Das Schreinerhaus

Keiner von der Familie sollte jemals diesen ersten Abend im Schreinerhaus vergessen.

»Fragt mich, wann ihr wollt«, sagte Melcher später, »und ich erzähle euch genau, wie es war. Muffige Luft in der Hütte, klamme Bettwäsche, Malin mit ihrer kleinen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, von der sie immer meint, ich bemerke sie nicht. Und ich mit einem Druck auf der Brust vor Beklommenheit! Wenn ich nun etwas ganz Dummes gemacht hatte! Aber die Bengels waren vergnügt wie die Eichhörnchen und rannten rein und raus, das weiß ich noch. Ja, und dann erinnere ich mich noch an die Amsel, die im Mehlbeerbaum vorm Hause saß und sang, und dieses leise Plätschern der Wellen gegen den Bootssteg und wie still es war und daß ich plötzlich ganz aus dem Häuschen geriet und dachte, nein, Melcher, du hast diesmal nichts Dummes gemacht, sondern etwas Gutes, etwas geradezu großartig, erstaunlich durch und durch Gescheites und Gutes. Aber da war natürlich dieser Geruch in der Hütte und …«

»Und dann hast du Feuer gemacht im Küchenherd«, sagte Malin. »Weißt du noch?«

Das wußte Melcher nicht mehr. Behauptete er.

»Dieser Herd sieht nicht so aus, als hätte er die Absicht, sich ohne weiteres mit Essenkochen zu befassen«, sagte Malin und stellte die Koffer mitten in der Küche ab. Der Herd war das erste, was sie sah, als sie hereinkam. Er war verrostet und machte den Eindruck, als wäre er zum letzten Mal um die Jahrhundertwende in Betrieb gewesen. Aber Melcher war voller Zuversicht.

»Oho, solche alten eisernen Herde, die sind phantastisch. Da ist nur ein bißchen Geschicklichkeit beim Feuermachen nötig, und das krieg ich hin. Aber zuerst wollen wir uns alles übrige ansehen.«

Das ganze Schreinerhaus hatte etwas von Jahrhundertwende an sich, von übel zugerichteter Jahrhundertwende. Unachtsame Mieter waren viele Sommer hindurch mit etwas, was vor langer Zeit einmal ein gepflegtes und recht wohlhabendes Handwerkerhaus gewesen sein mochte, grob umgegangen. Selbst in seinem Verfall hatte das Haus jedoch etwas erstaunlich Behagliches an sich, was sie alle spürten.

»Das wird ein Spaß, in dieser Bude zu wohnen«, versicherte Pelle. Er mußte Malin schnell einmal drücken, dann sauste er hinter Johann und Niklas her, um alles auszuforschen, was es hier bis unters Dach hinauf auszuforschen gab.

»Schreinerhaus«, sagte Malin. »Was meinst du, Papa, was das für ein Schreiner gewesen ist, der hier gelebt hat?«

»Ein junger, fröhlicher Schreiner, der etwa 1908 heiratete und mit seiner hübschen jungen Frau hier einzog und Schränke und Stühle und Tische und Bänke für sie schreinerte, ganz wie sie es haben wollte, und der ihr einen schmatzenden Kuß gab und sagte: ›Es soll Schreinerhaus heißen und hier auf Erden unser Zuhause sein.‹«

Malin starrte ihn an.

»Weißt du es, oder spinnst du nur?«

Melcher lächelte ein bißchen verlegen.

»Hm – ja – ich spinne nur. Es hätte mir allerdings besser gefallen, wenn du gesagt hättest ›dichten‹.«

»Meinetwegen auch ›dichten‹«, sagte Malin. »Aber wie dem auch sei, vor langer Zeit müßte hier jedenfalls jemand gelebt haben, der über diese Möbel glücklich gewesen ist und sie abgestaubt und blank poliert und freitags das Haus geputzt

hat. Wem gehört es eigentlich jetzt?«

Melcher überlegte.

»Irgendeiner Frau Sjöberg oder Frau Sjöblom oder so ähnlich. Eine alte Frau …«

»Da hast du vielleicht deine Schreinersfrau«, sagte Malin und lachte. »Sie wohnt jetzt in Norrtälje«, sagte Melcher. »Ein Mann mit Namen Mattsson vermietet für sie den Besitz an Sommergäste – zumeist an Räuber mit abscheulichen kleinen Kindern, die Krallen an den Fingern haben, wie es scheint.«

Er sah sich in dem Raum um, der früher einmal die gute Stube der Schreinerfamilie gewesen sein mochte. Jetzt war es keine ganz so gute Stube mehr, doch Melcher war zufrieden.

»Hier«, sagte er, »hier soll unsere Wohnstube sein.«

Er streichelte begeistert den weißgetünchten offenen Kamin.

»Und hier sitzen wir dann abends vor dem Holzfeuer und hören das Meer draußen rauschen.«

»Während die Ohren im Luftzug flattern«, sagte Malin und zeigte auf das Fenster, in dem eine Scheibe kaputt war.

Sie hatte noch immer die kleine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen, aber Melcher, der das Schreinerhaus schon in sein Herz geschlossen hatte, sorgte sich nicht um so etwas Bedeutungsloses wie eine zerbrochene Fensterscheibe.

»Keine Sorge, mein Kind. Dein tüchtiger Vater setzt morgen eine neue Scheibe ein. Nur keine Sorge!«

Malin war nicht ganz ohne Sorge, denn sie kannte Melcher, und sie dachte mit einer Mischung von Ungeduld und Zärtlichkeit: Er glaubt selber daran, der gute Kerl, tatsächlich, er vergißt es nämlich ein über das andere Mal. Wenn er aber eine neue Fensterscheibe einsetzt, so heißt das, daß er drei andere dabei kaputtmacht. Ich muß diesen Nisse Grankvist fragen, ob es hier jemanden gibt, der mir helfen kann.

Laut sagte sie: »Ich glaube, nun müssen wir die Ärmel hochkrempeln. Wie war es doch, Papa, wolltest du nicht Feuer in der Küche machen?«

Melcher rieb sich die Hände vor Tatendrang.

»Ganz recht. Frauen und Kindern kann man so was nicht anvertrauen.«

»Sehr schön«, sagte Malin. »Dann gehen Frauen und Kinder hinaus und sehen nach, wo der Brunnen ist. Denn hier gibt es doch hoffentlich einen?« Sie hörte die Jungen im oberen Stock herumtrampeln und rief: »Kommt, alle meine Brüder! Wir wollen Wasser holen!«

Es hatte aufgehört zu regnen, jedenfalls im Augenblick. Die Abendsonne machte mehrmals einen tapferen, aber vergeblichen Versuch, durch die Wolken zu brechen, von der Amsel in dem alten Mehlbeerbaum lebhaft ermuntert. Der Vogel flötete unverdrossen, bis er die Melchersonschen Kinder mit ihren Wassereimern durch das nasse Gras stapfen sah. Da verstummte er.

»Ist es nicht hübsch, daß das alte Schreinerhaus seinen eigenen Schutzbaum hat?« sagte Malin und streichelte im Vorübergehen den rissigen Stamm des Baumes.

»Wofür hat man einen Schutzbaum?« fragte Pelle.

»Um ihn gern zu haben«, entgegnete Malin.

»Um darauf herumzuklettern, wie du siehst«, sagte Johann.

»Und das wird so ungefähr das erste sein, was wir morgen früh tun«, verkündete Niklas. »Ich möchte wissen, ob Papa was extra zahlen mußte, weil es hier so einen feinen Kletterbaum gibt.«

Malin lachte, aber die Jungen dachten sich noch mehr Sachen aus, von denen sie meinten, Melcher habe dafür extra zahlen müssen. Den Steg und den alten Kahn, der daran festgemacht lag. Den roten Schuppen, den sie näher untersuchen wollten, sobald sie Zeit hätten. Den Boden, den sie bereits durchstöbert hatten und der voller aufregender Dinge war.

»Und den Brunnen, wenn er einigermaßen gutes Wasser hat«, schlug Malin vor.

Aber Johann und Niklas fanden nicht, daß man für den extra zahlen müsse.

»Dagegen könnten ein paar Groschen für den, der das Wasser reinschleppen muß, gar nicht schaden«, sagte Johann und hob den ersten Eimer an.

Pelle schrie vor Begeisterung auf.

»Guckt mal, ein kleiner Frosch, ganz unten drin!«

Malin stieß einen Schreckensschrei aus, und Pelle sah sie erstaunt an. »Was ist denn mit dir? Magst du etwa keine süßen kleinen Frösche?«

»Nicht im Trinkwasser«, sagte Malin.

Pelle zappelte vor Eifer.

»Oh, darf ich den nicht haben?«

Dann wandte er sich an Johann.

»Glaubst du, Papa hat was extra zahlen müssen, weil im Brunnen Frösche sind?«

»Kommt darauf an, wie viele da sind«, sagte Johann. »Wenn größere Mengen drin sind, hat er sie bestimmt ganz billig gekriegt.«

Er warf Malin einen Blick zu, um zu sehen, wie viele Frösche sie ertragen konnte. Sie schien aber gar nicht zuzuhören.

Malins Gedanken waren in eine andere Richtung geflattert. Sie mußte an den fröhlichen Schreiner und seine Frau denken. Ob sie in ihrem Schreinerhaus zusammen glücklich gewesen waren? Ob sie wohl Kinder bekommen hatten, die mit der Zeit auf dem Mehlbeerbaum herumgeklettert und vielleicht manchmal ins Wasser gefallen waren? Ob damals im Juni ebenso viele Heckenrosen im Garten geblüht hatten und ob der Pfad zum Brunnen ebenso weiß von heruntergefallenen Apfelblüten gewesen war wie jetzt?

Dann fiel ihr plötzlich ein, daß der fröhliche Schreiner und seine Frau Gestalten waren, die Melcher sich ausgedacht hatte. Aber sie beschloß, trotzdem an sie zu glauben. Sie beschloß noch etwas anderes. Mochten noch so viele Frösche im Brunnen sein und noch so viele Fensterscheiben zerbrochen, mochte das Schreinerhaus noch so verfallen sein – nichts sollte sie daran hindern, gerade hier und gerade jetzt mit dem Glücklichsein anzufangen. Denn jetzt war Sommer. Es müßte immer Juni sein und Abend. Verträumt und still wie dieser. Und ohne einen Laut. Draußen vor dem Steg kreisten die Möwen, eine stieß ein paar schrille Schreie aus. Aber sonst nichts als dieses unfaßbare Schweigen, das einem gleichsam in den Ohren sauste. Über dem Wasser lag ein weicher Regenschleier, alles war von so wehmütiger Schönheit. Von allen Büschen und Bäumen tropfte es, und die Luft roch nach noch mehr Regen und nach Erde und Salzwasser und nassem Gras.

»Im Sonnenschein vor dem Hause sitzen und essen und fühlen, daß Sommer ist« – so hatte Melcher sich ihren ersten Abend im Schreinerhaus vorgestellt. Zwar wurde es ein wenig anders, aber Sommer war es, das fühlte Malin so sehr, daß ihr die Tränen in die Augen traten. Außerdem merkte sie, daß sie Hunger hatte; und sie fragte sich, wie weit Melcher wohl mit dem Herd gekommen sei.

Ziemlich weit war er gekommen.

»Malin, wo bist du?« schrie er, weil er immer nach seiner Tochter rief, sobald etwas schiefging. Aber Malin war außer Hörweite, und er fand sich wohl oder übel damit ab, daß er allein war und sich selber helfen mußte.

»Allein mit meinem Gott und einem eisernen Herd, der jetzt gleich zum Fenster rausfliegt«, murmelte er aufgebracht, aber dann mußte er wieder husten und konnte nicht mehr sprechen. Er starrte den Herd an, der so bösartig Rauch über ihn hinwegblies, obwohl er ihm nichts Böses getan, nur Feuer darin angemacht hatte, behutsam und vorsichtig. Er stocherte mit dem Feuerhaken im Herdloch herum, und schon paffte eine neue Rauchwolke über ihn hinweg. Heftig hustend rannte er los, um alle Fenster zu öffnen. Als er das getan hatte, ging die Tür auf, und es kam jemand herein. Es war das majestätische Kind, das vorhin auf der Landungsbrücke gestanden hatte. Das Kind mit dem erstaunlichen Namen – Korb oder Tjorv oder so ähnlich. Wie ein kleiner, prall gefüllter Korb sieht sie auch aus, dachte Melcher, rund und gut. Das Gesicht, das unter dem Südwester hervorsah, war, soviel er durch den Rauch sehen konnte, ein seltsam reines und schönes Kindergesicht, breit, gutartig und mit klugen, forschenden Augen. Ihren riesigen Hund hatte sie auch mitgebracht, und er wirkte innerhalb des Hauses noch riesiger, er schien die ganze Küche auszufüllen.

Aber Tjorven war wohlerzogen auf der Schwelle stehengeblieben.

»Es qualmt«, sagte sie.

»Wahrhaftig?« erwiderte Melcher mürrisch. »Das hab ich nicht bemerkt.«

Dann hustete er so sehr, daß ihm die Augen aus dem Kopf zu springen drohten.

»Doch, es qualmt«, versicherte Tjorven. »Weißt du was? Vielleicht liegt eine tote Eule im Schornstein. Das hatten wir mal bei uns zu Hause.« Dann schaute sie Melcher forschend an und lächelte breit. »Du bist schwarz im Gesicht, du siehst aus wie ein Schornsteinfeger.«

Melcher hustete.

»Schornsteinfeger? Keineswegs! Ich bin ein Bückling, mein Kind, ein ganz frisch geräucherter Bückling. Übrigens finde ich, du kannst nicht einfach du zu mir sagen. Du mußt Herr Melcherson sagen.«

»Heißt du denn so?« fragte Tjorven.

Melcher brauchte nicht zu antworten, denn nun kamen zum Glück Malin und auch die Jungen.

»Papa, wir haben einen Frosch im Brunnen gefunden«, sagte Pelle eifrig. Aber dann vergaß er sämtliche Frösche über dem phantastischen Hund, den er vorhin auf dem Bootssteg gesehen hatte und der jetzt hier in ihrer Küche stand.

Melcher machte ein gekränktes Gesicht.

»Ein Frosch im Brunnen – ist das wahr? Angenehmes Sommerhaus, hat dieser Makler gesagt. Er hat nichts davon gesagt, daß es hier einen Tierpark gäbe mit Eulen im Schornstein, Fröschen im Brunnen und Riesenhunden in der Küche. Johann, geh und sieh nach, ob ein Elch im Schlafzimmer liegt.«

Seine Kinder lachten so, wie es von ihnen erwartet wurde. Melcher wäre sonst beleidigt gewesen. Aber Malin sagte:

»Uh, was für ein Rauch hier!«

»Kein Wunder«, sagte Melcher. Er zeigte vorwurfsvoll auf den Herd. »Es ist eine Schmach für den Lieferanten. Ich werde hinschreiben und mich beschweren: Sie haben im April 1908 einen eisernen Herd geliefert. Weshalb in aller Welt haben Sie das getan?«

Niemand hörte auf ihn außer Malin. Die anderen umdrängten Tjorven mit ihrem Hund und bestürmten sie mit Fragen.

Und Tjorven erzählte freundlich, daß sie in dem Haus wohne, das dem Schreinerhaus am nächsten lag. Dort hatte ihr Papa einen Kaufmannsladen, aber das Haus war groß, so daß sie allesamt Platz darin hatten, »ich und Bootsmann und Mama und Papa und Teddy und Freddy«, sagte Tjorven.

»Wie alt sind Teddy und Freddy?« fragte Johann eifrig.

»Teddy ist dreizehn, und Freddy ist zwölf, und ich bin sechs Jahre alt, und Bootsmann ist zwei. Ich weiß nicht mehr, wie alt Mama und Papa sind, aber ich kann nach Hause gehen und fragen«, sagte sie bereitwillig.

Johann versicherte ihr, das sei nicht nötig. Er und Niklas sahen sich zufrieden an. Zwei Jungen in ihrem eigenen Alter im Haus nebenan, das war fast zu schön, um wahr zu sein.

»Was sollen wir bloß machen, wenn wir diesen Herd nicht ankriegen?« fragte Malin.

Melcher raufte sich das Haar.

»Ich muß wohl aufs Dach klettern und nachsehen, ob im Schornstein wirklich eine Eule liegt, wie dieses Kind da behauptet.«

»Oje«, sagte Malin. »Dann sei bitte vorsichtig. Denk daran, wir haben nur einen Vater.«

Melcher war jedoch schon zur Tür hinaus. Er hatte am Giebel eine Leiter stehen sehen, und für einen einigermaßen gelenkigen Kerl konnte es keine Kunst sein, aufs Dach hinaufzugelangen. Seine Jungen folgten ihm auf den Fersen, auch Pelle. Selbst der größte Hund der Welt konnte ihn nicht in der Küche zurückhalten, wenn Papa Eulen aus dem Schornstein holen wollte. Und Tjorven, die sich Pelle schon zum Freund und Begleiter auserkoren hatte, wenn Pelle auch nichts davon wußte, wanderte ebenfalls gemächlich nach draußen, um nachzusehen, ob hier etwas Lustiges passieren würde.

Es fing gut an, fand sie. Herr Melcher hatte den Feuerhaken mitgenommen, um die Eule damit herauszuangeln, und den mußte er zwischen die Zähne nehmen, während er die Leiter hinaufkletterte. Genau wie Bootsmann, wenn er einen Knochen bringt, dachte Tjorven. Etwas noch Lustigeres begehrte sie nicht. Sie lachte still in sich hinein dort unter dem Apfelbaum. Dann brach eine Leitersprosse durch, als Herr Melcher darauf trat, und er rutschte ein ganzes Stück wieder nach unten. Pelle bekam Angst und schrie auf, aber Tjorven lachte wieder still vor sich hin. Dann lachte sie nicht mehr. Denn jetzt war Herr Melcher oben auf dem Dach, und das sah gefährlich aus.

Melcher fand das auch.

»Ein wirklich gutes Haus«, murmelte er. »Aber hoch.«

Er fragte sich, ob es nicht im Grunde ein bißchen zu hoch sei, um darauf herumzubalancieren, wenn man bald fünfzig war.

»Falls ich überhaupt so alt werde«, murmelte er und wankte auf dem Dachfirst entlang, die Augen starr auf den Schornstein geheftet. Aber dann warf er einen Blick zur Erde und wäre fast hinuntergefallen, als er die ängstlichen, nach oben gewandten Gesichter seiner Söhne so tief unter sich erblickte.

»Halt dich fest, Papa!« schrie Johann.

Melcher schwankte und wurde fast böse. Über ihm war nichts als der weite Weltenraum – woran sollte er sich festhalten? Da hörte er Tjorvens durchdringende Stimme: »Weißt du was? Halt dich am Feuerhaken fest, Herr Melcher. Mach das!«

Aber jetzt war Melcher zum Glück in Sicherheit beim Schornstein.

Er schaute hinein. Da drinnen war nichts als schwarze Finsternis.

»Du, Tjorven, was redest du da von toten Eulen!« rief er vorwurfsvoll. »Hier sind keine Eulen.«

»Ist es eine Waldeule?« schrie Niklas.

Da donnerte Melcher in seinem Zorn: »Hier ist keine Eule, hab ich gesagt.«

Und wieder hörte er Tjorvens durchdringende Stimme: »Willst du eine haben? Ich weiß, wo eine ist. Es ist bloß keine tote.«

Hinterher in der Küche war die Stimmung ein wenig gedrückt. »Wir müssen eben solange kalt essen«, sagte Malin.

Sie starrten alle trübselig den Herd an, der sich nicht so benehmen wollte, wie er sollte. Eben jetzt hätten sie nichts lieber gehabt, als etwas Warmes zu essen.

»Das Leben ist schwer«, sagte Pelle, denn das sagte sein Vater manchmal.

Da klopfte es an die Tür, und herein trat ein wildfremder Mensch, eine Frau in rotem Regenmantel. Sie stellte schnell einen emaillierten Kochtopf auf die Herdplatte und sah sie alle mit einem freundlichen Lächeln an.

»Guten Abend! Aha, hier ist also Tjorven, das hatte ich mir ja gedacht. Puh, was ist denn hier drinnen für ein Rauch?« sagte sie dann, und ehe ihr noch jemand beipflichten konnte, fuhr sie fort: »Ach, richtig, ich muß wohl sagen, wer ich bin. Märta Grankvist. Wir sind Nachbarn. Willkommen bei uns!«

Sie sprach schnell und lächelte die ganze Zeit, und bevor einer von der Familie Melcherson noch ein Wort gesagt hatte, war sie schon am Herd und schaute in die Esse.

»Haben Sie die Klappe aufgemacht? Dann geht es nämlich besser!«

Malin lachte auf, aber Melcher machte ein beleidigtes Gesicht. »Doch, natürlich hab ich die Klappe aufgemacht. Das war das erste, was ich getan habe«, versicherte er.

»Jetzt ist sie jedenfalls zu«, sagte Märta Grankvist. »Und jetzt ist sie offen«, fuhr sie fort und drehte den Griff halb herum. »Sie stand wahrscheinlich offen, als Sie kamen, und dann haben Sie sie zugemacht, Herr Melcherson.«

»Ordentlich, wie er ist«, sagte Malin.

Alle lachten, auch Melcher. Und am allermeisten Tjorven.

»Ich kenne diesen Herd«, sagte Märta Grankvist, »und der ist ganz ausgezeichnet.«

Malin guckte sie dankbar an. Alles schien soviel leichter geworden zu sein, seit diese wunderbare Frau in die Küche gekommen war. Sie war so heiter und strahlte Sicherheit und Freundlichkeit und Tatkraft aus. Welch ein Glück, daß wir gerade sie zur Nachbarin bekommen haben, dachte Malin.

»Ich bring Ihnen hier etwas Gulasch als Einstandsessen, wenn Sie damit vorliebnehmen wollen«, sagte Märta Grankvist und zeigte auf den Emailtopf.

Da traten Melcher die Tränen in die Augen. Das war immer so bei ihm, wenn Leute freundlich zu ihm und den Kindern waren.

»Daß es so gute Menschen gibt«, stotterte er.

»Ja, so gut sind wir hier auf Saltkrokan«, sagte Märta Grankvist lachend. »Komm, Tjorven, wir wollen jetzt nach Hause.«

In der Tür wandte sie noch einmal den Kopf.

»Wenn Sie sonst noch Hilfe brauchen, dann sagen Sie Bescheid.«

»Ja, da drinnen ist ein Fenster kaputt«, sagte Malin schüchtern. »Aber wir können Sie doch schließlich nicht mit allen solchen Dingen belästigen.«

»Ich schicke Nisse her, wenn Sie gegessen haben«, sagte Märta Grankvist.

»Ja, der setzt nämlich hier auf Saltkrokan alle Scheiben ein«, sagte Tjorven. »Und Stina und ich, wir machen sie kaputt.«

»Was höre ich da«, sagte ihre Mutter streng.

»Aber nicht mit Absicht«, beeilte sich Tjorven hinzuzufügen. »Es kommt nur so.«

»Stina, die kenn ich«, sagte Pelle.

»Soo?« sagte Tjorven, und aus irgendeinem Grund klang ihre Stimme nicht richtig erfreut.

Pelle war eine ganze Weile seltsam stumm gewesen. Warum sollte man mit Leuten reden, wenn es einen Hund wie Bootsmann gab? Pelle hing an seinem Hals und flüsterte ihm ins Ohr: »Dich mag ich.«

Und Bootsmann ließ ihn gewähren. Er sah Pelle nur mit freundlich abwesenden, ein wenig traurigen Augen an, und dieser Blick offenbarte jedem, der Augen hatte zu sehen, seine ganze treue Hundeseele.

Aber jetzt mußte Tjorven nach Hause gehen, und wo Tjorven hinging, da ging auch Bootsmann hin.

»Komm, Bootsmann«, sagte sie. Und dann waren sie weg.

Aber das Küchenfenster stand offen, und sie konnten alle Tjorvens Stimme hören, als sie draußen vorüberging.

»Mama, weißt du was? Als er oben auf dem Dach langging, der Herr da, hat er sich am Feuerhaken festgehalten.«

Sie hörten auch Märta Grankvists Antwort.

»Das sind Städter, Tjorven, weißt du, und die haben es sicher nötig, sich am Feuerhaken festzuhalten, glaube ich.«

Die Melchersöhne sahen sich an.

»Wir tun ihr leid«, sagte Johann. »Und das ist nun wirklich nicht nötig.«

Doch mit dem Herd, da hatte sie recht. Der war ausgezeichnet und brannte so gut, daß er glühte und in der ganzen Küche eine wunderbare Wärme verbreitete.

»Das heilige Feuer des Hauses«, sagte Melcher. »Der Mensch hatte kein Zuhause, bis er das Feuer entdeckte.«

»Und bis er das Gulasch erfand«, sagte Niklas und stopfte sich so viel auf einmal in den Mund, daß er nicht mehr reden konnte.

Sie saßen um den Küchentisch herum und aßen, und es war ein Augenblick tiefer und warmer Traulichkeit. Das Feuer prasselte im Herd, und draußen prasselte der Regen.

Als die Jungen zu Bett gehen wollten, regnete es noch schlimmer. Widerwillig verließen sie die Wärme der Küche und zogen sich in ihre Bodenkammer zurück, die kalt und feucht und richtig ungemütlich war, obwohl ein Feuer im Kachelofen brannte. Aber Pelle schlief schon, von Malin in Wolljacken eingemummelt und mit einer wollenen Mütze auf dem Kopf.

Johann stand fröstelnd am Fenster und versuchte, zu Grankvists hinüberzuschauen, aber der Regen klatschte gegen die Scheiben, so daß man alles nur durch einen Vorhang rinnenden Wassers sah. Den Kaufmannsladen – Johann sah das Schild. Und das Haus – es war rot, genau wie das Schreinerhaus. Und den Garten – er fiel zum Wasser hin ab, und dort unten hatten Grankvists einen Bootssteg, der ähnlich war wie der vom Schreinerhaus.

»Morgen können wir mal sehen, ob wir diese Jungs finden, die …« sagte Johann, stockte aber plötzlich. Denn drüben auf dem Nachbargrundstück ging etwas vor sich. Eine Tür wurde geöffnet, und jemand rannte in den Regen hinaus. Es war ein Mädchen. Sie trug einen Badeanzug, und die hellen Haare flatterten um sie herum, als sie zum Bootssteg hinuntergaloppierte.

»Komm mal her, Niklas, da kannst du etwas Interess …« begann Johann, stockte aber von neuem. Denn die Tür drüben ging abermals auf, und in den Regen hinaus kam ein zweites Mädchen, auch sie im Badeanzug, auch ihr wehte das Haar um den Kopf, als sie zum Steg hinuntertrabte. Die erste war schon unten angekommen. Jetzt sprang sie ins Wasser. Als sie mit der Nase wieder über Wasser war, rief sie: »Freddy, hast du die Seife?« Niklas und Johann schauten sich schweigend an.

»Da hast du die Jungs, die du morgen suchen wolltest«, sagte Niklas endlich.

»Oh«, sagte Johann.

Sie lagen an diesem Abend lange wach.

»Man kann nicht einschlafen, solange die Füße nicht einigermaßen aufgetaut sind«, versicherte Niklas.

Johann mußte ihm recht geben. Dann schwiegen sie eine ganze Weile.

»Jetzt hat's wenigstens aufgehört zu regnen«, sagte Johann schließlich. »Im Gegenteil«, sagte Niklas. »Hier in meinem Bett fängt es erst richtig an.«

Entweder mag man es, wenn es durchs Dach regnet, oder man mag es nicht …

Niklas mochte es nicht so unbedingt, daß es auf sein Bett tröpfelte, aber so viel machte es ihm nun auch wieder nicht aus, denn er war erst zwölf Jahre alt und von Natur aus sorglos. Doch sahen sie beide ein, er und auch Johann, daß Malin eine schlaflose Nacht haben würde, wenn sie ihr über das Elend gleich jetzt Bericht erstatteten. Und da sie ihre Schwester liebten und ihr Bestes wollten, rückten sie Niklas' Bett ganz leise beiseite und stellten einen Eimer unter das Getröpfel vom Dach.

»Von diesem Geräusch wird man richtig schläfrig«, murmelte Johann, als er wieder ins Bett gekrochen war. »Blupp, blupp!«

Aber Malin saß, ohne eine Ahnung von all dem Blupp, unten in der warmen Küche und schrieb emsig in ihr Tagebuch, denn sie wollte die Erinnerung an ihren ersten Tag auf Saltkrokan festhalten.

Ich sitze hier allein, schrieb sie zuletzt. Aber ich hab das Gefühl, als schaute mir einer zu. Nicht ein Mensch! Vielmehr das Haus … das Schreinerhaus. Liebes Schreinerhaus, bitte finde uns nett. Am besten, du entscheidest dich gleich, denn du mußt dich ja ohnehin jetzt mit uns herumschlagen. Du weißt noch nicht, wer wir sind, sagst du? Das kann ich dir erzählen. Dieses lange Ende von einem Mann, der da drinnen in der kleinen Mädchenkammer liegt und laut vor sich hin Gedichte aufsagt, um einschlafen zu können, das ist Melcher. Vor dem mußt du dich in acht nehmen, besonders wenn du siehst, daß er einen Hammer oder eine Säge oder sonst ein Werkzeug in Händen hat. Ansonsten ist er wirklich lieb und ungefährlich. Die drei mutwilligen kleinen Bengels oben in der einen Bodenkammer, von denen kann ich nur sagen, daß sie … Ja, du bist doch hoffentlich kinderlieb? Dann wirst du nämlich nicht so ärgerlich. Mehr brauche ich vielleicht nicht zu sagen? Und du bist ja einiges gewohnt, nehme ich an, die Schreinerkinder sind wohl auch nicht rücksichtsvoll gewesen, oder? Diejenige, die deine Fenster putzt und deine Fußböden mit Liebe und mit ihren Händen scheuert, die nach und nach immer rissiger werden, das dürfte wohl die Unterzeichnete sein, Mann. Du kannst dich aber darauf verlassen, ich stelle die anderen zum Helfen an! O ja! Wir werden unser Bestes tun, um hier Ordnung zu halten. Gute Nacht, liebes Schreinerhaus, nun werden wir wohl schlafen. Ein kaltes Bodenkämmerchen wartet auch auf mich, aber ich bleibe hier unten so lange, wie ich kann, in deiner ländlichen Küche und an deinem glühenden Herd, denn hier habe ich das Gefühl, als hättest du mich an dein warmes klopfendes Herz genommen.

So schrieb Malin, und dann merkte sie plötzlich, wie spät es geworden war. Ein neuer Tag nahte schon, einer, der hell und klar werden würde, das sah sie, als sie zum Fenster lief. Hier blieb sie stehen. »Von allen Küchenfenstern auf Erden«, murmelte sie und wußte, noch nie hatte sie etwas gesehen, das ihr besser gefiel, als was sie dort draußen sah. Das stille Wasser in der Morgendämmerung, der Steg, die grauen Steine am Ufer, alles. Sie machte das Fenster auf und hörte den Gesang der Vögel, der wie ein Jubel über sie hinströmte. Der kam aus vielen kleinen Kehlen, aber lauter als alle hörte sie die Amsel im Mehlbeerbaum singen. Sie war gerade aufgewacht, munter und voller Lebensfreude.

Und der arme Melcher in der Mädchenkammer war noch nicht mal eingeschlafen. Aber Malin hörte, wie er gähnte, obgleich er unverdrossen und mit lauter Stimme deklamierte:

»Herz, öffne dich dem Tag, freu dich der Morgenstunde. Noch glitzert Tau im Hag, noch schimmern blaß die Sunde. Der Morgen atmet Ewigkeit wie erster Tag uralter Zeit.«

»Ja, genau so ist es«, sagte Malin.

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