Und der Sommer nahm seinen Lauf, Sonnenschein und Regen wechselten miteinander ab. Manchmal stürmte es. Der Fjord hatte weiße Schaumkronen, und alle Häuser und Fensterscheiben der Insel klapperten. Tjorven mußte sich ganz krumm machen, wenn sie zum Anleger hinunter wollte, um den Dampfer zu empfangen, und Stina wäre beinahe ins Wasser geweht worden. Södermans Katze weigerte sich, nach draußen zu gehen, und Söderman selbst hatte drei Tage lang zu tun, um seine Strömlingsnetze zu säubern. Manchmal gab es auch ein Gewitter. Melchersons saßen einmal eine ganze Nacht in der Küche des Schreinerhauses und beobachteten, wie die Blitze zischend ins Wasser niedergingen und der Fjord erleuchtet war wie am hellichten Tag. Mit dumpfem, fürchterlichem Knall rollte der Donner über die Inseln weit draußen im Meer dahin, es hörte sich an wie das Jüngste Gericht. Und wer traute sich da, ins Bett zu gehen?
»Ich kriege dieses Nachtleben allmählich satt«, sagte Pelle schließlich. Nachts herrschte hier auf Saltkrokan überhaupt keine Ordnung. Es mochte noch angehen, daß man aufblieb, weil ein Festessen stattfand oder weil Mittsommer war, aber eine ganze lange Nacht hindurch Gewitter, das fand Pelle anstrengend.
Nisse Grankvist hatte ihm allerdings erklärt, jedes Wetter sei schönes Wetter, und Pelle glaubte Onkel Nisse blindlings. Nur wenn es durchs Dach regnete, zweifelte er ein bißchen. Aber das hörte auch auf, denn eines schönen Tages kletterte sein Vater hinauf und legte Dachpappe und neue Ziegel auf die schlechteste Stelle. Malin hatte verlangt, daß die ganze Familie Melcherson eine Schweigeminute einlegte, während Papa auf dem Dach war. Und wahrhaftig, es half. Er schaffte es ohne jeglichen Zwischenfall.
Ganz so gut ging es aber am folgenden Tage nicht, als er im Mehlbeerbaum einen Nistkasten anbringen wollte; denn kaum war er oben, da krachte er auch schon wieder herunter, den Nistkasten in den Armen. Seine Kinder stürzten ängstlich herbei, Melcher versicherte ziemlich kurz angebunden, es sei nichts passiert. Ihm sei nur plötzlich eingefallen, daß es nicht die rechte Zeit sei, um Nistkästen anzubringen.
»Muß dir das denn so plötzlich einfallen, daß du runterkrachen und dir die Knie aufschlagen mußt?« fragte Malin, als sie ihm hinterher Pflaster auf die Wunde klebte.
Im allgemeinen aber war alles schön und der ganze Sommer eine einzige lange Wonne. Pelle fing schon an, sich vor dem gräßlichen Tag zu graulen, da sie wieder in die Stadt zurückmußten. Er besaß einen alten Kamm mit ebenso vielen Zähnen, wie der Sommer Tage hatte. Jeden Morgen brach er einen Zahn ab, und er sah voller Besorgnis, wie die Zahnreihe Stück für Stück kürzer wurde.
Melcher entdeckte den Kamm eines Morgens, als sie beim Frühstück saßen, und er nahm ihn und warf ihn weg. Es sei verkehrt, sich vor etwas zu graulen, was doch kommen mußte. Man sollte das Jetzt genießen, einen sonnigen Morgen wie diesen, dann sei das Leben nur Glück, fand Melcher. Im Schlafanzug schnurstracks in den Garten hinauszugehen, Gras unter den Füßen zu spüren, am Steg schnell einmal unterzutauchen und sich hinterher an seinen eigenhändig gestrichenen Gartentisch zu setzen, sein Buch oder seine Zeitung zu lesen und seinen Kaffee zu trinken, während die Kinder um einen herumsummten, mehr begehrte er nicht vom Leben. Und da sollte Pelle gefälligst nicht mit einem alten Kamm ankommen. Melcher nahm ihn mit den Fingerspitzen und warf ihn in den Mülleimer. Pelle ließ es ohne Widerspruch geschehen, und als das erledigt war, kehrte sein Vater zu seinem Buch zurück, und Johann und Niklas stritten sich weiter darüber, wer mit dem Abwaschen an der Reihe sei.
Sie waren beide der Meinung, daß ihre Abwaschtage viel zu dicht aufeinanderfolgten, aber Malin versicherte ihnen, jedesmal, wenn hier im Hause abgewaschen werden sollte, gebe es keine Jungen auf der Welt, die so gründlich verschwunden waren wie Johann und Niklas. Ihre Abwaschtage seien so selten, daß sie eigentlich auf ganz Saltkrokan durch allgemeines Flaggen gefeiert werden müßten, behauptete Malin. »Jetzt bist du aber ungerecht«, sagte Niklas. »Wer hat zum Beispiel gestern abgewaschen?«
»Das hat Malin getan, wer sonst?«
Niklas konnte das nicht verstehen. »Komisch. Ich dachte ganz bestimmt, ich wäre es gewesen.«
»Hast du das nicht gemerkt?« fragte Pelle und strich sich Marmelade auf sein Brötchen. »Hast du nicht gemerkt, während du abgewaschen hast, daß du es gar nicht warst, sondern Malin?«
Eine seiner Wespen kam angeschwirrt und wollte auch Marmelade. Pelle hielt ihr freundlich sein Brötchen hin. Er mußte doch seine Haustiere füttern. Pelle war sicher, daß die Wespen allmählich wußten, zu wem sie gehörten. Er saß oft in seinem Giebelfenster und pfiff sie herbei und unterhielt sich mit ihnen, und er hatte ihnen versprochen, sie sollten so lange im Schreinerhaus wohnen dürfen, wie sie wollten.
Interessiert beobachtete er die kleine Wespe, die jetzt angefangen hatte, sich an einigen Körnchen verschütteten Zuckers gütlich zu tun, und er überlegte, was sie wohl dachte und wie es wäre, Wespe zu sein. Waren Wespen traurig oder manchmal ängstlich, so wie Menschen, ja natürlich nicht wie Erwachsene, sondern wie Jungen, die so ungefähr sieben Jahre alt waren? Und wieviel wußten Wespen eigentlich?
»Papa, glaubst du, die Wespen wissen, daß heute der 18. Juli ist?« fragte Pelle. Sein Vater war jedoch in Gedanken vertieft und gab ihm keine Antwort.
»Dieser Tag ein Leben«, murmelte Melcher. »Ja, aber das ist ja ganz ausgezeichnet.«
»Was ist denn da so Ausgezeichnetes dran?« fragte Johann.
»Das steht hier im Buch«, sagte Melcher begeistert. »Dieser Tag ein Leben. Deswegen hab ich ja gerade Pelles Kamm weggeworfen.«
»Steht in dem Buch, daß du meinen Kamm wegschmeißen solltest?« fragte Pelle erstaunt.
»Hier steht ›Dieser Tag ein Leben‹ – das bedeutet, man soll gerade an diesem Tag so leben, als hätte man nur diesen einen. Man soll auf jeden einzigen Augenblick achtgeben und spüren, daß man wirklich lebt.«
»Und da findest du, ich soll abwaschen«, sagte Niklas vorwurfsvoll zu Malin.
»Weshalb nicht«, antwortete Melcher darauf. »Zu merken, daß man etwas ausrichtet, etwas mit seinen eigenen Händen tut, so etwas steigert ja gerade das Lebensgefühl.«
»Dann möchtest du vielleicht abwaschen?« schlug Niklas ihm vor.
Aber Melcher sagte, er habe einen ganzen Haufen anderes zu tun, genug, daß sein Lebensgefühl sich den ganzen Tag lang auf der Höhe befinden werde.
»Was ist denn das, Lebensgefühl?« fragte Pelle. »Sitzt so was in den Händen?«
Malin schaute ihren kleinen Bruder zärtlich an.
»Bei dir sitzt es, glaube ich, in den Beinen. Wenn du sagst, du hast so viel Gerenne in den Beinen, dann ist das Lebensgefühl.«
»Tatsächlich?« sagte Pelle erstaunt; wie viel es doch gab, was man nicht wußte, und dabei war man doch ein Mensch und keine Wespe.
Die Wespen wußten vielleicht nicht, daß heute der 18. Juli war, es war ihnen aber völlig klar, daß ihnen auf einem Tisch an der Giebelseite des Schreinerhauses Marmelade in einer Schale angeboten wurde, und sie kamen in solchen Mengen angeschwirrt, daß Malin sie ärgerlich verscheuchte. Eine davon beschloß, sich zu rächen. Anstatt sich aber auf Malin zu stürzen, ging sie ungerechterweise auf den armen, unschuldigen Melcher los und stach ihn in den Nacken. Melcher fuhr mit Gebrüll hoch und versuchte, ebenso ungerecht, eine Wespe totzuschlagen, die auf dem Tisch herumkroch und nichts Böses getan hatte. Aber Pelle hielt ihn zurück.
»Laß das«, schrie er, »laß meine Wespen in Ruhe! Die möchten doch auch so leben, so, wie du sagst.«
»Was hab ich gesagt?« fragte Melcher. Er konnte sich nicht erinnern, daß er etwas über Wespen geäußert hätte.
»Dieser Tag ein Leben oder wie es gleich war«, sagte Pelle.
Melcher ließ das Buch sinken, mit dem er gerade die Wespe hatte totschlagen wollen.
»Na ja, natürlich, ich mag es aber nicht, wenn sie den Tag damit beginnen, ihren Stachel in mein Genick zu bohren.«
Aber dann klopfte er Pelle liebevoll auf die Wange.
»Du bist zweifellos der tierliebendste kleine Bengel der Welt«, sagte er. »Schade, daß du nicht ein bißchen nettere Haustiere hast.«
Er griff sich ans Genick. Es brannte, aber er wollte sich nicht durch eine Wespe den Morgen verderben lassen. Entschlossen stand er vom Tisch auf. Dieser Tag ein Leben, genau, und er wußte auch, was er machen wollte!
In dem Augenblick brauste ein großes Motorboot auf den Bootssteg zu. Als Johann und Niklas sahen, wer es lenkte, guckten sie einander finster an.
»Ich dachte, wir hätten ihn in der Mittsommernacht endgültig vergrault«, sagte Johann.
Aber Krister hatte offensichtlich alles vergessen, außer daß Malin das hübscheste und blondeste Mädchen in Reichweite hier in den Schären war. Hätte es auf einer anderen Insel eine gegeben, die hübscher und blonder gewesen wäre, so hätte er sein Motorboot vielleicht dorthin gelenkt. Jetzt aber war Melchersons Bootssteg der beste Ankerplatz, den er sich denken konnte.
»Hej, Malin!« rief er. »Kommst du ein bißchen mit raus aufs Wasser?« Ihre drei Brüder hielten den Atem an. Wollte sie wirklich im Motorboot abhauen? Wie sollten sie sie dann bewachen?
Malins Miene hellte sich auf. Man merkte, daß sie nichts gegen eine Bootsfahrt einzuwenden hatte.
»Was meinst du, wie lange wir wegbleiben?« rief sie zurück.
»Den ganzen Tag«, schrie Krister. »Nimm den Badeanzug mit, falls wir eine passende kleine Badeinsel finden.«
Johann schüttelte warnend den Kopf.
»Überleg dir's. Dieser Tag ein Leben – willst du wirklich ein ganzes Leben mit diesem Kerl zubringen?«
Malin lachte. »Es ist natürlich lustiger, zu Hause zu bleiben und abzuwaschen und zu kochen, aber ich muß doch dafür sorgen, daß ihr hin und wieder auch mal Spaß habt.«
»Nett von dir«, sagte Niklas.
Malin schaute fragend zu ihrem Vater hinüber.
»Meinst du, ihr könnt allein fertig werden?«
»Und ob«, sagte Melcher. »Überlaß nur alles deinem begabten Vater. Was gibt's zu essen?«
»Nichts«, gestand Malin. »Aber du kannst ja ein bißchen Hackfleisch bei Märta kaufen und Frikadellen machen, die lassen das Lebensgefühl um etliche Meter in die Höhe schnellen.«
Melcher nickte. Manchmal hatte er ein schlechtes Gewissen wegen Malin. Sie hatte wahrscheinlich mehr zu tun und eine größere Verantwortung, als man einer Neunzehnjährigen zumuten konnte. Er gönnte ihr jedes Vergnügen, das sich ihr bot. Außerdem paßte es gut, daß sie gerade heute nicht zu Hause sein würde, wo er allein sein mußte.
»Fahr nur los, mein Kind«, sagte er. »Leg den Haushalt getrost auf meine Schultern. Ich finde, das macht gerade Spaß.«
Aber lange bevor Malin sich selbst und ihre Badesachen zusammengesucht hatte, stand Pelle unten auf dem Steg. Er knöpfte sich seine Schwimmweste zu und guckte sauer Krister an.
»Hej«, sagte Krister. »Warum ziehst du die Schwimmweste an?«
»Das muß man, wenn man aufs Wasser will«, sagte Pelle kühl.
»Aha, du willst aufs Wasser. Mit wem denn?«
»Mit dir und Malin«, sagte Pelle. »Damit es manierlich zugeht.«
In dem Augenblick kam Malin, und sie warf Krister einen bittenden Blick zu.
»Ach bitte, er darf doch mit, nicht wahr?«
Es war Krister anzusehen, daß ihm eine bösartige kleine Kreuzotter im Boot lieber gewesen wäre, und Malin sagte vorwurfsvoll: »Besonders kinderlieb bist du wohl nicht, wie?«
Da packte Krister Pelle und setzte ihn auf die Ruderbank.
»Doch«, versicherte er, »und ob ich kinderlieb bin! Es müssen aber Mädchen sein, und die müssen neunzehn Jahre alt sein, sonst können sie mir gestohlen bleiben.« Er streckte die Hand aus, um Malin an Bord zu helfen. »Andererseits muß ich dankbar sein, daß du nicht alle deine Brüder mitnimmst.«
Die beiden, die sie nicht mitnahm, standen oben auf dem Hang und guckten dem Boot nach, bis es nur noch ein kleiner Punkt draußen auf dem Wasser war. Dann machten sie sich an die Arbeit, die getan werden mußte. Sie räumten den Tisch ab und trugen alles in die Küche, machten Wasser heiß, wuschen ab und stellten das Geschirr weg. Sie machten es schnell und gut, weil sie es gewohnt waren, solche Sachen schnell und gut zu machen, wenn ihnen nichts anderes übrigblieb, und außerdem saßen Teddy und Freddy auf einem Floß vor Grankvists Steg und warteten ungeduldig auf sie.
Und Melcher wartete ebenso ungeduldig darauf, daß sie verschwanden. Er wollte allein sein, o ja, denn nun wollte er seine Erfindung ausprobieren, seine geheime Wasserrinne, die ihn aus der Sklaverei befreien sollte. Es gab gewisse Dinge, die man eigenhändig machen mußte und die das Lebensgefühl kein bißchen steigerten. Dazu gehörte nach Melchers Ansicht die ewige Wasserschlepperei. Die Götter mochten wissen, was Malin mit all dem Wasser machte, das ihr hineingetragen wurde. Möglich, daß sie ganz im geheimen andauernd kalte Abreibungen machte. Auf alle Fälle waren die Wassereimer ständig leer und sahen einen vorwurfsvoll an, wenn man in die Küche kam. Es verstand sich von selbst, daß Malin mit vier Mannsbildern im Haus nicht Wasser tragen mußte. Das taten Johann und Niklas, falls sie zufällig einmal in der Nähe waren, wenn man gerade welches brauchte und wenn man es ihnen sagte. Aber allzuoft war außer Melcher keiner zur Hand, um die leeren Eimer zu füllen.
Doch das sollte sich jetzt ändern. Von diesem Tag an, dem
18. Juli, sollten hier keine Eimer mehr geschleppt werden, und zwar, weil Melcher Melcherson wußte, wozu eine Wasserrinne da war, wenn er eine sah. Er hatte sie im Schuppen gefunden, in diesem herrlichen alten Schuppen, der so viel Gerümpel enthielt, und in aller Stille hatte er die Rinne mit Sand gescheuert, damit sie sauber wurde. Nun brauchte er sie nur noch anzubringen.
»Nichts einfacher als das«, versicherte Melcher sich selber, und er überlegte auch genau, wie es zu bewerkstelligen wäre.
»Punkt 1. Du errichtest am Brunnen ein Gestell, so daß die Rinne das richtige Gefälle hat. Punkt 2. Du befestigst dieses Gestell mit Draht an einem der untersten Äste des Mehlbeerbaumes. Punkt 3. Du bringst die Rinne in dem Gestell an, machst sie ebenfalls fest und ebenfalls mit Draht und führst sie zum Küchenfenster hinein, o ja, denn du hast sorgfältige Messungen vorgenommen und kontrolliert, daß sie lang genug ist. Punkt 4. Du stellst in der Küche eine große, prächtige Wassertonne unter die Rinne. Punkt 5 und 6. Das Wasser läuft fröhlich blubbernd in die Küche, und du selbst liegst fröhlich blubbernd im Grase draußen und tust keinen Handschlag.«
Das heißt, heraufziehen mußte man das Wasser ja nach wie vor mit Handkraft, aber die Brunnenwinde zu handhaben war nicht anstrengend. Man konnte sich morgens eine bestimmte Zeit vornehmen und fünfzehn, zwanzig Eimer Wasser auf einmal heraufwinden, dann hatte man für den Rest des Tages frei, und Malin konnte kalte Abreibungen machen – wenn sie wollte, alle Viertelstunde eine.
Melcher machte sich mit frischem Mut ans Werk. Es war mühsamer, als er erwartet hatte, aber er redete sich sanft und ermunternd zu, während er beschäftigt war.
»Zwei Dinge gibt es, die sind eine wahre Wonne«, sagte er, als er die Rinne an Ort und Stelle angebracht hatte, »ja, drei Dinge weiß ich, die alle Vorstellungen übertreffen: diese schlau ersonnene Holzrinne, der Weg des Wassers in die Küche und Melcher Melchersons Weg zu immer größerer Weisheit.«
Es verlief alles prima, es sah genauso aus, wie er es sich vorgestellt hatte, und es würde auch genauso funktionieren, das wußte er. Eine Wassertonne hatte er noch nicht besorgen können, und das war schade. Nun mußte er es mit einem einzelnen Eimer ausprobieren, aber dazu brauchte er jemanden, der in der Küche stand und meldete, wenn der Eimer voll war.
Da kam gerade Tjorven, wie vom Himmel gesandt, und Melcher lachte, als er sie sah.
»Tjorven, du bist genau zur rechten Zeit gekommen.«
»Wirklich?« sagte Tjorven begeistert. »Hast du Sehnsucht nach mir gehabt?«
Zwischen Melcher und Tjorven war eine Freundschaft entstanden, wie man sie bisweilen zwischen einem Kind und einem Erwachsenen antrifft, eine Freundschaft zwischen zwei Ebenbürtigen, die vollkommen aufrichtig miteinander sind und das gleiche Recht haben, zu sagen, was sie denken.
Melcher hatte genügend von einem Kind in sich, und Tjorven genügend von etwas anderem, nicht gerade etwas Erwachsenem, aber eine merkwürdige innere Kraft, die es ermöglichte, daß sie tatsächlich als Ebenbürtige oder jedenfalls als beinahe Ebenbürtige miteinander umgehen konnten. Tjorven sagte Melcher mehr bissige Wahrheiten als irgend jemand sonst, und hin und wieder zuckte er auch zusammen und hätte sie am liebsten angeschnauzt; aber er sah schnell ein, daß es bei Tjorven vergeblich wäre. Sie war, wie sie war, und sagte geradeheraus, was sie dachte. Meistens war sie ja auch freundlich, denn sie mochte Herrn Melcher sehr gern.
Er erklärte ihr, was diese Rinne für ein glänzender Einfall sei. Von nun an würde Malin das Wasser geradewegs in die Küche kriegen.
»Das kriegt Mama auch«, sagte Tjorven, »sie kriegt das Wasser auch geradewegs in die Küche.«
»Das stimmt aber doch gar nicht«, sagte Melcher.
»Doch«, sagte Tjorven, »Papa trägt's rein.«
Da lachte Melcher überlegen. Dies hier sei etwas anderes. Und er habe es sich als eine hübsche kleine Überraschung für Malin ausgedacht, sagte er.
Tjorven sah ihn ernsthaft an.
»Und außerdem, weil du dann nicht so viel schuften mußt, was?«
Darauf gab Melcher keine Antwort.
»Jetzt stellst du dich hier neben den Eimer«, erklärte er Tjorven, »und wenn Wasser kommt, dann rufst du. Und wenn der Eimer voll ist, dann rufst du auch. Verstanden?«
»Ja, ich bin doch nicht dumm«, sagte Tjorven.
Melcher lief hinaus zum Brunnen, eifrig wie ein Kind, und ebenso eifrig zog er einen Eimer Wasser herauf und goß ihn in die Rinne. Er lachte vor Freude, als er sah, wie das Wasser zur Küche floß, und er hörte Tjorven dort drinnen schreien. O ja, o ja, wahrhaftig, es funktionierte, wie er es sich vorgestellt hatte!
Jedoch nicht so ganz – leider nicht so ganz! Die Rinne war undicht, das meiste Wasser lief auf die Erde, das sah er zu seinem Gram. Aber so was konnte behoben werden. Tonnen, die undicht waren, legte man ins Wasser, damit sie aufquollen. Das konnte er mit seiner Wasserrinne auch machen, aber Himmel, sie wieder herunterzunehmen, das ging über seine Kraft! All diesen prächtigen Draht – es mochten ungefähr zwei Kilometer sein, die er herumgewickelt hatte –, den kriegte man nicht so im Handumdrehen wieder ab. Ob es nicht ebensogut ging, wenn er eine Menge Wasser durch die Rinne fließen ließ, so wie sie da stand? Auf diese Weise mußte sie ja auch allmählich dicht werden.
Er legte los mit all dem Eifer und der Kraft, die er auf alles anwendete, was er machte, und nachdem er ungefähr zehn Eimer Wasser durch die Rinne geschickt hatte, schien es ihm, als ob sie ein bißchen mehr dichthielte. Oder war es vielleicht nur Einbildung? Da stand er und kratzte sich am Hinterkopf und sah das Wasser auf die Erde strömen, als ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß Tjorven in der Küche schrie und tobte. Er hatte ein Gefühl, als hätte sie es schon ziemlich lange getan, ohne daß er es gemerkt hätte, und er rief eifrig: »Ist es da jetzt voll?«
Tjorvens grimmiges Gesicht tauchte am Fenster auf.
»Nee«, sagte sie, »nicht die ganze Küche! Bloß bis zur Schwelle.«
Und dann sagte sie: »Bist du schwerhörig, Herr Melcher?« Es stand außer Zweifel, daß die Rinne besser funktionierte, als Melcher angenommen hatte. Wenn auch das meiste Wasser auf die Erde geflossen war, so langte der Rest doch noch, den Eimer wie auch den Küchenfußboden zu füllen.
Johann und Niklas kamen eine Weile später ins Haus. Sie fanden ihren Vater auf dem Fußboden, einen Scheuerlappen in der Hand, und fragten erstaunt:
»Scheuerst du die Küche?«
»Nee«, sagte Tjorven, die auf der Holzkiste kauerte und zuguckte, »er hat nur eine hübsche kleine Überraschung für Malin gemacht. Jetzt hat sie das Wasser direkt in die Küche gekriegt.«
»Raus«, brüllte Melcher, »alle miteinander raus!«
Aber fern von Melchers netten Überraschungen genoß Malin ihren Sommertag, daß sie es bis in die Zehenspitzen spürte. Dieser Tag ein Leben – o ja, da war es ihr geglückt, ein bißchen vom Nötigsten mitzukriegen. Die Sonne und das Wasser und der sanfte Sommerwind, der gute, harte, warme Fels, auf dem sie lag, der Blumenduft, der über sie hinwegstrich und sich mit den Gerüchen vom Meer mischte, oh, alle diese kleinen, wunderbaren grünen Holme mit ihren kahlen grauen Uferfelsen, ihren Blumen und ihren Seevögeln – wie konnte man einen Tag und ein Leben besser verschwenden als auf so einem Felsen? Konnte es etwas Seligeres geben, als so in der Sonne zu liegen und Vögel fliegen zu sehen und dem Schwappen der Dünung gegen den Felsen zu lauschen? Natürlich, ohne Krister wäre die Seligkeit vielleicht größer gewesen, denn sein Geschwafel übertönte das leichte Wellengeplätscher. Dieses Geschwafel begann sie zu reizen, nicht sehr, nur ein wenig, es war nur wie ein unbestimmter Wunsch, daß er bald still sein möge, aber sie wußte, er würde nicht still sein. Als sie am Mittsommerabend an Janssons Bucht saßen, hatte sie ihm zu verstehen gegeben, wie gern sie ganz stumm dasaß und ganz allein war. »Nicht immer, Gott behüte, und nicht gerade jetzt«, hatte sie rasch versichert, aber trotzdem – manchmal fühlte sie, daß sie allein sein müsse. Das hatte sie gesagt.
»Ich kann auch allein sein«, hatte Krister ihr versichert, »aber es kommt ganz darauf an, mit wem. Mit dir könnte ich wer weiß wie lange allein sein.«
Armer Krister, er durfte auch jetzt nicht mit Malin allein sein. Pelle mochte sein Geschwafel auch nicht. Trotzdem hatte er sich so nah neben den beiden niedergelassen, wie er nur konnte, damit ihm nicht ein einziges Wort entging. Er sammelte Steine am Ufer und schaute kleinen Ukeleien im Wasser zu, hielt aber die ganze Zeit die Ohren weit aufgesperrt.
»Ich hatte vor, für eine Woche nach Åland hinüberzuspritzen«, sagte Krister. »Mit dem Motorboot. Willst du mit?«
Pelle guckte auf. »Meinst du mich?«
Krister konnte Pelle wahrheitsgemäß versichern, daß er ihn nicht meinte. Die er aber meinte, die lächelte nur und antwortete nicht.
»Ach, komm doch mit, Malin, ja?« sagte Krister eifrig. »So gescheit und verständig, wie du aussiehst, wirst du doch die Gelegenheit wahrnehmen, wenn sie sich dir bietet.«
»Nein, ich werde nicht mit dir nach Åland fahren«, sagte Malin, »nein, denn, siehst du, ich bin so gescheit und verständig, wie ich deiner Meinung nach aussehe.«
»Schön abgeblitzt, was?« sagte Pelle und hob einen hübschen kleinen weißen Stein auf.
»Wie lustig das doch ist, wenn Brüder alles hören, was man sagt«, sagte Krister. Er schlug Pelle vor, ein bißchen weiter am Ufer entlangzugehen. Es sah aus, als gäb es dort viel schönere
Steine. Aber Pelle schüttelte den Kopf.
»Nee, dann höre ich ja nicht alles, was du sagst.«
»Weshalb willst du denn alles hören, was ich sage?« fragte Krister. »Findest du es so interessant?«
Pelle schüttelte wieder den Kopf.
»Nee, ich finde es dumm.«
Krister war daran gewöhnt, daß die Leute ihn mochten, Kinder natürlich nicht, denn aus denen machte er sich nichts. Aber jetzt ärgerte er sich trotzdem, daß dieser kleine Knirps hier ihn überhaupt nicht mochte, und er wollte gern wissen, warum.
»Aha, du findest mich also dumm«, sagte er in freundlicherem Ton, als er ihn bisher Pelle gegenüber angeschlagen hatte. »Es hat doch aber sicher dümmere Jungs gegeben als mich, die mit Malin ausgegangen sind?«
Pelle sah ihn schweigend und forschend an und gab keine Antwort. »Oder etwa nicht?« fragte Krister.
»Ich denke gerade nach«, sagte Pelle.
Malin lachte, und das tat Krister auch, wenn auch nicht ganz so herzlich. Pelle gab nach einigem Nachdenken zu, daß es vielleicht einen oder zwei gegeben habe, die dümmer gewesen seien als Krister.
»Wie viele sind es denn überhaupt gewesen, so alles in allem?« fragte Krister neugierig. »Kann man sie zählen?«
»Ja, stell dir vor, man kann sie zählen«, sagte Malin. Sie erhob sich rasch und sprang kopfüber ins Meer.
»Darüber erfährst du übrigens nichts«, sagte sie, als sie die Nase wieder über Wasser hatte. Aber Pelle hatte nichts dagegen, Auskunft zu geben. »Zwei Dutzend mindestens«, sagte er. »Die rufen an, ewig und immer, Tag für Tag … wenn wir also in der Stadt sind. Dann antwortet Papa am Telefon: ›Dies ist der automatische Anrufbeantworter der Familie Melcherson. Malin ist nicht zu Hause.‹« Malin machte die Hand hohl und bespritzte Pelle mit Wasser.
»Jetzt finde ich, du könntest ein Weilchen den Mund halten.«
Dann legte sie sich auf den Rücken und ließ sich treiben, und während sie so lag und in den blauen Himmel hinaufsah, überlegte sie, wer die zwei seien, die dümmer gewesen waren als Krister. Aber sie konnte sich an keinen einzigen erinnern. Und da wurde ihr plötzlich klar, wieviel schöner dieser Tag wäre ohne ihn. Dieser Tag und alle anderen Tage. Und sie beschloß, jetzt und hier, daß sie heute zum letzten Mal mit Krister ausgewesen sei.
Dann dachte sie an Björn und seufzte ein bißchen. Ihn hatte sie in der letzten Zeit ziemlich häufig gesehen. Bei Grankvists war er wie ein Kind im Hause, er ging dort aus und ein, wie er wollte, und das Schreinerhaus lag nur einen Steinwurf entfernt. Augenblicklich kam er fast täglich. Unter den verschiedensten Vorwänden und manchmal ganz ohne Vorwand. Er kam mit frischgefangenen Barschen oder mit Pfifferlingen, die er gerade gesammelt hatte und wortlos auf den Küchentisch legte; er half Johann und Niklas, die Grundleinen nachzusehen, er saß auf der Treppe zum Schreinerhaus und unterhielt sich mit Melcher. Aber Malin wußte nur zu gut, um wessentwillen er kam, und sicher kam er heute abend auch. Malin seufzte wieder. Er war so nett, der Björn, und so grundehrlich und ganz offensichtlich in sie verliebt. Sie versuchte nachzufühlen, ob sie nicht auch ein wenig in ihn verliebt sei. Sie wollte es so gern sein, aber sie konnte nicht das geringste Herzklopfen spüren. Wenn dieser Tag ein Leben war, dann mußte sie das Leben zubringen, ohne auch nur ein bißchen verliebt zu sein, oh, was war das eigentlich für ein Jammer! Irgend etwas ist mit mir nicht in Ordnung, dachte Malin und starrte auf ihre Zehen, die sie aus dem Wasser herausstreckte. Warum sich ihre Brüder so aufregten? Sie verliebte sich ja höchstens mal ein bißchen, sie brauchten sich wirklich nicht zu beunruhigen.
Sie seufzte, dann schaute sie wieder zur Sonne hinauf und sah, daß dieser Tag schon zur Hälfte, dieses Leben zur Hälfte vorüber war. Und sie fragte sich, wie weit ihr Vater wohl mit den Frikadellen war.
Aber Melcher hatte nicht vor, an diesem Tag sein Lebensgefühl weiter zu steigern, indem er Frikadellen rollte.
»Nicht, wenn wir uns an unserem eigenen Steg ein Essen holen können«, sagte er zu Johann und Niklas. »Barschfrikassee ist eine Delikatesse, die alle Frikadellen weit übertrifft.«
Er schickte die Jungen aus, nach Würmern zu graben, und dann saß er zwei Stunden lang auf dem Bootssteg, ohne auch nur soviel wie eine Plötze zu ergattern. Johann und Niklas dagegen holten einen großen Barsch nach dem anderen heraus. Das war eine Freude, die er ihnen gönnte, aber mit der Zeit machte er ein bedrücktes Gesicht. Die Sache war nämlich die, daß er die Jungen vorher gewarnt hatte. Sie sollten für sich nicht allzuviel beim Angeln erwarten, wenn er, Melcher, dabei sei. Er brauchte nur zu pfeifen, dann kämen die Barsche an, hatte er versichert, und da er eine viel bessere Technik und größere Erfahrung im Angeln habe, müßten sie es verstehen und nicht traurig werden, wenn er mehr Fische finge als sie.
Und jetzt saßen sie hier und zogen vor seinen Augen Barsche heraus. Er gönnte es ihnen, das tat er, aber es war doch … ja, es war vielleicht doch ein bißchen ungerecht, daß bei ihm nicht auch etwas anbiß. »Dieser Tag nicht ein Leben«, sagte er und starrte finster auf seinen Schwimmer.
Jedesmal, wenn bei ihnen etwas anbiß, guckten Johann und Niklas ihren Vater fast schuldbewußt an. Papa durfte nicht enttäuscht werden, darüber waren sich alle Melchersonschen Kinder rührend einig. Keines von ihnen konnte es ertragen, wenn seine fröhlichen blauen Augen plötzlich dunkel wurden, und sie wurden so leicht dunkel und aus so kindischen Anlässen. Die Jungen merkten, wie seine Stimmung sank. Er hatte eine Art, sich mit der Hand übers Kinn zu fahren, die sie kannten, und das war kein gutes Zeichen. Tatsächlich warf er den Angelstock schließlich auch hin.
»Jetzt sollen die Barsche zusehen, wie sie fertig werden«, sagte er. »Ich hab keine Lust mehr, ihnen eine Angel hinzuhalten.« Er legte sich auf den Steg und zog die Baskenmütze über die Augen.
»Wenn jetzt ein Barsch ankommt und Krach schlägt und rausgezogen werden will, dann sagt, daß ich schlafe. Er soll gegen drei Uhr wiederkommen.«
Dann schlief er auf der Stelle ein, und sein Schwimmer lag weiterhin im Wasser und hüpfte auf und nieder. Trotz inständiger Bitten seiner Söhne kam kein Barsch und verlangte, rausgezogen zu werden. Da beschlossen sie, die Angelegenheit selbst zu regeln. Einer sollte wenigstens bei ihrem Vater anbeißen. Sie holten Melchers Leine ein und steckten ihren größten Barsch an seinen Haken. Dann weckten sie ihn mit lautem Hallo.
»Papa, bei dir hat einer angebissen!«
Melcher fuhr hoch und riß so heftig an seiner Angel, daß er beinahe ins Wasser gefallen wäre, und er jubelte, als er den Barsch herauszog. »Habt ihr schon mal so einen Riesen gesehen? Der ist doppelt so groß wie einer von euren.«
Aber dieser Barsch war keiner von denen, die ankamen und Krach schlugen. Unnatürlich still und fromm hing er am Haken. Melcher guckte ihn lange schweigend an, und seine Söhne beobachteten ihn mit Bangen.
»Der arme Kerl scheint unter Schock zu stehen«, sagte Melcher.
Er strich sich ein paarmal übers Kinn, aber plötzlich lächelte er, und es war, als wenn die Sonne unverhofft durch düstere Wolken bricht.
Er schaute seine Söhne liebevoll an. Daß er so gute und umsichtige Kinder hatte, das war mehr wert als alle Barsche der Ostsee!
»Ich geh jetzt rein und dämpfe diesen Barsch und noch vier dazu«, sagte Melcher. »Nach meinem eigenen kleinen Rezept. Von dieser Kunst versteh ich jedenfalls mehr als ihr.«
Johann und Niklas gaben ihm zu verstehen, daß er der beste Barschdämpfer der Welt war, und Melcher zog sich in die Küche zurück. Malin hätte es gegraust, wenn sie gesehen hätte, wie er die Barsche schuppte. Melcher und ein großes Messer und ein kleiner, glitschiger Barsch – diese drei Dinge zusammen, und die Folge müßte ein gräßliches Blutvergießen sein. Aber das war das Komische mit Melcher, manchmal kam er mit heiler Haut davon, wenn eine Katastrophe unvermeidlich zu sein schien mit tiefen Fleischwunden und ersten Verbänden.
Er war jetzt blendender Laune. Sachkundig schichtete er die Barsche in einem emaillierten Schmortopf übereinander und sang dazu sein Rezept, als wäre es eine Opernarie.
»Barschtopf auf Melchers Art …« sang er, »… fünf prima Fische – und dann Butter – reichlich Bu-u-utter«, sang er und klackste diese im Takt zu den Worten in den Topf. »Und Petersilie – und Dill – ordentlich viel Di-illeri-dill – und dazu noch ein Löffelchen Mehl – und ganz, ganz wenig Wasser – gewöhnliches Wasser – und Salz nach Belieben – nach Belieben – nach Belie-ie-ie-ben – nach Belie-ie-ben!«
Das klang so bezaubernd, daß er sich fragte, ob er nicht eigentlich hätte Opernsänger werden sollen.
Ach nein, lieber Straßen-und Wasserbauer! Hin und wieder warf er einen Blick auf seine Rinne, die zum Küchenfenster hereinragte, und jedesmal lächelte er zufrieden. Das war doch etwas zum Vorzeigen, wenn Malin nach Hause kam.
Gleich darauf hörte er das Motorboot am Steg anlegen, und er stürzte zum Brunnen hinaus, um bereitzustehen und sein Werk vorzuführen. Malin sah übrigens aus, als ob sie eine Aufmunterung brauchte. Sie hängte ihren Badeanzug mit einer sonderbar nachdenklichen Miene auf die Wäscheleine, aber als sie merkte, daß Melcher sie anschaute, lächelte sie. Und dann sah sie die Wasserrinne.
»Was ist denn das?« fragte sie, und Melcher erklärte ihr und Krister und Pelle, was für eine einfache und geniale Einrichtung es war, die ihr Leben im Schreinerhaus von nun an so viel angenehmer machen werde. »Hast du sie ausprobiert?« fragte Malin.
»Hmm – wie ist es euch denn ergangen?« fragte Melcher. Dann aber sah er Niklas und Johann ebenfalls dort stehen, und die wußten ja das eine oder andere. So rückte er denn mit der Wahrheit heraus.
»Doch, ich hab sie ausprobiert – und einiges floß auf die Erde
– und anderes kam auf den Küchenfußboden, aber das kommt alles in Ordnung, wenn ich eine Wassertonne besorgt habe.«
Melcher strahlte über das ganze Gesicht. Er war so hingerissen von seiner Rinne, so stolz darauf, sie war so prächtig, er wollte sie streicheln, und das tat er auch. Aber genau da, wo er die Hand hinlegte, saß eine von Pelles Wespen, und als Melcher den Stich spürte, geriet er völlig außer sich. Zweimal an ein und demselben Tag, das war zuviel! Er stieß ein Gebrüll aus, bei dem Krister, der nicht daran gewöhnt war, zusammenzuckte. Ja, Melcher brüllte wie ein Löwe und sah sich nach einer Mordwaffe um. Im Gras lag einer von den Krocketschlägern der Jungen, den hob er auf, und als er die Wespe, ganz zufrieden mit ihrer Tat, auf der Rinne sitzen sah, hob er den Schläger hoch über seinen Kopf und schlug so kräftig zu, wie er konnte.
Hinterher war er wie gelähmt, als er sah, was er angerichtet hatte. Die Wespe hatte er nicht getroffen, die saß bestimmt schon zu Haus in ihrem Nest und prahlte vor den anderen Wespen mit ihrer Tat. Aber die Rinne, seine prächtige Wasserrinne, die war in der Mitte durchgebrochen, und am Draht hing nur noch ein Stumpf. Kein Zweifel, sie war nicht nur undicht, sie war auch morsch.
Endlich erwachte Melcher aus seiner Betäubung, und da schnaubte er: »Ratet mal, was ich jetzt tun werde!«
»Fluchen«, schlug Pelle vor.
»Nein, das werde ich nicht tun, das ist nämlich häßlich und ungebildet. Aber jetzt verschwindet entweder das vertrackte Wespennest aus dem Schreinerhaus oder ich!«
Er hob den Krocketschläger, aber Pelle hängte sich an seinen Arm und schrie:
»Nein, Papa, nein, nein, rühr nicht meine Wespen an!«
Da schleuderte Melcher ärgerlich den Schläger fort. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zum Bootssteg hinunter.
Das war ja wohl die Höhe: Pelle wollte lieber, daß sein Vater von oben bis unten mit Wespenstichen durchlöchert war, als diese gemeinen Wespen zu opfern! Pelle rannte hinter ihm her, um zu erklären und zu trösten, und darum bemerkte er nicht; was für eine Freveltat Krister vorhatte. Das Wespennest saß nur gerade so hoch, daß man mit dem Krocketschläger heranreichen konnte, wenn man sich ein bißchen anstrengte, und Krister wollte sich gern ein wenig anstrengen für dieses Vergnügen, den großen grauen Klumpen, der voll von Wespen saß, zu Mus zu schlagen. Er hob den Krocketschläger, zielte und führte einen fürchterlichen Schlag gegen das Nest, verfehlte es aber und traf dicht daneben die Wand. Einen solchen Donner hatten die Wespen in ihrem ganzen Leben bestimmt noch nicht gehört, und er gefiel ihnen nicht. Die ganze Heeresmacht rückte aus, um sich zu rächen. Eine Wolke von kleinen, bösen Wespen quoll hervor, die nachsehen wollten, wer sich unterstanden hatte, so zu donnern. Der erste, den sie sahen, war Melcher. Voller Kampfeslust stürzten sie auf ihn los. Melcher hörte das Summen, als sie kamen.
»Nein, nun soll doch aber …« sagte er.
Dann rannte er davon. Im Zickzack wie ein Hase und die ganze Zeit brüllend vor Zorn.
»Lauf, Papa, lauf!« schrie Pelle.
»Ich dachte, das tu ich schon«, brüllte Melcher und raste zum Bootssteg hinunter, als gälte es das Leben. Krister und Malin und die Jungen rannten hinterher, und Krister lachte, daß er erstickte, ohne zu ahnen, daß Malin ihn deswegen aus tiefstem Herzen verabscheute.
Melcher fuchtelte wild mit den Armen, um sich gegen die Quälgeister zu schützen, aber er hatte schon ein paar Stiche abbekommen, und in seiner Not sah er nur einen einzigen Ausweg zur Rettung. Er sprang geradewegs ins Wasser. Ein lautes Platschen, und seine Kinder sahen ihn unter der Wasseroberfläche verschwinden. Dort schien er eine Weile bleiben zu wollen. Die Wespen schwirrten verwirrt herum und suchten. Wo war er nur so rasch hingekommen, ihr Feind? Sie sahen sich um, und da entdeckten sie Krister. Er stand noch immer auf dem Steg und lachte noch mehr als vorher, aber es war merkwürdig, wie schnell er ernst wurde, als der Wespenschwarm jetzt auf ihn zusauste.
»Haut ab!« schrie er. »Laßt mich, kommt bloß nicht hierher!«
Aber die Wespen ließen ihn nicht. Sie kamen, oh, wie sie kamen! Da stieß er einen Schrei aus, als wäre er in Seenot, und stürzte sich kopfüber ins Wasser. Er war noch wütender als die Wespen, als er wieder auftauchte. Aber Melcher, der ein Stück von ihm entfernt Wasser trat, begrüßte ihn freundlich.
»'n Abend! Sieh mal an, bist du auch unterwegs?«
»Ja, aber auf dem Nachhauseweg, das kannst du schriftlich haben«, sagte Krister. Mit wenigen Schwimmstößen war er an seinem Boot. »Auf Wiedersehen, Malin!« rief er. »Ich fahre jetzt los. Diese Insel ist ja lebensgefährlich. Aber wir sehen uns vielleicht ein andermal wieder!«
»Das glaube ich kaum«, murmelte Malin. Doch das hörte Krister nicht. Als Melcher auf das Schreinerhaus zuplatschte, begegnete er Tjorven, und sie lächelte begeistert, als sie ihn sah.
»Hast du schon wieder in deinen Sachen gebadet? Warum tust du das bloß immerzu? Hast du keine Badehose?«
»Doch, die hab ich«, sagte Melcher.
»Aber ich glaub, mit der platscht es wohl nicht so gut, nicht?«
»Nein, auf diese Weise platscht es besser«, gab Melcher zu.
Dann aber kam der herrliche Augenblick, da er seinen Kindern Barsch nach Melchers Art vorsetzen wollte. Malin stand am Küchenherd und hob den Deckel vom Kochtopf. Sie atmete den sagenhaften Duft ein. Oh, wie roch das gut und wie war sie hungrig!
»Papa, du bist phantastisch«, sagte sie.
Melcher hatte sich umgezogen und seine Wespenstiche gekühlt. Jetzt saß er am Küchentisch, von neuem glänzender Laune. Das Leben war trotz allem reich. Er lächelte verlegen über Malins Lob und sagte: »Tja, man behauptet ja, wenn Männer sich wirklich mit Kochen abgeben, so können es Weibsleute nicht mit ihnen aufnehmen. Ja, ja, ich meine damit nicht unbedingt, daß ich … aber wir werden ja sehen. Nun wollen wir jedenfalls probieren!«
Der Reihe nach füllte er seinen Kindern Barsch nach Melchers Art auf und gestattete nicht, daß einer anfing, bevor nicht jeder einzelne seine Portion bekommen hatte. Als er sich auch seinen Teller gefüllt hatte, schmunzelte er und schaute hungrig auf den weißen Fisch, der zwischen Dill und Petersilie in seiner Buttersoße schwamm. Er schmunzelte noch, als er den ersten Bissen zum Mund führte, aber gleich darauf stieß er ein kleines, hilfloses Gurgeln aus.
Malin und die Jungen hatten auch schon gekostet, und sie saßen wie gelähmt.
»Wieviel Salz hast du drangetan?« fragte Malin und legte die Gabel hin. Melcher sah sie an und seufzte. »Nach Belieben«, sagte er mühsam.
Dann stand er auf und ging zum Entsetzen seiner Kinder zur Tür hinaus, und durchs Fenster sahen sie, wie er sich am Gartentisch niedersinken ließ, wo er den Tag mit so viel Erwartung begonnen hatte. Ihr Herz schnürte sich zusammen vor Mitgefühl, und ohne ein Wort zu sagen, stürzten sie alle zur Tür hinaus.
»Aber Papa, weshalb bist du denn so traurig?« fragte Malin, als sie Melcher, die Hände vors Gesicht geschlagen, dasitzen sah.
»Weil ich wertlos bin«, sagte Melcher und sah sie mit Tränen in den Augen an. »Dieser Tag ein Leben – und was habe ich getan? Ich kann auch nicht das geringste ordentlich machen, alles mißlingt mir. Ich schreibe auch sicher schlechte Bücher, das ist mir jetzt klar. Doch, widersprecht mir nicht, das tue ich! Arme Kinder, ihr habt einen wertlosen Vater.«
Da warfen sie sich alle auf ihn. Sie drängten sich an ihn und umarmten ihn, und sie versicherten ihm, es gebe kein Kind, das einen so tüchtigen und so liebenswerten und so guten Vater habe wie sie, und sie hätten ihn so gern, sie liebten ihn so grenzenlos, weil er so lieb und so tüchtig und so gut sei, versicherten sie.
»Hmmm«, machte Melcher. Er wischte sich die Tränen mit der Rückseite der Hand ab und lächelte ein bißchen. »Bin ich nicht auch stark und hübsch? Davon habt ihr nichts gesagt!«
»Doch«, sagte Malin, »du bist auch stark und hübsch, und dann macht es nichts, wenn du ein bißchen zuviel Salz ins Essen tust.«
Aber Johann und Niklas hatten die übrigen Barsche, die sie gefangen hatten, verschenkt, und sie hatten nichts zu essen im Haus, der Laden hatte geschlossen, und sie hatten Hunger.
»Ist Knäckebrot da?« fragte Niklas.
Aber bevor noch jemand antworten konnte, kam Tjorven mit Bootsmann auf den Fersen und sagte:
»Papa lädt zum Bücklingessen ein unten in der Räucherei.
Möchte einer was haben?«
Dieser Tag ein Leben – und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Heulen und Zähneklappern gewesen, dachte Melcher. Nun aber kam der Abend mit Frieden und Klarheit, und Melcher hatte sich alle seine Dummheiten verziehen. Das Leben war doch eine schlau erdachte Einrichtung mit seiner ständigen Abwechslung, im einen Augenblick Heulen und Zähneklappern, im nächsten die rosigste Freude und allerlei Köstlichkeiten, dachte Melcher, wie frisch geräucherter Bückling, Butter und neue Kartoffeln.
Sie saßen vor Nisses Räucherei auf den Ufersteinen, und die Sonne ging draußen im Fjord unter mit roten Wangen von der sommerlichen Wärme. Nisse reichte ihnen Bücklinge, goldbraune, duftende Bücklinge, soviel sie essen konnten. Märta stiftete Butter und Kartoffeln und selbstgebackenes Graubrot, und Melcher hielt eine Rede. Es war ein Lobgesang auf die Freundschaft und auf den Bückling, denn er merkte, wie sich die dankbaren Gefühle in seiner Brust stauten. Und ob das Leben schön war! Man stelle sich nur vor, wie viel von dieser Schönheit in einem einzigen Sommertag enthalten sein konnte!
»Ja, meine Freunde«, sagte Melcher, »es ist genauso, wie ich immer sage: dieser Tag ein Leben!«
»Und dann auch noch so ein tolles Leben!« sagte Pelle.