Freud und Leid reichen einander die Hand …

Freud und Leid reichen einander die Hand – manche Tage sind schwarz und voller Trübsal, und sie können kommen, wenn man es am wenigsten erwartet.

Früh am nächsten Morgen kam Söderman zu Nisse und Märta in den Laden. Traurig und bekümmert sah er aus, und traurige Dinge hatte er zu berichten.

»Ich mache wie gewöhnlich eine kleine Runde, und was höre ich? Einen Hund, der bellt, und meine Schafe, die geradezu verzweifelt blöken, und ich sehe von weitem, wie sie hin und her rasen, als ob einer sie jagt. Und als ich dann endlich zur Weide komme, wer, meint ihr, kommt mir da in wilden Sätzen entgegen? Tatsächlich, Bootsmann!«

Söderman machte ein Gesicht, als glaubte er, die Erde sollte bersten und sich auftun, als er das sagte, aber Nisse schaute ihn verständnislos an. »So. Und wer hat die Schafe gejagt?«

»Hörst du nicht, was ich sage? Bootsmann! Und bei mir zu Hause liegt Totti mit einem Biß im Schenkel.«

»Man muß sich viel anhören, bis einem die Ohren abfallen«, sagte Märta. »Aber daß Bootsmann Schafe reißt, das kannst du mir nicht einreden.«

Nisse schüttelte den Kopf. Auf eine so wahnsinnige Beschuldigung konnte man kaum etwas entgegnen. Bootsmann, der friedfertigste Hund der Welt, hatte bis jetzt noch nie jemand angerührt. Legt ihm kleine Kinder oder junge. Kätzchen oder Lämmchen vor seinen Rachen, so viele, wie ihr wollt, er rührt sie nicht an! Bootsmann sollte Schafe hetzen – nie im Leben!

Doch das behauptete Söderman. Malin kam, um Kartoffeln zu holen, und gleich nach ihr Vesterman. Er wollte eigentlich mit Nisse über Moses sprechen, aber davon kam er ab.

»Es kann ja Cora genausogut gewesen sein«, sagte Nisse, als er Vesterman sah.

Auf Saltkrokan gab es nur zwei Hunde, Vestermans Cora und Tjorvens Bootsmann.

Aber Vesterman erklärte böse, im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten habe er seinen Hund an der Leine, und Malin konnte bezeugen, daß dies stimmte. Zum mindesten habe Cora wie gewöhnlich neben ihrer Hundehütte gestanden und gebellt, als sie und Petter gestern abend gegen elf Uhr bei Vesterman vorbeigekommen seien.

»Und außerdem«, sagte Malin zögernd, »ich hab Bootsmann gesehen, als er heute nacht herauskam, und auch, als er wieder zurückkam. Und ich hab gehört, wie er bellte. Ja, tatsächlich, das hab ich gehört.«

Söderman guckte Nisse kummervoll an, es machte keine Freude, solche Unglücksbotschaften zu überbringen.

»Bootsmann bellt sonst nie, das weißt du, Nisse. Und du hörst doch, was ich sage. Ich sah ihn mitten aus der Schafherde kommen.«

Nisse biß die Zähne aufeinander.

»Wenn es so ist, wie du sagst, dann gibt es ja nur eins zu tun.«

Da fing Märta an zu weinen. Sie machte keinen Versuch, es zu verbergen, offen und verzweifelt weinte sie, und sie dachte mit Bangen an eine, die es noch viel schwerer nehmen würde als sie selber. Wie sollten sie es Tjorven nur beibringen?

Tjorven war nicht im Haus. Sie rannte gerade überall herum und suchte nach Jocke. Alle halfen sie Pelle, nach seinem verschwundenen Kaninchen zu suchen. Johann und Niklas selbstverständlich, und Teddy und Freddy und Tjorven.

Überall hatten sie gesucht, aber nirgendwo war Jocke zu finden. Pelle suchte und weinte und war wütend auf sich selber. Weshalb hatte er gestern abend nicht den Haken ordentlich übergelegt, weshalb hatte er es so eilig gehabt? Das durfte man nicht, wenn man ein Kaninchen hatte. Pelle weinte. Armer Jocke, wenn er nun nie zurückkam?

Zuletzt fanden sie Jocke. Teddy fand ihn. Und sie schrie auf, als sie das kleine Kaninchen sah, das nicht weit vom Schafpferch am Feldrain leblos und zerfleischt unter einem Wacholderstrauch lag.

»Nein!« schrie Teddy. »Nein!«

Hinter ihr kam jemand. Sie wandte den Kopf und sah, daß es Pelle war. Da schrie sie wie wild: »Pelle, nicht hierher kommen!«

Es war jedoch zu spät. Pelle hatte schon alles gesehen.

Er hatte sein Kaninchen gesehen.

Und dann standen sie alle hilflos im Kreis um ihn herum. Keiner von ihnen hatte bis jetzt bitteres Leid aus nächster Nähe mitangesehen, und sie wußten nicht, was man machen mußte, wenn jemand im Gesicht so aussah wie Pelle jetzt.

Johann weinte.

»Ich muß Papa holen«, murmelte er und lief davon, so rasch ihn seine Beine tragen konnten.

Melcher war ebenfalls den Tränen nahe, als er Pelle sah.

»Mein armer kleiner Junge.«

Er nahm ihn auf den Arm, hielt ihn ganz fest und trug ihn zum Schreinerhaus und zu Malin zurück. Pelle weinte nicht, er kroch nur in sich zusammen und verbarg sein Gesicht an der Schulter seines Vaters, er hatte die Augen geschlossen und wollte nie mehr etwas sehen auf der Welt.

Kaum daß man lebt, so muß man sterben … Aber Jocke, sein geliebtes Kaninchen, das einzige Tier, das er besaß – weshalb durfte es nicht am Leben bleiben? Pelle lag auf dem Bauch auf seinem Bett, den Kopf im Kissen vergraben, und jetzt weinte er endlich, ein leises, wimmerndes Weinen, das Malin ins Herz schnitt. Sie saß neben ihm, und auch sie fühlte sich ganz hilflos. Niemanden auf der Welt hatte sie so lieb wie dieses weinende arme Kerlchen, das dalag, schmal und klein, viel zu klein war für ein so großes Leid. Es war grausam, daß man nichts tun konnte, daß man ihm nicht wenigstens einen kleinen Teil von dem abnehmen konnte, was so weh tat. Sie strich ihm übers Haar und sagte ihm, weshalb sie das nicht konnte.

»So ist es im Leben, siehst du. Manchmal ist es schwer. Sogar kleine Kinder, sogar ein kleiner Junge wie du muß so etwas durchmachen, was weh tut, und da muß man ganz allein hindurch.«

Da richtete sich Pelle im Bett auf, weiß im Gesicht und naß von Tränen. Er schlang die Arme um Malin, er klammerte sich an sie und sagte mit rauher Stimme:

»Malin, versprich mir, daß du am Leben bleibst, bis ich groß bin!«

Und Malin versprach es, hoch und heilig versprach sie, daß sie es versuchen wollte. Und dann sagte sie, um ihn zu trösten: »Wir können dir ja ein neues Kaninchen kaufen, Pelle.«

Aber Pelle schüttelte den Kopf.

»Ich will nie ein anderes Kaninchen haben als Jocke.«

Da war noch jemand, der weinte, nicht stumm und still wie Pelle, sondern laut und wild, so daß man es weithin hörte. »Es ist nicht wahr«, schrie Tjorven, »es ist nicht wahr!« Sie schlug ihren Vater, weil er das gesagt hatte. Er durfte nicht, er durfte einfach nicht so schreckliche Sachen erzählen – daß Bootsmann … Nein, nie im Leben! Totti gerissen und Jocke totgebissen, sagte Papa. Nie, nie, nie im Leben! Ach, der arme Bootsmann, sie wollte ihn nehmen und mit ihm weglaufen, weit, weit weg, und niemals wiederkommen. Aber zuerst wollte sie jedem einzelnen eins auf den Schädel hauen, jedem, der daherkam und sagte, daß … Wie rasend stieß sie sich die Schuhe von den Füßen und sah sich mit wilden Augen nach jemandem um, dem sie sie an den Kopf knallen konnte. Nicht Papa – jemand anderem, ganz gleich, wem, sie wußte aber nicht, wem, und darum hob sie die Schuhe mit einem Schrei auf und schleuderte sie gegen die Wand.

»Ihr könnt was erleben! Ihr könnt was erleben!« brüllte sie.

Völlig außer sich stand sie da. Jetzt sah sie, daß Papa Bootsmann an der Treppe festgebunden hatte, und da schnappte sie nach Luft. »Meinst du etwa, er soll jetzt immer angebunden bleiben?«

Nisse seufzte.

»Tjorven, mein armes Kind«, sagte er und hockte sich vor ihr nieder, was er immer tat, wenn er wollte, daß sie ihm ordentlich zuhörte. »Tjorven, ich muß dir jetzt etwas sagen, worüber du ganz furchtbar traurig wirst.« Tjorven schluchzte nur noch heftiger.

»Ich bin schon traurig.«

Nisse seufzte von neuem.

»Ich weiß, und dies ist für mich auch schwer. Aber siehst du, Tjorven, ein Hund, der Schafe reißt und Kaninchen totbeißt, der darf nicht am Leben bleiben.«

Tjorven stand still vor ihm und sah ihn an. Es war, als hörte oder begriffe sie nicht, was er sagte, aber schließlich rannte sie mit einem jammernden Aufschrei fort.

Sie floh in ihr Bett, und hier verbrachte sie, den Kopf im Kissen versteckt, den längsten und bittersten Tag ihres Lebens.

Teddy und Freddy hatten vom Weinen geschwollene Augen, sie trauerten ebenso sehr wie Tjorven. Als sie sie aber dort liegen sahen, tat es ihnen weh vor Mitleid. Arme Tjorven, für sie war es auf alle Fälle am schlimmsten! Sie setzten sich zu ihr und versuchten, mit ihr zu reden, versuchten etwas zu sagen, wodurch es weniger schwer sein würde, aber es war, als hörte sie nichts, und sie bekamen nur ein einziges Wort aus ihr heraus: »Geht!«

Da gingen sie weinend fort. Märta und Nisse versuchten ebenfalls, mit ihr zu reden, aber sie bekamen auch keine Antwort. Die Stunden verrannen, Tjorven lag im Bett, stumm und reglos. Ab und zu machte Märta die Tür zu ihrem Zimmer einen Spalt weit auf und hörte manchmal ein leises Wimmern, sonst war alles still.

»Jetzt halte ich es nicht mehr aus«, sagte Märta schließlich. »Komm, Nisse, wir müssen es noch einmal versuchen.«

Und sie versuchten es. Sie versuchten es auf jegliche Weise, die Liebe und Verzweiflung ihnen eingab.

»Kleine Tjorven«, sagte Märta, »hör mal, hast du nicht Lust, in die Stadt zu fahren und Großmama zu besuchen, möchtest du das?«

Sie bekamen keine Antwort, nur ein kurzes, trockenes Aufschluchzen. »Oder sollen wir dir ein Fahrrad kaufen?« fragte Nisse. »Möchtest du das?«

Abermals ein Aufschluchzen und weiter nichts.

»Tjorven, gibt es denn nichts, was du gern möchtest?« fragte Märta verzweifelt.

»Doch«, murmelte Tjorven, »ich möchte tot sein.«

Sie setzte sich mit einem Ruck im Bett hoch, und plötzlich kamen die Worte in einem Schwall aus ihr heraus.

»Es ist alles meine Schuld. Ich hab mich nicht so viel um Bootsmann gekümmert, wie ich hätte müssen. Ich hab mich bloß immer mit Moses abgegeben.«

Sie hatte alles durchdacht, oh, wie viel hatte sie gedacht und mit welcher Verzweiflung! So mußte es sein. Es war ihre Schuld. Bootsmann hatte noch nie etwas Böses getan, und wenn es wirklich stimmte, daß er Totti und Jocke gerissen hatte, dann war es deshalb, weil es ihm selber schlechtgegangen war und weil es ihm einerlei war, was er tat.

»Doch, es ist meine Schuld«, schluchzte Tjorven. »Es ist besser, wenn ihr mich totschießt und nicht Bootsmann.«

Dann sank sie wieder aufs Kopfkissen zurück. Einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an Moses, der weit weg war in der Toten Bucht. Aber er gehörte zu einer anderen Welt, an die sie nicht denken konnte. Nur einen gab es, aus dem sie sich etwas machte. Sie sehnte sich nach Bootsmann, so sehr, daß es ihr weh tat. Er stand draußen an der Treppe angeleint. Bald würde Papa das Gewehr nehmen und mit ihm in den Wald hinaufgehen …

»Holt Bootsmann her«, murmelte sie, den Kopf im Kissen. Nisse machte ein unglückliches Gesicht.

»Kleine Tjorven, ist es nicht besser, du siehst Bootsmann nicht gerade jetzt?«

Da brüllte Tjorven: »Holt Bootsmann her!«

Teddy brachte ihn, und Tjorven jagte sie alle aus dem Zimmer. »Ich will allein mit ihm sein.«

Und dann war sie allein mit ihrem Hund. Sie warf sich ihm um den Hals und wimmerte: »Verzeih mir, Bootsmann, verzeih mir, verzeih mir!«

Er sah sie an mit Augen, die nichts enthielten als eine ewige Treue, und er mochte denken: »Kleines Hummelchen, ich versteh von all dem gar nichts, aber ich will nicht, daß du so traurig bist.«

Sie nahm seinen riesigen Kopf zwischen ihre beiden Hände und sah ihm in die Augen, um nach einer Antwort auf all dies Unerklärliche und Schreckliche zu suchen.

»Es kann nicht wahr sein! Ach, Bootsmann, könntest du doch reden und alles erklären.«

Ja, wenn Bootsmann bloß hätte reden können! Wenn er doch hätte reden können!

Und der arme Moses, der in einem Bootsschuppen weit weg an der Toten Bucht eingeschlossen war – wer dachte an ihn? Das tat Stina. Auch sie hatte geweint, wegen Totti und wegen Jocke und wegen Bootsmann. Heute weinten alle auf Saltkrokan. Aber Totti sei bald wieder gesund, sagte Großvater, und wenn auch alles ein einziges großes Elend war, so konnte Moses deswegen doch nicht verhungern.

»Pelle und Tjorven, die liegen nur da und weinen und weinen. Dann muß ich eben an Moses denken«, sagte sie. »Gib mir Strömlinge, Großvater!« Sie bekam ihre Strömlinge in einem Korb und ging los. Und Söderman fuhr in seiner Arbeit fort. Da kam Vesterman. Er war außer sich vor Wut über Nisse Grankvist, weil der sich unterstanden hatte, das über Cora zu sagen.

»Einfach meinem Hund die Schuld zuschieben«, sagte er aufgebracht zu Söderman.

Er hatte die Lust verloren, mit Nisse über den Seehund zu verhandeln und darüber, wem er gehörte. Jetzt gab es nur eines zu tun, und zwar, entschlossen den Seehund an sich zu nehmen und in sicherem Gewahrsam zu halten, bis er diesen Grünschnabel erwischt hatte, der Seehunde aufkaufte. Wo aber war dieser elende Seehund? Der Teich war leer, und woanders war er, soweit Vesterman sehen konnte, auch nicht, obgleich er den ganzen Morgen gesucht hatte.

»Weißt du, wo die Gören den Seehund haben?« fragte er Söderman. Söderman schüttelte den Kopf. »Verschwunden kann er nicht sein. Stina war erst vor kurzem hier und hat Strömlinge für ihn geholt.«

Sobald er das gesagt hatte, fuhr ihm etwas durch den Sinn, was Stina erzählt hatte. Daß Vesterman den Kindern Moses wegnehmen und ihn verkaufen wollte.

»Der Seehund geht dich übrigens nichts an«, sagte Söderman. »So viel Scham solltest du doch wohl am Leibe haben.«

Vesterman stieß einen Fluch aus und ging. Er war wütend und enttäuscht, wütend auf die Kinder und auf Nisse Grankvist und auf Söderman und auf jeden Menschen dieser Insel. Ganz Saltkrokan möge zum Kuckuck gehen, meinte Vesterman.

Er stapfte heimwärts. Da sah er Stina ein Stück weiter vorn auf dem Weg mit dem Strömlingskorb am Arm, und nun beschleunigte er seinen Gang. Mit langen Schritten holte er sie ein.

»Wo willst du denn hin, kleine Stina?« fragte er schmeichlerisch, denn jetzt hieß es, schlau zu sein.

Stina lächelte zu ihm auf, ein freundliches und zahnloses Lächeln. »Haha, du sagst dasselbe wie der Wolf.«

Das verstand Vesterman nicht.

»Der Wolf? Welcher Wolf?«

»Rotkäppchen und der Wolf, das mußt du doch kennen! Soll ich dir das Märchen erzählen?«

Vesterman wollte das Märchen nicht hören und auch kein anderes, doch es half ihm nichts. Stina war die beharrlichste Märchenerzählerin von Saltkrokan, und Vesterman mußte die Geschichte von Rotkäppchen ganz bis zu Ende anhören. Nun erst kam er zu Wort.

»Wer soll die Strömlinge haben?«

»Die? Na, Mo …«, begann Stina, aber dann schwieg sie hastig, denn jetzt fiel ihr ein, mit wem sie redete.

Vesterman gab nicht auf.

»Was sagst du, wer soll sie haben?«

»Großmutter soll sie haben«, sagte Stina fest. Dann grinste sie. »›Warum hast du so ein großes Maul, Großmutter?‹ fragte Rotkäppchen. ›Damit ich besser Strömlinge essen kann‹, sagte die Großmutter. Haha, was sagst du nun, Vesterman?«

Sie lächelte Vesterman zahnlos und niederträchtig an, und dann rannte sie davon.

Aber sie war genauso arglos wie Rotkäppchen, als es dem Wolf den Weg zu Großmutters Häuschen zeigte. Stina ging sorglos geradewegs zur Toten Bucht, ohne auch nur den Kopf zu wenden. Hätte sie das getan, dann hätte sie vielleicht einen Schimmer von Vesterman gesehen, der hinter ihr herschlich. Er hätte wahrlich nicht zu schleichen brauchen. Niemand war so wenig auf der Hut wie Stina, und jetzt hatte sie es eilig. Sie mußte zu Moses.

Moses schrie und zischte sie an, kaum daß sie zur Tür hereingekommen war, verstummte aber, sobald er seine Strömlinge bekam. Stina saß neben ihm und streichelte ihn, während er fraß. »Du wunderst dich sicher, daß ich allein komme«, sagte sie. »Aber ich erzähl's dir nicht, dann wirst du bloß traurig.«

Traurig – wer war nicht längst traurig? Moses gefiel dieser Bootsschuppen nicht, und er wollte nicht allein sein. Aber jetzt war Stina gekommen, die wollte er dabehalten. Er wußte schon, wie er es anstellen mußte, damit sie bleibe, er brauchte sich nur einfach auf sie zu setzen. Sobald er fertiggefressen hatte, krabbelte er entschlossen auf ihren Schoß. Hier machte er sich's gemütlich, und wenn sie versuchte, ihn hinunterzuschubsen, zischte er sie an. Das sollte sie ja nicht versuchen! Wenn er in diesem Bootsschuppen bleiben mußte, dann sollte sie wahrhaftig auch dableiben! Stina merkte, wie ihre Beine einzuschlafen begannen, und sie wurde unruhig. Wer weiß, wie lange Moses hier zu sitzen gedachte? Vielleicht bis Mittsommer? Dann würden beide verhungern, sie und Moses. Das war kein vergnüglicher Gedanke, und sie bat inständig:

»Lieber Moses, geh runter von meinen Beinen!«

Aber Moses wollte nicht. Wieder versuchte sie, ihn hinunterzuknuffen, aber er zischte sie nur an.

Da sah sie noch einen Strömling im Korb liegen. Der wurde ihre Rettung. Sie nahm ihn sich und hielt ihn hoch in die Luft, so daß Moses ihn nicht erreichen konnte. Und dann schleuderte sie ihn mit aller Kraft fort. Der Strömling landete in einem entfernten Winkel, und Moses wackelte gierig hin, um ihn sich zu holen. Als er zurückkam und keiner mehr da war, auf dessen Schoß er sitzen konnte, schrie er vor Wut.

»Tschüs, Moses«, sagte Stina und schloß die Tür. Sie legte den Haken über und ging davon, ganz zufrieden mit sich selber. Sie guckte weder nach rechts noch nach links und sah auch Vesterman nicht, der sich in einer Lücke zwischen zwei Schuppen versteckt hielt.

Aber wenn Stina auch genauso arglos war wie Rotkäppchen

– was für ein Glück trotz allem, daß sie gerade um diese Stunde mit Strömlingen zu Moses gegangen war, und was für ein Glück, daß er so lange auf ihrem Schoß gesessen hatte und daß sie auf dem Nachhauseweg gerade in diesem Augenblick an der Schafweide vorbeikam! Sonst hätte sie nie den Fuchs gesehen, der dort wütete. Einen großen hungrigen Fuchs, der heute nacht nicht das erwischt hatte, worauf er aus gewesen war, kein Lämmchen und nicht einmal ein Kaninchen, weil ein rasender Hund ihn in seinen Bau zurückgejagt hatte.

Er war hungriger denn je und wollte sich jetzt einen Lammbraten holen, da aber kam ein Menschenkind, sicher eines von der allergefährlichsten Sorte, denn es schrie aus vollem Halse. Er bekam einen Todesschrecken und schlüpfte voller Angst durch eine Lücke im Zaun auf den Weg hinaus und verschwand zwischen den Tannen am Waldrand.

Wie ein leuchtend roter Strich flitzte er dicht an den Füßen vom alten Söderman vorbei, der nachsehen wollte, ob Bootsmann nicht noch mehr Unheil unter den Schafen angerichtet hatte, außer dem, was er heute nacht hatte feststellen können. Er blieb jäh stehen, als er den Fuchs vorbeihuschen sah.

»Der Fuchs!« schrie Stina. »Großvater, hast du den Fuchs gesehen?«

»Und ob ich ihn gesehen habe«, sagte Söderman. »Das war das größte Ungetüm von einem Fuchs, das ich in meinem Leben gesehen habe. Aha, dieser Halunke ist es also, der unter meinen Lämmern haust!«

»Und dann gehst du rum und behauptest, Bootsmann wäre es gewesen«, sagte Stina unwirsch.

»Ja, dann gehe ich rum und behaupte, Bootsmann wäre es gewesen«, sagte ihr Großvater und kratzte sich am Hinterkopf. Er war alt und schon langsam im Denken. Wie hing das eigentlich alles zusammen? Er hatte doch Bootsmann gesehen heute nacht. Und noch nie hatte er gehört, daß sich ein Fuchs in eine Schafherde hineinwagte; aber es gab offenbar hin und wieder ein Ungetüm, das es trotzdem tat. Waren er und Bootsmann Partner, halfen sie sich vielleicht gegenseitig beim Jagen … Nein, so konnte es nicht sein. Der Fuchs hatte heute nacht Totti gehetzt, und Bootsmann hatte den Fuchs gehetzt! Bootsmann hatte seine Lämmer beschützt, so hing das zusammen, und zum Dank hatte er, Söderman, ihn beschuldigt und es dahin gebracht, daß … Achachach, jetzt hatte Söderman es auf einmal eilig.

»Bleib hier«, sagte er zu Stina, »und schrei, wenn du den Fuchs siehst.«

Er mußte zu Nisse, und zwar schnellstens. Er rannte, der alte Söderman, wie er seit vielen Jahren nicht mehr gerannt war, und kam keuchend und außer Atem in den Laden.

»Nisse, bist du drinnen?« rief er voller Bangen, und da kam Märta heraus, ganz verweint.

»Nein, Nisse ist mit Bootsmann in den Wald gegangen«, sagte sie. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und stürzte wieder hinein. Achachach! Söderman stand da, als hätte er einen Schlag mit der Keule bekommen. Dann rannte er wieder los. Er jammerte laut und rannte. Bald konnte er nicht mehr, aber er mußte können, er mußte Nisse zu fassen kriegen, er durfte nicht zu spät kommen.

»Wo bist du, Nisse?« schrie er. »Wo bist du? Nicht schießen!«

Es war ein ruhiger Tag und ganz still im Wald. Weit entfernt rief ein Kuckuck, aber dann schwieg der auch. Söderman rannte und hörte nur sein eigenes Keuchen und seine eigenen bangen Rufe.

»Wo bist du, Nisse? Nicht schießen!«

Er bekam keine Antwort. Es war still zwischen Tannen und Kiefern. Söderman rannte. Da fiel ein Schuß – oh, wie es knallte und zwischen den Bäumen widerhallte. Söderman blieb stehen und griff sich an die Brust. Er war zu spät gekommen, jetzt war es geschehen! Achachach, er würde Tjorven nie mehr in die Augen sehen können. Was für ein jammervoller Tag, was für ein Elend!

Söderman stand still und schloß die Augen. Da hörte er Schritte, und er schaute auf. Da kam Nisse mit dem Gewehr über der Schulter und neben ihm … Söderman starrte mit offenem Mund. Neben Nisse trottete Bootsmann!

»Hast du nicht – geschossen?« stammelte Söderman.

Nisse warf ihm einen verzweifelten Blick zu.

»Gott steh mir bei, Söderman, ich kann es nicht! Ich muß Jansson bitten, es zu tun. Er ist heute unterwegs und schießt Mantelmöwen.«

Freud und Leid reichen einander die Hand, und manchmal kann sich alles ebenso rasch wenden, wie man niest. Es braucht nur ein atemloser Alter dort zu stehen, der mit Tränen in den Augen von dem Fuchs auf seiner Schafweide berichtet.

Nisse umarmte Söderman.

»Noch nie hat ein Mensch mich so froh gemacht wie du, Söderman!«

Und noch nie ist ein Mann mit seinem Hund so fröhlich aus dem Wald heimgekehrt wie Nisse Grankvist heute mit Bootsmann. Er ist froh. Trotzdem wird er heute nacht wach liegen und an die schwere Stunde oben im Wald denken. Am meisten wird er an die Augen von Bootsmann denken, wie er dort an dem Stein zwischen den Tannen saß und auf den Schuß wartete. Bootsmann wußte, was geschehen würde, und er blickte Nisse an, ergeben und trauervoll und treu. Die Erinnerung an diesen Blick wird Nisse heute nacht wachhalten. Jetzt aber ist er fröhlich, und er ruft nach Tjorven.

»Tjorven, komm! Hummelchen, komm her, ich muß dir etwas Schönes erzählen.«

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