Tjorven verdient drei Kronen

Am Montagmorgen erwachte Pelle früh, weil Jumjum jaulte, und er nahm ihn zu sich ins Bett. Mit der Nase an seinem Hals schlief der Welpe wieder ein, Pelle jedoch nicht. Es wäre ja Wahnsinn, zu schlafen, wenn man wach liegen und so durch und durch, ganz bis in die Zehen hinunter glückselig sein und wissen konnte, daß dieses Weiche, Warme, das man dicht bei sich hatte, Jumjum war, sein eigener Hund. Nicht möglich, daß man so furchtbar schrecklich glücklich sein konnte! Mitten in all dieser Glückseligkeit erinnerte er sich an Moses. Es kam ihm ein wenig ungerecht vor, daß er ihn nicht so sehr vermißte, wie er eigentlich müßte.

»Aber«, erklärte er seinem schlafenden Jumjum, »Moses vermißt mich auch nicht, da kannst du ganz sicher sein. Er schwimmt bestimmt herum und spielt mit anderen Seehundsjungen und amüsiert sich.«

Einen Augenblick dachte er auch an Jocke. Das tat ein bißchen weh. Nicht so sehr Jockes wegen, sondern weil es ihn auch daran erinnerte, was geschehen konnte, wenn die Welt manchmal beschloß, ein Jammertal zu sein. Er schob den Gedanken von sich, und das war nicht schwer. Denn jetzt wurde Jumjum wach und war sofort voller Leben. Er schnupperte Pelle im Gesicht herum und leckte ihn und schnappte nach seinem Schlafanzug und bellte und kläffte und sprang im Bett herum, und Pelle lachte. Das Lachen war so voller Glück, daß Malin Tränen in die Augen bekam, als sie es unten in der Küche hörte, und sie unterbrach das Brotrösten, nur um es zu genießen. Ach, Pelle, lach noch mehr, damit ich ganz sicher weiß, daß du wieder lachen kannst!

Was konnte einem ein Tag alles bescheren, der mit dem glücklichen Lachen eines Jungen begann und mit so wunderbar schönem Wetter? Die letzte Woche war scheußlich gewesen, nur Wind und Regen und Kälte, und jetzt plötzlich dieser wunderbare Morgen – Malin beschloß, den Frühstückstisch draußen im Garten zu decken.

Ihr Vater zog sich gerade in der Mädchenkammer an und sang dabei.

»Es ist Montagmorgen – und ich fühle mich so fro-o-oh!«

»Du sollst nicht auf nüchternen Magen singen«, rief Malin zu ihm hinein. »Dann wirst du noch vor Abend weinen, weißt du das nicht?«

»Aberglauben und dummes Zeug«, sagte Melcher, und er kam singend in die Küche.

»Findest du nicht, daß genug geweint worden ist?« sagte er. »Jetzt ist Schluß mit dem Geheule.«

Sie deckten gemeinsam den Frühstückstisch an der Giebelseite des Hauses. Malin stand in der Küche und reichte Melcher alles durchs Fenster, und nachdem sie fertig waren, sah Melcher sich um:

»Und wo sind nun meine drei hungrigen Jungen?«

Die beiden älteren kamen vom Wasser herauf. Sie waren früh draußen gewesen und hatten geangelt. Zwar hatten sie nichts gefangen, aber in der Morgensonne an einem Barschgrund sitzen, das konnte man trotzdem tun, die Stunden waren nicht vergeudet, und man bekam davon Appetit.

»O Malin, hast du Waffeln gebacken?« Niklas sah seine Schwester und die Waffeln mit innigem Wohlbehagen an.

»Ja, das hab ich getan, aus Dankbarkeit, weil dieser liebe kleine Montagmorgen sich in jeder Weise so prächtig anläßt.«

Melcher nickte zustimmend.

»Ja, es ist ein wunderbarer Morgen und ein wunderbarer Frühstückstisch, von Melcher eigenhändig gedeckt: Waffeln, Kakao, Kaffee, Joghurt, Toastbrot, Butter, Käse, Marmelade, Eingemachtes und Wespen. Was begehrt ihr sonst noch?«

»Hast du auch die Wespen gedeckt?« fragte Johann.

»Nein, das Viehzeug ist ganz von selber gekommen. Es ist wirklich nicht zu glauben, daß wir uns auch in diesem Jahr wieder mit diesem Wespennest abplagen müssen!«

Melcher verscheuchte ein paar Wespen von dem Marmeladenglas. Aber selbst wenn Pelle mit dem wunderbarsten Welpen der Welt auf dem Arm dasaß, so war in seinem Herzen noch immer Platz für alle anderen Tiere und Insekten unter dem Himmel, und er sagte vorwurfsvoll:

»Laß meine Wespen, Papa! Die wollen doch auch im Schreinerhaus wohnen, das kannst du dir doch denken. Genau wie wir!«

Und natürlich verstand Melcher, daß man im Schreinerhaus wohnen wollte. Das verstanden sie alle.

»Es ist seltsam, wie einem diese alte baufällige Bude ans Herz gewachsen ist«, sagte Malin.

Die Hauswand in ihrem Rücken, der rote Giebel des Schreinerhauses, strahlte eine Wärme aus, die nicht nur vom Sonnenschein herrührte, meinte Malin. Sie empfand das ganze Haus beinahe als ein Lebewesen, ein sicheres und gütiges und warmes Lebewesen, das sie alle in ihre Obhut nahm.

»Baufällig – nun, das ist nur halb so schlimm«, sagte Melcher. »Die Holzverschalung muß hier und da etwas ausgebessert werden, aber das Haus ist aus gesundem alten Kernholz. Ja, allerdings, das Dach ist schadhaft. Wenn das Haus mir gehörte, dann würde ich es wieder herrichten und eine Wohnung daraus machen, daß euch die Spucke wegbliebe.«

Machte ich mir eine Wohnung zuäußerst im Meer und deckte das Dach neu, dachte Pelle, wahrhaftig, das wäre etwas!

»Und dann dieses Grundstück«, sagte Melcher. »So eins findet man nicht noch einmal.«

Sie saßen da und aßen ihre Waffeln und schauten auf ihren Garten und ihr Schreinerhaus und fanden alles ganz unvergleichlich schön. Der wilde Jasmin blühte und sandte seinen süßen Duft aus, die Heckenrosen waren übersät mit zartrosa Knospen, der Erdboden war grün und voller Blüten wie eine Paradieswiese und wellte sich weich zum Ufer hinab bis an den Steg, wo die Möwen kreischten. O ja, es war alles unbeschreiblich schön.

»Stellt euch doch nur vor, ein einfacher Schreiner hat sein Haus so genau auf den richtigen Platz gestellt«, sagte Melcher. »Mit dem Schuppen im rechten Winkel dazu. Sieht es nicht aus, als wäre alles wie von selber aus dem Boden gewachsen? Einen Hofplatz wie diesen hier, dafür hätte der Schreiner eine Medaille bekommen müssen.«

»Papa, es ist doch sicher, daß wir hier immer wohnen bleiben?« fragte Pelle. »Ich meine, jeden Sommer?«

»Aber ja, aber ja«, sagte Melcher. »Und heute kommt Mattsson, er hat angerufen und bei Nisse Grankvist Bescheid gesagt. Nun wird also endlich ein neuer Vertrag gemacht.«

Während Melchersons beim Frühstück saßen, machte Tjorven mit Bootsmann einen Morgenspaziergang. Sie ging zum Anlegesteg, um die Schwäne zu füttern. Die kamen jeden Morgen und kriegten altes Brot von ihr, ein Schwanenvater und eine Schwanenmutter und sieben Junge, lauter kleine graue Bälle. Als sie gerade da stand, kam ein großes Motorboot, eins, das sie nicht kannte. Es hatte drei Personen an Bord. Einer davon war dieser Mattsson, den sie schon kannte, weil er ein paarmal im Jahr kam. Aber der andere, dieser große dicke Kerl mit der Schiffermütze, der das Boot lenkte, der war noch nie auf Saltkrokan gewesen und das Mädchen, das dabei war, auch nicht. »Wirf die Leine rüber«, sagte Tjorven. Mattsson schleuderte sie ihr zu, und sie machte sie fest. »Sieh mal an, du bist aber tüchtig«, sagte der mit der Schiffermütze, als er an Land gesprungen war. »Das ist ja ein vorzüglicher Knoten!«

Tjorven lachte.

»Knoten? Das ist ein doppelter Halber Schlag.«

»Hm«, machte der mit der Schiffermütze. »Und wann hast du den gelernt?«

»Das konnte ich schon immer«, sagte Tjorven.

Da holte er ein blankes, ganz neues Kronenstück aus der Tasche und schenkte es ihr. Sie starrte verblüfft darauf, und dann lächelte sie ihn an. »Das ist gut bezahlt für einen doppelten Halben Schlag.«

Jetzt hörte er ihr aber nicht mehr zu und beachtete sie überhaupt nicht mehr. »Komm, Lotta«, rief er, und das Mädchen sprang an Land. Tjorven fand sie riesig fein mit den engen hellblauen langen Hosen und dem weißen Jumper und dem schönen braunen, dauergewellten Haar. Die Glückliche, die hatte eine Dauerwelle und war doch höchstens so alt wie Teddy. Sie sah allerdings unfreundlich aus und sagte Tjorven nicht guten Tag. Aber sie hatte einen kleinen weißen Pudel auf dem Arm, und Tjorven sah sich nach Bootsmann um. Es wäre vielleicht nett für ihn, wenn er mal mit einem Pudel zusammenkäme. Aber Bootsmann war am Ufer entlanggeschlendert und halbwegs bis zur Landzunge gelangt.

Ja, da war er eben selber schuld, denn jetzt ging Lotta mit ihrem Pudel fort. Mattsson wollte zum Schreinerhaus, das war Tjorven klar. Weshalb er diese beiden anderen mitschleppte, konnte sie nicht begreifen, und sie dachte auch nicht weiter darüber nach, folgte ihnen aber auf den Fersen, denn sie wollte ja auch dorthin und Pelle aufsuchen.

»Aha, da ist ja endlich Herr Mattsson«, sagte Melcher, als er die Besucher durch die Gartenpforte kommen sah. »Bitte, treten Sie näher, wir wollen nur eben den Tisch abräumen, dann können wir den Vertrag hier unterschreiben.«

Mattsson war ein kleiner, nervöser und wichtigtuerischer Herr, und er trug einen Anzug, den Malin grausig fand. Der war kariert und geradezu wunderbar häßlich. Doch der Anzug konnte nicht allein schuld daran sein, daß sie ein ausgesprochenes Unbehagen empfand, als sie Mattsson sah und auch die beiden anderen.

Mattsson stellte seine Begleitung vor.

»Dies ist Herr Direktor Karlberg und seine Tochter … Sie wollen sich gern einmal das Schreinerhaus ansehen.«

»Das läßt sich wohl machen«, sagte Melcher. »Aber warum wollen sie das denn?«

Mattsson erklärte es ihm. Es sei nämlich so, daß Frau Sjöblom das Schreinerhaus zu verkaufen gedenke. Sie sei alt und habe keine Lust mehr zu vermieten, und darum …

»Nun mal langsam«, sagte Melcher. »Ich bin hier schon Mieter, wenn ich mich nicht ganz irre. Und ich sollte heute einen neuen Vertrag unterschreiben auf ein Jahr oder wie, Herr Mattsson?«

»Das geht leider nicht«, sagte Mattsson. »Frau Sjöblom will verkaufen, dagegen ist nichts zu sagen. Wollen Sie wohnen bleiben, dann kaufen Sie doch den Besitz selbst. Das heißt, falls Sie ein besseres Angebot machen können als Direktor Karlberg.«

Melcher begann zu zittern, er fühlte, wie eine verzweifelte Wut in ihm hochstieg, die ihn fast erstickte. Wie konnte einfach jemand daherkommen und mit ein paar Worten ihm und seinen Kindern alles, aber auch alles zerstören? Vor zwei Minuten haben sie noch hier gesessen und sind fröhlich und glücklich gewesen, und im nächsten Augenblick liegt alles in Schutt und Asche und ist zu Ende. Kaufen Sie den Besitz – welch ein Hohn! Du liebe Güte, er konnte nicht einmal eine Hundehütte kaufen bei seinen Einkünften! Eine Jahresmiete zur Zeit, die konnte er zusammenkratzen, das schaffte er schon noch, und deshalb hatte er voller Zuversicht einer langen Reihe von Jahren hier im Schreinerhaus entgegengesehen. Endlich hatte er einen Platz gefunden, wo seine Kinder Wurzeln schlagen und die Sommer ihrer Kindheit verleben durften, so wie er es selbst gehabt hatte, Sommer, an die sie ihr Leben lang denken konnten. Und dann kommt da ein Mensch und sagt ein paar Worte, und alles ist zu Ende!

Er traute sich nicht, seine Kinder anzusehen. Da hörte er Pelles zitternde Stimme:

»Papa, du hast aber doch gesagt, wir würden immer hier wohnen.«

Melcher schluckte heftig. Ja, was hatte er nicht alles gesagt! Daß sie immer hier wohnen würden! Und daß es Schluß sein solle mit dem Geheule, das hatte er wohl auch gesagt, und da stand er nun und hätte in seiner Ohnmacht am liebsten geheult wie ein Hund. Während Mattsson zwei Meter von ihm entfernt an den Mehlbeerbaum gelehnt stand und aussah, als wäre dies ein ganz gewöhnlicher Tag und ein ganz alltägliches kleines Geschäft.

»Wollen Sie«, sagte Melcher bitter, »wollen Sie wirklich, daß wir hier ausziehen, ich und meine Kinder?«

»Nicht gleich natürlich«, sagte Mattsson. »Wenn aber Direktor Karlberg kauft – er oder jemand anders –, dann müssen Sie wohl mit dem neuen Besitzer abmachen, wie lange Sie hier wohnen bleiben können.« Direktor Karlberg vermied es, Melcher anzusehen. Er redete mit Mattsson, als wäre kein Mensch sonst zugegen.

»Doch, auf jeden Fall, ich könnte mir schon denken, das Haus zu kaufen, wenn wir uns über den Preis einig werden. Mit dem Haus ist ja nichts mehr los, das sehe ich mit einem Blick, und das müßte man dann abreißen. Aber so ein Grundstück, das findet man nicht alle Tage.«

Melcher hörte ein dumpfes Gemurmel von seinen Kindern, und er biß die Zähne zusammen.

Jetzt mischte sich auch Lotta Karlberg ins Gespräch.

»Ja, Papa, das Haus ist wirklich schrecklich. Aber man könnte ja so einen süßen Bungalow bauen, du weißt, so einen, wie Kalle und Anna Greta einen haben.«

Ihr Vater nickte, aber er schien etwas unangenehm berührt. Vielleicht fand er, es gehe doch zu weit, daß Lotta zu diesem Zeitpunkt schon Kalles und Anna Gretas Bungalow erwähnte.

Tjorven fand es ebenfalls. Sie fand, es gehe zu weit. Das fand sie schon lange. Diese Lotta, da saß sie auf der Treppe zum Schreinerhaus und sah aus, als gehörte das ganze Haus ihr! Tjorven stellte sich breitbeinig vor sie hin. »Lotta, weißt du was«, sagte sie. »Ich finde, du bist ein Bongalo, so groß wie du bist.«

Jetzt wurde es Lotta klar, daß sie eine Feindin bekommen hatte.

Übrigens nicht nur eine. Alle diese Kinder, die da standen und sie anstarrten, waren ihre Feinde, und sie hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, sie genoß es, denn sie fühlte ihre Überlegenheit. Ihr Vater konnte entscheiden, ob diese Kinder dort wohnen bleiben sollten oder nicht. Daher wäre es schon besser, sie nähmen sich in acht. Sie brauchten ihr wirklich nicht so ins Gesicht zu starren, als hätte sie hier nichts zu suchen.

»Man hat doch wohl das Recht, einen Besitz zu kaufen, wenn man will«, sagte sie hochnäsig in die blaue Luft hinein.

»Ja, klar«, sagte Teddy. »Und so'n Bungalow hinzubauen, wie Kalle und Anna Greta einen haben. Tut das nur ruhig.«

»Diese alte Bruchbude, die können wir ja abreißen«, sagte Freddy. »Macht man los!«

Teddy und Freddy waren angelaufen gekommen, sobald sie hörten, was hier vor sich ging. Beim Kaufmann wußte man auf irgendwie übernatürliche Art und Weise über alles Bescheid, was auf der Insel geschah, noch fast ehe es geschehen war. Teddy und Freddy wollten in der Stunde der Bedrängnis bei ihren Freunden sein – wozu hatte man sonst seine Freunde? Noch nie hatten sie Johann und Niklas so niedergeschlagen und so finster gesehen. Und Pelle erst! Er saß noch immer am Frühstückstisch, kreidebleich im Gesicht, und neben ihm saß Malin. Sie hatte den Arm um Pelle gelegt, und sie war auch ganz blaß. Es war alles grauenhaft und unerträglich, und dann kam dieses versnobte Mädchen und schrie herum, daß man einen Bungalow bauen wolle. Kein Wunder, daß Teddy und Freddy in Wut gerieten.

»Was ist eigentlich ein Bongalo?« fragte Tjorven ihre älteren und klügeren Schwestern.

»Wahrscheinlich irgend etwas ganz Blödes«, sagte Teddy.

»Von oben bis unten blöde, genau wie die da«, sagte Freddy und zeigte mit dem Daumen in Lottas Richtung.

Es war eine schreckliche Vorstellung, daß die vielleicht auf einmal ihre Nachbarin sein würde und nicht mehr Johann und Niklas und Pelle und Malin und Melcher.

»Man darf sich das Haus doch wohl mal von innen ansehen«, sagte Direktor Karlberg, und zum ersten Mal wandte er sich an Melcher. »Falls Sie gestatten, Herr Melcherson?« fügte er hinzu, und es gelang ihm, daß es wohlwollend und gleichzeitig hochnäsig klang.

O ja, Herr Melcherson gestattete es. Was sollte er denn sonst tun? Er war ein geschlagener Mann, und er wußte es. Er ging jedoch mit ins Haus und Malin ebenfalls. Ihr Vater sollte mit diesen beiden Herren, die ihm sein Schreinerhaus wegnehmen wollten, nicht allein bleiben. Und im übrigen dachte sie nicht daran, irgendwelche Leute in ihrem Haus herumstiefeln und alles schlechtmachen zu lassen, was sie so sehr geliebt hatten. Es war ein Zuhause, in dem Menschen wohnen und sich wohl fühlen konnten, da komme keiner an und streite das ab! Und es gehörte ihnen. Sie hatten alle gemeinsam etwas Lichtes und Sommerliches und Alltagsschönes daraus gemacht, und das Schreinerhaus hatte ihnen seinen Segen gegeben, das wußte Malin. Das Schreinerhaus und Melchersons gehörten zusammen. Jetzt aber kamen andere Leute daher, die wohl nur bemerkten, daß der Fußboden hier und da nachgab und daß die Fenster ein bißchen schief und verzogen waren und daß an der Decke hier und da feuchte Stellen waren. Armes altes Schreinerhaus. Malin spürte, daß sie es beschützen und verteidigen mußte, und deshalb stand sie hier und hielt den ungebetenen Gästen und ihrem armen Vater die Tür auf. Sie gab ihm heimlich einen tröstenden Stoß, und da sah er sie mit einem dankbaren und betrübten entschuldigenden Lächeln an. Das war fast mehr, als sie ertragen konnte.

Lotta ging nicht mit hinein. Das Haus sollte ja sowieso abgerissen werden, falls Papa es kaufte, und sie wollte hier draußen bei den Kindern bleiben und ihre Überlegenheit genießen. Es waren zwar sechs, aber sie war gespannt, ob sie sechs Feinde auf einmal bewältigen konnte. Mit solchen Sachen wurde sie ganz gut fertig, denn sie hatte reichlich Übung, da es ihr niemals Schwierigkeiten bereitet hatte, sich Feinde zu machen.

Außerdem hatte sie ihren Pudel, ganz allein war sie nicht. Mulli zum mindesten fand genau wie sie selber, daß Lotta Karlberg etwas sehr Vornehmes und Hochstehendes sei, und das zu spüren, verlieh ihr Kraft. Sie hatte Mulli auf dem Arm, damit er nicht auf Pelles Welpen losgehen konnte, und dann machte sie leise trällernd eine Runde ums Haus, so als wollte sie es in Augenschein nehmen. Aber in Wirklichkeit wollte sie sehen, wie sehr sie die anderen ärgern konnte, die da herumstanden und sie wortlos anstarrten. Es gehörte Mut dazu, ganz unbekümmert vor ihren Augen hin und her zu gehen, und sie hätte es niemals tun können, wenn sie sich nicht absolut überlegen gefühlt hätte. Was kümmerten sie ein paar Bauerngören!

»Mullichen«, sagte sie, »würde es dir nicht gefallen, wenn du im Sommer hier wohnen könntest? In einem richtigen Haus natürlich, nicht in diesem alten Kasten!«

Sie rüttelte an einem Fensterblech, um Mulli zu zeigen, welchen alten Kasten sie meinte. Es war das Blech zum Fenster der Mädchenkammer, und es saß lose. Die Melcherson-Kinder wußten das, aber Lotta wußte es nicht, und sie war etwas betroffen, als sie das Blech plötzlich in der Hand hatte. Sie machte eifrige und vergebliche Versuche, es wieder an seinen Platz zu bringen, bis Niklas kam und es ihr wegnahm. Er setzte es mit einem geübten Griff wieder ein und stieß zwischen den Zähnen hervor:

»Hör mal, du kannst mit dem Abreißen von diesem alten Kasten wenigstens warten, bis ihr ihn gekauft habt.«

Lotta warf den Kopf in den Nacken, aber so wohl wie vorher war ihr nicht zumute, und um das zu verbergen, versuchte sie, ein Gespräch mit Pelle anzufangen – er hatte ja auch einen Hund, und über Hunde konnte man sich immer unterhalten.

»Soso, du hast einen Cockerspaniel«, sagte sie.

Pelle antwortete nicht. Es ging sie nichts an, was er hatte, und im Augenblick war er so verzweifelt, daß es ihn auch kaum etwas anging. »Na ja, sie sind ja niedlich, aber nicht besonders klug«, sagte Lotta. »Pudel sind viel klüger.«

Pelle gab noch immer keine Antwort, und nun kam sich Lotta blöde vor. So still durfte es nicht sein, das machte sie unsicher, und daher wandte sie sich an Tjorven.

»Du hättest wohl auch gern einen kleinen Hund, könnte ich mir vorstellen?«

Tjorven hatte Lotta so böse ins Gesicht geschaut wie keines von den anderen. Jetzt aber lächelte sie, wahrhaftig.

»Ich hab schon einen kleinen Hund«, sagte sie. »Möchtest du ihn sehen?«

Lotta schüttelte den Kopf.

»Nein, hol nicht noch mehr Hunde her. Mulli wird nur böse und geht auf ihn los.«

»Dann ist er auch ein Bongalo«, sagte Tjorven. »Aber ich wette, daß er auf meinen Hund nicht losgeht.«

»Das denkst du so«, sagte Lotta. »Du kennst Mulli nicht.«

»Wollen wir wetten?« fragte Tjorven. »Um eine Krone?« Und sie hielt das Geldstück hoch, das sie von Lottas Vater bekommen hatte. »Meinetwegen«, sagte Lotta, »aber du bist selber schuld!«

Sie merkte, wie ein erwartungsvolles Gemurmel von allen Kindern kam. Na ja, wenn sie so versessen auf eine Hunderauferei waren, dann wollte sie ihnen gleich eine vorführen! Mulli war zwar klein, aber so giftig, daß er leicht überkochte, und er ließ sich ohne Besinnen mit Hunden ein, die viel größer waren als er selber. Und mit kleineren natürlich auch. Daheim in Norrtälje war er der Schrecken aller Damen. »Er bildet sich offenbar ein, er wäre ein Bluthund«, hatte erst gestern eine gesagt, als Mulli sich auf deren großen Boxer gestürzt hatte. Also nur los, wollten diese Bauernkinder eine Hunderauferei sehen, dann sollten sie sie haben! Mulli schaffte es immer.

»Halt deinen Welpen fest«, sagte Lotta zu Pelle, »ich setz Mulli jetzt runter.«

Und das tat sie. Sie setzte Mulli auf die Erde. Nun hieß es nur, auf diesen Hund zu warten, auf den er losgehen sollte.

Bootsmann lag im Schatten der Fliederhecke und schlief, aber er erhob sich bereitwillig, als Tjorven ihn weckte. Er richtete sich in all seiner Mächtigkeit auf, und in all seiner Mächtigkeit kam er ums Haus herum. Und dort traf er Mulli.

Da hörte man ein Keuchen und einen Schrei, das kam von Mullis Frauchen. Mulli seinerseits blieb vor Entsetzen zwei Sekunden stehen und sah dem Wunder entgegen, das da näher kam. Aber dann stieß er ein Gejaul aus und schoß wie ein weißer Dampfstrahl zum Gartentor hinaus.

Bootsmann guckte ihm erstaunt nach. Weshalb hatte der es so eilig? Er hätte ihn doch wenigstens erst mal begrüßen können. Bootsmann ging als der brave Hund, der er war, zu Lotta, um sie zu begrüßen, und da flitzte Lotta mit einem Geheul hinter den Mehlbeerbaum und suchte hier Schutz.

»Nimm deinen Hund weg«, rief sie wie wild, »nimm ihn weg!«

»Warum brüllst du so?« fragte Tjorven. »Bootsmann geht auf keinen los, er ist doch kein Bongalo.«

Johann lag bäuchlings im Gras und wimmerte vor Lachen. Es hätte ebensogut ein Weinen sein können, aber jetzt lachte er, und er konnte nicht wieder aufhören.

»Oh, Tjorven«, wimmerte er, »oh, Tjorven!«

Tjorven warf ihm einen erstaunten Blick zu, aber dann drehte sie sich zu Lotta um.

»Ich hab gewonnen! Her mit der Krone!«

Lotta war wieder zum Vorschein gekommen, als sie hörte, daß Bootsmann nicht gefährlich sei. Aber jetzt war sie verlegen und böse und wollte nicht mehr mitmachen. Maulend kramte sie in ihrer Tasche nach einem Portemonnaie, und Tjorven bekam ihre Krone.

»Danke«, sagte Tjorven. Sie hielt den Kopf schief und sah Lotta an. »So eine wie du, die sollte nicht wetten«, sagte sie. »Das müssen solche sein wie ich und Herr Melcher.«

Lotta schaute ungeduldig auf die Tür des Schreinerhauses. Kam ihr Vater nicht endlich, damit sie gehen konnten? Hier wollte sie nicht mehr bleiben.

»Rat mal, was Herr Melcher mal gewettet hat«, sagte Tjorven. »Aber es ist schon viele Jahre her.«

Lotta interessierte es nicht, was Herr Melcher vor vielen Jahren getan hatte, aber das war Tjorven egal.

»Er hat mit einem anderen Herrn gewettet, daß er vierzehn Tage nichts essen wollte und vierzehn Nächte nicht schlafen. Wie findest du das?«

»Albern finde ich es«, sagte Lotta. »Das konnte er ja gar nicht.«

»Klar konnte er das«, sagte Tjorven triumphierend. »Er hat am Tag geschlafen und nachts gegessen. Was sagst du nun?«

»Oh, Tjorven«, stöhnte Johann.

Dann aber hörte er auf zu lachen, denn jetzt trat Direktor Karlberg in Begleitung von Mattsson auf die Treppe hinaus, und Johann hörte, was er da Entsetzliches sagte. Sie hörten es alle.

»Das Haus ist wertlos, aber ich werde wohl trotzdem zuschlagen. Dieses Grundstück ist kein schlechtes Geschäft, glaube ich.«

Unten an der Treppe stolperte er über Tjorven. Er hätte sie beinahe umgerannt, und das ärgerte ihn. Aber Tjorven ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Direktor Karlberg, weißt du was«, sagte sie, »ich kann einen komischen Vers. Möchtest du den hören?«

Und bevor Herr Karlberg noch antworten konnte, fing sie an:

»Adam und Eva, im Paradies daheim,

schlachteten ihr dickes, kleines Schwein.

Den Speck, den fetten, verkauften sie,

behielten für sich den Rest vom Vieh. Das war doch auch kein schlechtes Geschäft, was?«

Direktor Karlberg machte ein erstauntes Gesicht.

»Das habe ich nicht verstanden«, sagte er. Aber er steckte die Hand in die Tasche und holte eine Krone heraus. Es war nett von der Kleinen, ihm Verse aufzusagen, außerdem hatte er sie eben getreten. Er hatte es jedoch eilig, und so drückte er ihr eine Krone in die Hand, um sich auf diese Weise von ihr loszukaufen.

»Ich danke dir«, sagte er, und dann wandte er sich an Mattsson. »Ich möchte das vorher noch mit meiner Frau besprechen. Wir können abmachen, daß ich morgen nachmittag um vier Uhr zu Ihnen ins Büro komme, würde das passen?«

»Ausgezeichnet«, sagte Mattsson.

Abends saßen sie in der Küche des Schreinerhauses, Grankvists und Melchersons. Viele Abende hatten sie hier zusammen gesessen, aber nie so mutlos, nie so schweigsam. Und was sollten sie auch sagen? Melcher sagte kein Wort. Er fühlte einen Schmerz in seiner Brust, und deshalb konnte er nicht sprechen. Nisse und Märta sahen ihn schüchtern an. Sie hatten ihm klarmachen wollen, daß auch sie sehr traurig waren und daß sie ihn und seine Familie sehr vermissen würden. Aber Melcher sah so verstört aus, daß sie doch lieber schwiegen.

Nun saßen sie alle still da, während sich die Dämmerung des Sommerabends herabsenkte, und im Dunkel der Küche konnte jeder seinen eigenen düsteren Gedanken nachgehen, ohne dabei von den anderen gestört zu werden.

Was für ein seltsamer Sommer, dachte Malin. Sie erinnerte sich an den vorigen, wie ruhig und friedvoll und ereignislos er gewesen war. Was aber war mit diesem los? Welch eine Berg-und Talbahn! In einem Augenblick Petter und ein völlig unwahrscheinliches Glück, weil er da war, im nächsten Augenblick Tränen und Verzweiflung, zuerst das mit Pelle und Jocke, dann das mit Bootsmann und nun dies letzte, das Bittere, Unerträgliche, das das Ende sein würde. Ja, ein bitteres Ende war es in der Tat.

Tjorven lag auf dem Fußboden neben Bootsmann, Pelle lehnte mit dem Rücken an der Holzkiste und hatte Jumjum auf dem Schoß. Für Pelle war das Dasein sowieso immer ein bißchen Berg-und-Tal-Bahn mit riesigen Unterschieden zwischen dem Schönen und dem Traurigen, und eben jetzt war er trotz Jumjum so tief unten im Tal, wie es nur ging. Am schlimmsten war es, Papa so verzweifelt zu sehen. Alles andere konnte er aushalten, aber nicht, daß Papa traurig war. Oder Malin. Oder Johann. Oder Niklas. Sie durften nicht so traurig sein. Pelle hielt es nicht aus, alles, aber das nicht! Er drückte Jumjum gegen seine Wange und versuchte, sich von dessen Wärme und Weichheit etwas Trost zu holen, aber es nützte nicht viel.

Tjorven weinte leise und böse. Heute morgen war sie keck gewesen, da hatte sie noch nicht begriffen, was geschehen würde. Jetzt wußte sie es, und es war zum Aus-der-Haut-Fahren! Ihr tat Pelle so leid und sie sich selber auch. Weshalb mußten Menschen immer alles durcheinanderbringen? Zuerst Vesterman und jetzt dieser dicke Karlberg und seine blöde Lotta. Zum Kuckuck mit ihnen allen. Weshalb konnte man nie in Frieden gelassen werden? Nichts als Jammer in einem fort. Der arme Pelle, sie hätte ihm so gern etwas geschenkt, damit er wieder froh würde. Aber diesmal hatte sie keinen Seehund. Sie hatte nichts.

Da hörte sie Freddy drüben in der Ecke sagen: »Geld und Geld und Geld – es ist ungerecht, daß das immer so viel bedeutet. Dieser gemeine Karlberg!«

Und plötzlich fiel es Tjorven ein – wer hatte kein Geld? Sie selbst hatte die Taschen voll. Drei Kronen hatte sie, tatsächlich! »Pelle, du kriegst was von mir«, flüsterte Tjorven, damit es niemand hörte. Und sie steckte ihm ganz heimlich ihre drei Kronen zu. Sie tat es fast verschämt, denn obgleich es eine

furchtbare Menge Geld war, so reichte es wohl trotz allem nicht weit, wenn jemand so traurig war wie Pelle jetzt.

»Wie bist du lieb, Tjorven«, sagte Pelle mit rauher Stimme. Er fand auch, daß drei Kronen nicht sehr weit reichten, wenn man so traurig war, aber es half doch ein bißchen, daß Tjorven sie ihm schenken wollte.

Die vier Geheimen saßen in einer Ecke für sich und waren nicht mehr geheim, sondern nur finster. Für diesen Sommer hatten sie sich so viel vorgenommen. Sie wollten ihre Hütte auf Knorken wieder aufbauen. Sie wollten ein neues, viel größeres Floß bauen. Sie wollten eine lange Ruderfahrt zwischen den Inseln machen und zelten und eine ganze Woche wegbleiben. Sie wollten sich den Außenbordmotor leihen und ganz bis nach Kattskär hinausfahren und sich die große Grotte ansehen, die es dort gab. Und dann hatte Björn ihnen versprochen, sie mit auf Fischfang zu nehmen. Und sie hatten vor, auf dem Dachboden des Schreinerhauses ein Hauptquartier für ihren geheimen Klub einzurichten. Noch war es nicht zu spät, noch wohnten Johann und Niklas im Schreinerhaus, natürlich konnten sie dies alles machen, wenn sie wollten. Aber es machte keinen Spaß mehr. Die Lust war ihnen vergangen. Der Glanz war ganz und gar erloschen.

»Es ist komisch«, sagte Johann. »Mir ist alles egal.«

»Mir auch«, sagte Niklas.

Teddy und Freddy seufzten.

Es wurde Nacht. Grankvists waren längst nach Hause gegangen, und die Jungen schliefen. Aber Melcher und Malin saßen noch in der Küche. Dort war es jetzt ganz dunkel. Sie sahen nicht viel mehr als das helle Viereck des Fensters in der Wand und den Schein vom Feuer, der durch die Ritzen der Herdklappe schimmerte. Und sie hörten das Holz knistern und brennen, sonst war alles still. Malin mußte daran denken, wie Melcher das erste Mal Feuer in diesem Herd gemacht hatte. Wie lange war das her, und wie schön war damals alles gewesen!

Melcher hatte den ganzen Abend geschwiegen, aber nun fing er an zu reden. Alle Bitterkeit seines Herzens quoll aus ihm heraus.

»Ich hab versagt, das weiß ich. Vollkommen versagt. Tjorven hat ein wahres Wort gesprochen: Ich hab nicht den richtigen Ruck.«

»Ach, red doch nicht«, sagte Malin. »Natürlich hast du den richtigen Ruck. Das muß ich doch wissen.«

»Den hab ich nicht«, versicherte Melcher. »Sonst würde ich nämlich heute abend nicht so dasitzen und keinen Rat wissen, wenn eine solche Sache passiert. Ich hab als Schriftsteller versagt! Weshalb bin ich nicht lieber Bürochef geworden? Dann wäre das Schreinerhaus vielleicht jetzt unser.«

»Ich will keinen Bürochef im Haus haben«, sagte Malin. »Das will keiner von uns. Wir wollen dich haben.«

Melcher lachte bitter.

»Mich! Wozu wollt ihr mich haben? Ich kann meinen Kindern nicht einmal einen Sommer in Ruhe und Frieden bieten. Und dabei wollte ich euch so viel geben, wirklich, Malin, ich wollte euch alles geben, was gut und schön und wunderbar ist in diesem Leben.«

Er verstummte, er konnte nicht fortfahren.

»Aber das hast du doch getan, Papa«, sagte Malin ruhig. »Wir haben alles bekommen, was in diesem Leben gut und schön und wunderbar ist. Von dir, nur von dir! Und du hast uns gern gehabt. Das ist das einzige, was wirklich von Bedeutung ist. Wir haben es immer gespürt, wie gern du uns hast.«

Da weinte Melcher. Was hatte Malin gesagt? Er würde noch vor dem Abend weinen.

»Ja, das habe ich«, schnaufte er. »Ich habe euch gern gehabt. Wenn das von Bedeutung ist, dann …«

»Es bedeutet alles«, sagte Malin. »Und deshalb will ich nicht hören, ich hätte einen Vater, der versagt hat. Dann mag es mit dem Schreinerhaus gehen, wie es will.«

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