einem Schwall auf ihn niedergehen würde, damals, als er seinen Feldzug begann. Viele Jahre waren seither vergangen. Er hatte geglaubt, dass der wahnsinnige Kampfesrausch verschwunden war - aber nein, er hatte die ganze Zeit tief im Verborgenen geschlummert und auf seine Stunde gewartet.
Torn hatte alles richtig eingeschätzt, dachte Ritor plötzlich. Der Clan der Luft würde keine Rache nehmen. Denn auch das Wasser würde bis zum letzten Mann gegen die Angeborenen kämpfen ... es sei denn, die Beleidigung, die Ritor seinem Widersacher in der Hitze des Wortgefechts hingeworfen hatte, nämlich dass Torn sich hatte kaufen lassen, erwiese sich als schreckliche Wahrheit.
Dann bliebe nur eines übrig - im Kampf zu sterben.
Jedenfalls, wenn der Drache nicht kam.
Aber Torn hatte schon den Drachentöter gerufen ... Der Zauberer des Wassers hatte wohl kaum gelogen. Ein Magier seines Standes wusste schließlich genau, dass die Wahrheit
Er hatte zu wenig Informationen, musste Ritor sich wütend eingestehen. Wahrscheinlich hatte Loj Recht, es war unklug, die Dienste der Katzen zu verachten. Sie waren schlau und heimtückisch und immer auf ihren Vorteil bedacht, aber was sie auskundschafteten, musste man jedenfalls nicht mehr überprüfen.
Der Spitzzahn der Vier Winde oder einfach der Spitzzahn, wie ihn ausnahmslos alle Bewohner der Mittelwelt nannten, erhob sich hoch über dem grünen Steilufer des Blauen Flusses. Kurz bevor dieser Fluss ins Meer mündete, durchschnitt er die Felswände und beschrieb einen weiten Bogen um die steil aufragende steinerne Klippe. Hier trafen Bergwälder und Meeresdünen zusammen, hier befand sich die südliche Grenze der Clans, hier begann das Heiße Meer. Nach Norden hin erstreckten sich Berge, hinter denen die Besitzungen der anderen Clans lagen und Feros, die Hauptstadt vom Clan der Erde. Warme Steppen wechselten sich mit Wäldern ab, das Auge erblickte umgepflügte Äcker, Städtchen, Dörfer, große Gutshöfe und vereinzelte Gehöfte. Und noch weiter, hinter der Steppe, hinter den Ziwascher Sümpfen, viele Hundert Meilen entfernt lag ein Land, wo Menschen, Gnome und Elfen wohnten sowie all jene, die aufzuzählen zu viel Platz einnehmen würde. Auch dort gab es Städte - Lehensbesitzungen der Clans, Schlösser von Vasallenfürsten. Dort verlief die Route der Gnome. Und noch weiter nördlich, hinter dem Gürtel der Grauen Grenze, lag unbewohntes, unbekanntes Land, leer und unwirtlich. Keiner der Clans wollte dort leben, alle hatten sie die warmen, lieblichen Küstenregionen gewählt, die stark an die verlorene Heimat erinnerten. Der ferne Norden blieb unbesiedelt,
Der Clan der Luft hatte sich nicht zufällig neben diesem Steilfelsen niedergelassen. Der Spitzzahn war das Zentrum stürmischer und ununterbrochener Magie des Äthers, hier stießen die Winde zusammen, die über der endlosen, flachen Ebene des Meeres an Fahrt gewonnen hatten, hier trafen sie auf andere Winde, die an den Gipfeln der Berge Kraft gesammelt hatten; der hoch aufragende Fels schien sie anzuziehen, hier gaben sie ihre Kraft preis, hier konnte man sogar zum Flug aufsteigen, wenn die Zauberkraft des durchsichtigen Elements am schwächsten war.
Hier hatte Taniel das Fliegen gelernt ...
Ritor spürte, wie sich sein Herz schmerzlich zusammenzog, und verbot sich augenblicklich, an den Jungen zu denken. Taniel würde nicht zurückkommen. Ritor konnte ihn nur noch rächen. Und obgleich der Magier mehr als einmal über den dummen Aberglauben gelacht hatte, der besagte, dass eine ungerächte Seele keine Ruhe finden kann - jetzt begriff er mit einem Mal, dass auch er daran glaubte. Oder wollte er daran glauben, um seine Absichten zu rechtfertigen ...?
Der Blaue Fluss diente als natürliche Grenze. Ritors Stammesbrüder hatten sich am äußersten Rand des Waldes niedergelassen,
Die Häuser drückten sich eng an den Fuß des Felsens. Ritors Vorgänger hatte erreicht, dass ihre Siedlung von einer steinernen Mauer eingefasst wurde, während die meisten Befestigungsanlagen in der Mittelwelt aus Holz waren. Einst, noch vor dem großen Krieg, der neben vielem anderen auch Bbchtschi vernichtet hatte, jener Burg also, in der Ritor das Treffen mit dem Clan des Feuers vereinbart hatte, einst wurde Baumaterial aus dem Steinbruch am linken Ufer des Blauen Flusses nach Westen und nach Norden geschafft, um dort gewaltige Festungen zu errichten. Dann begriff man, dass Frieden sehr viel besser war als Festungen, und als es immer mühseliger wurde, die schon ausgeräumten Steinbrüche weiter auszubeuten, gab man sie schließlich auf. Aber es hatten sich dort noch genügend Steine für die Mauern und Türme des Clans der Luft gefunden.
Die Siedlung war ziemlich groß, eigentlich schon fast eine kleine Stadt zwischen den Bergen und dem Meer. Sauber und voller Grün, denn es gab ausreichend Wasser. Die kleineren einstöckigen Häuser, die hinter Baumkronen verborgen lagen, wurden zum Hauptplatz hin von zwei- und dreistöckigen Gebäuden aus Stein abgelöst. Auf
Vor langer, langer Zeit hatte es einen fanatisch gläubigen Franziskanermönch hierher verschlagen, in seiner Heimat wäre er fast verbrannt worden, aber hier erwies er sich als mächtiger Magier. Aus dieser Zeit stammte die Kirche der Heiligen Gottesmutter Unbekannter Länder, die von eben jenem Franziskaner eigenhändig ausgemalt worden war. Er hatte dieser Aufgabe sein ganzes Leben gewidmet. Und der Clan der Luft wusste Hingabe zu schätzen. Der Mönch fand sogar Nachfolger; die Tradition war bis zum heutigen Tag lebendig geblieben, auch wenn natürlich keiner wirklich daran glaubte. Aber der kleine Tempel, wie das Kirchlein liebevoll genannt wurde, blieb stehen.
Jenseits der Mauern lagen Felder, Bewässerungskanäle, große Farmen und Einzelgehöfte, manche davon eine ganze Tagesreise vom steinernen Rondell der Stadt entfernt. Und noch dahinter - die letzte Station der Eisernen Route, die die Gnome erbaut hatten, als klar wurde, wer der Herr der Mittelwelt war.
Der See lag bald hinter ihnen. Das Gelände schien anzusteigen, der Wald wurde dichter. Sie mussten sich fortwährend durch Windbruch und Dickicht durchschlagen.
Wie man es auch drehte und wendete, in der Nähe von Moskau gab es keine solchen Wälder. Aber er hatte schon aufgehört, sich zu wundern.
»Jetzt kommt der Krumme Hügel, und direkt dahinter der Weiße Hügel«, sagte Tel mit der Stimme einer strengen Lehrerin. »Die müssen wir hinter uns bringen, danach steigen wir in die Windbruchschlucht ab. Sie liegt am nächsten
Viktor fragte nicht nach, warum sie bis Sonnenuntergang dort sein mussten. Er wusste, was getan werden musste - warum, war nicht wichtig.
»Bist du wirklich warm geworden?«, erkundigte Tel sich, während sie den Krummen Hügel hinaufstiegen. In Viktors Augen war dieser Hügel kein bisschen krummer als der Weiße, ebenso wie jener nicht heller war als der Krumme. Aber Namen haben ihre eigenen Grillen. »Wenn du krank wirst ... Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Unsinn. Ich werde nicht krank. Als Kind hab ich auch mal so was erlebt, ich war genauso von Kopf bis Fuß durchnässt, und meine Großmutter zwang mich, in den See zu springen.«
Tel gab nur ein nachdenkliches »Hhm« zur Antwort.
»Und das Wasser war noch kälter.« Das Reden half ihm, die Kälte und das ekelhafte Schmatzen des Wassers in den Schuhen zu vergessen.
»Wir haben uns dann aufgewärmt ... auch an so einem Feuer wie deinem. Auf dem Nachhauseweg haben wir uns verirrt. Um ins Dorf zurückzukommen, mussten wir durch eine steile Schlucht - wir hatten keine Kraft mehr, sie zu umgehen. Großmutter ist irgendwie runter- und auf der anderen Seite wieder hochgeklettert, mir befahl sie zu springen. Ich bin gesprungen, und sie hat mich aufgefangen, aber ich hatte schreckliche Angst.«
»Eine ganz schön abenteuerlustige Großmutter«, sagte Tel. Ihm war nicht klar, ob sie das wohlwollend oder ironisch meinte.
»Du bist ihr irgendwie ähnlich«, sagte Viktor zu seiner eigenen Überraschung. »In fünfzig Jahren ...«
»Danke«, schnaubte Tel.
Sie gingen einige Minuten lang schweigend. Aber Viktor forschte in seinem Gedächtnis mit wachsender Neugier nach den Einzelheiten jenes, wie es schien, längst vergessenen Erlebnisses. Hatte er sich am Feuer verbrannt? Nein, er wusste es nicht mehr. Aber es kam ihm so vor. Natürlich gab es das Gesetz des sich wiederholenden Zufalls. Aber doch nicht in dieser Form!
»Tel, wir müssen doch nicht von diesen Felsen runterspringen?« Viktor bemühte sich, die Frage scherzhaft klingen zu lassen.
»Nichts und niemand können dich dazu zwingen, irgendetwas zu tun«, sagte sie.
»Was tue ich dann hier?«, erkundigte sich Viktor düster.
»Das, was du selbst willst.«
»Ich will etwas essen«, sagte er ehrlich. »Selbst die Reste vom Rührei würde ich aufessen. Mit Schale.«
»Viktor, ich würde auch gern was essen.«
Plötzlich schämte er sich. Schließlich war er ein gesunder, kräftiger Mann. Neben ihm ging ein minderjähriges Mädchen, und er jammerte noch ...
»Na, dann müssen wir eben das nächstbeste Restaurant ansteuern«, sagte Viktor. »Eine weiße Tischdecke, silbernes Besteck, eine Kerze auf dem Tisch, vorgewärmte Teller ...«
»Und was liegt auf den Tellern?«, fragte Tel neugierig.
Aus irgendeinem Grund dachte er gleich an Frikadellen und Pelmeni[5]. Der typische Speiseplan eines Junggesellen. Er war schon lange in keinem Restaurant mehr gewesen ... vorgewärmtes Porzellan, gedämpftes Licht, eine Flasche
Viktor blickte zu Tel hinüber. Nein, diese Rolle passte nicht zu ihr - weder zu ihrem Alter noch zu ihrem Benehmen. Nun ja, und er hatte auch nicht gerade viel mit einem Salonlöwen gemein.
»Auf den Tellern ist Haferbrei«, erklärte Viktor mürrisch. »Kalter Brei mit Klumpen.«
»Geht nicht«, entschied Tel. »Wenn du auf Brei bestehst, müssen wir hungrig im Wald übernachten.«
»Und wenn ich nicht darauf bestehe?«
»Dann finden wir eine Unterkunft, und etwas zu essen wird es auch geben.«
Der Wald rundherum war ganz jungfräulich und menschenleer. Dennoch schienen Tels Worte völlig ernst gemeint.
»Machst du auch keine Witze?« Viktor wollte es ganz genau wissen.
»Hinter Cholmogorje liegt eine Siedlung. Sie ist klein, aber dort verläuft die Route, und wir können eine Rast machen.«
Was war das nun wieder, die Route? Viktor fragte nicht nach. Wahrscheinlich war ihm das zuletzt als Kind passiert, dass er - aus reiner Neugier - beschlossen hatte, keine Fragen zu stellen. Die Route - also gut, dann eben die Route. Cholmogorje - auch gut. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er tief in seinem Inneren ohnehin alles wusste. Was die Graue Grenze war, was die Route und was Cholmogorje.
Wieder gingen sie eine Weile, ohne zu reden. Tel gehörte offenbar nicht gerade zur geschwätzigen Sorte Mädchen.
Der Weiße Berg lag schon längst hinter ihnen. Tel blickte immer wieder mal besorgt zur Sonne - sie war offensichtlich beunruhigt. Was nicht zu ihr passte. Viktor hatte sich
Hinter ihrer unbegreiflich sicheren Haltung verbarg sich Dunkelheit. Dunkelheit, die - gleich einem Umhang - Kraft verdeckte.
»Wir kommen langsam vorwärts«, sagte Tel besorgt. »Wir müssen noch die Windbruchschlucht durchqueren, und die Sonne steht schon tief.«
In Viktors Augen hatten sie ohnehin bereits wahre Wunder der Ausdauer vollbracht, zu einem solchen Fußmarsch waren normalerweise nur echte Touristen fähig. Durch diesen uralten Wald voller Bruchholz waren sie gestapft, auf Berge waren sie geklettert - keine Kleinigkeit. Es war einfacher, wenn man nicht wusste, ob man weit gehen musste, aber dennoch ...
»Leg ein bisschen zu, ja?«, bat Tel.
»Kommst du dann noch mit?«
»Ja.«
Natürlich hatte Viktor nach diesem Wortwechsel keine Wahl mehr. Er beschleunigte seinen Schritt und versuchte nicht an den Muskelkater zu denken, den er morgen in den Beinen spüren würde.
»Wenn es dunkel wird«, trieb ihn Tel wenig später an, »beginnen die Unannehmlichkeiten.«
Und wieder beschloss er, nicht nachzufragen, jener tief verwurzelten menschlichen Schwäche, über heraufziehendes Unheil zu sprechen, nicht nachzugeben. Die Sonne glitt schon hinter den Horizont, als sie einen weiteren Weißen - oder womöglich wieder Krummen - Berg hinabstiegen und tatsächlich an die Schlucht gelangten. Sie war nicht tief,
»Bleib mal einen Moment hier stehen ...«, bat Tel.
Viktor nickte, ohne sich umzudrehen. Was ging ihn das an, was sie ...
Nach einer Minute trat Tel auf ihn zu, blieb stehen und blickte angespannt nach vorne.
Eine ganz normale Schlucht. Nichts Schreckliches. Und die versprochene Grenze war weit und breit nicht zu sehen.
»Wir müssen los«, entschied Tel mit einem Seufzen. »Willst du dir nicht eine Waffe suchen?«
»Was für eine?«, fragte Viktor ohne Enthusiasmus. »Einen Stock?«
»Ja, wenigstens das.«
Nach kurzer Suche brach Viktor einen kurzen, ausgetrockneten Ast von einer - wie er glaubte - Esche ab, die vom Sturm oder von ... nein, lieber vom Sturm umgestürzt worden war. Damit konnte er sich höchstens gegen einen aggressiven Pudel zur Wehr setzen, aber Tel sagte nichts. Sie zuckte mit den Achseln und ging los.
»Lass mich vor ...«, begann er, aber er bekam keine Antwort.
So war das also. Darin bestand seine ganze Funktion - mit einem lächerlichen, morschen Stock hinter dem Mädchen herzutraben. Die Leichtigkeit, mit der Viktor den Ast hatte abbrechen können, flößte nicht eben Vertrauen in dessen Wirksamkeit ein.
Aber hier in dieser Wildnis, da er nicht wusste, wo er sich befand, und auch nicht, warum, schien es das Klügste zu sein, sich unterzuordnen ...
»Kannst du kämpfen?«
»Ja.« Viktor hatte beschlossen, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Trotz allem war seine Beschäftigung mit fernöstlichen Nahkampftechniken nicht viel mehr gewesen als der Versuch eines friedlichen Intellektuellen, sich Selbstbestätigung zu verschaffen. Sicher, physisch gesehen vermochte er vielleicht das eine oder andere ... aber er hatte sich mehr als einmal die Frage gestellt, ob er im Fall der Notwendigkeit in der Lage wäre, richtig zuzuschlagen. In Gedanken lautete seine Antwort zumeist Ja, aber wer konnte das schon wirklich sagen ...
»Das ist gut. Hier muss man kämpfen können«, sagte das Mädchen.
»Hier, wo ist das?«, bellte Viktor mit zorniger Stimme. Offenbar sehr laut, denn Tel drehte sich zu ihm um und verzog das Gesicht.
»In der Mittelwelt.«
»Das ist die Mittelwelt?«
»Ja.«
»Na wunderbar.« Viktor bemerkte nicht, wie er in Fahrt kam. »Endlich wird mir alles klar. Außerdem gibt es noch die Innenwelt und die Außenwelt ...«
»Nein.«
Er verstummte.
»Es gibt die Mittelwelt und die Welt der Angeborenen und die Andere Seite. Du kommst von der Anderen Seite.«
Es klang nicht gerade beleidigend, aber irgendwie langweilig und alltäglich.
»Und wie sind wir hergekommen? Gibt es ein ... äh ... Tor zwischen den Welten?«
»Es gibt Pfade«, erklärte Tel gleichmütig. »Oder hast du vielleicht ein Tor gesehen?«
Viktor blieb eine Antwort schuldig. Wäre die Stimme des Mädchens nur eine Spur emotionaler gewesen, hätte er vermutlich angefangen zu streiten, entgegen den offensichtlichen Tatsachen hätte er behauptet, dass sie sich in einem Wald am Stadtrand Moskaus befanden. Oder er hätte nach den Details gefragt.
»Tel, ich verstehe, dass jetzt kein guter Augenblick dafür ist, aber ich habe das Recht ...«
»Ja«, stimmte ihm das Mädchen sofort zu. »Aber sprich leiser, und unterbrich mich nicht. Dies ist ein gefährlicher Ort. Es gibt drei Welten ...«
»Genau drei?« Viktor hatte ihre Bitte, sie nicht zu unterbrechen, sogleich wieder vergessen.
»Ich kenne keine anderen ...« Tel verstummte mitten im Satz, und Viktor sah sich alarmiert nach allen Seiten um. Nein, weit und breit war niemand zu sehen. »Warte, das ist nicht richtig«, sagte Tel plötzlich, »es ist schwer zu erklären, was alle wissen ... Also, die Welt ist eins.«
»Danke.« Viktor stimmte ihr aus tiefstem Herzen zu. »Allmählich habe ich schon an meinem Verstand gezweifelt.«
»Schließlich spricht man ja auch bei einem Hemd nicht von einer inneren Seite, einer äußeren und einer Mitte ...«
Darauf wusste Viktor nichts zu sagen.
»Die Welt ist eins. Alles hängt davon ab, wie man sie betrachtet. Von welcher Seite. Du hast sie auf der Anderen Seite von innen betrachtet. Dort ist alles anders als bei uns oder in der Welt der Angeborenen.«
»In der Welt der Angeborenen leben wahrscheinlich Magier und Drachen?«, fragte Viktor beißend.
»Das ist doch egal. Das ist nur die Form. Die Welt ist eins, aber man kann sie von verschiedenen Seiten betrachten. Und von verschiedenen Seiten leben ...«
»Und die Seiten wechseln?«
»Manchmal. Das können nicht alle.«
»Warum?«
»Weil niemand wählt, auf welcher Seite er geboren wird. Und wenn du dich daran gewöhnst, wirst du die Welt so sehen, wie es um dich herum üblich ist. Du wirst nur noch sehen können, was alle üblicherweise sehen.«
»Und von welcher Seite siehst du?«
Das Mädchen lachte leise auf. »Eine gute Frage. Von allen Seiten.«
»Das heißt, du kannst zwischen den Welten hin und her gehen?«
»Ja. Also, glaubst du mir?«
Viktor antwortete nicht sofort. »Dieser Wald ist seltsam. Wir sind auf merkwürdige Weise hergekommen. Und du bist auch ...«
Tel lachte wieder auf. »Auch seltsam?«
»Mehr als das.« In einem Anfall von Offenheit fügte Viktor hinzu: »Ich war absolut sicher, dass du verrückt bist. All diese Schwerter, Übergänge, dieses rätselhafte Gerede ...«
»Aber es stimmt.« Tel lächelte ironisch. Im Halbdunkel glänzten ihre Augen geheimnisvoll. »Hier hält man mich auch für verrückt, wegen der blauen Flecken aus der Metro, den Übergängen, dem rätselhaften Gerede ...«
»Was für blaue Flecken?«
»Am Anfang wusste ich nicht, dass man schnell einsteigen muss, weil sich die Türen dann schließen ...«
»Hm ...« Viktor stellte sich vor, wie Tel die Absperrungen mit einem Sprung überwand und schwarzfuhr.
»Aber du hast dich benommen, als ob du dich über nichts wunderst ...« Er erinnerte sich an alles, was sie getan hatte, und schüttelte den Kopf. In der Metro hatte sie sogar
»Aber du benimmst dich doch auch, als ob du dich über nichts wundern würdest.« Eins zu null für sie.
»Bisher ist ja nichts los.«
»Freu dich, dass nichts los ist!«
Tels Stimme war ernst geworden. Und Viktor sah sich um. Nein, wieder nichts ... Oder? Nein, falscher Alarm. Nur die Schlucht, das ausgetrocknete Flussbett, die verwobenen, miteinander verwachsenen Baumkronen an den Abhängen. Klar, warum Tel diesen Weg gewählt hatte, oben gab es kein Durchkommen. Vor ihnen verband der dicke Stamm eines umgestürzten Baumes die beiden Hochufer der Schlucht wie eine Brücke, die nicht von Menschenhand gemacht war. An den Zweigen des gefällten Riesen hingen noch Blätter, ein wenig verwelkt, aber noch grün. Es war ein kräftiger Baum, und er war nicht vom Alter gefällt worden.
»Gibt es hier so starke Stürme?«, fragte er.
»Wo hier?« Tels Stimme war voller Ironie.
»In der Mittelwelt«, verbesserte sich Viktor resigniert.
»Dieser Baum ist nicht durch einen Sturm umgestürzt. Das ist die Graue Grenze. Früher fand hier ein Krieg statt.«
»Vor nicht allzu langer Zeit, oder?«
»Vor hundert Jahren. Aber er ist noch nicht für alle beendet, Viktor.«
»Sind etwa bis heute Partisanen im Wald unterwegs?« Er versuchte zu lächeln.
»Es gab eine große Schlacht. Zwei Armeen ... eine aus Menschen und eine aus Nicht-Menschen. Die Armee der Menschen wurde fast vollständig vernichtet. Die Schwerter verloren gegen die Pfeile und Äxte ...« Das Mädchen verstummte, blieb stehen und blickte zu dem umgestürzten
Es herrschte eine Grabesstille, eine tödliche Stille. Kein Laut. Und es war so dunkel, dass man nichts erkennen konnte - nur die vagen Umrisse der Bäume vor dem dunklen Himmel.
»Dann schalteten sich die Magier in den Kampf ein«, fuhr das Mädchen unvermutet fort. »Und die tote Armee erstand wieder auf und rückte gegen den Feind vor, und der fiel ... denn es ist schwer, einen Toten ein zweites Mal umzubringen. Nur hatten die Magier die Kräfte nicht richtig bemessen. Zu groß war ihre Angst. Worte, die nicht ausgesprochen werden dürfen, wurden gesprochen ... und die Toten fanden keine Ruhe. Das gefallene Heer des Feindes erhob sich ebenfalls wieder aus der Erde. Alles hätte ein für alle Mal vorüber sein können - für die Lebenden. Die ehemaligen Feinde standen nun gemeinsam Schulter an Schulter gegen ihre gefallenen Kameraden. Aber sie wären nicht mit ihnen fertig geworden ... denn jeder Tote in ihren Reihen hätte sich sofort in einen Gegner verwandelt.«
Viktor verzog das Gesicht und trat einen Schritt auf das Mädchen zu. Als Kind hatte er solche Schauermärchen, wie sie am Lagerfeuer im Pionierlager erzählt wurden, gar nicht gemocht, und auch später las er keine Romane von Stephen King und sah sich nie die Nightmare-on-Elm-Street-Filme an. Jetzt hatte er das Gefühl, dass es nicht klug war, sich solche Geschichten im nächtlichen Wald anzuhören. Nein, es war keine Angst, etwas anderes stieg in ihm auf, durchlief kalt seinen Körper. Wie eine Vorahnung. Hör nicht hin ... hör nicht zu genau hin. Nicht, dass ...
Tel schien nicht zu merken, dass er seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte.
»Und dann kam der Einzige, der all das beenden konnte. Er stand zwischen den Armeen, zwischen den Toten und den Lebenden - und maß die Graue Grenze ab.«
»Und ich dachte, dass alle ...«
»Nein. Wofür hätte er sie denn bestrafen sollen - die Lebenden und die Toten? Die Lebenden hatten keine Schuld und erst recht nicht die Toten. Damals entstand die Grenze, die die Toten nicht übertreten und die auch die Lebenden achten sollten.«
»Und wir - haben wir sie übertreten?«
Tel zog die schmalen Schultern hoch.
»Alles verändert sich. Flüsse verschieben ihren Lauf, Berge steigen auf. Früher führte der Weg entlang der Grenze. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist. Vielleicht sind jene anderer Meinung. Es heißt, es sei gefährlich geworden, in dieser Gegend zu reisen.«
»Tel, wir sollten uns nicht gegenseitig Angst einjagen.«
»Hast du Angst?« Aus ihrer Stimme war Überraschung zu hören.
»Sagen wir mal, mir ist das nicht angenehm. Ich glaube nicht an Skelette, die umgehen ...«
Tel lachte auf. »Sei nicht albern, Skelette können nicht gehen! Schließlich werden ihre Knochen durch nichts zusammengehalten.«
»Aber wir können gehen, oder? Na, dann los!«
Tel nickte und setzte sich in Bewegung. Sie hatten kaum fünf Schritte getan und befanden sich unter dem umgestürzten Baum, als ein Geräusch erklang und etwas Mulm in Viktors Kragen rieselte.
Er drehte sich um.
Mehrere leichte Gestalten sprangen vom Baum auf die Erde. Vier an der Zahl - zwei versperrten den Weg nach vorn, zwei den Rückzug.
Tel drückte sich an Viktor. Sie schrie nicht, aber sie war deutlich erschrocken.
»Das ist unser Land ...«, sagte einer der Unbekannten, wobei er die Wörter auf seltsame Weise dehnte. »Das Land der Toten ... Ihr seid auf unserer Seite der Grenze ...«
»Wir gehen hier nur entlang«, rief Tel aus.
»Ihr könnt durch ... wenn wir es erlauben ...«
Viktor versuchte die Bewegungen der vier Gestalten mit den Augen zu verfolgen und schob sich ein Stück in Richtung der steilen Böschung, wobei er Tel mit sich zog. Die vier Schatten schlossen schweigend einen Halbkreis um sie. Aus irgendeinem Grund verspürte Viktor keine Angst. Fast als ob er sich einen billigen Horrorstreifen ansehen würde, in dem schlecht geschminkte Schauspieler krampfhaft irgendwelche Leichen spielten. Aber seine Handfläche, die den Stock umschloss, war feucht von Schweiß. Es war gefährlich, nicht an die Gefahr zu glauben! Gefährlich! In dieser Welt war alles möglich, sogar wandelnde Leichen.
»Lasst uns durch«, bat er und versuchte seine Stimme fest klingen zu lassen.
»Gold ...«, fauchte einer. »Freikaufen ...«
Tel warf den Kopf zurück und blickte Viktor überrascht an.
Also wirklich, wozu brauchten Tote Gold?
»Geht auch Silber?«, fragte Viktor.
Die Schatten lachten gehässig. Dann sagte einer: »Alles geht ...«
»Schade, dass wir weder Gold noch Silber haben. Nehmt ihr auch Rubel?« Viktor war es Ernst damit, er war bereit,
»Ich geb dir gleich Rubel ...! Na los, wo ist dein Schwert?« Die Gestalt schwankte im Dunkeln, und irgendetwas blitzte metallisch.
»Da stimmt was nicht ...«, flüsterte Tel. »Das sind keine ...«
»Dann lass das Mädchen da ... und geh allein weiter ...«, schlug plötzlich ein langer Dünner vor, der bisher geschwiegen hatte.
»In Ordnung, abgemacht.« Viktor machte sich von Tel los, er vermied es, sie anzusehen, und setzte sich in Bewegung. Langsam und offenbar verwirrt gaben die Gestalten den Weg frei. Er schritt zwischen ihnen hindurch und versetzte dem, der ihm am nächsten stand, ohne auszuholen, einen Schlag mit dem Stock. Er traf ihn am Hals.
Der morsche Stock zerbrach wie befürchtet. Aber trotzdem schien dieser Schlag dem Wegelagerer schwer zugesetzt zu haben; er setzte sich mit stockendem Röcheln auf den Boden.
»Ach herrje ...«, schrie der Lange auf. Er warf die Arme hinter den Kopf - und in der schnellen Bewegung lag etwas, was große Unannehmlichkeiten ahnen ließ. Viktor wirbelte herum und trat ihm mit dem Fuß in die Brust. Der Stoß war harmlos, umso mehr, als er aus einer ungünstigen Position ausgeführt worden war. Im Training hätte jeder Anfänger ihn parieren können.
Aber auch dieser Untote erwies sich als höchst unbegabter Kämpfer. War er vielleicht seinerzeit Koch oder Marketender gewesen und hatte nach seinem Tod nichts mehr dazugelernt?
»Uhuhu ...«, erklang es aus der Dunkelheit, als der Stoß Viktors Gegner die Luft aus den Lungen drückte. In der
Aber die Kehle fühlte sich ganz normal an. Und der Leichnam roch sogar angenehm und beruhigend nach Blumen.
Einige Sekunden blieb der Feind ohne Gegenwehr, dann hieb er Viktor mit einer schnellen Bewegung den Ellbogen ins Gesicht, traf ihn aber zum Glück nur an der Backe. Gleichzeitig versuchte er, mit der anderen Hand etwas aus seinem Gürtel zu ziehen.
Erst da nahm Viktor, ohne darüber nachzudenken, was er tat, den Gegner unterm Ellbogen in den Schwitzkasten, zog ihn nach unten und drückte ihm das Knie in den Rücken. Der andere, dieser unfähige Feind, erwies sich als unerwartet leicht und zerbrechlich. Seine Halswirbel brachen sofort und beförderten ihn endgültig ins Reich der Toten. Das Messer, das schon Viktors Körper berührte, erzitterte und löste sich aus den Fingern, die es eben noch umklammert hatten.
Nicht weit von ihm entfernt ging etwas Seltsames vor sich. Die beiden anderen Wegelagerer, die sich schon längst auf Viktor hätten stürzen sollen, zogen sich zurück. Nicht von ihm, sondern von Tel. Das Mädchen ging auf sie zu, während es in einer unbekannten Sprache auf sie einredete. Von irgendwoher kam Licht, und ein schwacher, orangefarbener Widerschein erhellte ihre Gesichter. Ganz gewöhnliche menschliche Gesichter, schlecht rasiert und nicht mehr jung.
»Bitte nicht!«, kreischte auf einmal derjenige, der als Erster geredet hatte. Er drehte sich um und versuchte wegzulaufen
Der letzte Feind flüchtete. Er kletterte den steilen Abhang hinauf, heulte immer wieder auf und schrie in tödlicher Angst, während er sich durch das Gebüsch schlug. Tel verfolgte ihn lange mit den Augen, dann sah sie Viktor an.
»Du wärst auch alleine mit ihnen fertig geworden«, sagte er.
»Nein, nicht mit allen gleichzeitig.«
Viktor beugte sich über jenen, dem er das Genick gebrochen hatte. Im Licht der ungeheuerlichen menschlichen Fackel, die nicht weit von ihnen loderte, konnte man dessen Gesicht erkennen: blasse Haut, feine Züge und sehr große Augen, helle, wirr abstehende Haare. Er hatte etwas Kümmerliches an sich, etwas schwindsüchtig Schwächliches, aber ganz sicher nichts Jenseitiges.
»Ich habe das Gefühl, er ist eben zum ersten Mal gestorben«, sagte Viktor. Dann blickte er zu dem Opfer seines kümmerlichen Knüppels hinüber. An diesem war nun wirklich nichts Ungewöhnliches. Er war mittelgroß, dunkel gekleidet und etwas schmutzig. Er erinnerte Viktor an einen Sanitärtechniker oder Elektriker seiner Wohnungsinstandhaltungsgesellschaft, eine Assoziation, die alles Mitleid für den Betäubten augenblicklich vertrieb. »Der sieht auch nicht nach einem Zombie aus.«
»Das sind keine Untoten«, antwortete Tel ruhig. »Das sind einfach nur Räuber, die sich gedacht haben ...«
»Das heißt, deine ganze Geschichte ... dein Märchen ...«
Mit einem Mal erklang ein verzweifeltes Geschrei aus der Richtung im Wald, in die der letzte Räuber geflüchtet war. Von Schluchzen unterbrochen, steigerte es sich schließlich zu einem hohen Kreischen, ehe es abbrach. Viktor durchlief ein Zittern. Und die Stille, die darauf folgte, war furchtbarer als der Todesschrei.
»Warum?« Tel drehte sich zu dem Geräusch um - sie war nur eine schmale Gestalt, ein fast gewichtsloser Schatten vor einem Leichenfeuer. »Es stimmt alles. Ich wusste nur nicht, dass die Toten die Graue Grenze noch achten. Seltsam ... die Toten erinnern sich besser an den Schwur als die Lebenden.«
Sie schwieg eine Weile, ehe sie nachdenklich hinzufügte: »Oder sie fürchten den Herrn der Grenze mehr als die Lebenden.«
In der Luft machte sich der widerwärtige Geruch von verbranntem Fleisch bemerkbar. Viktor hob das Messer vom Boden auf und wollte es sich hinter den Gürtel stecken, doch dann hielt er rechtzeitig inne, als er die scharfe Klinge bemerkte. Er nahm dem Toten den Gurt mit den Messern und der Feldflasche ab. Außerdem waren da noch ein langer Bogen aus poliertem Holz und ein Köcher mit Pfeilen - alles war auf dem Rücken des Toten befestigt; aber für Viktor hatte diese Waffe keinen Nutzen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tel.
»Was meinst du?«
»Du hast zum ersten Mal jemanden umgebracht.«
Viktor versuchte irgendetwas zu spüren ... doch er nahm kein Gefühl wahr. Nur sein Herz klopfte vom Adrenalinschub. Und um ihn herum war alles ganz deutlich, reliefartig und hell geworden. Wie bei einer leichten Trunkenheit.
»Ich habe dich verteidigt.«
»Und dich selbst auch. Du glaubst doch nicht, dass sie dich hätten gehen lassen?«
»Weiß ich nicht. Aber das spielt keine Rolle, ich lasse ... Freunde nicht im Stich.«
Tel antwortete nicht. Sie trat auf den Leichnam des Bogenschützen zu und gab seinem Kopf mit der Fußspitze einen leichten Schubs, so dass sie sein Gesicht sehen konnten. »Natürlich. Ein Halbelf«, schnaubte sie.
»Ein was?«
»Ein Bastard, ein Mischling aus Mensch und Elf.«
Die verächtliche Bezeichnung klang aus ihrem Mund wie ein trockener akademischer Fachbegriff. »Du meinst ...« Viktor blickte auf das blasse, zarte Gesicht. »Du meinst, seine Mutter ist ein Mensch und sein Vater ein Elf?«
»Natürlich nicht! Elfen finden Menschenfrauen unattraktiv. Dieser hier ist die Ausgeburt einer Elfe und eines Menschenmannes. Wahrscheinlich das Ergebnis einer Vergewaltigung, obwohl, das muss nicht sein.«
»Wenn Elfen keine menschlichen Frauen mögen, warum ...«
»Er war nur ein halber Elf, und ich ... ich bin noch nicht ganz eine Frau. Halbelfen empfinden keinen Ekel vor jungen Mädchen.«
Nach diesen Worten verlor Tel jedes Interesse an dem Toten. Sie ging ein paar Schritte weg, setzte sich auf einen Findling und streckte die Beine aus.
»Viktor, sieh nach, ob er ein Säckchen bei sich trägt. Halbelfen schleppen alles Wertvolle mit sich herum, sie trauen niemandem.«
Dies war eine unangenehme, aber offensichtlich notwendige Maßnahme. Viktor wühlte in den Taschen des Halbelfen, [6].
»Gib mir einen«, bat Tel.
Er war zu hungrig, um nicht ihrem Beispiel zu folgen. Sogar der heftige Geruch des brennenden Fleisches hinderte Viktor nicht daran, augenblicklich in den Fladen zu beißen, der erstaunlich gut schmeckte und stark nach unbekannten Gewürzen duftete.
Endlich fand er das Säckchen - einen schweren ledernen Beutel, in dem eine Handvoll silberner und goldener Münzen klimperte.
»Es muss noch einer da sein«, sagte Tel.
Der zweite Beutel war leichter und kleiner und gefüllt mit glitzernden Steinchen.
»Offenbar haben sie nicht zum ersten Mal hier an der Grenze ihr Unwesen getrieben«, bemerkte Tel.
Viktor beendete erleichtert die Durchsuchung des Leichnams und rückte von dem Halbelfen ab. Das blasse Gesicht des Getöteten schien nun besänftigend und zart.
»Elfenfrauen sind wahrscheinlich hübsch?«
»Ja, besonders in den Augen der Menschen.«
Tel machte keine Bemerkung dazu, dass Viktor offensichtlich kapituliert hatte und ihren Ausführungen über die Mittelwelt Glauben schenkte. Er war ihr dafür dankbar.
»Wahrscheinlich gibt es ... solche Mischlinge ... öfter, oder?«
»Ach nein, dazu braucht es doch meistens gegenseitige Anziehung.« Und einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Und außerdem würden die Elfenfrauen niemals für alle reichen.«
»Soll ich den auch durchsuchen?« Viktor zeigte auf den betäubten Mann, der noch immer bewusstlos auf dem Boden lag. Tel blickte verächtlich auf den Räuber.
»Das Schwert ist Schund ... so einer trägt kein Geld bei sich. Bring es zu Ende, dann gehen wir.«
Sie stand auf und setzte sich in Bewegung, ohne sich weiter um die beiden Angreifer zu kümmern. Viktor stand da, dann beugte er sich über den Körper und zog das Messer hervor.
Die Augen des Räubers öffneten sich. Nein, wahrscheinlich war er schon lange wach, er hatte sich nur bewusstlos gestellt.
»Bitte, Herrscher ...«, flüsterte er. »Bitte ...«
Viktor erstarrte. Der Räuber machte keine Anstalten, sich zu wehren oder davonzulaufen. Er lag da wie ein Opfertier auf der Schlachtbank, sah ihn mit schicksalhafter Ergebenheit an.
»Wir wussten ja nicht, Herrscher ...«
Viktor blickte in die Dunkelheit - aber von Tel war schon nichts mehr zu sehen.
Er drückte dem Räuber die geschärfte Klinge an die Kehle. Blut wurde sichtbar. Viktor sollte, musste ihn töten ... er spürte das. Oder gab es doch einen anderen Ausweg?
»Du bist mein Sklave«, sagte er.
»Ja, Herrscher ...«
»Dein Leben ist nichts wert.«
Der Mann stimmte ihm offensichtlich zu.
»Geh«, sagte Viktor und steckte das Messer weg, »und erzähle allen, was du gesehen hast.«
Er scheute sich nicht, dem Räuber den Rücken zuzukehren. In dessen Benehmen war etwas Stärkeres als die Angst vor einem überlegenen Kämpfer zu spüren.
»Ich bin dein Sklave ...«, erklang es hinter ihm.
Tel war nicht weit gegangen. Sie stand in zwanzig Meter Entfernung, dort, wo es nicht mehr stank.
»Vielleicht hast du wirklich Recht«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang seltsam verwirrt und schuldbewusst. Sie fasste Viktor an der Hand, und sie gingen eine Minute schweigend vor sich hin. »Verzeih, Viktor ... dass ich dir Ratschläge erteilt habe.«