»Ich kann nicht aufhören zu weinen«, sagte Tjorven erstaunt. Sie saß in der Küche auf dem Fußboden, ganz dicht an Bootsmann gedrückt, und Bootsmann fraß Beefsteakhack. Ein ganzes Kilo erstklassiges Hack hatte er bekommen, und alle hatten ihn um Verzeihung gebeten. Nun saß die ganze Familie im Kreis um ihn herum und himmelte ihn an und streichelte ihn, und Tjorven fand das alles wunderbar schön.
»Aber was ist das bloß, ich kann nicht aufhören zu weinen«, sagte sie ärgerlich und wischte sich mit der Faust ein paar Tränen ab. Sie erinnerte sich an alles, was sie in diesen letzten schrecklichen Stunden gedacht hatte. Sie hatte sich geirrt. Bootsmann hetzte keine Schafe, und wenn sie sich zehn Mosesse halten würde. Er war so gutartig wie immer. Aber sie hatte auch richtig gedacht, und richtig sollte es von nun an zugehen. Alles sollte werden wie früher, bevor Moses kam und alles durcheinanderbrachte.
Ach ja, Moses! Sie fragte sich, wie es ihm in seinem Bootsschuppen wohl gehen mochte. Und plötzlich fiel ihr Jocke ein. Und Pelle, der arme Pelle, weshalb konnte er jetzt nicht auch so fröhlich sein wie sie? Alle sollten jetzt fröhlich sein.
Und natürlich freute sich Pelle, als er hörte, daß Bootsmann unschuldig war, sosehr man sich freuen konnte, wenn man selber ganz verzweifelt war. Er hatte um Bootsmann ebenso getrauert wie um sein Kaninchen, und es war ein Trost, daß Bootsmann nicht schuld an Jockes Tod war. »Ich hab ein viel besseres Gefühl, weil Bootsmann es nicht war«, sagte er zu Melcher.
Dann aber wandte er den Kopf ab und sagte mit leiser Stimme: »Für Jocke ist es aber ganz einerlei, wer es getan hat.«
In der Nacht träumte er von Jocke, einem lebendigen Jocke, der angehopst kam und Löwenzahn haben wollte. Aber es wurde wieder Morgen, und es gab keinen Jocke mehr. Nicht einmal sein Stall war mehr da. Johann und Niklas hatten ihn weggeräumt, damit Pelle ihn nicht mehr sehen mußte. Sie waren nett, seine Brüder, sie hatten ihm Sachen geschenkt. Er hatte ein feines Modellschiff bekommen, das Niklas gebaut hatte, und Johann hatte ihm sein altes Taschenmesser geschenkt. Pelle war so dankbar, daß er hätte platzen können, und dennoch war dies ein schwerer Morgen, und er überlegte sich, ob er es immer so empfinden würde und wie er dann seine langen Tage ertragen sollte.
An diesem Abend begruben sie Jocke in Janssons Kuhwäldchen, auf einer kleinen Lichtung mit Steinbrech im Gras und hohen Birken rundum.
HIER RUHT JOCKE
Pelle hatte es auf ein Stück Holz geschrieben, und nun lag er auf den Knien und drückte die Grasbüschel auf Jockes Grab fest, während Tjorven und Stina und Bootsmann zusahen. O ja, Jocke sollte es schön hier haben mit blühendem Steinbrech und den Amseln, die ihm abends etwas vorsangen, genau wie jetzt.
Tjorven und Stina wollten auch singen. Das tat man bei Begräbnissen, das gehörte dazu. Viele Male hatten sie tote Vögel begraben und immer dasselbe Lied gesungen. Jetzt sangen sie es für Jocke.
»Die Welt, sie ist ein Jammertal, kaum daß man lebt …«
»Nein, das singen wir nicht«, sagte Tjorven schnell.
Was war mit Pelle? Weshalb weinte er? Er hatte bis jetzt nicht geweint, aber nun saß er dort drüben auf einem Stein mit dem Rücken zu ihnen, und sie konnten kleine, merkwürdige Schluchzer hören. Sie schauten sich unschlüssig an, und Stina sagte ängstlich:
»Er weint vielleicht, weil die Welt ein Jammertal ist?«
»Das ist sie ja gar nicht«, sagte Tjorven. Und sie rief Pelle zu:
»Ach wo, Pelle, die Welt ist kein Jammertal. Wir singen das bloß für Jocke.«
Sie wollte unter gar keinen Umständen, daß noch mehr geweint würde. Auf irgendeine Weise mußte sie Pelle wieder froh machen, und plötzlich wußte sie auch, wie sie das anstellen konnte.
»Pelle, du kriegst was von mir, wenn du mir versprichst, daß du nicht mehr traurig bist.«
»Was denn?« brummte Pelle, ohne sich umzuwenden.
»Du kriegst Moses!«
Da drehte er sich um, der weinende Pelle, und starrte Tjorven mißtrauisch an. Aber sie versicherte ihm:
»Doch, du kriegst ihn geschenkt.«
Und zum ersten Mal seit jenem Augenblick des Leides, als Jocke verschwand, lächelte Pelle wieder.
»Bist du aber lieb, Tjorven!«
Sie nickte.
»Ja, das bin ich. Und dann habe ich ja auch Bootsmann.«
Stina schmunzelte.
»Nun haben wir alle wieder ein Tier. Wir müssen aber zu Moses gehen und es ihm erzählen, das ist doch klar.«
Darüber waren sie sich einig. Moses mußte erfahren, wem er jetzt gehörte. Außerdem mußte er Futter haben, der Ärmste!
»Lebe wohl, Jockelchen«, sagte Pelle weich. Dann rannte er davon, ohne sich umzusehen.
Und plötzlich war es, als hätte sich ein Krampf in ihm gelöst. Plötzlich war er ein ganz anderer Pelle, ein wilder und fröhlicher Pelle, der den ganzen Weg bis zur Toten Bucht hüpfte und rannte und sich zuletzt auf die Erde warf und den Abhang zu den Bootsschuppen hinunterkullerte. »Du freust dich wohl so, weil du Moses bekommst, was?« sagte Tjorven. Pelle überlegte.
»Ich weiß nicht – vielleicht. Aber, weißt du, es ist so traurig, wenn man traurig ist, das hält man nicht lange aus.«
»Warte nur, bis du Moses siehst«, sagte Tjorven und öffnete die Tür zum Schuppen.
Und dann standen sie da und starrten bestürzt ins Leere. Hier war kein Moses. Er war weg.
»Er ist abgehauen«, sagte Tjorven.
»Abgehauen! Und hat den Haken selber wieder drübergelegt, was?« sagte Pelle.
Moses war nicht abgehauen. Jemand hatte ihn gestohlen. Tjorven wandte sich zu Stina um.
»Hat dich irgendein Mensch gesehen, als du gestern hierhergegangen bist?«
Stina dachte nach.
»Nein, kein Mensch. Bloß Vesterman. Er wollte endlich von Rotkäppchen hören.«
»Dir kann man ja wohl alles einreden«, sagte Tjorven. »Oh, dieser Vesterman, so ein Lump!« Tjorven stieß gegen Moses' Schlafkiste, daß sie an die Wand flog.
»Ich reiß ihm die Haare aus. Er ist ein Dieb! Ich schieß ihn tot!« schrie sie wie rasend.
»Ich weiß, was wir machen«, sagte Pelle. »Wir rauben Moses wieder zurück. Ich wette, daß er ihn in seinem Bootsschuppen hat, und da ist sicher auch nur ein Haken an der Tür.«
Tjorvens Wut legte sich.
»Heute abend, wenn Vesterman schläft«, sagte sie eifrig.
Stina wurde ebenfalls eifrig, nur eins machte ihr Sorge.
»Wenn wir nun aber eher einschlafen als Vesterman?« sagte sie.
»Das tun wir nicht«, versicherte Tjorven drohend. »Nicht, wenn wir so wütend sind wie jetzt.«
Stina war offenbar nicht wütend genug, denn sie konnte sich nicht wach halten. Tjorven und Pelle aber konnten es, und, was noch merkwürdiger war, niemand bemerkte sie, als sie davonschlichen.
An diesem Abend war auf Saltkrokan Fuchsjagd abgehalten worden, um den Fuchs aus seinem Versteck aufzuscheuchen. Und tatsächlich gelang es ihnen, aber es wurde trotzdem kein Fuchs geschossen. Denn als sie ihn draußen auf der Landzunge in die Enge getrieben hatten und er keinen anderen Ausweg sah, da glitt er ins Wasser und schwamm davon. Dieser Fuchs wußte sich zu helfen, und bis zur nächsten Insel war es nicht weit.
Nisse Grankvist schickte einen Schuß hinter ihm her, verfehlte ihn aber. Darüber war Pelle froh, als er es hörte.
»Ich finde, Füchse sollen auch leben dürfen«, sagte er. »Und auf Norrsund gibt es jedenfalls keine Kaninchen und keine Schafe und keine Hühner.«
»Das wird ein mageres Leben für ihn werden«, sagte Tjorven zufrieden. »Der Schurke, weshalb mußte er Jocke totbeißen.«
»Das hat er nur getan, weil er ein Fuchs ist«, erklärte Pelle ihr. »Dann muß er sich ja auch wie ein Fuchs verhalten.«
»Es mag ja sein, daß er ein Fuchs ist, aber deswegen kann er sich doch wie ein Mensch benehmen«, sagte Tjorven und wollte den Fuchs durchaus nicht begreifen.
Übrigens – allerdings – sich wie ein Mensch benehmen? Wie Vesterman zum Beispiel? War das so viel besser? Hinzugehen und einen armen kleinen Seehund zu stehlen, nur um ihn zu verkaufen! Aber daraus würde nichts werden, darauf konnte Vesterman Gift nehmen! versicherte Tjorven.
»Wenn nur Cora nicht bellt«, sagte sie.
Aber Cora bellte. Sie stand neben ihrer Hundehütte und bellte so laut sie konnte, als sie Tjorven und Pelle heranschleichen sah. Aber damit hatte Pelle gerechnet. Im Schreinerhaus hatte es heute Rinderbrust gegeben. Und nun warf er Cora ein paar prächtige Rindsknochen hin und redete ihr gut zu. Da wurde sie still. Trotzdem hatten sie Angst auszustehen, bis sie wußten, ob jemand herauskommen und nachsehen würde, weshalb Cora gebellt hatte. Lange Zeit lagen sie unter dem Fliederstrauch am Hoftor und warteten. Aber als nichts zu hören war, schlichen sie sich vorsichtig auf den Hof. Dort oben auf einem Felsbuckel vor ihnen lag das Wohnhaus, an dem sie vorbeimußten, um zum Bootsschuppen hinunterzukommen. Es war still und dunkel. Wie ein schwarzer, drohender Würfel lag das Haus dort auf seiner Felsböschung mit dem hellen Nachthimmel darüber. Niemand rührte sich.
»Die schlafen wie die Murmeltiere«, sagte Tjorven zufrieden. Das hatte sie jedoch zu früh gesagt, denn plötzlich wurde es in einem Fenster dort drinnen hell, und Tjorven hielt den Atem an. Sie sahen Frau Vesterman, wie sie gerade die Petroleumlampe über dem Tisch anzündete. Da liefen sie leise und schnell geradewegs auf das Fenster zu und warfen sich auf die Erde dicht an der Hauswand. Voller Schrecken hockten sie hier und warteten. Hatte sie sie gesehen oder nicht? Vielleicht hatte sie drinnen im Dunkeln gestanden, bevor sie die Lampe anzündete, und hinter dem Vorhang herausgelugt und gesehen, wie sie durchs Hoftor gingen. Kein Mensch konnte sich an einem hellen Juniabend auf diesem Felsbuckel verstecken, wo es nicht einen einzigen Busch gab, hinter den man kriechen konnte.
Aber als Frau Vesterman nicht herausgestürzt kam, begannen sie wieder Mut zu fassen. Hier unterm Fenster konnte sie sie nicht sehen, falls sie sich nicht direkt hinauslehnte und auf sie heruntersah. Sie hofften von ganzem Herzen, daß sie das nicht tun möge. Wenn nämlich Frau Vesterman anfinge, Krach zu schlagen, dann kriegte man sie mit ein paar Rindsknochen nicht zum Schweigen, das wußten sie. Sie trauten sich nicht, sich zu rühren, nicht zu flüstern, kaum zu atmen. Sie konnten nur stilliegen und lauschen. Und sie hörten, wie Frau Vesterman sich dort drinnen bewegte. Das Fenster stand offen, sie war ihnen so nahe, daß sie die Hand über das Fenstersims strecken und guten Tag sagen konnten, wenn sie wollten. Sie murmelte, und mit einemmal fing sie an zu lesen. Ja, wahrhaftig, fing sie nicht an, sich selbst laut etwas vorzulesen? Tjorven stöhnte ganz leise. Es wäre ja noch gegangen, wenn sie etwas aus der Norrtäljer Zeitung oder so gelesen hätte, aber hier zusammengekrümmt zu liegen wie eine Garnele und sich Dinge anhören zu müssen, von denen man nicht das geringste verstand, das war zuviel.
Pelle verstand es auch nicht, aber ihm schien so, als wäre es etwas aus der Bibel. Sie hatte eine eintönige Stimme, aber sie las ohne Stocken. Pelle horchte. Mit einemmal kamen einige Worte, die aus dem Unerklärlichen heraustraten und zu schimmern begannen, wie Worte manchmal für ihn schimmern konnten. Oh, wie klang es schön!
»Nähme ich Flügel der Morgenröte, machte ich mir eine Wohnung zuäußerst im Meer …«* [Psalm 139,9. Der Luthertext lautet: »Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer …« Da im folgenden immer wieder Bezug auf die schwedische Bibelübersetzung genommen wird, mußte diese wörtlich übernommen werden. D. Übers.] las Frau Vesterman, und dann seufzte sie einmal auf, ehe sie weiterlas.
Aus der Fortsetzung machte sich Pelle nichts. Es waren nur diese Worte, die durfte er nicht vergessen! Er murmelte sie leise vor sich hin. »Nähme ich Flügel der Morgenröte, machte ich mir eine Wohnung zuäußerst im Meer …« Wie zum Beispiel das Schreinerhaus. Das lag auf der Insel zuäußerst im Meer. Hier wollte man sein. Hierher konnte man sich sehnen, wenn man daheim in der Stadt war. Wenn man dann Flügel der Morgenröte hätte und hierherfliegen könnte über alle Fjorde und Gewässer, oh, wie schön wäre das! Zu meiner Wohnung zuäußerst im Meer – ins Schreinerhaus.
Pelle war ganz in seine Gedanken vertieft, er lag da und murmelte und merkte nicht, daß Frau Vesterman verstummt war, bis Tjorven ihn knuffte. Was würde jetzt geschehen? Jetzt löschte sie die Lampe, und dort drinnen wurde es dunkel. Und plötzlich hörte Pelle jemanden genau über seinem Kopfe schwer atmen. Er wagte nicht hochzugucken, aber ihm war klar, daß Frau Vesterman am offenen Fenster stand, und es war entsetzlich, hier zusammengekrümmt zu liegen und nur zu horchen und zu warten. Jetzt – jetzt würde sie sie entdecken, dessen war er sicher! Als er aber gerade merkte, daß er es keine Sekunde länger aushalten konnte, schlug das Fenster mit einem Knall zu, so daß sie beide, er und Tjorven, zusammenzuckten, und dann war es still. Sie blieben noch eine Weile so zusammengekauert liegen und horchten auf das Klopfen ihrer eigenen Herzen, dann rannten sie schnell und gebückt um die Hausecke und zum Bootsschuppen hinunter.
»Moses, bist du da?« flüsterte Tjorven.
Und es war kein Zweifel, Moses war da, denn er begann zu schreien. Und Tjorven öffnete die Tür.
Ein Schauder überlief Stina, als sie ihr am nächsten Tag alles erzählten. Wie Moses geschrien hatte, wie sie sich mit ihm abgeschleppt hatten und wie Vesterman im Hemd herausgekommen war und hinter ihnen her geflucht hatte, als sie gerade durchs Hoftor hatten gehen wollen, wie Cora gebellt hatte und wie sie Moses endlich ins Wägelchen gehoben hatten und wie sie mit ihm nach Hause zum Schreinerhaus gerast waren, während Vesterman im offenen Hoftor gestanden und gedroht hatte:
»Na warte, Tjorven, wenn ich dich zu fassen kriege!«
»Gut, daß ich nicht mit dabei war«, sagte Stina. »Ich wäre auf der Stelle tot umgefallen.«
Moses hatte in dieser Nacht neben Pelles Bett geschlafen. Johann und Niklas waren verdutzt, aber durchaus nicht unzufrieden, als sie morgens erwachten und ihren neuen Stubengefährten erblickten.
»Ich muß ihn ja hierhaben, sonst kommt Vesterman und holt ihn mir weg«, erklärte Pelle. »Aber jetzt müßt ihr mir helfen, Papa zu überreden.«
Wie erwartet, kam sein Vater mit Einwänden.
»Es ist ja gut und schön, daß Tjorven dir Moses geschenkt hat«, sagte Melcher, »aber auf die Dauer ist es wirklich nicht das richtige, daß ihr zwei und Vesterman euch aufführt wie Gangster und euch nachts gegenseitig Seehunde klaut.«
Und sie versuchten gemeinsam, sich etwas auszudenken, wie man es richtiger machen konnte. Die ganze Familie saß beim Morgenkaffee in der Küche, und sie konnten hören, wie Moses oben im Zimmer der Jungen herumwatschelte.
Malin war von dem neuen Untermieter nicht sonderlich entzückt, aber Pelle zuliebe mußte sie ihn ertragen. Pelle hatte gerade jetzt Moses nötig, das verstand sie, und Vesterman sollte bitte auch so freundlich sein und es verstehen.
»Der will ja nur Geld haben«, sagte Johann. »Kannst du, Papa, ihm nicht 'n paar Hunderter in die Hand drücken, damit Pelle seinen Seehund behalten kann?«
»Drück ihm doch selbst 'n paar Hunderter in die Hand, dann kannst du mal sehen, wie gut das tut«, antwortete Melcher. »In diesem Fall müssen wir uns gegenseitig helfen. Ihr seid ja sonst nicht auf den Kopf gefallen, wenn es darum geht, Geld zu verdienen. Fangt nur an!«
Und sie fingen an. Jedes Kind auf Saltkrokan wollte bei dem »Unternehmen Moses«, wie Melcher es nannte, mitmachen. Es war alles wie ein Spiel. Plötzlich machte es soviel mehr Spaß, Erdbeerbeete zu jäten und Wasser zu tragen und Boote leer zu schöpfen und Stege zu teeren und für die Sommergäste Koffer zu schleppen, wenn man wußte, daß mit jedem Öre, das man verdiente, die Summe anwuchs, mit der man Vesterman den Moses abkaufen wollte.
Vesterman grinste, als er zum Kaufmann kam und von dem Unternehmen Moses hörte.
»Von mir aus gern«, sagte er. »Mir ist es schnuppe, wer den Seehund kauft. Aber zweihundert will ich haben, und zwar noch in dieser Woche. Denn sonst verkauf ich ihn anderweitig.«
»Zum Kuckuck mit dir, Vesterman«, sagte Tjorven aufrichtig. Da warf Vesterman ihr ein Fünfundzwanzig-Öre-Stück hin.
»Ein kleiner Beitrag für Moses«, sagte er. »Den werdet ihr nötig haben, denn ich glaube nie und nimmer, daß ihr bis Samstag zweihundert zusammenkriegt. Länger warte ich nicht.«
»Zum Kuckuck mit dir«, sagte Tjorven noch einmal sicherheitshalber. Sie hob das Geldstück jedoch auf und steckte es in Moses' Sparbüchse, die auf dem Ladentisch stand.
»Nein, Tjorven, so etwas sagt man nicht«, sagte Nisse streng. Dann wandte er sich an Vesterman. »Du bist eigentlich ein Gauner, Vesterman, weißt du das?«
Vesterman grinste nur.
Das Unternehmen Moses nahm seinen Fortgang, von Tag zu Tag immer lebhafter.
»Sieh mal hier, Moses, deinetwegen hab ich Blasen an den Händen«, sagte Freddy, nachdem sie einen ganzen Vormittag Teppiche geklopft hatte.
Aber Moses führte sein eigenes Leben und kümmerte sich um keinen Menschen, ihm konnte das Unternehmen Moses gründlich gestohlen bleiben. Seine einsamen Stunden in verschiedenen Bootsschuppen waren ihm offensichtlich nicht gut bekommen. Man konnte ihn kaum wiedererkennen. Er war zappelig geworden und rastlos, geradezu etwas bösartig. Er schrie und zischte viel mehr als früher. Manchmal versuchte er zu beißen.
»Er gehört nicht zu den Haustieren, die ich am liebsten um mich habe«, sagte Malin. Sie sagte es jedoch nicht so, daß Pelle es hörte. Pelle betete Moses in derselben Weise an, wie er Jocke angebetet hatte, und wenn Moses ihn anzischte, dann streichelte er ihn nur. »Armer kleiner Moses, was hast du? Gefällt es dir nicht bei mir?«
Es hatte den Anschein, als gefiele es Moses nirgends mehr. Im Bootsschuppen wollte er unter keinen Umständen sein und auch nicht im Teich. Am liebsten hielt er sich unten am Ufer auf, aber dort wagte Pelle ihn nicht mehr hinzulassen, denn Onkel Nisse hatte ihn gewarnt.
»Tu ihn in den Teich, sonst reißt er bestimmt eines schönen Tages aus.«
Und Pelle hielt Moses im Teich eingesperrt und fragte sich betrübt, wie es wohl wäre, wenn man ein Tier besäße, das nicht ausreißen wollte. Jocke war ausgerissen – zu seinem eigenen Verderb –, aber Pelle hatte gehofft, daß es mit einem Seehund anders wäre. Der arme Moses, weshalb war er so rastlos geworden?
Tottis Bein war jetzt fast geheilt, aber er war noch nicht auf die Schafweide zurückgekommen. Er folgte Stina, wo sie ging und stand. Und Bootsmann folgte Tjorven. Er hatte das nicht von sich aus wieder angefangen, denn er gehörte nicht zu den Hunden, die sich aufdrängten, solange er nicht wußte, wie es sein sollte. Schweigend und friedlich hatte er sich auf seinen gewohnten Platz neben der Treppe gelegt, bis Tjorven hinging und die Arme um ihn schlang.
»Nee, Bootsmann, hier sollst du nicht mehr liegen, niemals mehr!«
Da kam er, und dann wich er nicht mehr von ihrer Seite.
Da liefen Tjorven und Stina herum, jede mit ihrem Tier. Aber Pelle hatte keines, das ihm auf den Fersen folgte.
»Moses gehört jedenfalls dir«, sagte Tjorven.
Pelle machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Ich glaube allmählich, Moses gehört nur sich allein«, sagte er.
Dann kam der Samstag, der Tag, an dem Vesterman seine zweihundert Kronen bekommen sollte.
Im Kaufmannsladen von Saltkrokan herrschte Aufregung. Jetzt sollte das Geld gezählt werden. Der Laden war voller Leute, denn an dieser Sache war die ganze Insel interessiert. Keiner von den Inselbewohnern gönnte Vesterman auch nur ein Öre.
Sich mit Tjorven anzulegen, mit ihrer Tjorven, das sollte er lieber bleiben lassen! Sie standen alle auf ihrer Seite.
Vesterman fühlte das, und deshalb sah er noch unverschämter aus als sonst, als er zur festgesetzten Stunde im Laden erschien und sich zum Ladentisch durchdrängte. Dahinter standen alle Kinder in einer Reihe und starrten ihn an, alle Melchersons und alle Grankvists. Tjorven sah am bösesten aus. Es war ja wohl auch die Höhe, daß Vesterman Geld für einen Seehund haben wollte, den er ihr einmal geschenkt hatte und an den sie so viel Milch und Strömlinge und Pflege gewandt hatte.
Vesterman grinste sie an und versuchte witzig zu sein.
»Du hast ja so einen sanften Blick, Tjorven. Na, was glaubst du, kriegst du einen Seehund, oder nicht?«
»Das werden wir sehen«, sagte Nisse und kippte die Sparbüchse auf dem Ladentisch aus.
Es wurde ganz still, als er anfing zu zählen. Keiner sagte einen Mucks. Man hörte lediglich das Geld klappern und Nisses Gemurmel.
Pelle hatte sich auf eine Margarinekiste hinter dem Ladentisch gehockt. Es war scheußlich, dieses Klappern zu hören. Wenn nun das Geld nicht reichte? Armer Moses, wenn Vesterman ihn nun mitnahm und an Petter verkaufte? Was dann?
Da kam ihm ein Gedanke, der ein bißchen weh tat. Wer sagte denn, daß das für Moses so viel schlimmer wäre? Es machte vielleicht mehr Spaß, im Meer herumzuschwimmen mit einem Radiosender auf dem Rücken, als hier auf Saltkrokan im Teich herumzuplanschen. Aber am allermeisten Spaß, dachte Pelle, muß es einem Seehund natürlich machen, ganz frei im Meer zu schwimmen ohne einen Radiosender oder irgendwas, nur wie ein ganz gewöhnlicher Seehund unter anderen Seehunden.
Mitten in seinen Gedanken hörte er Onkel Nisses Stimme:
»Hundertsiebenundsechzig Kronen und achtzig Öre.«
Ein Raunen der Enttäuschung ging durch den Kaufmannsladen von Saltkrokan, und alle starrten Vesterman an, als wäre er daran schuld, daß nicht mehr Geld in der Sparbüchse war. Nisse blickte ihm fest ins Gesicht.
»Du läßt hoffentlich mit dir handeln?«
Vesterman blickte ebenso fest zurück.
»Läßt du je mit dir handeln?«
Da stellte sich Tjorven plötzlich dicht vor Vesterman hin.
»Vesterman, weißt du was? Ich hab dich nie gebeten, daß du mir den Seehund schenkst. Ich hab ihn von dir geschenkt bekommen, erinnerst du dich?«
»Fang jetzt nicht wieder damit an«, sagte Vesterman.
Tjorven musterte ihn von oben bis unten.
»Du bist eigentlich ein Gauner, Vesterman, weißt du das?« fragte sie.
Aber jetzt mischte sich Märta ein.
»Nein, Tjorven, das sagt man aber nicht.«
»Doch, das sagt Papa«, sagte Tjorven, und alle lachten herzlich. Vesterman lief rot an vor Zorn. Alles konnte er ertragen, nur nicht, daß man ihn auslachte.
»Wo ist der Seehund? Ich will ihn sofort haben.«
»Laß das, Vesterman«, sagte Melcher, der bisher kein Wort gesprochen hatte. »Ich bezahl die fehlende Summe.«
Aber jetzt wurde Vesterman böse und kehrte alle Stacheln heraus. »Das läßt du schön bleiben! Ich hab einen anderen, einen besseren Anwärter.« Und da geschah etwas Seltsames: Genau in diesem Augenblick ging die Tür auf, und in den Laden trat kein anderer als Vestermans Anwärter. Petter Malm stand in der offenen Tür. Es war Malins Prinz, der da kam, und als Malin ihn sah, begann sie zu zittern. Wie hatte sie sich nach ihm gesehnt, seit er weggefahren war, am allermeisten in den Tagen, als mit Pelle alles so zum Verzweifeln war. Da hatte sie sich so sehr nach ihm gesehnt, daß sie meinte, er müsse es spüren, wo immer er auch war. Und jetzt stand er hier, er war zurückgekommen. Das mußte bedeuten, daß auch er Sehnsucht gehabt hatte.
»Wohnst du in diesem Laden?« fragte Petter. Er nahm ihre Hände, und seine Stimme klang froh, denn er hatte im Schreinerhaus vergeblich nach ihr gesucht. Jetzt hatte er sie gefunden, gottlob, sie war hier, und ihre Augen waren warm und glänzten, als sie ihn ansah. Das erste aber, was sie sagte, klang wie ein Vorwurf. »Petter, mußt du wirklich einen Seehund haben?«
Bevor Petter antworten konnte, ging Vesterman auf ihn zu, zufrieden grinsend. Jetzt konnten die Inselbewohner stehen und starren, jetzt würde er ihnen zeigen, wie Kalle Vesterman Geschäfte machte, Kalle Vesterman, der seine Seehunde verkaufte, an wen er wollte, ohne jemanden auf Saltkrokan um Erlaubnis zu fragen!
»Sie kommen gerade richtig«, sagte er. »Sie können den Seehund jetzt kaufen. Dreihundert, dann sind wir quitt.« Petter Malm lächelte ihn freundlich an.
»Dreihundert, ist das nicht ein bißchen viel für einen Seehund? Ich hab nicht die geringste Lust, so viel auszugeben.«
Tjorven und Stina warfen ihm einen Blick zu, der zeigte, was sie von ihm dachten. Ach, weshalb hatten sie nur diesen Frosch geküßt! »Na schön, dann zweihundert«, sagte Vesterman eifrig. Immer noch lächelte Petter freundlich, denn er hatte ein freundliches Gemüt. »Soso, für zweihundert kann ich ihn kriegen, das ist billig. Das dumme ist nur, ich will gar keinen Seehund kaufen.«
»Sie wollen keinen …« Vesterman sperrte einfältig Mund und Augen auf. »Sie sagten doch aber …« begann er wieder.
»Danke, aber ich möchte tatsächlich keinen Seehund haben«, sagte Petter Malm. »Jedenfalls nicht diesen Seehund.«
Im Kaufmannsladen brach ein Jubel los, und Vesterman ging wütend zur Tür. Aber Nisse rief ihm nach:
»Nimm trotzdem das Geld hier und gib dich damit zufrieden!«
Jetzt hatte Vesterman die Nase voll von allem, was Seehundgeschäfte hieß, und außerdem schämte er sich, nicht weil er habsüchtig war, sondern weil sie alle dachten, er sei es. Deshalb wollte er kein Geld haben und keinen Seehund und überhaupt nichts. Er wollte nur noch aus dem Laden wegkommen und keinen Menschen sehen, der auf Saltkrokan zu Hause war.
»Nimm du deinen alten Seehund, Tjorven«, sagte er. »Ich mach mir einen Dreck aus dem und aus euch allen miteinander.«
Und dann war er verschwunden.
Jetzt wurde Pelle lebendig.
»Nein, er muß aber das Geld nehmen, sonst merk ich doch gar nicht, daß es wirklich mein Seehund ist.«
Und er riß die Tüte an sich, in die Nisse Grankvist das Geld gesteckt hatte, und rannte hinter Vesterman her.
Sie warteten alle mit Spannung, und nach einer Weile kam Pelle zurück, rot im Gesicht.
»Doch, er hat's schließlich genommen. Er sagte nämlich, er hätte es nötig.«
Malin strich ihm zärtlich über die Wange.
»Nun, Pelle, ist es jedenfalls dein Seehund.«
»Und jetzt hat man hoffentlich endlich mal einen freien Augenblick!« sagte Teddy.
Was dann weiter geschah, schrieb Malin in ihr Tagebuch: Friede mit Moses, wo immer er im Meer schwimmt! Pelle hat seinem Seehund gestern abend die Freiheit geschenkt. Wir kamen gerade zum Steg hinunter, Papa, Petter und ich, als es geschehen war. Da stand er, mein herzliebes Brüderchen, mit blanken Augen, und schaute seinem Seehund nach, den er noch immer weit draußen auf dem Fjord undeutlich sehen konnte.
»Warum denn, Pelle, warum denn nur?« fragte Papa.
Und Pelle sagte mit rauher Stimme: »Ich wollte nicht, daß ein Tier, das mir gehört, sich woanders hinsehnen muß. Jetzt ist Moses da, wo Seehunde sein sollen.«
Ich hatte einen Kloß im Hals und sah, daß Papa auch ein paarmal schluckte. Wir schwiegen. Aber Tjorven und Stina waren auch dabei, und Tjorven sagte:
»Pelle, weißt du was, es hat nicht viel Sinn, daß man dir einen Seehund schenkt. Jetzt hast du ja doch kein Tier, das dir gehört.«
»Bloß meine Wespen«, sagte Pelle, und seine Stimme klang noch rauher. Da geschah etwas – ach, Petter, dafür werde ich dich segnen, solange ich lebe! Petter stand mit Jumjum auf dem Arm da und sagte plötzlich so ruhig, wie er alles sagt:
»Ich finde aber, Pelle soll nicht nur Wespen haben. Ich finde, er soll Jumjum haben.«
Er trat auf Pelle zu und legte ihm den kleinen Hund in die Arme. »Jumjum wird sich nie woanders hinsehnen«, sagte Petter.
»Nee, denn der Hund, der kriegt es mal gut«, sagte Tjorven, als sie endlich begriffen hatte, was passiert war.
Pelle war ganz blaß geworden und schaute abwechselnd Petter und Jumjum an. Er bedankte sich nicht, er sagte gar nichts. Ich aber tat etwas, was ich jetzt hinterher selber nicht begreife. Ich stürzte zu Petter hin und gab ihm einen Kuß, und als ich das getan hatte, gab ich ihm noch einen – und dann noch einen!
Es sah so aus, als ob Petter es mochte.
»Denkt bloß, daß so ein kleiner Welpe so viel bewirken kann«, sagte er. »Weshalb habe ich nicht einen ganzen Wurf mit hergebracht?«
Tjorven und Stina schauten uns belustigt zu. Ich glaube, sie fanden diese Vorstellung interessant. Aber Tjorven sagte:
»Küß ihn nicht zuviel, Malin. Man kann nie wissen, vielleicht wird er dann doch wieder ein Frosch!«
Kleine Kinder haben wahrhaftig seltsame Einfälle in ihren runden Schädeln. Ich weiß nicht, wo sie es herhaben, aber Tjorven und Stina scheinen allen Ernstes zu glauben, daß Petter ein verwunschener Froschprinz ist, einem Graben entstiegen. In Stinas armem Köpfchen wimmelt es ja von verwunschenen Prinzen und Aschenbrödeln und Rotkäppchen und wer weiß was allem, und als sie Moses draußen auf dem Fjord verschwinden sah, da sagte sie zu Tjorven:
»Ich glaub jedenfalls, daß Moses der kleine Sohn vom Meerkönig ist. Da draußen schwimmt Prinz Moses!«
Ja, er schwamm dort draußen, und ich hoffe von Herzen, Prinz Moses ist so glücklich, wie Pelle es sich vorstellt.
»Du sollst mal sehen, Pelle, Moses kommt hin und wieder her und besucht dich«, sagte Petter. »Er ist immerhin ein zahmer Seehund, und unvermutet macht er eines Tages einen kleinen Ausflug nach Saltkrokan.«
»Wenn der Meerkönig ihn läßt, ja«, sagte Stina.
Nun ja, ob nun der Meerkönig Moses ziehen läßt oder nicht, Pelle ist in diesem Augenblick jedenfalls ein sehr glücklicher Pelle.
Und ich bin eine glückliche Malin. Petter fuhr zwar in die Stadt zurück, als die »Saltkrokan I« vor einer Weile abdampfte, aber trotzdem – man denke –, ich weiß jetzt endlich, wie es ist! Und tatsächlich ist es fast so, daß man meint, man müsse daran sterben. Wie lange kann es so sein? Petter ist ein beständiger Petter, sagt er. Bin ich eine beständige Malin? Wie soll ich das wissen? Ich hoffe es aber. Ich glaube es. Eins ist auf alle Fälle sicher: Pelle braucht eine beständige Malin, und die muß er haben, was auch geschehen mag. Pelle hat Petter gern, das ist richtig, und wie wäre es auch anders möglich? Aber gleichzeitig ist er wie gewöhnlich ein wenig ängstlich, und als er gestern abend in seinem Bett lag, Jumjum neben sich und so glücklich, daß er nur so strahlte, da wurde er plötzlich ernst und schlang die Arme um meinen Hals.
»Du bist doch auf jeden Fall meine Malin?«
Ja, mein allerliebstes Brüderchen, das bin ich. Und wenn Tjorven und Stina auch der Meinung sind, daß ich eigentlich schon viel zu sehr vom Alter gebeugt sei, um mir überhaupt einen verwunschenen Prinzen angeln zu können, so finde ich trotzdem, daß der Prinz ein paar Jahre auf mich warten kann. Und er hat gesagt, er werde es tun.
Jetzt dämmert eine neue Juninacht über Saltkrokan herauf. Und jetzt will ich schlafen. Morgen aber werde ich erwachen und dann auch glücklich sein. Das glaube ich, tralala!