Sie erwachten am nächsten Morgen alle mit dem einzigen Gedanken: Heute um vier Uhr geht Karlberg zu Mattsson in Norrtälje und kauft das Schreinerhaus.
Trotzdem versuchten sie, sich normal zu verhalten und so zu tun, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. Ein ganz gewöhnlicher Tag, der mit dem Frühstück am Gartentisch begann und mit den gewohnten Wespen, die das Marmeladenglas umschwirrten. Die armen Wespen, sie taten Pelle leid!
»Denkt nur, wenn Karlberg das Schreinerhaus abreißt, dann geht das Wespennest auch mit drauf.«
»Ja, es ist die einzige Art und Weise, wie man es wegbekommt«, sagte Melcher trocken. »Man reißt das ganze Haus ab – daß wir daran noch nie gedacht haben!«
Dann entstand ein langes, nachdenkliches Schweigen, und mitten hinein kam Tjorven. »Herr Melcher, bist du schwerhörig? Wie oft muß ich dir sagen, du sollst ans Telefon kommen?«
Melchersons hatten kein anderes Telefon als das beim Kaufmann. Melcher stellte die Kaffeetasse hin und rannte los. Tjorven rannte hinterher. Es dauerte nur ein paar Minuten, da war sie wieder zurück. Sie machte ein ganz erschrockenes Gesicht.
»Malin, es ist besser, du kommst. Da ist sicher wieder ein neuer Jammer. Herr Melcher ist traurig.«
Da lief Malin los, und nicht nur sie, sondern auch Johann und Niklas und Pelle.
Sie fanden ihren Vater mitten im Laden, Nisse und Märta und Teddy und Freddy standen bekümmert um ihn herum. Er war ganz ohne Zweifel traurig, die Tränen liefen ihm die
Wangen herab, und er sagte mit leiser Stimme:
»Das kann nicht wahr sein! Nein, das kann nicht wahr sein!«
»Papa, was ist denn?« fragte Malin verzweifelt. Mehr Kummer ertrug sie in diesem Augenblick nicht. »Papa, so sag doch, was ist.«
Melcher holte tief Luft.
»Es ist nur …« sagte er, dann verstummte er. Und dann nahm er einen neuen Anlauf. »Es ist nur das, ich habe – vom Staat ein Stipendium von fünfundzwanzigtausend Kronen bekommen.«
Danach war es in Grankvists Laden auf Saltkrokan lange Zeit ganz still. Alle standen da, als hätte sie der Schlag getroffen. Tjorven war die einzige, die noch denken konnte.
»Warum hast du das gekriegt – das da, was du eben gesagt hast?«
Da sah Melcher sie an und lächelte triumphierend.
»Na, das will ich dir sagen, kleine Tjorven. Weil ich den richtigen Ruck habe, verstehst du? Weil ich den habe, denk nur!«
»Haben die das gesagt, die eben angerufen haben?«
»Ja, so ungefähr.«
»Aber warum heulst du dann?« fragte Tjorven.
Und nun erst schienen sie alle plötzlich miteinander zu begreifen, daß etwas Schönes passiert war.
»Papa, sind wir jetzt reich?« fragte Pelle.
»Nicht gerade reich«, sagte Melcher. »Aber es ist immerhin so viel …« Hier stockte er plötzlich, und seine Kinder schauten ihn ängstlich an. Er wollte doch nicht etwa von neuem anfangen zu weinen? Jetzt mußte wirklich Schluß sein mit dem Geheule.
Und Melcher weinte nicht. Aber er brüllte. Plötzlich brüllte er: »Versteht ihr, was das bedeutet? Wir können vielleicht das Schreinerhaus kaufen – wenn nicht – wenn es nicht zu spät ist!«
Er guckte auf die Uhr, und im selben Augenblick hörten sie die »Saltkrokan I« unten am Anleger zur Abfahrt tuten.
»Lauf, Melcher«, sagte Nisse Grankvist, »lauf!«
Und Melcher lief. Lief und schrie:
»Kommt, Johann und Niklas! Kommt! Anhalten!«
Letzteres galt dem Dampfer. Der Laufsteg war schon eingezogen worden, als Melcher angerannt kam, aber er schaute so wild drein, daß der Kapitän auf seiner Kommandobrücke sich erweichen ließ. Der Laufsteg wurde wieder ausgelegt, und Melcher stürmte an Bord.
Er brüllte noch immer, ohne sich umzudrehen: »Kommt, Johann und Niklas! Beeilt euch!«
Erst als der Dampfer schon mehrere Meter von der Brücke entfernt war, entdeckte Melcher, daß er nicht nur Johann und Niklas mitbekommen hatte, sondern auch Pelle und Tjorven.
»Was fällt euch denn ein?« sagte Melcher vorwurfsvoll. »Dies ist aber wirklich nichts für kleine Kinder.«
»Tsss«, machte Tjorven, »wir wollen doch auch mit. Es ist eine Ewigkeit her, daß ich in Norrtälje war.«
Melcher sah ein, daß hier nichts zu machen war. Er konnte die Kinder ja nicht ins Wasser werfen. Und er hatte heute ein staatliches Stipendium bekommen, da mußte er edel und milde sein. Außerdem mußte er nach dem Laufen so nach Luft schnappen, daß er keine weiteren Vorwürfe hervorbringen konnte.
»Man läuft ja aber wie ein Hirsch«, sagte er atemlos. »Natürlich nicht so wie in der Schule, da bin ich hundert Meter in 12,4 Sekunden gelaufen.« Johann und Niklas wechselten einen Blick, und Johann schüttelte den Kopf.
»Es ist komisch mit dir, Papa, je älter du wirst, desto schneller bist du gelaufen, als du noch zur Schule gingst.«
Aber es war natürlich gut, daß Melcher wie ein Hirsch laufen konnte. Denn an diesem Tag mußte er noch viel laufen.
Es dauert eine geraume Zeit, bis man nach Norrtälje kommt, wenn man auf Saltkrokan wohnt. Zuerst nimmt man den Dampfer bis zu einer Anlegestelle auf dem Festland, und an diesem Anleger sitzt man ungefähr eine Stunde und wartet. Dann kommt endlich ein Bus, und dieser Bus fährt nach Norrtälje. Er hält unterwegs an vielen Haltestellen und hat keine übertriebene Eile, aber seinen Fahrplan hält er ein. Um ein Uhr soll er in Norrtälje sein, und das ist er.
Und bis dahin hat man graue Haare gekriegt, dachte Melcher, als er aus dem Bus stieg. Übrigens, weshalb auch nicht? Er hatte ja schon welche gehabt, als er einstieg, fiel ihm plötzlich ein, na ja, nur ein bißchen an den Schläfen natürlich. Wie dem auch sei, auf einer so langen Fahrt hat man Zeit, sich viele ängstliche Gedanken zu machen. Man sitzt da und wird immer aufgeregter, und man ermahnt sich selber wieder und wieder: Bilde dir nichts ein, das Schreinerhaus bekommst du nicht, bilde dir das um Himmels willen nicht ein!
Den Versuch aber wollte er machen, wahrhaftig, das wollte er! Er lief, und die Kinder in einer Reihe hinter ihm her, so rasch er nur konnte, zu Mattssons Hausmakler-und Vermietungsbüro. Dort war kein Mattsson nur eine kleine, rundliche Büroangestellte, die freundlich aussah, aber nichts wußte.
»Wo ist Herr Mattsson?« fragte Melcher.
Sie sah ihn mit einem frommen Blick an. »Wie soll ich das wissen?«
»Wann kommt er denn wieder?«
»Wie soll ich das wissen?«
Ihre Augen waren groß und einfältig, und es war ganz offenkundig, daß sie überhaupt von nichts etwas wußte. Aber plötzlich nahm sie einen kleinen Spiegel hervor und musterte ihr rundliches Gesicht genau, und das belebte sie so, daß sie richtig gesprächig wurde.
»Er ist dauernd unterwegs. Mir ist so, als hätte er gesagt, er wollte Rhabarber einkaufen gehen. Vielleicht ist er aber auch bei seinem Neubau. Manchmal sitzt er im Stadthotel und säuft.«
Mehr kriegten sie aus ihr nicht heraus, und sie stürmten ebenso schnell wieder hinaus, wie sie gekommen waren.
Melcher schaute auf seine Uhr. Sie zeigte etwas über zwei. Wo war nur dieser Mattsson? Wo in dieser hübschen kleinen Stadt war der elende Mattsson? Sie mußten ihn erwischen, und zwar schleunigst. Rhabarber kaufen, das tat man wohl auf dem Markt? Aber hier handelt es sich nicht um Rhabarber, Herr Mattsson, sondern um das Schreinerhaus!
Melcher war so nervös, daß er zitterte, und es war ihm lästig, Pelle und Tjorven immer mitzuschleifen. In den engen Straßen war es hinderlich, so viele zu sein. Man konnte nicht wie eine ganze Schwadron ankommen. Melcher entschloß sich zu einer List.
»Wollt ihr Eis haben, Kinder?« fragte er.
Das wollten sie. Melcher kaufte in einer Eisbude Eis, und mit je einer Eistüte in jeder Hand lockte er Pelle und Tjorven zu einer kleinen Grünanlage, wo eine Bank stand.
»Ihr setzt euch hierher«, sagte Melcher, »und eßt euer Eis, bis wir zurück sind.«
»Wenn das Eis aber alle ist?« fragte Tjorven.
»Dann bleibt ihr trotzdem hier sitzen.«
»Wie lange denn?« fragte Tjorven.
»Bis ihr Moos angesetzt habt«, sagte Melcher unbarmherzig, und dann lief er davon. Johann und Niklas liefen hinterdrein. Pelle und Tjorven blieben auf der Bank sitzen und aßen Eis.
Im Traum läuft man manchmal und sucht. Man muß unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man läuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich. Genauso erlebten Melcher und seine Jungen die Stunden, während sie nach Mattsson suchten.
Auf dem Markt war er nicht. Doch, er sei dort gewesen, sagte eine der Marktfrauen, das sei aber lange her. Und sein Neubau? Wo lag der? Am anderen Ende der Stadt. Auch dort kein Mattsson! Sitzt er wirklich im Stadthotel und trinkt? Nein, das ist schändliche Verleumdung, das tut er bestimmt nicht. Dort war nicht einmal ein Schimmer von einem Mattsson zu erblicken.
Und plötzlich wurde es Melcher klar, daß er ein Rindvieh war. Er schlug sich gegen die Stirn.
»Natürlich bin ich ein Rindvieh«, rief er. »Weshalb sitzen wir nicht in Mattssons Büro und warten dort, anstatt hier herumzurennen und uns die Füße wundzulaufen?«
In diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick machte er eine entsetzliche Entdeckung. Seine Uhr war stehengeblieben! Er sah plötzlich, daß die Uhr des Stadthotels fünf Minuten nach vier zeigte und nicht halb vier wie seine eigene tückische Armbanduhr. Es war ein grausamer Augenblick.
Ich habe dich gewarnt, Melcher. Du solltest dir bloß nichts einbilden. Wie solltest du das Schreinerhaus kaufen können, wo du nicht einmal aufpassen kannst, wieviel Uhr es ist? Es ist jetzt zu spät, lieber Melcher! Gerade jetzt sitzt Direktor Karlberg mit der Zigarre im Mund in Mattssons Büro und gluckst vor Zufriedenheit.
Melcher sah alles so deutlich vor sich, daß er stöhnte. Er tat Johann und Niklas leid, aber gleichzeitig waren sie wütend. War es denn wirklich nötig, daß alles so ungerecht und falsch und unmöglich und jammervoll war? Johann knirschte mit den Zähnen.
»Der kann auch zu spät kommen. Wir nehmen ein Taxi, Papa!« Und sie nahmen ein Taxi. Zehn Minuten nach vier waren sie bei Mattsson.
Aber Direktor Karlberg war kein Mann, der zu spät kam. Seine Uhr ging richtig. Es war genauso, wie Melcher es sich vorgestellt hatte. Er saß dort mit der Zigarre im Mund und sah zufrieden aus, und Melcher geriet völlig außer sich.
»Halt«, brüllte er. »Halt, ich biete jetzt auch auf das Haus.«
Da lächelte Direktor Karlberg richtig freundlich.
»Das haben Sie sich ein bißchen zu spät überlegt, fürchte ich.«
Melcher wandte sich verzweifelt an Mattsson.
»Aber, Herr Mattsson, Sie haben hoffentlich ein Herz im Leibe. Wir lieben das Schreinerhaus doch, meine Kinder und ich. Sie können nicht so herzlos sein.«
Mattsson war nicht herzlos. Er war lediglich ganz gleichgültig und ganz geschäftsmäßig.
»Warum sind Sie dann nicht eher gekommen? Bei solchen Geschäften muß man sich sofort entscheiden. Hier wird keinem was an die Hand gegeben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson.«
Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson – diese Worte werde ich sicher im Ohr behalten, solange ich lebe, dachte Melcher. Und in seiner Verzweiflung wandte er sich auch bittend an Herrn Karlberg. »Um meiner Kinder willen – können Sie nicht bitte darauf verzichten?«
Da war Herr Karlberg beleidigt.
»Ich habe auch ein Kind, Herr Melcherson, ich habe auch ein Kind!« Dann wandte er sich an Mattsson. »Kommen Sie jetzt! Wir wollen versuchen, daß wir Frau Sjöblom erreichen. Ich möchte, daß der Vertrag jetzt gleich unterzeichnet wird.«
Frau Sjöblom? Die fröhliche Schreinersfrau – falls sie es war? Vielleicht konnte man die mit Bitten bestürmen, Mattsson hatte doch wohl nicht alles zu entscheiden! Melcher biß die Zähne aufeinander. Er mußte es bei Frau Sjöblom versuchen. Nicht, weil er glaubte, es würde etwas helfen, aber er durfte nichts unversucht lassen. Später, wenn alle Hoffnung umsonst war, dann war noch immer Zeit, auf diesen Worten herumzukauen: »Sie sind zu spät dran, Herr Melcherson!«
»Kommt, Jungen«, flüsterte er, »wir gehen mit zu Frau Sjöblom.«
Bis ihr Moos angesetzt habt – so lange sollten sie auf der Bank sitzen bleiben, hatte Herr Melcher gesagt. Das gefiel Tjorven nicht. Pelle auch nicht. Ein Eis ist so schnell alle, und Moos wächst langsam. Jetzt hatten sie hier so lange gesessen, Hunger hatten sie bekommen, und Pelle war so aufgeregt, daß er nicht stillsitzen konnte. Weshalb kam Papa gar nicht zurück? Er hatte ein Gefühl, als hätte er Ameisen im Leib, und Bauchweh bekam er auch.
Tjorven hatte schlechte Laune. Und dabei war Norrtälje so unterhaltsam, sie war mehrmals mit den Eltern hier gewesen, sie wußte, wieviel Aufregendes und Interessantes es hier zu sehen gab. Und dann sollte man hier wie angenagelt auf einer Bank sitzen und außerdem noch Hunger haben.
»Soll das heißen, daß wir hier sitzen bleiben sollen, bis wir vor Hunger gestorben sind?« fragte sie anklagend.
Da fiel Pelle etwas ein, was ihn ein wenig aufmunterte. Er hatte ja doch Geld! Er hatte drei Kronen in der Hosentasche.
»Ich glaube, ich kaufe für jeden von uns noch ein Eis«, sagte er. Das tat er. Er lief zur Eisbude und kaufte zwei Eis. Hinterher waren nur noch zwei Kronen in der Hosentasche.
Aber das Eis war schnell alle, die Zeit verging, und keiner kam, und Pelle hatte Ameisen im Leib.
»Ich glaube, ich kaufe für jeden von uns noch ein Eis«, sagte er. Das tat er. Er lief wieder zur Eisbude. Hinterher war nur noch eine Krone in der Hosentasche.
Und die Zeit verging, keiner kam, das Eis war längst alle.
»Kaufst du uns noch ein Eis?« schlug Tjorven da vor.
Pelle schüttelte den Kopf.
»Nein, man soll nicht alles ausgeben, was man hat. Etwas muß man übrigbehalten für unvorhergesehene Ausgaben.«
So hatte er Malin häufig zu Papa sagen hören. Was »unvorhergesehene Ausgaben« eigentlich waren, das hatte er nie so recht herausbekommen, er wußte nur, daß man nicht alles auf einmal ausgeben durfte. Tjorven seufzte. Sie wurde von Minute zu Minute ungeduldiger. Und Pelle wurde immer aufgeregter. Wenn nun Papa diesen schrecklichen Mattsson nicht gefunden hatte! Wer weiß, vielleicht war überhaupt alles ganz anders geworden, vielleicht saß Mattsson bei Herrn Karlberg zu Hause und verkaufte das Schreinerhaus in Windeseile, anstatt auf den Markt zu gehen und Rhabarber zu besorgen und eiligst in sein Büro zurückzukehren und an Papa zu verkaufen. Und da sollte man hier herumsitzen und nichts erfahren! Nur warten und warten und Bauchweh kriegen. Oh, wie dieser Karlberg ihm mißfiel. Und Mattsson ebenfalls! Daß Frau Sjöblom sich so einen nahm, der sich um ihre Geschäfte kümmerte! Weswegen tat sie es nicht selber?
Frau Sjöblom? Die wohnte hier in Norrtälje, ist ja wahr! Nicht zu fassen, daß sie das Schreinerhaus verkaufen wollte, sie war wohl nicht recht gescheit! Man hätte Lust, sie zu fragen … ja, alles mögliche! Alles mögliche, tatsächlich!
»Kennst du Frau Sjöblom?« fragte er Tjorven.
»Klar kenn ich sie. Ich kenn doch alle Menschen.«
»Weißt du, wo sie wohnt?«
»Ja«, sagte Tjorven. »Sie wohnt in einem gelben Haus, und nicht weit davon ist ein Bonbonladen und gleich daneben ein Spielzeuggeschäft.« Pelle saß stumm da und überlegte. Und er kriegte immer mehr Bauchschmerzen. Schließlich stand er heftig auf.
»Komm, Tjorven, wir gehen los und suchen Frau Sjöblom. Ich hätte ein bißchen mit ihr zu bereden.«
Tjorven sprang froh überrascht auf.
»Aber was sagt dann Herr Melcher?«
Das fragte Pelle sich auch, aber im Augenblick wollte er nicht daran denken. Er wollte zu Frau Sjöblom. Alte Damen mochten ihn für gewöhnlich gern, es wäre sicher nichts dabei, wenn man sie fragte … Oje, er wußte gar nicht recht, was er sie fragen wollte! Er wußte nur, daß er unmöglich noch länger stillsitzen konnte, ohne etwas zu unternehmen.
Tjorven war mit den Eltern zusammen mehrmals bei Frau Sjöblom gewesen. Trotzdem konnte sie jetzt das gelbe Haus nicht finden. Sie fand aber einen Polizisten, und den fragte sie.
»Wo ist ein Bonbonladen, der gleich neben einem Spielzeugladen liegt?«
»Mußt du alles auf einem Fleck haben?« fragte der Polizist und lachte. Dann aber dachte er nach, und nun wußte er, was sie meinte, und konnte ihnen sagen, wie sie gehen mußten.
Und sie trabten weiter durch schmale Straßen und an kleinen, hübschen Häusern entlang und fanden schließlich einen Spielzeugladen, der gleich neben einem Bonbonladen lag. Tjorven schaute sich um. Und dann zeigte sie auf ein Haus.
»Da! In dem gelben Haus da wohnt Frau Sjöblom!«
Es war ein niedriges Haus mit einem Oberstock, einem kleinen Garten und einer Tür zur Straße.
»Du mußt klingeln«, sagte Pelle. Er selber traute sich nicht. Tjorven setzte den Finger auf den Klingelknopf und ließ ihn lange dort. Und dann warteten sie. Lange, lange warteten sie, aber es kam niemand. »Sie ist nicht zu Hause«, sagte Pelle, und er wußte selber nicht, ob er enttäuscht war oder nicht. Eigentlich wäre es doch schön, wenn man sich davonmachen könnte, denn es war schwer, mit fremden Menschen zu reden. Aber trotzdem …
»Weshalb hat sie dann ihr Radio an?« sagte Tjorven und legte das Ohr an die Tür. »Hörst du nicht, was sie da spielen? ›Am Samstag abend war ein Leben‹.«
Sie klingelte noch einmal, und dann hämmerte sie kräftig mit der Faust gegen die Tür. Aber trotzdem kam niemand, um aufzumachen. »Sie muß zu Hause sein«, sagte Tjorven. »Komm, wir gehen mal hinters Haus.« Und sie gingen um das Haus herum. Dort stand eine Leiter, die zu einem Fenster im oberen Stock führte. Das Fenster war offen, und dort drinnen spielte ein Radio mit voller Lautstärke. Jetzt konnte man ganz deutlich hören, was für ein Leben am Samstag abend gewesen war. »Tante Sjöblom!« rief Tjorven.
Aber nichts geschah.
»Wir klettern rauf und sehen nach«, sagte Tjorven.
Da kriegte Pelle es mit der Angst. So etwas konnte man doch nicht tun? So ohne weiteres da hinaufklettern, das war doch Wahnsinn! Aber Tjorven war unerbittlich. Sie trieb ihn zur Leiter hin, und auf zitternden Beinen begann er nach oben zu steigen.
Er bereute es, noch bevor er halbwegs oben war, und wollte umkehren. Aber hinter sich auf der Leiter hatte er Tjorven, und die ließ keinen vorbei.
»Beeil dich«, sagte sie und drängte ihn erbarmungslos nach oben. Erschrocken kletterte er weiter – was um Himmels willen sollte er nur sagen, wenn jemand dort drinnen war?
Selbstverständlich war jemand dort drinnen. Sie saß in einem Sessel mit dem Rücken zu ihm, und als er, von Schrecken gelähmt, lange Zeit ihren Hinterkopf angestarrt hatte, hüstelte er. Zuerst leise und dann ziemlich laut. Da schrie sie auf, die da im Sessel saß, und drehte sich um, und er sah, daß es Frau Sjöblom war, ja, genau so hatte er sie sich vorgestellt. Sie war mächtig alt und runzelig und hatte graue Haare und freundliche Augen und eine kleine, lustige Nase. Aber sie starrte ihn an, als sähe sie einen Geist.
»Ich bin nicht so gefährlich, wie ich aussehe«, versicherte Pelle mit bebender Stimme.
Da lachte Frau Sjöblom.
»Ach, wirklich nicht? Bist du nicht so furchtbar gefährlich, wie du aussiehst?«
»Nein, gar nicht«, sagte Tjorven und hob den Kopf über das Fenstersims. »Guten Tag, Tante Sjöblom!«
Frau Sjöblom schlug die Hände zusammen.
»Was ist denn das, um alles in der Welt? Ist das nicht die Tjorven?«
»Doch, das scheint wohl so«, sagte Tjorven. »Und dies ist Pelle. Er will das Schreinerhaus kaufen. Das kann er doch kriegen, ja?« Frau Sjöblom lachte, das schien etwas zu sein, das ihr leichtfiel, und dann sagte sie:
»Ich mache im allgemeinen keine Geschäfte mit Leuten, die draußen vor dem Fenster hängen. Es ist wohl das beste, ihr kommt herein.«
Und es war gar nicht so schwer, mit Frau Sjöblom zu reden, wie Pelle gedacht hatte.
»Habt ihr Hunger?« war das erste, was sie sagte. Man stelle sich vor, was für ein glänzender Anfang!
Und dann nahm sie sie mit in die Küche und setzte ihnen Butterbrote vor und Milch, Schinkenbrote und Käsebrote und Brote mit Kalbsbraten und Gurke. Sie kamen hier unversehens zu einem richtigen Festschmaus! Und während dieser Schmaus stattfand, erzählten sie ihr alles. Von Mattsson und Karlberg und Lotta und von Vesterman und Jocke und Moses und Totti und Jumjum und Bootsmann und von allem, was sich auf Saltkrokan zugetragen hatte.
Von Lotta Karlberg erzählte Tjorven besonders viel.
»Bongalo«, sagte sie. »Findest du das nicht blöde, Tante Sjöblom?«
O doch, Tante Sjöblom fand einen »Bongalo« blöde, jedenfalls auf Saltkrokan, und was den Gedanken anbetraf, das Schreinerhaus abzureißen, so hatte sie noch nie so etwas Dummes gehört!
Auch noch Blasen an den Füßen, dachte Melcher. Blasen an den Füßen und Staatsstipendium und ich weiß nicht, was noch alles, an einem einzigen Tag, das ist zuviel! Er rannte aber entschlossen weiter, Johann und Niklas auf den Fersen. Es galt, Mattsson nicht aus den Augen zu verlieren. In seinem häßlichen karierten Anzug ging er vor ihnen her durch die Straßen wie ein Leitstern, und der führte sie zu einem kleinen gelben Haus, das zwischen Goldregen und wildem Jasmin stand.
Als Mattsson gerade an der Tür geklingelt hatte, trat Melcher zu ihm heran. Niemand sollte ihn daran hindern, ein Wort mitzureden. Herr Karlberg wurde ärgerlich.
»Nein, Herr Melcherson, jetzt muß ich doch aber bitten! Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?«
»Ich habe wohl das Recht, mit Frau Sjöblom zu sprechen, wenn ich will«, sagte Melcher zornig.
Mattsson warf ihm einen kalten Blick zu.
»Ich dachte, es wäre Ihnen klar, Herr Melcherson, daß ich die Geschäfte für Frau Sjöblom wahrnehme? Was, meinen Sie, sollte es Ihnen denn nützen, mit ihr zu reden?«
Nein, Melcher wußte nur zu gut, daß es nichts nützte, aber einen letzten Versuch mußte er machen, und den wollte er mal sehen, der ihn daran hinderte!
Da wurde die Tür geöffnet, und Frau Sjöblom stand vor ihnen. Mattsson stellte vor: »Dies ist Herr Direktor Karlberg, der das Schreinerhaus kaufen möchte.«
Melchers Anwesenheit übersah er absichtlich. Und Frau Sjöblom begrüßte Direktor Karlberg, sie musterte ihn von oben bis unten. Melcher hüstelte bescheiden. Wenn sie ihn doch nur einmal ansehen wollte, wenn er nur ihren Blick einfangen könnte, dann würde sie vielleicht begreifen, daß es hier ums Leben ging. Aber Frau Sjöblom sah Melcher nicht an, sie schaute Karlberg an, und dann sagte sie ruhig und leise:
»Das Schreinerhaus habe ich schon verkauft.«
Es war, als hätte sie eine Bombe geworfen. Mattsson starrte sie mit einem Schafsgesicht an.
»Verkauft?«
»Verkauft?« sagte Karlberg. »Wie meinen Sie das?«
Melcher spürte, daß er blaß wurde. Nun ja, dann war alle Hoffnung vergebens. Endlich war es ganz und gar vorbei. Es war einerlei, wer das Schreinerhaus gekauft hatte, für ihn und seine Kinder war es bis in alle Ewigkeit verloren! Und das hatte er ja im Grunde die ganze Zeit gewußt. Merkwürdig war nur, daß es trotzdem so weh tun konnte, als er es bestätigt bekam.
Johann und Niklas fingen an zu weinen, ein leises, bitteres Weinen, das sie vergeblich zurückzuhalten versuchten. Jetzt war die Aufregung vorbei, und sie waren so müde, wer kann etwas dafür, wenn er dann ein bißchen weinen muß?
»Wie meinen Sie das, Frau Sjöblom?« fragte Mattsson, als er die Sprache wiedergefunden hatte. »An wen haben Sie verkauft?«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen«, sagte Frau Sjöblom und machte die Tür sperrangelweit auf. »Ihnen auch«, sagte sie zu Melcher und seinen beiden weinenden Jungen.
Melcher schüttelte den Kopf, er wollte überhaupt nicht sehen, wer das Schreinerhaus gekauft hatte, es war besser, wenn er es nicht wußte. Aber da hörte er plötzlich von drinnen eine Stimme, die er kannte.
»Der Herr Melcher, der hat den richtigen Ruck, das kannst du glauben, Tante Sjöblom!«
Im nächsten Augenblick herrschte in dem gelben Haus einige Aufregung. Herr Karlberg war wütend und machte Krach und schrie, hochrot im Gesicht ging er auf Mattsson los.
»Das lasse ich mir nicht gefallen. Das werden Sie ins reine bringen, Herr Mattsson, und es ist Ihre Sache, wie Sie das anstellen.«
Der arme Mattsson, er schrumpfte gleichsam in seinem häßlichen karierten Anzug zusammen und war plötzlich ganz klein und bescheiden. »Da ist nichts zu machen«, sagte er mit leiser Stimme. »Sie ist bockig wie eine alte Ziege.«
Frau Sjöblom stand mit dem Rücken zu ihnen, jetzt aber drehte sie sich um. »Ja, das ist sie. Und hören tut sie auch ganz gut!«
»Nur nicht, wenn das Radio an ist«, sagte Tjorven.
Pelle aber lag in Melchers Vaterarmen, ganz fest an dessen Herz gedrückt.
»Pelle, mein kleiner Bengel, was hast du gemacht, was hast du nur gemacht?«
»Ich hab Tante Sjöblom eine kleine Anzahlung gegeben«, sagte Pelle. »Damit es auch ganz sicher ist. Und eine Quittung hab ich auch dafür bekommen.«
»Ja, tatsächlich, ich habe ein Handgeld bekommen«, sagte Frau Sjöblom. »Hier, schauen Sie her!«
Sie hatte ein glänzendes Kronenstück zwischen den Fingern.
»Herr Karlberg, weißt du was«, sagte Tjorven. »Eine ganze Krone ist eigentlich zuviel für einen doppelten Halben Schlag, aber trotzdem danke ich vielmals!«
Da ging Herr Karlberg. Er schritt zur Tür hinaus, ohne sich nach irgend jemandem umzusehen, und Mattsson wankte hinter ihm her. »Schön«, sagte Tjorven. Und das fanden sie alle.
Johann ging zu Pelle hin und streichelte ihn.
»Und dabei hat Papa gesagt, dies wäre nichts für kleine Kinder. Du bist ein prima Kerl, Pelle!«
»Eins muß ich Sie fragen, Frau Sjöblom, bevor wir auseinandergehen«, sagte Melcher.
Sie saßen in ihrer Küche, und sie hatte noch mehr Butterbrote gemacht. Die besten Butterbrote ihres Lebens, versicherten sowohl Melcher als auch Johann und Niklas. Kam es daher, weil sie seit dem Morgen nichts gegessen hatten oder weil alles plötzlich eine einzige große Seligkeit war, so daß auch die Butterbrote einen himmlischen Glanz erhielten und einen himmlischen Geschmack?
»Was wollten Sie fragen?« sagte Frau Sjöblom.
Melcher sah sie neugierig an.
»Schreinerhaus, weshalb heißt es so?«
»Mein Mann war Schreiner. Haben Sie das nicht gewußt?«
O ja, Himmel, dachte Melcher. Was weiß ich nicht alles! Laut sagte er: »Schreinerhaus – ja, natürlich. Und da sind Sie 1908 eingezogen?«
»1907«, sagte Frau Sjöblom.
Melcher sah sie überrascht an.
»Sind Sie sicher, daß es nicht 1908 war?«
Da lachte Frau Sjöblom.
»Ich muß doch schließlich wissen, wann ich geheiratet habe!«
Na ja, ein Jahr früher oder später, dachte Melcher, und dann sagte er: »Darf ich noch etwas fragen? Ihr Mann, wie war er – war er ein fröhlicher Mensch oder …?«
»Und ob er das war«, sagte Frau Sjöblom. »Er war der fröhlichste Mensch, den ich je gekannt habe. Das heißt, wenn er nicht böse war. Das war er nämlich auch manchmal. Genau wie wir alle.«
An diesem Abend schrieb Malin in ihr Tagebuch:
Manchmal ist es so, als ob das Leben einen seiner Tage herausgriffe und sagte: ›Dir will ich alles schenken! Du sollst solch ein rosenroter Tag werden, der im Gedächtnis leuchtet, wenn alle anderen vergessen sind.‹ Dies ist so ein Tag. Nicht für alle Menschen natürlich. Viele, viele weinen gerade jetzt und werden sich an diesen Tag mit Verzweiflung erinnern. Es ist seltsam, wenn man sich das vorstellt. Aber für uns, für Melchersons im Schreinerhaus auf Saltkrokan, ist es ein Tag, so überschäumend voll von Lust und Freude und Glanz und Glück, daß ich nicht weiß, was wir anstellen sollen.
Melcher wußte das auch nicht. Er saß auf einem Felsen drüben an der Landzunge und hielt die Füße ins Wasser, um seine Blasen zu kühlen. Und er angelte. Pelle und Tjorven saßen daneben und schauten zu. Pelle hatte Jumjum auf den Knien, und Tjorven hatte Bootsmann ganz dicht neben sich.
»Du hast nicht den richtigen Ruck, Herr Melcher«, sagte Tjorven. »Auf diese Weise kriegst du doch keinen Fisch.«
»Ich will keinen Fisch haben«, sagte Melcher träumerisch.
»Weshalb sitzt du dann hier?« fragte Tjorven.
Und Melcher deklamierte mit derselben träumerischen Stimme ein Gedicht:
»Die Abendsonne sank,
er sah in ihren goldnen Glanz …«
Ja, das tat er. Er wollte alles sehen, die Sonne, die auf dem blanken Wasser glühte, die weißen Möwen, die grauen Felsen und die Bootsschuppen jenseits des Sundes, die sich so deutlich spiegelten, alles, was ihm lieb war, wollte er sehen.
Am liebsten wollte er die Hand ausstrecken und alles streicheln.
»Ich glaube, ich bleibe die ganze Nacht hier sitzen«, sagte Melcher. »Bis die Sonne wieder aufgeht. Und schaue mir auch die Morgenröte an.«
»Das erlaubt Malin nicht«, versicherte Tjorven ihm.
Die Morgenröte, dachte Pelle, die möchte ich auch gern sehen! Nähme ich Flügel der Morgenröte, machte ich mir eine Wohnung zuäußerst im Meer … War es möglich, daß sie jetzt eine hatten, eine, die ihnen gehörte? Ja – ja – ja! Sie hatten eine. Eine Wohnung zuäußerst im Meer.