Melcher liebte seine Kinder stürmisch, und hin und wieder dachte er über sie nach. Zwar war er Schriftsteller, und wenn man ihn fragte, was ihn im Augenblick beschäftigte, antwortete er: »Melcher ist nur mit Melcher beschäftigt!« Das stimmte aber nicht so ganz. Manchmal dachte er auch über seine Kinder nach, und es war ihm unbegreiflich, wie gerade er vier so prachtvolle Sprößlinge hatte bekommen können. Und so verschieden. Nicht nur, daß Malin und Johann blond waren und die beiden anderen braun, nein, sie waren auch durch und durch verschieden.
Zuerst Malin, sein Trost und sein Heil – wie konnte sie so klug werden, da sie so hübsch war? Hübsche Mädchen waren im allgemeinen von ihrem eigenen Hübschsein in Anspruch genommen, sie hatten gewissermaßen gar keine Zeit, klug zu werden. Malin war anders. Zwar wußte er nicht allzuviel von den Gedanken, die sich hinter ihrer glatten Stirn regten, aber er wußte, dahinter lagen Klugheit und Wärme und gesunde Vernunft. Und außerdem war sie voller Anmut, ohne sich dessen bewußt zu sein, wie eine Blume, jedenfalls schien es so.
Und dann Johann, der gescheiteste von den Kindern, der am meisten Phantasie hatte und am zappeligsten war. Er würde es einmal nicht leicht haben, denn er schlug seinem Vater nach, das arme Kind! Niklas dagegen war ausgeglichen und sicher und lebenstüchtig von dem Tag an, als er auf die Welt kam, der fröhlichste und handfesteste von der ganzen Familie Melcherson. Niklas würde leicht durchs Leben kommen, das wußte Melcher.
Aber dann war da Pelle, wie sollte es ihm ergehen? Wie würde das Leben werden für einen, der anfing zu weinen, weil er in der Straßenbahn Leute sah, die ein trauriges Gesicht machten, oder weil er einer Katze begegnet war, die aussah, als wäre sie obdachlos. Diese stete Sorge, daß ein Mensch oder eine Katze oder ein Hund oder eine Wespe nicht glücklich genug sein könnte, wie sollte er die auf die Dauer aushalten? Und all das andere Wunderliche, über das er nachgrübelte! Weshalb es in den Telegraphendrähten summte, so daß man am liebsten weinen möchte, wenn man es hörte, und warum die Bäume rauschten, als ob sie über irgend etwas klagten, und wie es kam, daß das Meer so dumpf brauste, ob es wohl wegen all der toten Seeleute sei, fragte Pelle mit Tränen in den Augen. Er konnte aber auch auf seine eigene wunderliche Weise heiter sein. Es gab allerlei, was ihn glücklich machte: allein im Bootshaus zu sitzen, wenn es regnete, und zu hören, wie es auf das Dach trommelte, oder oben auf dem Hausboden in einer Ecke zu kauern, wenn es stürmte, am liebsten in der Dämmerung, und dazusitzen und das ganze Haus ächzen zu hören. Niklas versuchte, aus ihm herauszubekommen, wieso er solche sonderbaren Dinge so gern mochte, aber Pelle sagte nur: »Wenn du es nicht von selbst verstehst, dann hat es keinen Sinn, daß ich es dir erkläre.« Außerdem war er Forscher, und für so einen gab es viel zu tun. Auf dem Bauch im Gras liegen und beobachten, was das kleine Getier trieb. Auf dem Bootssteg auf dem Bauch liegen und die wundersame grüne Welt ergründen, in der die kleinen Stichlinge ihr kleines Stichlingsdasein führten. An dunklen Augustabenden auf den Treppenstufen sitzen und sehen, wie die Sterne nach und nach aufglänzten, und die Kassiopeia und den Großen Bären und den Orion suchen. Pelle erlebte das ganze Dasein als eine Reihe von Wundern, und er war ständig damit beschäftigt, sie zu erforschen, geduldig und seiner Arbeit hingegeben, wie es sich für einen Forscher gehörte. Melcher empfand hin und wieder so etwas wie Neid, wenn er seinen Jüngsten beobachtete. Weshalb konnte man nicht das ganze Leben hindurch die Fähigkeit bewahren, Erde und Gras und rauschenden Regen und Sternenhimmel als Seligkeiten zu erleben?
Und dann diese grenzenlose Tierliebe. Es war beinahe grausam, daß er nie einen Hund bekommen hatte. Er hatte angefangen, darum zu betteln, sobald er groß genug war, »Wau-wau« zu sagen. Goldfische hatte er besessen und Schildkröten und weiße Mäuse, aber nie einen Hund.
Armer Pelle! Und dann nach Saltkrokan zu kommen und einen Hund zu finden wie Bootsmann. In Pelles Augen mußte Tjorven das glücklichste Geschöpf unter der Sonne sein.
»Ich wäre aber schon zufrieden, wenn ich überhaupt nur ein Tier hätte«, erklärte er ihr. »Ich hab ja meine Wespen, aber ich möchte so gern ein Tier haben, das man streicheln kann.«
Er tat Tjorven leid, und sie war großzügig.
»Du kannst ein kleines Stückchen von Bootsmann als deins haben. So einige Kilo, die kannst du kriegen.«
»Tss, das eine Hinterbein, was?« sagte Pelle, und er ging zu seinem Vater und beklagte sich.
»Ein paar Wespen und das eine Hinterbein von einem Hund, findest du wirklich, daß man damit zufrieden sein kann?«
Aber Melcher saß in der kleinen Mädchenkammer und schrieb und wollte gerade jetzt unter keinen Umständen über seine Kinder und deren Wünsche nachdenken.
»Ach, du, wir reden ein andermal darüber«, sagte er und winkte Pelle ab. Pelle ging mit finsterer Miene wieder weg. Aber an die Wand des Schreinerhauses stand seine Angelrute gelehnt, die er in der vergangenen Woche zu seinem Namenstag bekommen hatte. Man kann auch eine Angelrute als Wunder erleben, und dies war nicht irgendeine Angelrute. Es war die erste seines Lebens, daher würde es später nie wieder eine so feine Angelrute geben wie gerade diese. Pelle nahm sie, der Bambus fühlte sich in seiner Hand weich und gut an, und etwas wie Glück breitete sich in seinem ganzen kleinen Jungenkörper aus. Er beschloß, zum Steg hinunterzugehen und zu angeln. Oh, wie lieb war Papa gewesen, daß er ihm diese Angelrute geschenkt hatte. Tjorven hatte er auch eine geschenkt, denn zur gleichen Zeit war zufällig auch ihr Namenstag. Und dabei hatte Pelle immer gedacht, sie hieße nur Tjorven und nichts weiter! Das war ein großer Irrtum.
»Ich heiße Karin Maria Eleonora Josefina«, sagte Tjorven. »Wenn ich auch mehr wie Tjorven aussehe, sagt Mama.«
Dann guckte sie Pelle erwartungsvoll an. »Und du, wie heißt du?«
»Per«, sagte Pelle düster. Es war typisch, daß Tjorven vier Namenstage hatte, an denen sie Geschenke bekommen konnte, und er nur einen. »Bald setzen sie auch noch Tjorven in den Kalender, damit du noch einen dazukriegst«, sagte Pelle. Nicht daß er etwa mißgünstig gewesen wäre, nur, wenn es sich um Bootsmann handelte, war es schwer, nicht wenigstens ein bißchen neidisch zu werden.
Aber jetzt nahm Pelle seine Angelrute und ging zum Steg hinunter. Hier fand ihn Stina, und sie kam voller Freude angestürzt. Sie durfte ja so selten mit Pelle allein sein. Tjorven regierte und bestimmte, wer mit wem spielen sollte. Wie sie das machte, wußte kein Mensch. Sie drückte es nicht etwa in klaren Worten aus. Trotzdem kam es so, wie sie es haben wollte. Sie selbst, Saltkrokans Tjorven, konnte spielen, mit wem sie Lust hatte, entweder mit Stina oder mit Pelle, ganz wie es ihr einfiel. Manchmal, wenn ihr die Laune danach stand, spielten sie auch alle drei zusammen. Eins aber durfte nie geschehen, und zwar, daß Pelle und Stina zusammen und ohne sie spielten.
Und nun kam sie an diesem warmen Augustmorgen, nichts Böses ahnend, den Weg zum Schreinerhaus daher und entdeckte eben diese beiden unten auf dem Steg. Da blieb sie ganz plötzlich stehen. Mitten zwischen Kälberkropf und Steinbrech stand sie still und sah zu ihnen hinunter, und sie wußten es nicht. Sie unterhielten sich nur miteinander, und Stina lachte und fuchtelte lebhaft mit den Händen. O ja, o ja, jetzt war sie in Schwung, aber das sollte ein Ende haben!
»Du, Stina, hör mal«, schrie Tjorven böse, »du darfst nicht auf dem Steg sitzen! Kleine Kinder dürfen nicht auf Anlegestege, sie können ins Wasser fallen!«
Stina zuckte zusammen, aber sie drehte nicht den Kopf. Sie konnte so tun, als hätte sie nichts gehört. Wenn sie keine Antwort gab, dann war dort vielleicht keine Tjorven, und wenn sie dort war, dann ging sie vielleicht wieder – hoffen konnte man immer.
Stina rutschte etwas näher an Pelle heran und sagte mit leiser Stimme: »Da beißt sicher bald einer an, Pelle!«
Aber bevor Pelle antworten konnte, schrie Tjorven von neuem: »Kleine Kinder dürfen nicht auf dem Anlegesteg sein! Bist du taub?«
Jetzt wußte Stina, daß es Streit geben würde, und kann man sich dem Unangenehmen nicht entziehen, dann stürzt man sich am besten gleich mitten hinein.
»Dann darfst du aber auch nicht auf dem Steg sein«, sagte sie, denn jetzt stand Tjorven dicht hinter ihnen.
Tjorven schnaubte.
»Tsss, zwischen mir und dir ist wohl ein Unterschied.«
»Ja, besonders zwischen dir, finde ich«, sagte Stina patzig. Sie hatte ja Pelle neben sich, da konnte sie Sachen sagen, die zu sagen sie sich sonst nie im Leben getraut hätte.
Aber Pelle saß da und sah aus, als ob er am liebsten ganz woanders gewesen wäre, und Tjorven sagte:
»Übrigens ist Pelle nicht mit dir hier, sondern mit mir.«
»Nein, Pelle ist mit mir hier«, versicherte Stina böse.
Jetzt war es Pelle klar, daß er seine Meinung sagen mußte.
»Tss, ich bin mit mir hier, möchte ich nur bemerken!«
Er wünschte Tjorven wie auch Stina dorthin, wo der Pfeffer wächst, doch jetzt hatte sich Tjorven an seiner anderen Seite niedergelassen, und nun saßen sie alle drei schweigend da und starrten auf den Schwimmer. Schließlich sagte Stina wieder:
»Da beißt sicher bald einer an, Pelle.«
Mehr war nicht nötig, um Tjorven zur Raserei zu bringen.
»Das geht dich doch nichts an. Pelle gehört ja schließlich nicht dir.«
Stina beugte sich vor und sah ihr herausfordernd ins Gesicht. »Und dir auch nicht, basta!«
»Nee, denn ich gehör mir ganz allein«, sagte Pelle. »Denkt mal, so ist es!« Jetzt hatte er es Tjorven und Stina gegeben, daß sie beide schwiegen. Pelle gehörte sich ganz allein, und er fühlte, wie schön das war. Von ihm sollte keiner auch nur ein Hinterbein kriegen!
Aber Tjorven wußte ja, wer eigentlich über Pelle zu bestimmen hatte, und das wollte sie ihm auf feine Art klarmachen. Deshalb sagte sie zutraulich, genau wie Stina:
»Da beißt sicher bald einer an, Pelle!«
Aber das war offenbar nicht das richtige.
»Stellt euch vor, das passiert nicht«, sagte Pelle ungeduldig. »Hört auf, immerzu davon zu faseln! Es kann keiner anbeißen, ich habe nämlich gar keinen Wurm am Haken.«
Tjorven starrte ihn an. Sie war ein Kind der Schären, und so etwas Verrücktes wie jetzt das von Pelle hatte sie noch nie gehört. »Weshalb denn nicht?« fragte sie.
Pelle erklärte es ihr. Er hatte es mit einem Wurm versucht, aber er konnte es nicht, ihm tat der Wurm so leid. Der hatte sich gewunden, sagte Pelle, und ihm grauste es bei dem Gedanken. Übrigens konnte der Fisch einem genauso leid tun, der vielleicht den Haken verschluckte. Und daher also …
»Aber wieso sitzt du dann hier und angelst?« fragte Tjorven.
Pelle erklärte es ihr, noch ungeduldiger. Hatte er etwa nicht eine Angelrute bekommen? Und wahrhaftig, er war durchaus nicht der einzige, der hier saß und angelte, ohne einen Fisch zu kriegen. Er hatte Leute von früh bis spät und tagelang sitzen und angeln sehen, ohne daß auch nur einmal etwas angebissen hätte. Der Unterschied war nur der, daß sie die ganze Zeit einen armen Wurm ganz umsonst quälten. Und das tat er nicht, im übrigen aber angelte er genau wie alle anderen. Ob sie das nun verstehe? Tjorven sagte, sie verstehe es. Und nun beteuerte Stina, sie verstehe es auch.
Dann saßen sie da und starrten lange auf den Schwimmer, und Tjorven wußte, es war gelogen, als sie gesagt hatte, sie verstehe es. Aber die Sonne schien, und auf dem Steg war es schön, und wenn sie außerdem Stina loswerden könnte, dann wäre es noch schöner.
»Stina wird kalte Mamsell, wenn sie groß ist«, sagte Pelle. Stina hatte ihm das gerade erzählt.
»Ich nicht«, sagte Tjorven mit Nachdruck. Sie wußte nicht, was eine kalte Mamsell zu tun hatte, aber es klang kühl und unheimlich, und wenn Stina es auch noch so sehr werden sollte! Stinas Mama war kalte Mamsell. Sie wohnte in Stockholm, und manchmal kam sie nach Saltkrokan heraus. So etwas Hübsches wie sie hatte Tjorven noch nie gesehen. Außer Malin. Aber kalte Mamsells mochten noch so hübsch sein – wurde Stina kalte Mamsell, so wollte Tjorven es unter keinen Umständen werden.
»Was willst du machen, wenn du groß bist?« fragte Pelle.
»Ich will dick werden und Bücher schreiben, genau wie Herr Melcher.« Pelle zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Papa ist doch nicht dick?«
»Hab ich das denn gesagt?« erwiderte Tjorven.
»Doch, das hast du gesagt«, behauptete Stina.
»Bist du schwerhörig?« fragte Tjorven. »Ich sagte, ich wollte Bücher schreiben wie Herr Melcher und ich wollte dick werden, aber das war eine Sache für sich.«
Stina war nach und nach immer dreister geworden. Sie befand sich in dem irrigen Glauben, daß Pelle zu ihr hielt, und jetzt sagte sie geradeheraus, sie finde Tjorven dumm. Da versicherte Tjorven, Stina sei noch viel dümmer als Janssons Schwein. »Das erzähle ich Großvater, was du da gesagt hast«, schrie Stina, aber Tjorven überschrie sie.
»Petze, Petze, ging in'n Laden, wollt' für'n Sechser …«
Pelle stöhnte vor Unbehagen.
»Kann man denn nicht ein bißchen Ruhe haben«, brummelte er vor sich hin. »Immer und ewig Streit.«
Da schwiegen sie, Tjorven und Stina auch. Lange Zeit sagte keine von beiden etwas, aber schließlich wurde es Tjorven langweilig. »Was willst du werden, wenn du groß bist, Pelle?« fragte sie, um die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen.
»Ich will nichts werden«, sagte Pelle. »Ich will nur eine Menge Tiere haben.«
Tjorven starrte ihn an.
»Irgendwas mußt du aber doch werden?«
»Nee, das will ich nicht.«
»Und dann brauchst du auch nicht«, sagte Stina einschmeichelnd.
Jetzt war es wieder soweit. Tjorven wurde böse.
»Das hast du doch wohl nicht zu bestimmen!«
»Hab ich das denn gesagt?« fragte Stina.
»Geh nach Hause!« schrie Tjorven. »Kleine Kinder dürfen nicht auf Anlegestegen sein, hab ich doch gesagt!«
»Das hast du schließlich auch nicht zu bestimmen«, sagte Stina.
Da schüttelte sich Pelle, als ob er in einem Ameisenhaufen gesessen hätte. »Nee, jetzt geh ich aber«, sagte er. »Hier kann man es ja nicht aushalten.«
Melcher saß noch immer in der kleinen Mädchenkammer neben der Küche und schrieb. Er hatte das Fenster geöffnet, damit er den Duft vom Labkraut draußen einatmen konnte, und wenn er den Blick von der Schreibmaschine hob, sah er einen kleinen blauen Zipfel vom Fjord, und das war wohltuend. Aber er hatte nicht allzuviel Zeit, vom Papier aufzublicken. Das Schreiben ging ihm jetzt so gut von der Hand, und da war es das beste, sich gar nicht zu unterbrechen. Der einzige Nachteil war, daß durch das offene Fenster viel zu viele Geräusche von draußen in seine Dichterwelt eindrangen. Er hörte Malin mit Johann und Niklas verhandeln. Sie sollten Milch holen, aber sie bettelten und flehten, Malin solle es ihnen erlassen. Ob sie nicht Pelle schicken könne, na ja, sie wollten gerade jetzt mit Teddy und Freddy zur Landzunge hinausfahren und das alte Wrack dort untersuchen.
Offenbar gelang es ihnen, Malin zu erweichen. Melcher hörte das fröhliche Juhugeschrei der Jungen in der Ferne verklingen und segnete die schöne Stille, die nach ihrem Verschwinden entstand.
Leider währte sie nicht lange, denn plötzlich steckte Tjorven die Nase zum Fenster herein. Sie hatte sich gerade am Steg von Stina getrennt. Als Pelle weg war, hatte Tjorven es auch eilig gehabt fortzukommen. Sie hatte Stina vorher nur noch klipp und klar gesagt, sie solle nicht mehr damit rechnen, in diesem Leben jemals wieder mit ihr, Tjorven, zu spielen, und Stina hatte erwidert, das sei das Beste, was sie seit langem gehört habe.
Nun war Tjorven hinauf zum Schreinerhaus gezogen, um Pelle dort zu erwischen und vernünftig mit ihm zu reden, aber er war nirgendwo zu sehen. Dafür entdeckte sie ihren Freund Melcher am Fenster der Mädchenkammer.
»Und du schreibst und schreibst nur«, sagte sie. »Was schreibst du da eigentlich?«
Melchers Hände sanken von den Tasten herunter.
»Ach, weißt du, das verstehst du nicht«, sagte er kurz.
»Nein? – Ich verstehe all – alles«, versicherte Tjorven.
»Aber dies hier nun doch nicht«, sagte Melcher.
»Aber du selber, verstehst du das denn?« fragte Tjorven.
Sie lehnte sich gegen das Fensterblech, als ob sie die Absicht hätte, den ganzen Tag dort hängenzubleiben, und Melcher stöhnte.
»Geht es dir nicht gut?« fragte Tjorven.
Melcher sagte, es gehe ihm gut, es würde ihm aber noch besser gehen, wenn sie von hier verschwände. Und da ging Tjorven. Aber nach ein paar Schritten drehte sie sich um und schrie:
»Herr Melcher, weißt du was? Wenn du nicht so schreiben kannst, daß ich es verstehe, dann kannst du es ebensogut lassen.«
Melcher stöhnte von neuem. Zuerst einmal und dann noch einmal. Denn jetzt sah er, wie Tjorven sich auf einem Stein niederließ und sich dort gemütlich einrichtete.
»Wenn ich hier sitze, dann bin ich doch nicht im Wege«, schrie sie.
»Nein, aber Gras mit den Zehen ausrupfen, das kannst du sicher genausogut zu Hause in eurem eigenen Garten tun«, rief Melcher. »Soviel ich weiß, wächst dort mehr Gras.«
Es war allerdings ein schönes sommerliches Bild, mußte Melcher denken – rundliches Kind zwischen Labkraut und Zittergras –, er wußte aber, daß er keine Silbe würde schreiben können, wenn er das Mädchen weiterhin im Blickfeld hätte, sobald er hochschaute. Da hörte er Pelle mit der Milchflasche kommen, und er rief aufgeregt: »Pelle, nimm Tjorven mit! Komm, hier hast du eine Krone* [Schwedisches Geld: 1 Krone = 100 Öre.], ihr könnt euch hinterher jeder ein Eis kaufen. Und ihr braucht euch mit dem Nachhausekommen nicht zu beeilen.«
Pelle hatte eigentlich gehofft, einen einsamen kleinen Spaziergang machen zu dürfen ohne irgendwelches Weibervolk. Er hatte es nötig, die Ohren auszuruhen nach allem auf dem Steg. Aber Eis war Eis, und mit Tjorven allein konnte er es wohl aushalten. Sie war durchaus friedlich und nett, wenn Stina nicht dabei war.
Mit innigem Wohlbehagen sah Melcher sie auf dem Pfad zu Janssons Anwesen hin verschwinden, Bootsmann dicht hinter ihnen. Er versuchte, seine Gedanken wieder zu sammeln, und das wäre ihm fast gelungen. Da hörte er von draußen ein Piepsen, und Stina steckte den Kopf über das Fensterblech.
»Schreibst du Märchen?« fragte sie. »Dann schreib doch eins für mich!«
»Ich schreibe keine Märchen«, brüllte Melcher, so daß Malin zusammenzuckte, obgleich sie schon halbwegs bis zum Kaufmann gekommen war.
Stina zuckte nicht zusammen. Sie blinzelte nur ein bißchen. Zwar merkte sie, daß Onkel Melcher nicht so recht vergnügt zu sein schien, aber das kam wohl daher, weil er keine Märchen schreiben konnte, der Ärmste! »Ich kann dir eins erzählen«, sagte sie tröstend, »das kannst du dann aufschreiben.«
»Malin«, schrie Melcher, »Malin, komm und hilf mir!«
Stina betrachtete voller Interesse seine Schreibmaschine.
»Es ist wohl schwer, Bücher zu schreiben? Besonders die Einbände, was? Schreibt Malin die?«
»M-a-l-i-n …!« schrie Melcher.
Ihr braucht euch nicht zu beeilen – das hatte Melcher seinem Sohn Pelle besonders nachdrücklich gesagt. Wie überflüssig, das zu erwähnen. Man sollte meinen, er wisse nichts von Kindern und habe nie Janssons Kuhwäldchen gesehen. Das mußte man durchqueren, wenn man Milch holen wollte, und so gingen sie den kleinen Pfad zwischen den Birken entlang, Tjorven und Pelle und Bootsmann. Kühe waren zur Zeit nicht im Wäldchen, was Pelle ein wenig grämte. Aber dort wuchsen Walderdbeeren, und dort wuchsen Heidelbeeren, Schmetterlinge flatterten dort herum, Ameisen hatten dort ihre Ameisenpfade und ihre Ameisenhaufen, dort gab es große, bemooste Steine, auf die man hinaufklettern konnte, und in einer Birke wußte Tjorven ein Vogelnest. Wahrhaftig, es bedurfte keiner besonderen Aufforderung, zwei Stunden lang durchs Gehölz zu streifen. Es gab auch einen Fuchsbau, da wohnte der Fuchs mit seinen Jungen, erzählte Tjorven. Sie war selbst eines frühen Morgens mit ihrem Papa dagewesen und hatte die Fuchsjungen draußen vor dem Bau spielen sehen.
Aber jetzt, als sie Pelle den Fuchsbau zeigen wollte, konnte sie ihn nicht finden. Bootsmann jedoch fand ihn. Lange hatte er geglaubt, Tjorven und Pelle seien zu ihrer geheimen Hütte unterwegs, aber sobald er verstand, wonach Tjorven eigentlich suchte, sah er sie an, als dächte er so ungefähr: Hummelchen, weshalb fragst du mich nicht gleich? Und da führte er sie geradewegs zum Bau. Der lag ganz hinten im Wald und so versteckt, wie ein Fuchs es sich nur wünschen konnte. In einer Steinmauer. Pelle zitterte vor Erregung. Dort unten in den finsteren Gängen war der Fuchs. Was machte es schon, wenn man ihn nicht zu sehen bekam, wenn man doch wußte, daß er dort drinnen saß mit seinem roten Fell und seiner langen Lunte und den blitzenden Augen. Das genügte Pelle.
Sie machten auch einen kleinen Abstecher zu ihrer geheimen Hütte, da sie es ja überhaupt nicht eilig hatten. Die Hütte hatten sie aus Protest gebaut gegen Teddy und Freddy und Johann und Niklas, diese vier Geheimen. Die hatten irgendwo eine geheime Hütte, und sie hatten gesagt, niemand auf der Welt, der nicht mit in ihrem geheimen Klub sei, dürfte jemals erfahren, wo diese Hütte sei. Tjorven und Pelle hatten sich sofort angeboten, in den geheimen Klub einzutreten, aber das ging auch nicht, denn sie seien zu klein, sagte Teddy, und die geheime Hütte liege weit weg auf einer anderen Insel, einer geheimen, unbewohnten Insel, und dort dürfe niemand hinkommen, der noch nicht zwölf Jahre alt sei, so laute das Gesetz, sagte Freddy. Zwei Wochen lang waren die vier Geheimen jeden Morgen in ihrem Kahn losgerudert, daß es nur so schäumte, während Tjorven und Pelle und Stina wütend auf dem Steg zurückblieben und fühlten, daß sie zu klein waren.
»Gar nicht sind wir zu klein«, sagte Tjorven. »Wir können uns auch eine geheime Hütte bauen.«
Und so hatten sie sich eine in Janssons Kuhwäldchen gebaut, sogar Stina hatte mitmachen dürfen.
Aber nach zwei Tagen, als sie gerade so schön dasaßen und geheim waren, war Niklas gekommen und hatte den Kopf zu ihnen hineingesteckt. Eine feine Hütte sei das, hatte er gesagt, und auch geheim. »Man sieht sie allerdings jedesmal, wenn man Milch holen geht.«
Er hatte ein bißchen gelacht, und wenn er es auch gar nicht so gemeint hatte, so wurde ihre Hütte doch auf einmal so armselig und klein, nichts als ein paar Bretter und eine alte Decke. Es machte kein bißchen Spaß mehr, dort zu sitzen.
Heute aber war der Freude kein Ende; denn kann man sich ein größeres Glück vorstellen – als sie endlich den Hof erreichten, Tjorven und Pelle, da wollte Onkel Jansson gerade zwei von seinen Kühen nach Storholmen hinüberbefördern! Er hatte dort auch eine Viehkoppel.
Pelle geriet ganz aus dem Häuschen, als er die Kühe sah, und warf die Milchflasche, ohne nachzudenken, an der Stallecke von sich. »Lieber guter Onkel Jansson, wir dürfen doch mit rüberfahren?« bettelte er.
Er hatte noch nie eine Kuhfähre gesehen, noch nie in seinem Leben hatte er Kühe mit einem Schiff fahren sehen. Nur auf Saltkrokan konnte man etwas so Merkwürdiges erleben. Tjorven bildete sich ein, daß sie mehr oder weniger über die ganze Insel zu bestimmen hatte, und so war es daher auch ihr Verdienst, daß es hier einen Fuchsbau gab und Kuhfähren. Jetzt verhandelte sie mit Onkel Jansson, denn es wäre ja schön, wenn sie Pelle noch ein kleines Vergnügen verschaffen könnte, und wenn sie ihn nur mit ein paar Kühen zusammenbrächte. Onkel Jansson hatte seine Bedenken, weil Bootsmann soviel Platz wegnahm wie eine halbe Kuh. Aber Tjorven versicherte, er könne sich zusammendrücken und ganz, ganz platt werden, und nun führte sie Pelle im Triumph auf die Fähre.
Es war eng, Pelle hatte eine von den Kühen ganz dicht vorm Gesicht, aber das war nur schön. Er streichelte ihr feuchtes Maul, und sie leckte seine Finger mit ihrer rauhen Zunge. Da lachte Pelle und machte ein zufriedenes Gesicht.
»Ich wünschte, ich hätte eine Kuh«, sagte er. »Diese möchte ich haben. Sie hat so treue Augen.«
Tjorven zuckte mit den Schultern. »Das haben doch alle Kühe.«
Pelle bekam keine Kuh, weder an diesem noch an einem anderen Tag. Es passierte ihm aber trotzdem etwas Märchenhaftes, und das begann genau auf Storholmen. Bei einem Kaninchenstall hinter einer Fischerhütte. Bei diesem Kaninchenstall stand Knutte Österman, ein dreizehnjähriger rothaariger Junge, ein guter Freund von Tjorven und glücklicher Besitzer von drei weißen Kaninchen, deren Anblick Pelle derart blendete, daß er kaum reden konnte.
»In einer Stunde geht die Fähre nach Saltkrokan zurück«, hatte Onkel Jansson gesagt, bevor er Tjorven und Pelle auf der Insel laufen ließ. »Seid ihr dann nicht am Steg, müßt ihr rüberschwimmen.«
»Du kannst ganz beruhigt sein«, sagte Tjorven. Und dann nahm sie Pelle mit zu Knutte Österman, dem glücklichen Kaninchenbesitzer.
Dem glücklichsten der Welt nach Pelles Meinung.
»Kauf dir doch selber eins«, sagte Knutte, nachdem Pelle lange dagestanden und seine Kaninchen angehimmelt hatte. »Rulle auf Lillasken hat junge Kaninchen, die er verkauft.«
Was Knutte da sagte, hörte sich so an, als wäre es die einfachste Sache von der Welt, etwas, was man täglich tat, wenn einem gerade danach war. Pelles Atem ging schwer. Konnte man sich wirklich so ohne weiteres ein Kaninchen kaufen, war es möglich, daß er das auch tun konnte? Aber was würde Papa sagen, und was würde Malin sagen, und wo sollte er das Kaninchen unterbringen? Die Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum, aber da fiel ihm plötzlich etwas ein, und der Glanz in seinen Augen erlosch ebenso rasch, wie er entzündet worden war.
»Ich hab ja kein Geld.«
»Hast du doch«, sagte Tjorven. »Du hast eine Krone, und wenn ich Rulle auf Lillasken sage, das reicht, dann reicht es.«
»Ja aber … aber …« stammelte Pelle.
»Nehmt unseren Kahn«, sagte Knutte, »ihr seid in fünf Minuten rübergerudert.«
Das war so was, das man nicht tun durfte. Weder Pelle noch Tjorven durften allein Boot fahren.
»Aber nur fünf Minuten«, sagte Tjorven. »Das ist ja fast nichts.«
Sie regelte alles. Pelle war wie gelähmt und leistete keinen Widerstand. Sie zerrte ihn zu Knuttes Kahn hinunter, und bevor Pelle noch so recht begriffen hatte, was da vor sich gehen sollte, hatte sie ihn über den schmalen Sund nach Lillasken gerudert und ihn Rulle als Großanwärter auf Kaninchen vorgestellt.
Und dort gab es wahrhaftig Kaninchen, lange Reihen von Kaninchenställen hinter Rulles Holzschuppen mit schwarzen und weißen und grauen und gefleckten Kaninchen in jeder Größe. Pelle drückte die Nase gegen die Drahtgitter und spürte den lieblichen Geruch von Kaninchen und Heu und faden Löwenzahnblättern. Er blieb vor jedem Käfig lange stehen und schaute jedem einzelnen Kaninchen in die Augen. In einem Käfig aber saß ein kleines einsames, puscheliges, weiß-und braungeflecktes Kaninchen und fraß Löwenzahnblätter, wobei seine Nase auf und nieder ging.
»Das da«, sagte Pelle. Dann sagte er nichts weiter, betrachtete nur das Kaninchen und überlegte, wie es wohl wäre, wenn man es auf dem Arm hätte.
»Es ist das häßlichste von der ganzen Bande«, sagte Tjorven. Pelle guckte das Braungefleckte zärtlich an.
»Wirklich? Aber es hat so was Treues in den Augen, finde ich.«
Rulle auf Lillasken war ein alter Junggeselle, der allein auf seiner Insel lebte und sich von Fischfang und Kaninchenzucht ernährte. Einmal in der Woche fuhr er nach Saltkrokan hinüber und kaufte in Grankvists Geschäft seinen Schnupftabak und seinen Kaffee und was er sonst noch brauchte. Darum hatte er Tjorven nicht entgehen können, ebensowenig wie irgendein anderer Mensch in den Schären um Saltkrokan.
Und nun stand sie vor ihm und hielt Pelles Krone in der Faust.
»Du kriegst eine Krone für das da«, sagte sie und zeigte auf das Braungefleckte. »Ja oder nein?«
»N-ja«, sagte Rulle zögernd solch einem schamlosen Gebot gegenüber. Da drückte Tjorven ihm das Geldstück in die Hand.
»Vielen Dank. Hab ich's doch gewußt.«
Sie öffnete schnell den Kaninchenstall, zerrte das Kaninchen heraus und legte es Pelle in den Arm.
»Da hast du's.« Und Rulle wieherte ganz vergnügt. »Du verstehst es, Geschäfte zu machen, Tjorven, das muß ich sagen! Aber warte nur, bis ich das nächste Mal Schnupftabak kaufe.«
Pelle hielt das Kaninchen im Arm. Er machte die Augen zu und spürte, wie weich es war, oh, ganz weich und sanft. Und plötzlich kam ihm sein unerhörtes Glück zum Bewußtsein. Es tat beinahe weh. Dies war das Seligste, was einem passieren konnte, und es war ihm passiert.
»Doch, doch, das gibt einen schönen Braten ab, wenn es mal groß ist«, sagte Rulle zufrieden.
Pelle wurde weiß um die Nase.
»Das soll nie ein Braten werden, niemals«, sagte er heftig.
»Wofür willst du es denn sonst haben?« fragte Rulle.
Pelle drückte das Kaninchen an sich.
»Als meins! Ich will es nur als meins haben.«
Und Rulle hatte kein hartes Herz. Er gab zu, daß man ein Kaninchen auch auf diese Weise besitzen konnte, obwohl er selber nie auf den Gedanken gekommen war. Es war rührend, einen Jungen zu sehen, den ein kümmerliches kleines Kaninchen so unfaßbar glücklich machte. Rulle wurde richtig munter. Er holte eine Holzkiste für Pelle, in der er das Kaninchen tragen konnte, und begleitete ihn schmunzelnd bis an den Steg hinunter. Tjorven saß schon an den Riemen.
»Es ist heute warm und schön«, sagte Rulle und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du kannst von Glück sagen, Tjorven, daß du nicht so weit rudern mußt.«
Tjorven guckte mit Kennermiene zu den Wolken empor, die sich hinter Lillasken am Himmel aufgetürmt hatten, und sagte düster: »Wir kriegen Gewitter!«
Ja, es war allerdings gut, daß sie nicht so weit zu rudern brauchte. Sie war tapfer wie ein Heerführer, aber einen schwachen Punkt hatte sie. Sie hatte Angst vor Gewitter, wenn es ihr auch schwerfiel, das zuzugeben. Und kaum hatte sie angefangen zu rudern, da hörten sie schon das erste schwache Grollen.
Das heißt, Pelle hörte es wohl kaum. Er saß auf der Achterducht und hielt die Kiste auf den Knien und guckte durch die Latten zu seinem Kaninchen hinein. Seinem eigenen Kaninchen. Es mußten kräftige Donnerschläge sein, um Pelle zu wecken.
Es kam ein ordentlicher Knall, der Pelle dazu brachte, aufzuschauen. Er sah Tjorven mit einer Miene dasitzen, als wollte sie anfangen zu weinen, und er fragte verwundert: »Hast du Angst vor Gewitter?«
Tjorven wand sich.
»Nee, gar nicht – nur manchmal – nur wenn's da ist.«
»Ach was, das ist doch nicht weiter gefährlich«, sagte Pelle und fühlte mit Stolz, daß er ausnahmsweise einmal mutiger war als Tjorven. Allerdings saß er nicht gern eine ganze Nacht in der Küche und horchte auf den Donner, aber er fürchtete sich nicht davor, obgleich es sonst ziemlich viel gab, vor dem er sich fürchtete.
»Teddy meint auch, das Donnern ist nicht gefährlich«, sagte Tjorven. »Aber wenn das Donnern losgeht, dann höre ich, wie es sagt: ›Klar bin ich gefährlich!‹, und dann glaube ich dem Donnern mehr als Teddy.«
Sie hatte kaum ausgesprochen, da krachte es von neuem, und das klang wirklich gefährlich. Tjorven schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht.
»Oh, die Riemen«, rief Pelle. »Guck mal, die Riemen!«
Und das tat Tjorven. Sie schaute nach den Riemen, die schwammen beide ganz still auf dem Wasser und waren schon mehrere Meter vom Kahn entfernt.
Tjorven hatte schon oft Riemen verloren, das machte ihr keine Angst. Aber jetzt war Gewitter. Da wollte sie nicht in einem Kahn auf dem Wasser sitzen und nicht an Land kommen können. Daher schrie sie nach Rulle, und Pelle half ihr. Sie konnten ihn noch immer sehen. Er war auf dem Weg den Abhang hinauf zu seinen Kaninchenställen, drehte sich aber nicht um, als sie nach ihm riefen.
»Du hörst wohl schlecht?« schrie Tjorven, und so verhielt es sich zweifellos. Bald konnten sie ihn nicht mehr sehen.
Der Kahn trieb sanft mit Strömung und Wellen. Pelle überlegte erschrocken, ob man das hier wohl Schiffbruch nannte und ob er wirklich sterben müsse, jetzt, wo er ein Kaninchen bekommen hatte.
»Nicht, wenn du im Kahn bleibst, bis wir auf Knorken angetrieben sind«, sagte Tjorven.
Um Storholmen und Lillasken liegen die Holme so dicht wie die Rosinen in einem Rosinenkuchen. Einer davon ist Knorken, und jedermann konnte erkennen, daß hier nichts aus einem Schiffbruch wurde, denn der Kahn hatte zweifellos beschlossen, gerade dorthin zu treiben. Auch in eine passende kleine Bucht. Tjorven steuerte ihn dorthin, indem sie mit der Schöpfkelle platschte.
Sie kamen gerade so weit, den Kahn aufs Ufer zu ziehen, da sahen sie den Regen von Storholmen herüberkommen. Er stand wie eine Wand über dem bleigrauen Wasser, und er kam schnell näher. In wenigen Sekunden würde er über ihnen sein wie die Sintflut.
»Lauf«, sagte Tjorven und lief selbst voraus, auf die schützenden Bäume hinter den Uferfelsen zu. Pelle stürzte hinterher, so schnell er mit seiner Kaninchenkiste im Arm konnte, während Bootsmann ihn in die Kniekehlen puffte, um nachzuhelfen.
Da stieß Tjorven ein Geheul aus. Ein Freudengeheul.
»Die Hütte!« rief sie. »Wir haben die Hütte gefunden!«
Und wahrhaftig, das hatten sie. Hier lag sie, diese gesegnete Hütte, von der sie den ganzen Sommer hatten erzählen hören. Eine schönere Hütte konnte man wohl auf keiner Insel im ganzen Schärengebiet finden. Sie lag unter üppigen Fichten versteckt, sie war fast wie ein richtiges Haus gebaut, mit Moos abgedichtet, und das Dach bestand aus Brettern und Moos. In der Tat, so mußte eine Hütte aussehen! Und sie hätten sie in keinem besseren Augenblick finden können. Denn jetzt brach eine Sintflut über Knorken herein. Sie saßen in der Hütte und schauten zwischen den Fichten zu, wie irrsinnig der Regen das Wasser und die Uferfelsen peitschte.
»Und hier sitzen wir und bleiben trocken«, sagte Tjorven zufrieden. »Ich werde mich aber bei Teddy und Freddy bedanken, wenn ich nach Hause komme.«
»Wir kommen nie nach Hause«, sagte Pelle, und so seltsam es war, er fühlte keine Angst, als er das sagte. Denn in dieser Hütte zu sitzen bei prasselndem Regen, das war sogar schöner, als im Bootshaus zu sitzen. Außerdem hatte er ein Kaninchen, das half gegen alles. Er öffnete die Kiste und streichelte sein Kaninchen.
»Du hast doch nicht etwa Angst«, sagte er. »Das brauchst du nicht, ich bin ja bei dir.«
Tjorven saß da und strahlte vor Zufriedenheit. Das würde einen Spaß geben, wenn sie nach Hause kam und mit Teddy und Freddy über geheime Hütten redete, darauf freute sie sich wirklich. Und sie hatte überhaupt keine Angst, daß sie etwa bis an ihr Lebensende auf Knorken bleiben müßten. Sie hatte jetzt überhaupt keine Angst mehr, denn das Gewitter hatte aufgehört, und bald hörte es auch auf zu regnen. In dieser Hütte konnte man spielen, dachte Tjorven bei sich. Daß man in Seenot geraten und auf eine wüste Insel verschlagen worden war wie Robinson, von dem hatte Freddy erzählt. Und der hatte sicher so eine Hütte gehabt. Pelle konnte Freitag sein. Wer Robinson war, darüber brauchte man nicht lange nachzudenken. Aber sie wollte ein Robinson sein mit einem gewöhnlichen, gemütlichen kleinen Haushalt, ein Robinson, der zum Nachtisch Walderdbeeren aß. Sie sah sie draußen dicht an dicht im Gras wachsen. Wäre nun Freitag vernünftig, dann könnte er Teddys alte Angelrute nehmen, die vor der Hütte stand, und zum Wasser hinuntergehen und ein paar Barsche angeln. »Wenn man nämlich in Seenot ist, muß man immerzu essen«, sagte Tjorven.
Aber Pelle sagte, er wolle lieber verhungern, als heute oder wann immer Würmer zu quälen.
»Dann gibt's eben nur Walderdbeeren«, sagte Tjorven und stapfte in das nasse Gras hinein.
Pelle nahm sein Kaninchen mit und ging zum Wasser hinunter. Nicht um Barsche zu angeln, sondern weil er versuchen wollte, aus der Seenot herauszukommen. Er hatte eine alte Zeitung in der Hütte gefunden. Wenn man sich am Ufer aufstellte und damit winkte, dann sah es vielleicht jemand auf Storholmen, Onkel Jansson oder Knutte oder sonst jemand.
Pelle winkte, bis ihm die Arme weh taten, aber es nützte nichts. Er war noch ebensosehr in Seenot wie vorher, und drüben auf Storholmen war niemand zu sehen.
Jetzt war sicherlich mehr als eine Stunde vergangen, und Onkel Jansson hatte wohl seine Kuhfähre genommen und war wieder nach Saltkrokan heimgefahren. Sicher war er ärgerlich, und die zu Hause waren auch böse, wenn sie erfuhren, daß Tjorven und Pelle ohne Erlaubnis aufs Wasser hinausgerudert und abhanden gekommen waren.
Es war schlimm, daran zu denken. Aber Pelle hatte ein Kaninchen, das half beinahe über alles hinweg.
Das Wasser kräuselte sich, blau und glitzernd, jetzt schien wieder die Sonne. Pelle saß auf einem Stein am Ufer mit dem Kaninchen im Arm. Da fiel ihm ein, daß er es taufen müßte.
»Du kannst nicht einfach nur ›mein Kaninchen‹ heißen, du mußt einen richtigen Namen haben, das ist dir wohl klar.«
Er dachte lange nach, dann tauchte er die Hand ins Wasser und taufte das Kaninchen.
»Du sollst Jocke heißen, Jocke Melcherson, daß du's weißt.«
Es war noch feiner, wenn man ein Kaninchen besaß, das einen Namen hatte. Jetzt war es kein beliebiges puscheliges Kaninchen, sondern ein ganz besonderes, das Jocke hieß. Pelle probierte aus, wie es klang. »Jocke! Mein Jockelchen!«
Aber da rief Robinson nach Freitag, und der kam gehorsam. Robinson hatte Hasenklee in einem Einmachglas auf die Zuckerkiste gestellt, die als Tisch in der Hütte diente, und rote Walderdbeeren auf grünen Blättern gedeckt, denn dieser Robinson war von häuslicher Art und einer, der alle Walderdbeeren gerecht mit seinem Sklaven teilte.
Als sie gegessen hatten, sagte Tjorven: »Das war mal gut! Aber ich glaube, jetzt fahren wir nach Hause.«
Pelle wurde fast ärgerlich. Weshalb sagte Tjorven solche Dummheiten, wo sie doch wußte, daß sie hier nicht wegkommen konnten? »Natürlich können wir hier wegkommen«, sagte Tjorven. »Ich kann den Motor anlassen. Komm, Bootsmann!«
Es gab nirgendwo auf der Welt einen Hund wie Bootsmann, das wußte Pelle. Er war ja den ganzen Sommer mit ihm zusammengewesen, hatte jeden Tag mit ihm gespielt, ihn verehrt und bewundert wegen all der merkwürdigen Dinge, die er konnte. Bootsmann konnte Versteck spielen und auf dem Schaukelbrett schaukeln, er konnte Sachen finden und Sachen holen. Einmal holte er sogar Stina aus dem Wasser, als sie hineingefallen war.
Aber noch merkwürdiger als alles andere war das, was er jetzt tat, fand Pelle. Oh, wenn doch Papa und Malin hier wären und es sehen könnten! Wenn sie doch sehen könnten, wie Bootsmann schwimmend den Kahn hinter sich her zog! Die Bootsleine war an seinem Halsband befestigt, und er schwamm ruhig und stetig schnurstracks nach Storholmen hinüber, während Tjorven und Pelle im Boot saßen und wie die Prinzen fuhren, ohne auch nur eine Flosse zu rühren. Oh, was für ein Hund! Tjorven fand es sicher gar nicht so aufsehenerregend, aber Pelle saß im Kahn und war von einer solchen Liebe zu Bootsmann erfüllt, daß sein Herz schier brechen wollte.
»Er ist klüger als irgendein Mensch«, sagte Pelle. Aber in der nächsten Sekunde entdeckte er etwas, was ihn ausrufen ließ: »Guck mal, da sind die Riemen!«
Wahrhaftig, da lagen sie ganz ruhig und schwappten in der Dünung, nah bei einer kleinen Felseninsel.
»Was für ein Glück«, sagte Tjorven, als sie sie geborgen hatte. »Knutte wäre ganz schön wütend geworden, wenn wir ohne Riemen nach Hause gekommen wären.«
Dann umdüsterte sich plötzlich ihre Miene. Man hätte meinen können, die Furcht vor dem Gewitter sei wieder zurückgekehrt.
»Ich weiß noch jemanden, der jetzt wütend ist: Onkel Jansson.«
Er war jähzornig, das wußte sie, denn sie kannte alle Menschen auf dieser Inselgruppe recht gut. Onkel Jansson konnte ebenfalls wie das Gewitter donnern, wenn er böse wurde, und Tjorven würde ihm jetzt am liebsten nicht begegnen.
»Aber er ist sicher längst nach Saltkrokan zurückgefahren«, sagte Pelle, »und das ist auch nicht besser.«
Sie legten am Storholmsteg an. Tjorven band Bootsmann los und machte den Kahn fest. Als Bootsmann das Wasser abgeschüttelt hatte, schaute er Tjorven mit seinen klugen, ein wenig traurigen Augen an, als ob er sagen wollte: »Hummelchen, soll ich noch mehr für dich tun?«
Da nahm Tjorven seinen großen Kopf zwischen ihre Hände und sah ihm tief in die Augen.
»Bootsmann, weißt du was«, sagte sie, »du bist mein einziger kleiner Nödelhund.«
Kein Mensch war zu sehen. Knutte nicht und Onkel Jansson nicht. Aber die Kuhfähre lag noch immer da, das konnte nur bedeuten, daß Onkel Jansson auch noch auf der Insel war und vermutlich herumrannte wie ein Tobsüchtiger und sie suchte.
Sie standen auf dem Anleger und fühlten sich ganz elend. Da sahen sie plötzlich jemanden den Abhang von Östermans heruntergestürmt kommen. Es war Onkel Jansson, oh, und wie schnell er kam! Tjorven machte ängstlich die Augen zu. Jetzt hieß es nur, die Schelte hinzunehmen.
Als Onkel Jansson am Landungssteg anlangte, japste er so, daß er kaum sprechen konnte.
»Ihr armen Dinger«, sagte er, »da steht ihr und wartet! Oje, oje, aber seht ihr, ich mußte zuerst noch einen Zaun ausbessern, und dann fing es an zu regnen, und dann bin ich zu Östermans gegangen, und da bin ich hängengeblieben. Ihr armen Kinderchen, habt ihr lange gewartet?«
»Oooch nein, nicht so schlimm«, sagte Tjorven. »Und es macht gar nichts!«
Nach vier Stunden ununterbrochener Arbeit stülpte Melcher zufrieden die Haube über seine Schreibmaschine und ordnete die Manuskriptseiten auf dem Tisch. Da erschien Pelle draußen vor seinem Fenster. »Sieh einer an, da ist ja schon der kleine Pelle mit der Milch«, sagte Melcher. »Das ist aber schnell gegangen!«
Melcher irrte sich. Es war nicht der kleine Pelle mit der Milch, es war der kleine Pelle ohne die Milch. Die Milchflasche stand noch immer an der Ecke von Janssons Stall. Aber Pelle hatte etwas anderes mitgebracht, und das hielt er unterhalb des Fenstersimses verborgen, so daß Melcher es nicht sehen konnte.
»Papa, du hast doch gesagt, ich würde jetzt bald ein Tier bekommen, nicht wahr?«
Melcher nickte.
»Ja, ja, wir wollen uns das mal in aller Ruhe überlegen.«
Da setzte Pelle sein Kaninchen vor ihm auf den Tisch, und Jocke wischte erschrocken die Manuskriptseiten in alle Windrichtungen.
»Was sagst du dazu?« fragte Pelle.
Malin hatte auch einiges dazu zu sagen, als Pelle und Tjorven in die Küche kamen und Jocke vorzeigten.
»Mein lieber Pelle, wir fahren doch in einer Woche in die Stadt. Wo sollen wir dann mit Jocke hin?«
Deswegen brauchte sie sich aber keine Sorgen zu machen. Onkel Jansson hatte versprochen, daß Jocke in seinem Stall wohnen dürfte, bis Pelle im nächsten Sommer wiederkäme.
Es war ein großer Augenblick in Pelles Leben. Er war so stolz auf sein Kaninchen, daß es um ihn herum leuchtete, und noch mehr Spaß hatte er, als Johann und Niklas und Teddy und Freddy in die Küche gestürzt kamen und es sich ansehen wollten. Selbst Tjorven wurde ein wenig neidisch.
»Ich möchte auch ein Kaninchen haben«, sagte sie.
»Du kannst ein Stückchen von meinem abkriegen«, sagte Pelle. »Das eine Hinterbein kannst du kriegen.«
»Wo hast du denn das ergattert?« fragte Johann eifrig. Er hätte sicher auch gern ein Kaninchen gehabt.
»An einem Ort – wo ich gewesen bin«, sagte Pelle.
Niemand außer Knutte Österman und Rulle auf Lillasken wußte etwas von ihrer Unternehmung mit dem Boot, und Pelle und Tjorven hatten klugerweise vereinbart, daß sie es vor dem Rest der Menschheit geheimhalten wollten. Wenn es auch ein schwerer Entschluß war. Auf diese Weise konnte Tjorven ja mit Teddy und Freddy nicht ihr Gespräch über geheime Hütten haben, auf das sie sich schon so sehr gefreut hatte.
Jetzt kauerte sie auf der Holzkiste in der Küche des Schreinerhauses und sah zu, wie sich die vier Geheimen um Pelles Kaninchen drängten. Pelle war völlig davon in Anspruch genommen, es vorzuführen, sonst hätte er das gefährliche Blitzen in Tjorvens Augen bemerkt und wäre vielleicht unruhig geworden.
»Hoho, jaja«, machte Tjorven plötzlich. »Haltet alles geheim!«
»Was meinst du denn damit?« fragte Teddy.
Tjorven lächelte niederträchtig.
»Seid ihr jetzt nie mehr in eurer geheimen Hütte?«
Die vier Geheimen sahen einander an – die Hütte, die hatten sie fast vergessen! Augenblicklich hatten sie mit dem Wrack draußen an der Landzunge zu tun. Wer hatte da noch Zeit, an Hütten zu denken? Johann erklärte es Tjorven.
»Dann, finde ich, könnt ihr doch verraten, wo eure Hütte ist«, sagte Tjorven.
Aber Freddy beteuerte, diese Hütte solle für alle Ewigkeit geheim bleiben, und niemand, der nicht zwölf Jahre alt und mit im geheimen Klub sei, könne jemals erfahren, wo sie war.
Tjorven nickte nachdrücklich.
»So ist's recht! Haltet nur alles geheim!«
Dann starrte sie aus dem Fenster. Es war, als sähe sie etwas in weiter, weiter Ferne.
»Es gibt viele Walderdbeeren in diesem Jahr«, sagte sie. »Ich möchte mal wissen, ob es auf Knorken auch welche gibt.«
Die vier Geheimen wechselten einen raschen Blick, und in ihre Augen trat eine gewisse Unruhe. Allerdings versuchten sie, diese auch geheimzuhalten, aber Tjorven entging sie nicht, und das genügte ihr, um mit ihrem Tag ganz zufrieden zu sein.
Pelle sah nichts anderes als sein Kaninchen. Von ihm konnte sie jetzt nichts weiter erwarten. Und außerdem war es Zeit für sie, nach Hause zu gehen.
Aber unten bei Södermans Hütte sah sie Stina. Die fuhr ihren neuen Puppenwagen spazieren. So feine Sachen hatte nur jemand, dessen Mama kalte Mamsell in Stockholm war.
Tjorven lief schnell zu ihr hin.
»Fährst du Lovisabet aus? Soll ich dir ein bißchen helfen?«
Stina strahlte sie an.
»Ja, du kannst gern mal schieben.«
Und Tjorven schob den Puppenwagen. Hin und her und auf den Anlegesteg hinaus so weit, wie sie kommen konnte. Hier nahm sie die Puppe hoch.
»Lovisabetchen, du möchtest doch sicher gern mal raus und dich ein bißchen umgucken«, sagte sie und setzte Lovisabet bequem hin mit dem Rücken gegen einen Poller.
»Nee, Lovisabetchen«, sagte Stina streng und hob die Puppe schnell wieder hoch. »Kleine Kinder dürfen nicht auf Stegen sitzen, das weißt du doch!«
Aber Tjorven beruhigte sie.
»Doch, wenn ihre Mama dabei ist. Und Tante Tjorven. Dann dürfen sie.«