Rudern, rudern zur Fischerinsel

Es ist ein Gefühl, als hätten wir immer auf Saltkrokan gelebt, schrieb Malin eine Woche später. Ich kenne die Menschen, die hier leben. Ich weiß ungefähr, was von ihnen zu halten ist. Nisse und Märta, ich weiß, sie sind die nettesten Menschen der Welt – besonders er – und die tüchtigsten der Welt – besonders sie. Er kümmert sich um das Geschäft. Sie kümmert sich auch um das Geschäft, außerdem aber um die Telefonvermittlung, die Post, die Kinder, den Hund und den Haushalt, und außerdem springt sie jedesmal ein, wenn jemand anders auf der Insel Hilfe braucht. Es ist typisch für Märta, daß sie gleich mit Gulasch bei uns angestürzt gekommen ist. »Nur weil ihr so verloren ausgesehen habt«, sagt sie.

Was weiß ich sonst noch? Daß es im Bauch vom alten Söderman »ganz unverantwortlich knurrt«, das hat er mir selbst anvertraut, und er werde wohl an einem der nächsten Tage nach Norrtälje fahren und den Doktor aufsuchen.

Ferner weiß ich, daß Vesterman seinen landwirtschaftlichen Betrieb nicht so führt, wie er müßte, sondern immer nur fischt, auf die Jagd geht und »überhaupt von nichts das Geringste versteht«, das hat Frau Vesterman mir anvertraut.

Märta und Nisse, der alte Söderman, Vestermans, gibt es noch mehr? O ja, Janssons natürlich. Sie haben auch einen Hof, und dort holen wir unsere Milch. Es gehört zu unserem ländlichen Vergnügen, abends durchs Gehölz zu wandern und bei Janssons Milch zu holen.

Die Insel hat auch einen Volksschullehrer, einen jungen, der Björn Sjöblom heißt. Ihn hab ich kennengelernt, als ich Mittwoch abend Milch holte, und es schien, als ob … ja, es ist zwar einerlei, aber er war kein »Quadratekel«, wie Johann es nennt, sondern machte einen sehr angenehmen und rechtschaffenen Eindruck. Irgendwie treuherzig.

Und dann die Kinder hier, dem Himmel sei Dank dafür! Pelle spielt intensiv mit Tjorven und Stina, vor allem mit Tjorven. Ich glaube, da findet ein kleiner Machtkampf um ihn statt, so etwa im Stil wie: »Rühr den Goldklumpen nicht an, ich hab ihn zuerst gesehen!« Aber Tjorven hat die Oberhand. Und wie sollte es anders sein? Sie ist ein merkwürdiges Kind, eins von denen, die immer der Liebling von allen werden, ohne daß man so recht weiß, weshalb. Es wird nur irgendwie heller, wo immer ihr gutmütiges Gesicht auftaucht. Papa behauptet, sie habe etwas von der ewigen, kindlichen Sicherheit an sich, von dem Warmen und Sonnigen, das nach Gottes Absicht eigentlich alle Kinder haben sollten, wenn die Wirklichkeit auch leider ein bißchen anders aussieht. Tjorven gehört allen auf Saltkrokan, frei streift sie auf allen Wegen herum und in allen Häusern, und überall wird sie mit einem »Sieh mal an, da ist ja unsere Tjorven« begrüßt, gerade so, als könnte man sich im Augenblick gar nichts Erfreulicheres denken als sie. Wenn sie böse wird – was vorkommt, denn sie ist kein Engel –, dann ist es, als würde eine Naturkraft entfesselt, mit Donner und Blitz, oh, oh, oh! Es geht aber schnell vorüber.

Stina ist anders, sie ist ein kleines lustiges und verschmitztes Kind mit einem auffallenden zahnlosen Reiz. Wie es zugegangen ist, weiß ich nicht, sie hat es aber fertiggekriegt, sich sämtliche Vorderzähne im Oberkiefer auszuschlagen, und das verleiht ihrem Gesicht etwas Wildes und Malerisches, wenn sie lacht. Sie ist die große Märchenerzählerin der Insel, unglaublich ausdauernd. Selbst Papa, der doch im allgemeinen ganz kinderlieb ist und der sich gern mit anderen Kindern als nur seinen eigenen unterhält, ist, was Stina angeht, bereits vorsichtig geworden und macht einen kleinen Umweg, wenn er sie sieht. Obgleich er es abstreitet. »Im Gegenteil«, sagte er neulich. »Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als wenn Stina kommt und mir Märchen erzählt. Es ist nämlich so ein schönes Gefühl, wenn sie aufhört.«

Johann und Niklas führen ein glückliches und ungeregeltes Leben mit Teddy und Freddy, die wirklich zwei kleine Amazonen sind, übrigens richtig hübsche. Auf diese Weise sieht man nicht viel von seinen Brüdern, besonders dann nicht, wenn abgewaschen werden soll. Ich höre nur so nebenbei davon reden, daß man »heute zum Angeln rausfahren will«, oder »wir gehen heute schwimmen«, »wir bauen eine Hütte«, »wir wollen uns ein Floß machen«, »wir wollen zur Schäre hinausfahren und Netze auslegen«. Das zum Beispiel tun sie heute abend. Morgen früh wollen sie hinaus und sie einholen, habe ich gehört. Um fünf Uhr. Falls sie so früh wach werden.

Das taten sie. Um fünf Uhr wurden sie wach und schlüpften schnell in ihre Sachen und waren ebenso schnell unten bei Grankvists Steg, wo Teddy und Freddy mit ihrem Kahn warteten. Bootsmann war auch frühzeitig wach geworden. Jetzt stand er dort auf dem Steg und guckte Teddy und Freddy mit vorwurfsvollen Augen an. Wollten sie wirklich aufs Wasser hinaus, ohne ihn mitzunehmen?

»Na, dann komm schon«, sagte Freddy. »Wo soll ein Bootsmann sein, wenn nicht in einem Boot? Aber du weißt vielleicht: Tjorven wird böse, daß es nur so kracht!«

Es schien, als ob Bootsmann zögerte, als er Tjorvens Namen hörte. Aber nur einen Augenblick. Dann sprang er mit einem weichen Satz in den Kahn, der unter seinem mächtigen Gewicht erzitterte.

Freddy streichelte ihn.

»Du denkst wahrscheinlich, du kommst noch rechtzeitig nach Hause, bevor Tjorven aufsteht, aber da hast du dich geirrt, mein Bootsmännchen.«

Dann ergriff sie die Riemen und begann zu rudern.

»So was können Hunde sich doch nicht überlegen«, sagte Johann.

»Bootsmann denkt überhaupt nicht. Er springt ins Boot, nur weil er dich und Teddy da sieht.«

Doch Teddy und Freddy versicherten, daß Bootsmann denken und empfinden könne wie ein Mensch.

»Nur besser«, sagte Teddy.

»Ich möchte wetten, daß es in diesem Hundeschädel nie einen bösen Gedanken gegeben hat«, sagte sie und streichelte den riesigen Kopf. »Wie ist es denn mit diesem Schädel?« fragte Johann und fuhr Teddy onkelhaft über den blonden Scheitel.

»Der sitzt manchmal knüppeldick voll kleiner boshafter Gedanken«, gestand Teddy. »Freddy ist besser. Sie schlägt sicher nach Bootsmann.«

Bis zur Schäre brauchten sie fast eine Stunde, und so vertrieben sie sich die Zeit damit, sich zu überlegen, wie es in ihren verschiedenen Schädeln aussah und welche Gedanken es dort gab. »Was denkst du zum Beispiel, Niklas, wenn du so etwas hier siehst?« fragte Teddy und machte eine Bewegung, die den ganzen wunderbaren, soeben erwachten Morgen mit weißen Sommerwolken am Himmel und flimmerndem Sonnengeglitzer auf dem Wasser umfing.

»Dann denke ich an Essen«, sagte Niklas.

Teddy und Freddy starrten ihn an.

»An Essen? Wieso denn?«

»Na ja, daran denke ich meistens«, sagte Niklas mit einem Grinsen. Johann pflichtete ihm bei.

»Und außerdem hat er noch höchstens zwei Gedanken, und die liegen hier drinnen und schwappen«, sagte er und klopfte an Niklas' Stirn.

»Aber in Johanns Schädel, da stehen die Gedanken so dicht wie ein Heringsschwarm«, sagte Niklas. »Manchmal quellen sie zu den Ohren heraus, wenn es drinnen zu eng wird. Das kommt bloß daher, weil er so viele Bücher liest.«

»Das tu ich auch«, sagte Freddy. »Wer weiß, eines Tages fangen die Gedanken an, auch aus mir rauszuquellen. Ich möchte mal wissen, was das für ein Gefühl ist?«

»Wenn ich Theodora bin, dann denke ich anders, als wenn ich Teddy bin«, sagte Teddy.

Johann guckte sie erstaunt an. »Theodora?«

»Denk mal, hast du das nicht gewußt? Ich heiße eigentlich Theodora, und Freddy heißt Frederika.«

»Das war ein Wahnsinnseinfall von Papa«, erklärte Freddy. »Mama hat Teddy und Freddy daraus gemacht.«

»Meine Theodoragedanken sind wie ein Traum, so schön«, sagte Teddy. »Wenn die bei mir vorherrschen, dann schreibe ich Gedichte und nehme mir vor, nach Afrika zu reisen und bei den Aussätzigen zu arbeiten oder Raumforscher zu werden und als erster auf den Mars zu kommen oder so was.«

Niklas sah Freddy an, die sich an den Riemen abrackerte.

»Und deine Frederikagedanken?«

»Hab keine«, sagte Freddy. »Ich bin die ganze Zeit nur Freddy. Aber meine Freddygedanken sind ziemlich schlau. Wollt ihr den letzten hören?«

Johann und Niklas wurden neugierig. Sie wollten gern den letzten Freddygedanken hören.

»Der lautet so«, sagte Freddy. »Ob nicht einer von diesen beiden faulen Burschen ein Weilchen rudern könnte?«

Johann beeilte sich, sie an den Riemen abzulösen, aber er machte sich Sorgen, wie es wohl gehen würde. Er und Niklas hatten in dem alten, lecken Kahn des Schreinerhauses abends gerudert. Ganz im geheimen hatten sie in Janssons Bucht geübt, um nicht allzu ungeschickt zu sein, wenn sie mit Teddy und Freddy zusammen im Boot sitzen würden.

»Wir wissen auch eine ganze Menge über Boote, obwohl wir keine Schärenbewohner sind«, hatte Johann versichert, als sie die Grankvist-Mädchen kennengelernt hatten.

Und Freddy hatte etwas verächtlich gesagt:

»Wahrscheinlich Rindenboote geschnitzt, was?«

Teddy und Freddy waren auf Saltkrokan geboren. Sie waren mit Leib und Seele Schärenmädchen. Sie wußten so gut wie alles über Schiffe und Gewässer und Wetter und Winde und wie man mit Stellnetzen fischt und mit Kiemennetzen und Grundleinen und Schleppnetzen. Sie konnten Strömlinge säubern und Barsche schuppen, sie konnten Tauwerk splissen und Schifferknoten schlingen und den Kahn mit einem Riemen wricken genausogut, wie sie mit zwei Riemen rudern konnten. Sie wußten, wo die Barsche standen und wo die Schilfbuchten waren, in denen man einen Hecht fangen konnte, wenn man Glück hatte; sie kannten die Eier sämtlicher Meeresvögel und deren Stimmen, und besser als daheim in der Küche ihrer Mama fanden sie sich in der ganzen verworrenen Welt von Holmen und Schäreninseln und Buchten und Sunden zurecht, die das Schärengebiet um Saltkrokan bildeten.

Sie prahlten nicht mit ihrem Wissen. Wahrscheinlich dachten sie, alles, was sie so gut konnten, war einem angeboren, wenn man ein Schärenmädchen war, so wie die Eidergans mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen zur Welt kam und der Barsch mit Kiemen.

»Habt ihr nicht Angst, daß euch auch Kiemen wachsen könnten?« pflegte ihre Mutter sie zu fragen, wenn sie Hilfe bei der Telefonvermittlung brauchte oder im Geschäft und wie gewöhnlich ihre Töchter aus dem Meer heraufholen mußte.

Dort fand man sie bei jedem Wetter, und sie bewegten sich im Wasser genauso leicht und selbstverständlich, wie sie auf Bootsstegen und in Booten herumsprangen oder in den Mastkorb des alten Heringskutters in Janssons Bucht hinaufkletterten.

Johann hatte Blasen an den Händen, als sie auf der Schäre ankamen. Sie brannten, aber er war zufrieden. Hatte er vielleicht nicht gerudert und gut gerudert? Das genügte, um ihn froh und geradezu übermütig zu machen.

»Armer kleiner Junge, er wird wie sein Vater«, sagte Melcher oft. »Ständig mal oben und mal unten.«

Eben jetzt war Johann sehr »oben«, und das waren sie übrigens alle vier. Wenn Bootsmann es auch war, so verbarg er es jedenfalls gut. Er hatte die gleiche unerschütterlich besorgte Miene wie immer. Aber vielleicht war er trotzdem irgendwo in seiner Hundeseele zufrieden, als er sich auf dem Felshang zurechtlegte mit dem Rücken gegen Vestermans altes Bootshaus, dessen graue Wand die Sonne schon erwärmt hatte. Hier lag er gut, und von hier aus konnte er die Kinder im Kahn sehen, wie sie die Netze heraufholten. Sie schrien und tobten derart, daß Bootsmann unruhig wurde. Waren sie etwa in Seenot und brauchten Hilfe? Es hörte sich so an, und Bootsmann konnte ja nicht wissen, daß sie vor Freude über ihr Fangglück kreischten.

»Acht Dorsche«, sagte Niklas. »Malin wird bestimmt blaß. Sie hat gesagt, sie wollte gekochten Dorsch mit Senfsoße zu Mittag machen – aber nicht Tag für Tag die ganze Woche lang.«

Johann wurde immer aufgeräumter.

»Macht das Spaß!« schrie er. »Findet etwa einer, daß Dorsche fangen keinen Spaß macht? Dann soll er es nur sagen!«

»Die Dorsche wahrscheinlich«, sagte Freddy trocken.

Eine kurze Sekunde lang taten Johann die Dorsche leid, und er kannte jemanden, dem sie noch mehr leid getan hätten, wenn er hier gewesen wäre.

»Ein Glück, daß wir Pelle nicht mitgenommen haben«, sagte er. »Dem würde das hier nicht gefallen.«

Bootsmann warf vom Bootshaus oben einen letzten forschenden Blick auf den Kahn und die Kinder. Aber als er sah, daß sie seine Hilfe nicht brauchten, gähnte er und ließ seinen Kopf auf die Vorderpfoten sinken. Jetzt wollte er schlafen.

Und wenn es stimmte, was Teddy und Freddy behaupteten, daß Bootsmann wie ein Mensch denken und fühlen konnte, dann überlegte er vermutlich, bevor er in Schlaf fiel, was Tjorven daheim wohl tat und ob sie schon wach war.

Tjorven war wach. Sehr wach. Als sie merkte, daß Bootsmann nicht wie sonst neben ihrem Bett lag, begann sie nachzudenken. Und als sie eine Weile nachgedacht hatte, wurde ihr klar, was geschehen war, und da wurde sie böse, ganz wie Freddy es vorausgesehen hatte.

Tjorven stieg mit gerunzelten Augenbrauen aus dem Bett. Bootsmann war ganz allein ihr Hund, niemand hatte das Recht, mit ihm aufs Meer zu fahren. Aber Teddy und Freddy taten das andauernd, ohne überhaupt zu fragen. So konnte das einfach nicht weitergehen! Tjorven ging spornstreichs ins Schlafzimmer, um sich zu beschweren. Ihre Eltern schliefen, aber Tjorven marschierte ohne Erbarmen ans Bett ihres Vaters und rüttelte ihn.

»Papa, weißt du was«, sagte sie aufgebracht, »Teddy und Freddy haben Bootsmann mit auf die Schären genommen.«

Nisse öffnete widerwillig ein Auge und warf einen Blick auf den Wecker. »Mußt du morgens um sechs Uhr kommen und mir das erzählen?«

»Ja, früher konnte ich nicht kommen«, sagte Tjorven. »Ich hab es ja jetzt erst gemerkt.«

Ihre Mutter bewegte sich schlaftrunken in dem anderen Bett.

»Mach nicht solchen Krach, Tjorven«, murmelte sie. Es war bald Zeit für Märta, aufzustehen und einen neuen, arbeitsreichen Tag zu beginnen. Diese letzte halbe Stunde, bevor der Wecker klingelte, war für sie so kostbar wie Gold, aber das begriff Tjorven nicht.

»Ich mach keinen Krach, ich bin nur böse«, sagte sie.

Niemand würde in einem Zimmer schlafen können, in dem Tjorven böse war, es sei denn, er war stocktaub. Märta merkte, wie grausam hellwach sie wurde, und sie sagte ungeduldig:

»Warum machst du so ein Theater? Bootsmann darf doch wohl auch mal ein bißchen Spaß haben.«

Jetzt ging es aber erst richtig los.

»Und ich?« rief Tjorven. »Soll ich etwa nie ein bißchen Spaß haben? Pfui, ist das ungerecht!«

Nisse stöhnte und bohrte den Kopf in das Kissen.

»Geh raus, Tjorven! Geh woanders hin, wenn du böse sein mußt! Wir wollen das nicht mitanhören.«

Tjorven stand stumm da. Sie schwieg eine Weile, und ihre Eltern hatten schon fast die Hoffnung, daß diese selige Stille anhalten würde. Sie bemerkten nicht, daß Tjorven nur einen neuen Anlauf nahm. »O ja, das ist fein«, schrie sie schließlich. »Aber ich geh schon. Ich gehe und komme nie wieder zurück. Ich will aber hinterher kein Gejammer hören, wenn ihr keine Tjorven mehr habt.«

Nun sah Märta ein, daß dies eine ernste Angelegenheit war, und sie streckte Tjorven versöhnlich die Hand hin.

»Du willst doch nicht etwa ganz und gar verschwinden, Hummelchen?«

»Doch, das ist sicher das beste«, sagte Tjorven. »Dann könnt ihr immerzu schlafen und schlafen und schlafen.«

Märta erklärte ihr, daß sie ihre liebe kleine Tjorven um jeden Preis behalten wollten, nur vielleicht nicht gerade im Schlafzimmer um sechs Uhr morgens. Aber Tjorven hörte gar nicht hin. Sie ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Im bloßen Nachthemd lief sie ins Freie.

»Immerzu schlafen und schlafen«, knurrte sie, und Tränen des Zorns standen in ihren Augen. Aber nach und nach wurde ihr klar, daß sie zu früh aufgewacht war. Dieser Tag wirkte so neu. Sie spürte es an der Luft und an dem betauten Gras, das ihre nackten Füße kühlte, und sie konnte es an der Sonne sehen, die nicht ganz dort stand, wo sie sollte. Nur die Möwen waren wach und kreischten wie gewöhnlich. Eine davon saß auf der Spitze des Fahnenmastes und sah aus, als gehörte ihr ganz Saltkrokan.

So übermütig war Tjorven nicht, im Augenblick nicht. Sie stand nachdenklich da und zupfte mit den Zehen Grashalme aus. Dies war eine finstere Sache. Sie ärgerte sich schon, daß sie eben so kindisch gewesen war. So von zu Hause wegzulaufen, das taten ja nur kleine Kinder, und das wußten Mama und Papa ebensogut wie sie selber. Aber es wäre so schmachvoll, jetzt zurückzugehen. Sie konnte das nicht so ohne weiteres tun. Es mußte eine ehrenhafte Art und Weise geben, um aus dieser Klemme herauszukommen. Sie dachte angestrengt nach und rupfte viele Grashalme aus, bis sie plötzlich wußte, was sie machen sollte. Da rannte sie zum offenen Schlafzimmerfenster und steckte den Kopf hinein. Ihre Eltern waren dabei, sich anzuziehen, und waren so wach, wie sie es sich nur wünschen konnte.

»Ich gehe zu Söderman in Stellung«, sagte Tjorven, und sie fand selber, daß das ein guter Einfall sei. Nun mußte es Mama und Papa klarwerden, daß sie das die ganze Zeit gemeint hatte und nicht irgendwas Kindisches. Söderman wohnte allein in seiner Kate unten am Wasser. Und er klagte ständig darüber, wie schwer er es habe so ohne Hilfe im Haushalt.

»Kannst du nicht zu mir in Stellung kommen, Tjorven?« hatte er einmal gesagt. Aber da hatte Tjorven gerade keine Zeit gehabt. Wie gut, daß ihr das jetzt eingefallen war. Eine Stellung im Haushalt, die brauchte man nicht so furchtbar lange zu behalten. Später konnte man zu Mama und Papa nach Hause gehen und wieder ihre Tjorven sein, als wäre nichts gewesen.

Nisse streckte seine väterliche Hand durchs Fenster und klopfte Tjorven auf die Wange.

»Dann bist du also nicht mehr böse, Hummelchen?«

Tjorven schüttelte verlegen den Kopf.

»Nee.«

»Das finde ich aber schön«, sagte Nisse. »Es hat keinen Sinn, böse zu werden, denn siehst du, man wird so jähzornig davon.« Da mußte Tjorven ihm recht geben.

»Glaubst du, Söderman will dich als Hausangestellte haben?« fragte Märta. »Er hat ja Stina.«

Daran hatte Tjorven nicht gedacht. Es war im letzten Winter gewesen, als Söderman sie gefragt hatte. Da hatte es Stina nicht gegeben, da wohnte sie in der Stadt bei ihrer Mama. Tjorven überlegte, aber nicht lange.

»Hausangestellte müssen stark sein«, sagte sie, »und das bin ich.« Dann lief sie los, um Söderman so schnell wie möglich von seinem Glück wissen zu lassen. Aber ihre Mutter rief sie zurück.

»Hausangestellte können nicht im Nachthemd arbeiten«, sagte sie. Und das sah Tjorven ein.

Söderman saß hinter seiner Kate und entwirrte seine Strömlingsnetze, als Tjorven angelaufen kam.

»Die müssen stark sein, tralala«, sang sie. »Ganz infernalisch stark, tralala …« Sie brach ab, denn sie entdeckte Söderman. »Söderman, weißt du was«, sagte Tjorven, »rate mal, wer heute dein Geschirr abwäscht?«

Bevor Söderman noch mit Raten anfangen konnte, tauchte in dem offenen Fenster hinter ihm ein strubbeliger Kopf auf.

»Ich«, sagte Stina.

»Nee«, versicherte Tjorven, »du bist nicht stark genug.«

Es dauerte eine Weile, bis Stina davon überzeugt war, aber zuletzt mußte sie sich widerwillig damit abfinden. Tjorven hatte nur verschwommene Vorstellungen von Hausangestellten, so was hatte noch nie seinen Fuß auf Saltkrokan gesetzt. Ihr schwebte vor, daß es starke, eisenharte Geschöpfe seien, die ungefähr vorgingen wie ein Eisbrecher, der im Winter die Fahrrinne für die Dampfer aufbricht. Und mit ungefähr gleicher Kraft machte Tjorven sich ans Abwaschen in Södermans Küche. »Ein bißchen darf man kaputtmachen«, versicherte sie, als Stina wegen ein paar Tellern jammerte, die auf den Fußboden gefallen waren.

Tjorven goß großzügig Spülmittel in die Abwaschwanne, so daß sich der herrlichste Schaum bildete. Sie wusch mit Schwung ab und sang, daß es bis zu Söderman hinaustönte, während Stina ziemlich übelgelaunt auf einem Stuhl saß und zuschaute. Sie war jetzt die Frau des Hauses, »denn die brauchen nicht so stark zu sein«, hatte Tjorven erklärt.

»Jedenfalls nicht so infernalisch stark«, sang Tjorven, aber dann fiel ihr etwas anderes ein. »Ich backe auch gleich Pfannkuchen«, sagte sie.

»Wie macht man das?« wollte Stina wissen.

»Ganz einfach: Man rührt und rührt und rührt«, sagte Tjorven. Sie war mit dem Abwaschen fertig, und nun goß sie das Abwaschwasser rasch aus dem Fenster. Aber darunter lag Matilda, Södermans Katze, und sonnte sich. Sie fuhr mit einem erschrockenen Miauen hoch und kam in die Küche gerast, daß der Schaum um sie herumspritzte.

»Katzen darf man nicht abwaschen«, sagte Stina streng.

»Das war nur ein Unfall«, sagte Tjorven. »Aber wenn man sie abgewaschen hat, dann muß man sie auch abtrocknen.«

Sie nahm das Geschirrtuch, und gemeinsam trockneten sie Matilda ab und versuchten sie zu beruhigen. Man sah es Matilda an, daß sie sich schmählich behandelt fühlte, denn sie miaute ärgerlich von Zeit zu Zeit, und hinterher wollte sie nichts als schlafen.

»Wo habt ihr das Mehl stehen?« fragte Tjorven, als sie endlich wieder an ihre Pfannkuchen denken konnte. »Hol es mal her!« Stina kletterte gehorsam auf einen Stuhl und zog die Schublade mit dem Mehl aus dem Küchenschrank. Es war schwierig, sie mußte sich sehr recken, um heranzulangen, und schwer war es auch. Und tatsächlich, Tjorven hatte recht, Stina war nicht stark genug. »Au wei, ich lasse es fallen«, rief sie. Das Schubfach schwankte in ihren kleinen Händen, so daß der größte Teil vom Mehl herausflog. Und es flog auf Matilda hinab, die auf dem Fußboden darunter lag und gerade eingeschlummert war.

»Sieh mal, das ist eine ganz andere Katze geworden«, sagte Tjorven verdutzt.

Matilda war für gewöhnlich schwarz, aber das Tier, das jetzt mit einem Satz zur Tür hinausschoß, war weiß wie ein Gespenst und hatte wilde, weit aufgerissene Augen.

»Sie wird allen Katzen auf ganz Saltkrokan einen Todesschrecken einjagen«, sagte Tjorven. »Arme Matilda, sie hat auch einen richtigen Unglückstag.«

Kalle Hüpfanland kreischte in seinem Käfig, es hörte sich an, als lache er über Matildas Unglück. Stina öffnete den Käfig und ließ den Raben heraus.

»Ich bring ihm gerade das Sprechen bei«, erzählte sie Tjorven. »Ich will ihm beibringen zu sagen: ›Zum Kuckuck mit dir!‹«

»Wozu das?« fragte Tjorven.

»Na, weil Pelles Großvater das kann«, sagte Stina, »und sein Papagei auch.«

Da stand jemand in der Tür, und das war niemand anders als Pelle selbst. »Was macht ihr?« fragte er.

»Pfannkuchen«, sagte Tjorven. »Aber Matilda ist mit dem ganzen Mehl weggelaufen. Ich glaub, es gibt doch keine.«

Pelle kam herein. Er fühlte sich bei Söderman wohl, das taten alle Kinder. Auf der ganzen Insel gab es keine kleinere Kate: nur eine Küche und eine kleine Kammer, aber viel Trödel, eine Menge Sachen zum Ansehen. Nicht nur Kalle Hüpfanland, der allerdings für Pelle am wichtigsten war. Außerdem gab es da noch eine ausgestopfte Eidergans und zwei gebundene Jahrgänge alter Witzblätter und ein aufregendes Bild, auf dem Leute, in Schwarz gekleidet, Särge auf Schlitten übers Eis fuhren. »Die Cholera wütet«, stand darunter. Und dann besaß Söderman eine Flasche, in der ein ganz kleines Segelschiff war. Pelle wurde nicht müde, es anzusehen, und Stina wurde nicht müde, es zu zeigen.

»Wie haben sie das eigentlich gemacht, daß sie das Schiff in die Flasche kriegten?« erkundigte sich Pelle.

»Ja, du«, sagte Stina. »Das kann dein Großvater nicht.«

»Nee, das ist nämlich das allerschwerste«, sagte Tjorven. »Seht mich mal an«, sagte sie dann.

Und da vergaßen sie das Schiff in der Flasche, weil sie Tjorven ansehen mußten. Sie stand mitten in der Küche, und auf ihrem Kopf saß der Rabe. Es war ein merkwürdiger, märchenhafter Anblick, der sie verstummen ließ.

Tjorven fühlte, wie sich die Vogelkrallen in ihrem üppigen Haarschopf festklammerten, und sie lachte selig.

»Stellt euch vor, wenn der Eier in meinem Haar legt.«

Doch diese Hoffnung nahm ihr Pelle.

»Das kann er gar nicht. Dafür braucht man ein Weibchen, weißt du.«

»O doch«, sagte Tjorven, »wenn er ›Zum Kuckuck mit dir‹ sagen lernt, dann kann er auch Eier legen lernen.«

Pelle schaute den Raben sehnsuchtsvoll an und sagte mit einem Seufzer: »Ich möchte so gern ein Tier haben. Ich hab bloß ein paar Wespen.«

»Wo hast du die denn?« fragte Stina.

»Bei uns im Schreinerhaus. Gleich unterm Dach ist ein Wespennest. Papa ist schon gestochen worden.«

Stina lächelte ein zufriedenes zahnloses Lächeln.

»Ich, ich hab viele Tiere. Einen Raben und eine Katze und zwei Lämmer.«

»Ach was, das sind ja gar nicht deine«, sagte Tjorven. »Die gehören deinem Großvater.«

»Ich darf aber trotzdem so tun, als ob es meine wären, wenn ich bei ihm bin«, sagte Stina. »So!«

Da umdüsterte sich Tjorvens Gesicht, und sie sagte finster: »Aber ich, ich habe einen Hund. Wenn diese Schufte bloß endlich mit ihm nach Hause kommen wollten.«

Ihr Hund, ja, ihr Bootsmann! Der unternahm gerade einen kleinen Spaziergang auf eigene Faust um die ganze Schäre herum, und diese sogenannten Schufte merkten nicht einmal, daß er fort war.

Sie hatten einen herrlichen Morgen gehabt, ach, wie herrlich! »Zuerst baden wir«, hatte Teddy gesagt, und das taten sie dann. Das Wasser war wie immer im Juni. Nur junge Toren von zwölf, dreizehn Jahren stürzen sich freiwillig in ein so bitterkaltes Naß. Aber genau solche jungen Toren waren sie ja, und sie starben nicht daran, im Gegenteil, sie lebten, und sie glühten. Und sie stürzten sich jubelnd von den Felsen und tauchten und schwammen und spielten und platschten im Wasser herum, bis sie vor Kälte blau waren. Da zündeten sie sich auf einem geschützten Felshang ihr Lagerfeuer an und setzten sich drum herum, und in ihrem Blut spürten sie sämtliche Indianer und Neusiedler und Pelztierjäger und Steinzeitmenschen, die um Lagerfeuer gesessen haben, seit das Menschengeschlecht auf dieser Erde lebt. Sie waren jetzt Fischer und Jäger und Fänger, sie führten das freie Leben der Wildnis und grillten ihre Beute über der Glut, während Seeschwalben und Mantelmöwen und Silbermöwen kreischend über ihnen kreisten und versuchten, ihnen zu sagen, daß aller gegrillte Dorsch auf dieser Insel eigentlich ihnen gehöre. Aber die Eindringlinge blieben unbekümmert sitzen und aßen und aßen ihren vorzüglichen Dorsch und machten den widerwärtigsten Lärm. »Kra, kra, kra«, schrien sie und hörten sich an wie Krähen, ja, denn sie hatten gerade einen geheimen Klub gegründet, dem sie den geheimen Namen »Die Vier Salzkrähen« geben wollten und der für ewig geheim bleiben sollte. Ihr Kampfruf war nicht geheim, alle Seeschwalben und Mantelmöwen und Silbermöwen hörten ihn und mochten ihn gar nicht. »Kra, kra, kra«, tönte es über Felsinseln und Schären und Fjorde, aber mehr erfuhr keiner, denn alles übrige war ganz geheim, ganz geheim, ganz geheim.

Die Glut ihres Feuers wurde zu Asche, sie aber blieben auf dem sonnenheißen Felsen liegen und unterhielten sich über all das Geheime, das sie miteinander unternehmen wollten, sobald sie Zeit dafür hatten. Und die Stunden vergingen, die Junisonne ließ weiterhin verschwenderisch ihre Strahlen über sie hinfluten, und sie lagen dort und spürten den Sommer im ganzen Körper als etwas wunderbar Schönes und Unbeschreibliches, zum Faulenzen geschaffen.

Bis Freddy draußen auf dem Fjord einen treibenden Kahn entdeckte. Er war so weit entfernt, daß sie ihn kaum noch erkennen konnten, aber daß er leer war, das sahen sie.

»Wie vertäuen eigentlich die Leute ihre Boote?« fragte Johann.

Da fuhr Teddy hoch, als ob ihr ein entsetzlicher Gedanke gekommen wäre. »Ja, das möchte ich auch mal wissen«, sagte sie, als sie nachgeguckt hatte. In der Felsspalte, in die sie den Kahn hineingezogen hatten, lag kein Kahn mehr. Teddy sah Johann streng an.

»Das möchte ich tatsächlich wissen – wie vertäust du eigentlich ein Boot?«

Johann war es gewesen, der gesagt hatte, er wollte das Festmachen übernehmen, damit es ordentlich gemacht werde.

»Ist es nicht sonderbar, daß ein Kind seinem Vater aufs I-Tüpfelchen gleichen kann?« pflegte Malin von Johann zu sagen. Und es war wirklich sonderbar.

Sie konnten den Kahn noch immer weit draußen im Sonnenschein erkennen. Freddy stand auf einem Stein und winkte dem Boot mit beiden Händen nach.

»Leb wohl, leb wohl, mein kleines Boot, grüß Finnland von uns!«

Aber Johann war rot geworden. Er sah die anderen beschämt an.

»Es ist alles meine Schuld. Seid ihr jetzt böse auf mich?«

»Ach was«, sagte Teddy. »So was passiert schon mal.«

»Wie kommen wir aber jetzt hier weg?« fragte Niklas und versuchte, seine Stimme nicht genauso ängstlich klingen zu lassen, wie ihm zumute war.

Teddy zuckte mit den Schultern.

»Wir müssen eben warten, bis jemand vorbeikommt. Das kann natürlich einige Wochen dauern«, fügte sie hinzu. Es war zu verführerisch, ihm ein bißchen Angst einzujagen.

»Na, dann wird zum mindesten Bootsmann verhungert sein«, sagte Johann. Er wußte, was für Portionen Tjorvens Hund sich einverleiben konnte.

Da fiel ihnen Bootsmann ein. Wo war er eigentlich? Sie erinnerten sich jetzt, daß sie ihn seit langem nicht mehr gesehen hatten.

Freddy rief nach ihm, aber er kam nicht. Da schrien sie alle, daß die Möwen erschrocken davonflatterten; aber es kam kein Hund.

»Kein Hund und kein Boot, gibt es sonst noch etwas, was wir nicht haben?« sagte Teddy.

»Etwas zu essen«, sagte Niklas.

Aber da wies Freddy triumphierend auf ihren Rucksack, den sie in eine Felsspalte gestellt hatte.

»Stellt euch vor, zu essen haben wir doch! Einen ganzen Rucksack voller Butterbrote. Und sieben Dorsche!«

»Acht«, sagte Johann.

»Nein, einen haben wir ja gegessen«, erinnerte Freddy.

»Trotzdem acht«, sagte Johann. »Mich dazugerechnet, der größte Dorsch im nördlichen Schärengebiet.«

Sie standen unschlüssig herum. Der Glanz dieses Tages fing an zu verblassen, und nun hatten sie Sehnsucht nach zu Hause.

»Übrigens«, sagte Freddy und machte plötzlich ein besorgtes Gesicht, »übrigens glaube ich, da draußen kommt Nebel auf.«

Aber im selben Augenblick hörten sie das vertraute Tuckern eines Benzinmotors auf dem Fjord, zunächst schwach, nach und nach aber immer lauter.

»Guckt mal, das ist Björns Boot«, rief Freddy, und sie und Teddy begannen, wie wild zu hopsen und zu schreien. »Und guckt mal, er hat unseren Kahn im Schlepp.«

»Wer ist Björn?« fragte Niklas, während sie dastanden und warteten und zusahen, wie das Motorboot immer näher kam. Teddy winkte dem im Boot zu. Es war ein braungebrannter junger Mann mit einem angenehmen, kräftig geschnittenen Gesicht. Er sah fast aus wie ein Fischer, sein Boot sah auch aus wie ein richtiges Fischerboot. »Hej, Björn!« rief Teddy. »Du kommst uns gerade recht! Das ist unser Lehrer«, erklärte sie

Niklas.

»Sagt ihr einfach Björn zu ihm?« fragte Johann erstaunt.

»So heißt er doch«, versicherte Teddy, »und wir kennen ihn ja schließlich.«

Das Boot fuhr jetzt langsamer und steuerte auf den Felsen zu, auf dem die Kinder standen.

»Hier habt ihr euren alten Kahn«, rief Björn und schleuderte Teddy die Fangleine zu. »Wie vertäut ihr eigentlich?«

Teddy lachte. »Ach, das ist verschieden.«

»Soso«, sagte Björn. »Aber mit dieser Art solltet ihr lieber aufhören. Es ist nämlich nicht sicher, daß ich dauernd vorbeikomme und eure Siebensachen aufsammle.« Und dann fügte er noch etwas hinzu. »Fahrt auf der Stelle nach Hause. Es kommt Nebel auf, und ihr müßt euch beeilen, wenn ihr vor ihm nach Saltkrokan kommen wollt.«

»Na, und du?« fragte Teddy.

»Ich muß raus nach Harskär«, sagte Björn, »sonst hätte ich euch ins Schlepptau genommen.«

Dann fuhr er davon, und sie hörten, wie sich das Motorengetucker in Richtung von Harskär entfernte.

Wäre Bootsmann dagewesen, hätten sie sofort aufbrechen können, und dann hätte Melcher an diesem Abend keine Beruhigungstabletten zu schlucken brauchen. Doch das Leben besteht aus einer Kette von kleinen und großen Geschehnissen, und die hängen zusammen wie Erbsstroh. Ein einziger kleiner Hecht kann viel Unfug anrichten und erwachsene Männer wie Melcher zwingen, Beruhigungstabletten zu nehmen.

So klein war er übrigens gar nicht, dieser Hecht. Es war ein richtig unheimlicher alter Bursche von annähernd vier Pfund, dessen Bekanntschaft Bootsmann bei seinem Spaziergang rund um die Schäre gemacht hatte. Die Bekanntschaft beschränkte sich darauf, daß sie einander über eine Stunde lang ins Auge starrten, Bootsmann auf einer felsigen Uferböschung, der Hecht im seichten Wasser dicht davor. Bootsmann war einem Blick wie diesem aus kalten, starren Hechtaugen noch nie begegnet, er hatte noch nie ein so erstaunliches Tier zu Gesicht bekommen, und er konnte sich nicht davon losreißen. Der Hecht seinerseits sah aus, als ob er dächte: Glotz du nur, du Ungetüm, mir jagst du keine Angst ein, und ich stehe hier, solange es mir paßt.

Mit diesem Hecht aber gingen viele kostbare Minuten verloren. Es dauerte viel zu lange, bis Hund und Kinder und Dorsche und Netze und Badeanzüge und Rucksäcke endlich eingesammelt und ins Boot gebracht waren. Unterdessen kam der Nebel immer näher. Große, formlose Nebelbänke wallten vom Meer heran, und die Kinder waren noch nicht weit von der Schäre weg, als sie auch schon von Nebel umfangen waren wie von weichen, grauen, wolligen Armen.

»Das ist, wie wenn man träumt«, sagte Johann.

»So einen Traum hab ich nicht besonders gern«, versicherte Niklas. Irgendwo in weiter Ferne hörten sie ein Nebelhorn dumpf tuten, sonst war alles still. Ob Niklas es nun gern hatte oder nicht, aber es war genau so still wie in einem Traum.

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