Geh an einem Sommermorgen in Stockholm zum Kai am Strandväg hinunter und schau nach, ob dort ein kleiner weißer Schärendampfer mit dem Namen »Saltkrokan I« liegt. Wenn es so ist, dann ist es der richtige Dampfer, und man braucht nur an Bord zu gehen. Punkt zehn Uhr wird er zur Abfahrt läuten und rückwärts von der Pier ablegen; denn jetzt geht er hinaus auf seine gewohnte Fahrt, die bei den Inseln weit draußen endet, dort, wo das Meer beginnt. Die »Saltkrokan I« ist ein zielbewußter und energischer kleiner Dampfer; seit mehr als dreißig Jahren macht sie dreimal in der Woche diese Fahrt. Wahrscheinlich weiß sie, nicht, daß sie Gewässer durchpflügt, denen nichts sonst auf dieser Erde gleicht. Über weite Fjorde und durch schmale Sunde, an Hunderten von grünen Inselchen und Tausenden von grauen Schären* [* Schäre (schwedisch): kleine Felsinsel, Küstenklippe an den skandinavischen und den finnischen Küsten.] vorbei steuert sie unverdrossen vorwärts. Schnell geht es nicht, und die Sonne steht schon tief, wenn sie bei ihrer letzten Anlegestelle ankommt, der auf Saltkrokan, jener Insel, die ihr den Namen gab. Weiter hinaus braucht sie nicht zu fahren. Hinter Saltkrokan fängt das offene Meer an mit kahlen Felsinseln und nackten Klippen, wo niemand wohnt als die Eidergans und die Möwe und andere Meeresvögel.
Aber auf Saltkrokan wohnen Menschen. Nicht viele. Höchstens zwanzig. Das heißt: im Winter. Im Sommer kommen noch Sommergäste hinzu.
Genau so eine Familie von Sommergästen fuhr eines Tages im Juni auf der »Saltkrokan I« hinaus. Es war ein Vater mit seinen vier Kindern. Melcherson hießen sie, Stockholmer waren sie, keiner von ihnen war jemals auf Saltkrokan gewesen. Deshalb waren sie jetzt sehr erwartungsvoll, vor allem Melcher, der Papa.
»Saltkrokan«, sagte er. »Der Name gefällt mir. Deswegen habe ich auch dort gemietet.«
Malin, seine Neunzehnjährige, warf ihm einen Blick zu und schüttelte den Kopf. Oh, was für ein leichtsinniger Vater! Er wurde bald fünfzig, war aber impulsiv wie ein Kind und jungenhafter und unbekümmerter als seine eigenen Jungen. Jetzt stand er da, aufgeregt wie ein Kind am Heiligabend, und erwartete, daß alle sich über seinen Einfall, ein Sommerhaus auf Saltkrokan zu mieten, freuten.
»Das sieht dir ähnlich«, sagte Malin, »das sieht dir so richtig ähnlich, ein Sommerhaus auf einer Insel zu mieten, die du nie gesehen hast, nur weil du findest, daß der Name so gut klingt.«
»Ich dachte, alle Leute machten das so«, verteidigte sich Melcher, doch dann verstummte er und dachte nach. »Aber vielleicht muß man Schriftsteller und mehr oder weniger verrückt sein, um so etwas zu tun? Nur ein Name – Saltkrokan, haha! Andere Leute fahren vielleicht vorher hin und gucken erst mal nach!«
»Einige tun das, ja! Nur du nicht!«
»Na ja, jetzt bin ich unterwegs«, sagte Melcher leichthin.
»Jetzt fahre ich hin und gucke.«
Und er schaute sich mit fröhlichen blauen Augen um. Er sah alles, was ihm so lieb war, dieses fahle Wasser, diese Inseln und Holme, diese grauen Schären aus ehrwürdigem schwedischen Urgestein, die Ufer mit ihren alten Häusern und Anlegern und Bootshäusern. Er hatte das Gefühl, er müßte die Hand ausstrecken und alles streicheln. Statt dessen faßte er Johann und Niklas ums Genick.
»Begreift ihr, daß es schön ist? Begreift ihr, wie glücklich ihr sein könnt, daß ihr den ganzen Sommer hier mittendrin wohnen dürft?« Johann und Niklas sagten, sie begriffen es. Pelle sagte, er begreife es auch. »Na, aber warum jubelt ihr dann nicht?« fragte Melcher. »Darf ich um ein bißchen Jubel bitten!«
»Wie macht man das?« erkundigte sich Pelle. Er war erst sieben Jahre alt und konnte nicht auf Befehl jubeln.
»Man brüllt«, sagte Melcher und lachte ausgelassen. Dann versuchte er selbst, ein wenig zu brüllen, und seine Kinder kicherten dankbar.
»Du hörst dich an wie eine Kuh«, sagte Johann, und Malin wandte ein: »Ob wir nicht sicherheitshalber mit dem Brüllen warten, bis wir das Haus gesehen haben, das du gemietet hast?«
Das fand Melcher nicht.
»Das Haus ist wunderbar, hat der Makler gesagt. Und man sollte sich doch wohl darauf verlassen können, was die Leute einem sagen. So ein richtig gemütliches altes Sommerhaus, das hat er mir versichert.«
»Ach, wären wir doch bald da«, sagte Pelle. »Ich möchte dieses Sommerhaus jetzt sofort sehen.«
Melcher guckte auf seine Uhr.
»Noch eine Stunde, mein Junge. Bis dahin haben wir allesamt mächtigen Hunger. Und könnt ihr raten, was wir dann tun?«
»Essen«, schlug Niklas vor.
»Richtig. Wir setzen uns vors Haus in die Sonne und verspeisen das wunderbar gute kleine Mahl, das Malin für uns bereitet hat. Im grünen Gras, versteht ihr? Wir sitzen nur da und fühlen, daß Sommer ist!«
»Oh«, sagte Pelle, »jetzt brülle ich gleich.«
Doch dann beschloß er, etwas anderes zu unternehmen. Es sei noch eine Stunde bis zur Ankunft, hatte sein Vater gesagt, und es gab wohl auch auf diesem Dampfer noch allerlei zu tun. Das meiste hatte er bereits erledigt. Er war alle Treppen hinauf-und hinuntergeklettert und hatte in alle aufregenden Winkel und Ecken geguckt. Er hatte die Nase in die Steuermannskajüte gesteckt und war weggejagt worden. Er hatte einen kleinen Besuch im Eßsalon gemacht und war weggejagt worden. Er hatte versucht, zum Kapitän auf die Kommandobrücke zu kommen und war weggejagt worden. Er hatte von oben in den Maschinenraum geschaut und sich alle Räder und Pleuelstangen angesehen, die da stampften und sich drehten. Er hatte sich über die Reling gebeugt und in den gischtenden weißen Schaum gespuckt, den der Dampfer aufriß. Er hatte Brause getrunken und auf dem Achterdeck Zimtwecken gegessen. Er hatte kleine Brocken davon den hungrigen Möwen zugeworfen. Er hatte sich mit fast allen Menschen an Bord unterhalten. Er hatte ausprobiert, wie schnell er von vorn nach hinten rennen konnte, und er war jedesmal der Schiffsbesatzung in den Weg gelaufen, wenn der Dampfer an einem Bootssteg anlegte und Frachtgüter und Gepäck ausgeladen wurden. Ja, er hatte alles getan, was ein siebenjähriger Junge an Bord eines Schärendampfers gewöhnlich tut.
Jetzt sah er sich nach etwas Neuem um, und da entdeckte er zwei Fahrgäste, die er bisher noch nicht bemerkt hatte. Ganz hinten auf dem Achterdeck saß ein alter Mann mit einem kleinen Mädchen. Und neben dem Mädchen auf der Bank stand ein Vogelbauer mit einem Raben darin. Einem lebendigen Raben. Das brachte Pelle in Bewegung. Er liebte nämlich alle Arten Tiere, alles, was lebendig war und sich bewegte, was unterm Firmament des Himmels flog oder kroch, alle Vögel und Fische und Vierfüßer. »Kleine liebe Tierlein«, nannte er sie alle miteinander, und dazu zählte er auch Frösche und Wespen, Heuschrecken und Käfer und anderes Gewürm.
Aber im Augenblick war da also ein Rabe, ein lebendiger Rabe!
Das kleine Mädchen lächelte ihn mit einem freundlichen zahnlosen Lächeln an, als er vor dem Käfig stehenblieb.
»Ist das dein Rabe?« fragte er und steckte einen Zeigefinger zwischen die Gitterstäbe, um den Raben womöglich ein bißchen zu streicheln. Das hätte er lieber nicht tun sollen. Der Rabe hackte nach ihm, und er zog die Hand schnell wieder zurück.
»Nimm dich vor Kalle Hüpfanland in acht«, sagte das Mädchen. »Ja, es ist mein Rabe. Nicht wahr, Großvater?«
Der Alte neben ihr nickte.
»Sicher! Sicher ist es Stinas Rabe«, erklärte er Pelle.
»Jedenfalls, wenn sie bei mir auf Saltkrokan ist.«
»Ihr wohnt auf Saltkrokan?« fragte Pelle begeistert. »Da wohne ich diesen Sommer auch. Ich meine, wir wohnen auf Saltkrokan, Papa und wir alle.«
Der Alte betrachtete ihn mit Interesse.
»Soso, sieh mal einer an. Dann seid ihr wohl die Leute, die das alte Schreinerhaus gemietet haben?«
Pelle nickte eifrig. »Ja, die sind wir. Ist es da schön?«
Der alte Mann legte den Kopf schief und sah aus, als ob er nachdächte. Dann brach er in ein komisches glucksendes Lachen aus.
»Sicher! Sicher ist es schön! Kommt bloß drauf an, was man mag.«
»Wieso?« fragte Pelle.
Der Alte gluckste von neuem.
»Ja, entweder mag man es, wenn's durchs Dach regnet, oder man mag es nicht.«
»Oder man mag es nicht«, echote das kleine Mädchen. »Ich mag es nicht.«
Pelle wurde ein wenig nachdenklich. Das mußte er Papa erzählen. Doch nicht gerade jetzt. Jetzt mußte er sich zuerst den Raben ansehen, das war unbedingt nötig. Stina zeigte ihn gern, das merkte man. Es machte bestimmt Spaß, wenn man einen Raben hatte, den sich die Leute ansehen wollten und am liebsten ein großer Junge wie er. Stina war zwar nur ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, aber um des Raben willen war Pelle bereit, sie für diesen Sommer, oder jedenfalls so lange, bis er etwas Besseres gefunden hatte, zu seiner Spielkameradin zu machen.
»Ich komm dich mal besuchen«, sagte er gnädig. »In welchem Haus wohnt ihr denn?«
»In einem roten«, sagte Stina, und das war ja immerhin ein Anhaltspunkt, viel mehr aber auch nicht.
»Du kannst fragen, wo der alte Söderman wohnt«, sagte ihr Großvater. »Das weiß nämlich jeder, verstehst du.«
Der Rabe krächzte heiser in seinem Käfig und schien unruhig zu sein. Pelle versuchte wieder, den Finger zu ihm hineinzustecken, und wieder hackte der Rabe nach ihm.
»Der ist klug, du«, sagte Stina. »Der Klügste in der ganzen Welt, sagt Großvater.«
Das hielt Pelle für Aufschneiderei. Schließlich konnten weder Stina noch ihr Großvater wissen, welcher Vogel der klügste in der ganzen Welt war. »Mein Großvater hat einen Papagei«, sagte Pelle. »Und der kann sagen ›Zum Kuckuck mit dir!‹«
»Was ist denn dabei«, sagte Stina. »Das kann mein Großvater auch.«
Da lachte Pelle schallend.
»Das sagt doch nicht mein Großvater. Das sagt der Papagei!«
Stina mochte es nicht, wenn man über sie lachte. Jetzt war sie beleidigt. »Dann rede doch so, daß man es versteht«, sagte sie mürrisch. Sie wandte den Kopf ab und schaute unentwegt über die Reling. Mit diesem blöden Jungen da wollte sie nicht mehr sprechen.
»Na, dann tschüs«, sagte Pelle und ging weg, um sich nach seiner eigenen weitverstreuten Familie umzusehen. Er fand Johann und Niklas oben auf dem Oberdeck, und sobald er sie sah, wußte er, daß irgend etwas nicht stimmte. Die beiden wirkten so grimmig, daß Pelle ängstlich wurde. Hatte er etwas angestellt, weshalb er ein schlechtes Gewissen haben müßte?
»Was ist denn?« fragte er besorgt.
»Guck mal da«, sagte Niklas und zeigte mit dem Daumen. Und nun sah Pelle es. Ein Stück entfernt stand Malin, an die Reling gelehnt, und neben ihr ein lang aufgeschossener junger Mann in hellblauem Sporthemd. Sie redeten und lachten und der im Sporthemd sah Malin an, ihre Malin, als hätte er ganz plötzlich einen hübschen kleinen Goldklumpen gefunden, dort, wo er ihn am wenigsten erwartet hatte.
»Es ist also mal wieder soweit«, sagte Niklas. »Ich dachte, es würde besser werden, wenn wir aus der Stadt wegkämen.«
Johann schüttelte den Kopf.
»Bild dir das doch nicht ein! Du kannst Malin auf einer kleinen Felsinsel mitten in der Ostsee absetzen, und innerhalb von fünf Minuten kommt ein Junge angeschwommen und muß unbedingt ausgerechnet auf diesen Felsen rauf.«
Niklas starrte den im Sporthemd böse an.
»Es ist nicht zu glauben, daß man seine eigene Schwester nicht für sich allein haben kann! Man müßte so ein Schild neben ihr aufstellen: ›Ankern verboten‹.«
Dann guckte er Johann an, und die beiden lachten leise. Sie protestierten ja nicht richtig im Ernst, wenn einer anfing, Malin den Hof zu machen, und das geschah, wie Johann behauptete, etwa alle Viertelstunde einmal. Nicht ganz ernst – und trotzdem war eine kleine, geheime Angst in ihnen: Wenn Malin sich nun eines schönen Tages so verliebte, daß es mit Verlobung und Heirat und so weiter endete?
»Wie sollen wir ohne Malin fertig werden?« sagte Pelle immer, und so dachten und fühlten sie alle. Denn Malin war Anker und Stütze der Familie. Nachdem ihre Mutter gestorben war, als Pelle geboren wurde, war sie allen Melchersonschen Jungen wie eine Mama geworden, einschließlich Melcher. In den ersten Jahren eine zarte und kindliche und ziemlich unglückliche kleine Mama, aber ganz allmählich immer besser imstande, »Nasen zu putzen und zu waschen und zu schimpfen und Zimtwecken zu backen« – so beschrieb sie selbst, was sie machte.
»Du schimpfst aber nur, wenn es wirklich nötig ist«, versicherte Pelle immer. »Meistens bist du sanft und lieb wie ein Kaninchen.«
Früher konnte Pelle nie begreifen, weshalb Johann und Niklas Malins Verehrer ablehnten. Er war ganz sicher und überzeugt, daß Malin bis in alle Ewigkeit der Familie Melcherson gehörte, und wenn noch so viele Sporthemden sie umkreisten. Malin selbst war es, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, seiner Sicherheit ein Ende machte. Und es passierte an einem Abend, als Pelle in seinem Bett lag und einzuschlafen versuchte. Es gelang ihm nicht, denn Malin sang im Badezimmer nebenan aus voller Kehle. Sie sang ein Lied, das Pelle nie zuvor gehört hatte, und einige Worte aus dem Lied trafen ihn dort in seinem Bett wie ein Keulenschlag. »Kaum war sie mit der Schule fertig, hielt sie Hochzeit und bekam ein Kind«, sang Malin, ohne zu ahnen, was sie da anrichtete.
»Kaum war sie mit der Schule fertig …« Aber das war ja genau das, was Malin getan hatte! Und natürlich brauchte man dann, dann nur auf den Rest zu warten. Pelle in seinem Bett fing an zu schwitzen! Jetzt wurde ihm klar, wie es kommen mußte! Daß er das bis jetzt noch nicht begriffen hatte! Malin würde heiraten und verschwinden; sie würden einsam zurückbleiben und niemanden haben als Frau Nilsson, die täglich vier Stunden kam und dann wegging.
Das war ein unerträglicher Gedanke, und Pelle rannte verzweifelt zu seinem Vater.
»Papa, wann heiratet Malin und kriegt Kinder?« fragte er mit zitternder Stimme.
Melcher hob erstaunt die Augenbrauen. Er hatte nichts davon gehört, daß Malin derlei Pläne hätte, und er verstand nicht, daß es für Pelle eine Frage auf Leben und Tod war.
»Wann wird das sein?« fragte Pelle eindringlich.
»Über den Tag und die Stunde wissen wir nichts«, antwortete Melcher. »Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen, mein Kleiner.« Aber seitdem hatte Pelle sich den Kopf darüber zerbrochen, nicht jeden Augenblick, nicht mal jeden Tag, aber in regelmäßigen Abständen, wenn ein besonderer Anlaß war. Wie zum Beispiel jetzt eben. Pelle starrte zu Malin und dem Sporthemd hinüber. Sie schienen sich zum Glück gerade voneinander verabschieden zu wollen, denn das Sporthemd wollte offenbar an der nächsten Anlegestelle aussteigen. »Auf Wiedersehen, Krister!« rief Malin, und das Sporthemd rief zurück:
»Ich komm mal mit dem Motorboot vorbei und schau, ob ich dich finde.«
»Das solltest du lieber bleiben lassen, finde ich«, murmelte Pelle böse. Und er beschloß, Papa zu bitten, er sollte so ein Schild aufstellen, von dem Niklas gesprochen hatte. »Ankern verboten« sollte auf dem Bootssteg des Schreinerhauses stehen, dafür wollte Pelle sorgen.
Es wäre sicher leichter gewesen, Malin für sich allein zu haben, wenn sie nicht so hübsch wäre, das war Pelle klar. Er hatte zwar nie so genau hingeguckt, aber er wußte, daß sie hübsch war. Das sagten alle Leute. Sie fanden es schön, wenn jemand blondes Haar und grüne Augen hatte, so wie Malin. Das fand der mit dem Sporthemd sicher auch.
»Was war denn das für ein Ekel?« fragte Johann, als Malin zu ihnen herüberkam.
Malin lachte.
»Gar kein Ekel. Einer, den ich auf Bosses Abiturfest kennengelernt hab. Wirklich nett.«
»Ein Quadratekel«, sagte Johann beharrlich. »Vor dem nimm dich lieber in acht, schreib dir das in dein Tagebuch.«
Malin war nicht umsonst die Tochter eines Schriftstellers. Sie schrieb ebenfalls, aber nur in ihr geheimes Tagebuch. Hier schrieb sie die Gedanken und Träume ihres Herzens auf und außerdem alle Streiche der Melcherson-Jungen, auch Melchers. Sie pflegte ihnen damit zu drohen: »Wartet nur, bis ich mein geheimes Tagebuch drucken lasse. Dann werdet ihr so bloßgestellt, daß ihr splitternackt dasteht.«
»Haha, dann bist du wohl selber am schlimmsten bloßgestellt«, versicherte Johann ihr. »Hoffentlich führst du alle deine Scheiche genau der Reihe nach auf.«
»Leg dir eine Liste an, damit du in der Eile keinen überspringst«, schlug Niklas vor. »Per-Olaf XIV. Karl Karlsson XV. Lennart XVII. und Ake XVIII. Das gibt allmählich eine ganz hübsche Regentenreihe, wenn du so weitermachst.« Und in diesem Augenblick waren Johann und Niklas überzeugt, daß der im Sporthemd Krister XIX. werden würde. »Ich möchte zu gern wissen, wie sie den in ihrem Tagebuch beschreibt«, sagte Niklas.
»Quadratekel mit kurzgeschorenem Haar und eingebildeter Miene«, schlug Johann vor. »Im übrigen schlaksig und unangenehm.«
»Ja, das red dir nur ein, daß Malin so über den denkt!« sagte Niklas.
Malin schrieb kein Wort über Krister XIX. in ihr Tagebuch. Er sprang an seiner Anlegestelle ab, ohne auch nur eine Spur in ihrem Gemüt zu hinterlassen. Und keine Viertelstunde später hatte Malin eine Begegnung, die sie viel stärker erschütterte und über der sie alles andere vergaß. Das war, als der Dampfer auf die nächste Anlegestelle zusteuerte und sie Saltkrokan zum ersten Mal sah. Über diese Begegnung schrieb sie in ihr Tagebuch:
Malin, Malin, wo bist du so lange gewesen? Diese Insel hat hier gelegen und auf dich gewartet, ruhig und still hat sie hier draußen am Rande des Meeres gelegen mit ihren rührenden kleinen Bootshäusern, ihrer alten Dorfstraße, ihren alten Bootsstegen und Fischerbooten und mit all ihrer herzzerreißenden Schönheit, und du hast es nicht einmal gewußt. Ist das nicht furchtbar? Ich möchte wissen, was Gott sich gedacht hat, als er diese Insel machte. Ich will es ein bißchen gemischt haben, hat er sicher gedacht. Karg soll es sein, rauhe, graue Felsen möchte ich haben. Lieblich soll es sein, grüne Bäume, Eichen und Birken, blühende Wiesen und blühende Sträucher, o doch, denn ich möchte, daß die ganze Insel von rosa Heckenrosen und duftendem Weißdorn überquillt an jenem fernen Junitag in tausend Millionen Jahren, wenn Malin Melcherson dorthin kommt. Ja, lieber Johann und lieber Niklas, ich weiß, was ihr denkt, falls ihr hier schnüffelt, aber das laßt gefälligst sein! Ist es erlaubt, so eingebildet zu sein? Nein, ich bin nicht eingebildet, ich freu mich nur, seht ihr, weil der Herrgott auf den Gedanken kam, Saltkrokan so zu machen und nicht anders, und weil er dann auf die Idee kam, es wie ein Juwel weit draußen am Rand des Meeres hinzulegen, wo es in Frieden gelassen wurde und ungefähr so bleiben durfte, wie er es sich gedacht hatte, und weil ich hierherkommen durfte.
Melcher hatte gesagt: »Ihr sollt mal sehen, das ganze Dorf ist unten auf dem Anleger, um uns zu begucken. Wir sind bestimmt eine Sensation.«
Ganz so wurde es doch nicht. Es goß in Strömen, als der Dampfer anlegte, und auf dem Steg standen ein einziger kleiner Mensch und ein Hund. Der Mensch war weiblichen Geschlechts und etwa sieben Jahre alt. Sie stand ganz still, wie aus dem Bootssteg herausgewachsen, der Regen strömte auf sie nieder, aber sie rührte sich nicht. Man könnte meinen, Gott habe sie zugleich mit der Insel geschaffen, dachte Malin, und sie dahin gestellt, als Herrscherin und Hüterin der Insel bis in alle Ewigkeit.
So klein habe ich mich noch nie gefühlt, schrieb Malin ins Tagebuch, wie in dem Augenblick, als ich vor den Augen dieses Kindes in strömendem Regen und bepackt mit Krempel über die Gangway gehen mußte. Sie hatte einen Blick, der gleichsam alles sah. Ich dachte, das da muß Saltkrokan selbst sein, und wenn dieses Kind uns nicht akzeptiert, dann werden wir nie akzeptiert hier auf der Insel. Darum sagte ich so einschmeichelnd, wie man mit kleinen Kindern spricht: »Wie heißt du?«
»Tjorven«, sagte sie. Allein so etwas! Kann man wirklich Tjorven heißen und so majestätisch aussehen?
»Und dein Hund?« fragte ich.
Da sah sie mir fest in die Augen und fragte ruhig: »Willst du wissen, ob es mein Hund ist, oder willst du wissen, wie er heißt?«
»Alles beides«, antwortete ich.
»Es ist mein Hund, und er heißt Bootsmann«, sagte sie, und es war, als ob eine Königin sich herabließe, ihr Lieblingstier vorzustellen. Was für ein Tier übrigens! Es war ein Bernhardiner, der größte, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Er war ebenso majestätisch wie sein Frauchen, und ich fing an zu glauben, alle Lebewesen auf dieser Insel seien von der gleichen Art und uns armen Tröpfen aus der Stadt himmelhoch überlegen. Aber da kam eine freundliche Seele angedampft, es war, wie sich herausstellte, der Kaufmann der Insel, und er war offenbar nach gewöhnlichem menschlichem Maß gemacht, denn er begrüßte uns sehr freundlich und hieß uns auf Saltkrokan willkommen und teilte uns mit, er heiße Nisse Grankvist, ohne daß wir zu fragen brauchten. Aber dann sagte er etwas Erstaunliches.
»Geh nach Hause, Tjorven«, sagte er zu dem majestätischen Kind. Unfaßbar, daß er sich traute, und ebenso unfaßbar, daß er Vater von so einem Kind war! Es nützte jedoch nicht viel. »Wer hat das gesagt?« fragte das Kind streng. »Hat Mama das gesagt?«
»Nein, ich sag es«, antwortete ihr Vater.
»Dann tu ich es nicht«, sagte das Mädchen. »Denn jetzt muß ich den Dampfer in Empfang nehmen.«
Und der Kaufmann sollte Waren aus der Stadt entgegennehmen und hatte wohl keine Zeit, sich mit seiner aufmüpfigen Tochter abzugeben, denn die stand noch immer dort im Regen, während wir all unser Sack und Pack zusammensammelten. Wir waren sicherlich in diesem Augenblick ein jämmerlicher Anblick, und Tjorven entging nichts. Ich spürte ihre Augen im Rücken, als wir lostrotteten zum Schreinerhaus.
Und es gab hier noch mehr Augen als die von Tjorven. Hinter den Gardinen an den Fenstern in allen Häusern an der Dorfstraße gab es überall Augen, die unserer durchweichten Karawane folgten – vielleicht waren wir dennoch eine Sensation, wie Papa gesagt hatte. Er begann etwas bedenklich dreinzuschauen, stellte ich fest. Und wie wir so dahingingen und der Regen am allerheftigsten niederrauschte, fragte Pelle: »Papa, weißt du, daß es im Schreinerhaus durchs Dach regnet?«
Da blieb Papa mitten in einer Regenpfütze stehen.
»Wer sagt das?« fragte er.
»Der alte Söderman«, sagte Pelle, und es hörte sich an, als redete er von einem alten Bekannten.
Papa versuchte, so auszusehen, als wäre ihm das ganz egal. »Soso, das sagt der alte Söderman oder wie dieser vortreffliche Unglücksrabe auch heißen mag. Und der alte Söderman weiß das natürlich – stell dir vor, davon hat der Makler neulich kein Wort gesagt!«
»Wirklich nicht?« sagte ich. »Hat er nicht gesagt, es wäre ein behagliches altes Sommerhaus, vor allem bei Regen, weil man dann nämlich so einen wonnigen kleinen Swimmingpool in der großen Stube hat?«
Papa warf mir einen langen Blick zu und gab keine Antwort. Und dann waren wir da.
»Guten Tag, Schreinerhaus«, sagte Papa. »Darf ich die Familie Melcherson vorstellen: Melcher und seine armen Kinderlein.«
Es war ein rotes Haus mit einem Oberstock, und als man es sah, zweifelte man nicht daran, daß es hier durchs Dach regnete. Mir gefiel es aber trotzdem. Mir gefiel es vom ersten Augenblick an. Papa dagegen hatte jetzt die Angst gepackt, das merkte man – ich kenne niemanden, dessen Stimmung so schnell umschlagen kann. Er blieb stehen und starrte mißmutig das Ferienhaus an, das er für sich und seine Kinder gemietet hatte.
»Worauf wartest du?« fragte ich. »Es wird nicht anders.«
Darauf nahm er allen Mut zusammen, und wir gingen hinein.