An einem Frühlingstag fiel Tjorven vom Anlegesteg ins Wasser. Sie hatte in dem Glauben gelebt, sie könne mindestens fünf Schwimmzüge, aber jetzt merkte sie, daß das ein Irrtum war. Trotzdem bekam sie keine Angst, denn bevor es dazu kam, war Bootsmann da und zog sie heraus, und als Nisse angelaufen kam, stand sie schon auf dem Anleger und drückte das Wasser aus ihren Haaren.
»Wo ist deine Schwimmweste?« fragte Nisse streng.
»Papa, weißt du was«, sagte Tjorven, »wenn ich Bootsmann habe, brauch ich fast keine Schwimmweste.« Sie legte die Arme um Bootsmann und lehnte ihren nassen Kopf an seinen. »Du, Bootsmann«, sagte sie zärtlich, »du bist mein lieber kleiner Nödelhund.«
Bootsmann sah sie ernsthaft an, und wenn es stimmte, daß er denken konnte wie ein Mensch, dann dachte er vielleicht: Kleines Hummelchen, für dich geh ich in den Tod, wenn du es willst, brauchst nur ein Wort zu sagen.
Tjorven streichelte ihn. Dann lachte sie zufrieden.
»Papa, weißt du was«, sagte sie, aber Nisse unterbrach sie.
»Nein, Tjorven, keine weiteren ›weißt du was‹, erst gehst du nach Haus und ziehst dich um.«
»Ja, ich wollte aber nur eben sagen, daß ich jetzt dreimal ins Wasser gefallen bin – haha, und Stina bloß zweimal.«
Und Tjorven zog los, stolz und naß und froh, um sich vor Stina zu zeigen. Söderman stand auf der Uferböschung unterhalb seiner Hütte und war dabei, seinen Kahn zu teeren. Der sollte jetzt ins Wasser gelassen werden. Ganz Saltkrokan war mitten im großen Frühlingstaumel. Das Wasser strömte offen dahin, alle Boote mußten hergerichtet werden, die Insel lag ständig unter einem Dunst von Teer und Farbe und ständig in einem Qualm von brennenden Laubhaufen, denn auch die Grundstücke wurden großreingemacht. Über allen anderen Gerüchen lag der Geruch des Meeres. Söderman spürte ihn in der Nase, und die Frühlingssonne wärmte ihm den Rücken. Der Kahn schien schön zu werden, Söderman war ganz zufrieden. Aber sein Kopf wurde allmählich müde. Stina saß auf einem Stein neben ihm und erzählte ihm Märchen, Märchen, die nie zu Ende gingen. Der arme Söderman, er konnte nicht auseinanderhalten, welcher Prinz in ein Wildschwein verwandelt wurde und welcher in einen Adler. Aber Stina hörte ihn regelmäßig ab und duldete keinen Fehler.
»Rat mal, wer sonst noch verwunschen wurde«, sagte Stina. Da aber stand plötzlich Tjorven vor ihr, naß wie eine Meerjungfrau. »Rat mal, wer ins Wasser gefallen ist.«
Stina guckte sie schweigend an. Sie wußte nicht, daß man sich damit brüsten konnte, ins Wasser gefallen zu sein. Jetzt aber sah sie Tjorvens siegessichere Miene, und sie sagte unsicher:
»Rat mal, wer – Sonntag ins Wasser fällt.«
»Du jedenfalls nicht«, sagte Söderman. »Sonst schick ich dich nämlich in die Stadt zurück, wenn Melchersons abfahren.«
Melchersons hatten Stina mitgebracht, als sie kamen. Sie waren für einen kurzen Frühjahrsbesuch herausgekommen, denn Melcher war noch immer der Ansicht, daß man nicht ein ganzes großes Schreinerhaus, für das man Miete gezahlt hatte, leer stehen lassen konnte. Und außerdem – nie war Saltkrokan schöner als um diese Jahreszeit, wenn die Birken ihre ersten zarten Blätter bekamen und die ganze Insel ein Meer von weißen Buschwindröschen war.
»Du lieber Himmel, der schwedische Frühling!« sagte Melcher immer. »Kalt und armselig ist er, aber so schön, daß es einem das Herz aus der Brust reißt!«
Daß der Frühling kalt war, fühlte Tjorven auch. Jetzt fror sie und wollte nach Hause und sich trockene Kleider anziehen. Aber als sie am Bootssteg des Schreinerhauses vorbeikam, saß Herr Melcher hier im Ruderboot und mühte sich mit seinem alten Außenbordmotor ab. Tjorven blieb stehen, so eilig hatte sie es auch wieder nicht.
Melcher unterhielt sich gern mit Tjorven. »Ich kann mir nichts Vergnüglicheres denken«, hatte er Malin anvertraut. »Und es ist schade, daß du uns nicht hören kannst, denn unsere Gespräche sind wirklich interessant. Wir unterhalten uns aber am besten, wenn wir allein sind.«
Jetzt hatten sie auch so ein kleines Gespräch unter vier Augen, während Melcher an seinem Motor herumbastelte, und es war wirklich schade, daß Malin nicht hören konnte, wie lustig und interessant es klang. »Herr Melcher, ich bin ins Wasser gefallen«, sagte Tjorven, aber sie erhielt nur ein Brummen zur Antwort. Melcher zog und zerrte an der Startleine. Das schien er schon ziemlich lange getan zu haben, denn sein Gesicht war ganz rot angelaufen, und die Haare standen ihm nach allen Richtungen vom Kopf ab.
»Du hast nicht den richtigen Ruck, Herr Melcher«, sagte Tjorven. Melcher schaute zu ihr auf und lächelte nachsichtig. »Soo? Nicht?«
»Nee, du mußt so rucken«, sagte Tjorven und zeigte mit einer zuckenden Armbewegung, wie er es machen sollte.
»Du, hör mal, ich ruck dir gleich eins, wenn du nicht sofort machst, daß du wegkommst«, sagte Melcher.
Tjorven kniff die Augen zusammen, erstaunt über so eine schändliche Undankbarkeit. »Du müßtest froh sein, wenn ich
dir helfe.«
Melcher machte sich wieder über seinen Motor her.
»Ja, danke, ich bin froh – so froh – so froh«, versicherte er und zerrte im Takt mit den Worten an der Leine. Aber der verflixte Motor sagte nur »putt, putt« und schwieg dann. Tjorven schüttelte den Kopf.
»Du bist ganz bestimmt ein geschickter Kerl, Herr Melcher, aber gerade von Motoren verstehst du vielleicht nichts. Warte, ich zeig's dir.«
Da brüllte Melcher: »Geh weg hier! Geh hin und schmeiß dich noch mal ins Wasser, oder geh zu Pelle und spiel mit dem. Aber verschwinde!«
Tjorven sah beleidigt aus.
»Ja, ich geh zu Pelle und spiel mit ihm. Aber zuerst muß ich nach Hause und mich umziehen, das wirst du wohl begreifen.«
Melcher nickte zustimmend. »Tu das! Zieh alles an, was du hast! Am liebsten zwei, drei Leibchen, die man hinten zuknöpft.«
»Leibchen!« sagte Tjorven. »Wir leben doch nicht in der Steinzeit.« Das sagte Teddy immer von Sachen, die altmodisch waren.
Melcher hörte sie nicht, denn jetzt machte der Motor noch einmal »putt, putt«, und Melcher sah ihn flehentlich an. Aber vergebens. Als der Motor sein letztes »Putt« gesagt hatte, verstummte er völlig. »Herr Melcher, weißt du was?« sagte Tjorven. »Du bist hoffentlich tüchtiger, wenn du Bücher schreibst, denn das hier kannst du nicht. Wo ist Pelle übrigens?«
»Wahrscheinlich beim Kaninchenstall«, fauchte Melcher, dann faltete er die Hände. »Ich bete zu Gott, daß er beim Kaninchenstall ist und daß du da hingehst.«
»Weshalb möchtest du, daß Gott ausgerechnet am Kaninchenstall ist?« fragte Tjorven interessiert.
»Pelle!« brüllte Melcher. »Pelle soll beim Kaninchenstall sein
– und außerdem du. Vor allen Dingen du!«
»Nee, du hast gesagt, du wolltest zu Gott beten, daß er am Kaninchenstall ist«, begann Tjorven, aber Melcher machte jetzt ganz wilde Augen, und um ihn zu beschwichtigen, sagte sie rasch: »Ja, ja, ich gehe schon.« Melcher wurde erhört. Pelle war beim Kaninchenstall, und dorthin ging Tjorven, nachdem sie sich umgezogen hatte.
Jocke hatte einen feinen Stall bekommen. »Von Melcher angefertigt, mit eigenen Händen angefertigt«, prahlte Melcher, als der Stall fertig war. Pelle hatte auch nageln geholfen, obgleich Melcher ihn gewarnt hatte: »Du wirst dir nur auf die Finger hauen.«
»Ach wo«, hatte Pelle gesagt. »Tjorven kann den Nagel halten.«
Ganz so schlau war Melcher nicht gewesen.
»Warum haust du dir immerzu auf den Daumen?« hatte Tjorven gefragt, als Melcher hintereinander zwei Volltreffer gelandet hatte. Melcher hatte an seinem Daumen gelutscht.
»Weil du, meine kleine Tjorven, mir nicht den Nagel gehalten hast.«
Der Kaninchenstall war wirklich fein, als er fertig war. Für ein Kaninchen sei es schön, in so einen hineinzuziehen, meinte Pelle. Glücklich, so daß es um ihn herum leuchtete, holte er Jocke aus Janssons Kuhstall und führte ihn in sein neues Heim.
Die ganze Anlage hatte ihren Platz hinter den Fliederbüschen in einer geschützten Ecke, wo Pelle ungestört sitzen und der glücklichste Kaninchenbesitzer der Welt sein konnte. Der Stall war aus Maschendraht und hatte eine Tür mit einem kleinen Haken an der einen Seite, so daß er Jocke herausholen konnte, wenn er ihn auf den Arm nehmen wollte. An der anderen Seite hatte Jocke sein Häuschen, einen Kasten mit einem runden Loch.
»Hier mußt du reinkriechen, wenn es regnet und kalt ist«, sagte Pelle.
Er hatte das Kaninchen im Arm, als Tjorven kam. Sie fütterten es gemeinsam, und Pelle unterrichtete Tjorven in der Kunst, Kaninchen zu versorgen, da sie sich um Jocke kümmern sollte, wenn Pelle in die Stadt zurückfuhr.
»Und ich bin dir ewig böse, wenn du ihn nicht ordentlich fütterst«, sagte Pelle. »Und dann mußt du aufpassen, daß er nicht ausrückt.«
Darauf hätte Pelle selber aufpassen sollen, denn bevor er den Satz noch zu Ende gesprochen hatte, entschlüpfte Jocke seinen Armen und schoß durchs Fliedergebüsch davon.
Pelle und Tjorven fuhren hoch und setzten ihm nach. Das tat auch Bootsmann mit einem leisen Kläffen.
»Nein, Bootsmann, du rührst Jocke nicht an!« rief Pelle ängstlich, während er lief.
»Bootsmann rührt nie einen an, das solltest du wissen. Er denkt nur, wir spielen.«
Da schämte Pelle sich. Aber jetzt hatte er keine Zeit, sich bei Bootsmann zu entschuldigen, jetzt mußte er Jocke einfangen.
Hinter dem Schreinerhaus waren Malin und Johann und Niklas dabei, Betten auszuklopfen, und als Jocke angeschossen kam, warf Johann eine Decke über ihn. Jocke raste unter der Decke herum, die wogte wie ein aufgewühltes Meer, aber schließlich machte er sich frei und war mit drei fröhlichen Sätzen um die Hausecke verschwunden.
Stina war es, die ihn einfing; sie saß mit Kalle Hüpfanland auf ihrer Treppe und sah Jocke vorüberflitzen, und sie hatte ihn eben erwischt, als Tjorven und Pelle mit hängender Zunge angerannt kamen. »Oh, wie schön, daß du ihn eingefangen hast«, sagte Pelle. Er ließ sich erleichtert auf Stinas Treppe sinken mit Jocke im Arm und sah ihn ebenso zärtlich an wie eine Mutter ihr neugeborenes Kind.
»Es macht Spaß, wenn man ein eigenes Tier hat«, sagte er. Tjorven und Stina pflichteten ihm bei.
»Vor allen Dingen einen Raben«, versicherte Stina. Und dann sagte sie triumphierend: »Und jetzt kann er es!«
»Was kann er?« fragte Tjorven.
»Er kann sagen ›Zum Kuckuck mit dir‹. Ich hab es ihm beigebracht.«
Es war Pelle und Tjorven anzumerken, daß sie ihr nicht glaubten, und Stina wurde böse.
»Wartet, ihr könnt es gleich mal hören! Kalle, sag ›Zum Kuckuck mit dir‹, tu's!«
Der Rabe legte den Kopf schief und schwieg beharrlich, als Stina es ihm aber lange immer wieder vorgesprochen hatte, ließ er ein paarmal einen kleinen Krächzer hören. Nur wer eine lebhafte Phantasie hatte, konnte heraushören, daß es »Zum Kuckuck mit dir« heißen sollte. Stina hatte eine lebhafte Phantasie.
»Habt ihr's gehört?« fragte sie jubelnd.
Tjorven und Pelle lachten, aber Stina nickte altklug.
»Wißt ihr, was ich glaube? Ich glaube, Kalle ist ein verwunschener Prinz, weil er sprechen kann.«
»Tsss«, machte Pelle. »Hast du schon mal gehört, daß ein Prinz ›Zum Kuckuck mit dir‹ sagt? Was?«
»Ja, dieser hier«, sagte Stina und zeigte auf Kalle.
In dem Märchen, das sie dem Großvater eben erzählt hatte, kamen nicht weniger als drei verwunschene Prinzen vor. Sie waren in ein Wildschwein und einen Hai und einen Adler verwandelt. Weshalb also sollte nicht ein Rabe ein verwunschener Prinz sein können?
»O nein, nur Frösche sind verwunschene Prinzen«, erklärte Tjorven.
»Sagst du, ja«, sagte Stina.
»Doch, Freddy hat es mir vorgelesen. Da kam eine Prinzessin vor, und die küßte einen Frosch, und da wurde er ein Prinz, peng – auf einmal stand er da!«
»Das versuche ich auch mal«, sagte Stina.
Pelle saß dabei und lachte in sich hinein.
»Wozu willst du den Prinzen haben, falls du einen kriegst?« fragte er.
»Er kann Malin heiraten«, sagte Stina.
Das hielt Tjorven für einen ausgezeichneten Vorschlag.
»Dann braucht sie hier nicht mehr völlig unverheiratet rumzulaufen.«
Ihnen hätte nichts Besseres einfallen können, das Pelle reizte.
»Zum Kuckuck mit euren verwunschenen Prinzen«, sagte er. »Komm, Jocke, wir gehen.«
Tjorven und Stina schauten ihm lange nach.
»Er will wohl nicht, daß Malin jemals heiratet«, sagte Tjorven. »Sicher, weil er keine Mama hat.«
Stina wurde ernst und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. »Wieso ist seine Mama gestorben?« fragte sie.
Es war nicht leicht, darauf eine Antwort zu geben. Tjorven überlegte. Sie wußte nicht, weshalb Menschen starben.
»Es ist sicher wie in diesem Lied, weißt du«, sagte sie schließlich. »Es ist wohl einfach so.« Und sie sang Stina vor:
»Die Welt, sie ist ein Jammertal,
kaum daß man lebt, so muß man sterben
und wieder Erde werden.«
»Das ist aber wirklich traurig, du«, sagte Stina.
Pelle setzte Jocke in seinen Stall zurück und hatte dann einen einsamen, schönen Abend, den er am Frühlingsgraben verbrachte. Er liebte den Graben, wo es so viel zu sehen gab, Insekten und Pflanzen verschiedenster Art. Aber das lustigste an dem Frühlingsgraben war beinahe, drüber hinwegzuspringen und zu sehen, ob man es in einem einzigen Satz schaffte. Manchmal schaffte man es nicht, und deshalb war Pelle, als er abends nach Hause kam, bis zur Stirn hinauf mit Schlamm bespritzt.
Um diese Stunde saß Melcher in der Küche des Schreinerhauses, vor sich auf dem Tisch seinen Außenbordmotor, den er ganz auseinandergenommen hatte. Er hatte vor, ihm dieses »putt, putt« abzugewöhnen, und meinte, eine gründliche Säuberung bringe ihn vielleicht auf bessere Gedanken. Aber die kleinen Schrauben und Muttern hatten alle die merkwürdige Eigenschaft zu verschwinden, wenn man sie gerade brauchte, und Melcher wurde jedesmal wieder wütend.
»Eßt ihr Muttern?« fragte er Johann und Niklas, die am Tisch herumhingen, um zuzusehen, und nachdem sie ein paarmal so ungerecht beschuldigt worden waren, sagte Johann:
»Komm, Niklas, wir gehen ins Bett. Papa kann seine Muttern selber futtern.«
Und sobald sie weg waren, fand Melcher, was er suchte.
»Sieh da, hier ist ja das Dings, nach dem ich gesucht hab«, sagte er.
In diesem Augenblick kam Pelle schlammbespritzt und müde zur Tür herein, und Malin sagte:
»Und hier ist das andere Dings, nach dem ich gesucht hab. Wie siehst du denn bloß aus, Pelle!«
Es war nicht nur der Bootsmotor, der an diesem Abend in der Küche des Schreinerhauses gesäubert wurde. Malin holte die große Waschwanne, steckte Pelle ganz hinein und begann ihn gründlich abzuschrubben.
»Die Ohren brauchst du doch nicht zu waschen«, murrte Pelle, »die hab ich erst Samstag gewaschen.«
Aber Malin erklärte, ihn mit solchen Ohren herumlaufen zu lassen, sei überhaupt nicht zu verantworten.
»Morgen kommt vielleicht Tante Märta zum Kaffee, und wenn sie solche Ohren sieht …«
»Du sagst ›vielleicht‹ – können wir dann nicht warten und erst mal sehen, ob sie wirklich kommt?« schlug Pelle vor.
Malin wandte sich lachend an Melcher.
»Sind eigentlich alle Jungen solche Schmutzfinken, was meinst du? Warst du auch so, als du klein warst?«
Melcher saß da und wühlte zwischen seinen Muttern, und er summte erfreut: »Ich habe den richtigen Ruck – da kann sich Tjorven drauf verlassen, weiß der Himmel! – Schmutzfink, ich?« sagte er dann. »Nein, ich war ein sehr reinliches kleines Kind, soweit ich mich erinnere.«
Pelle schaute über den Rand der Wanne träumerisch zu seinem Vater hinüber. »Ja, klar warst du ein reinliches kleines Kind, Papa.«
»Wieso ist das so klar«, fragte Melcher.
»Na ja, du warst doch in jeder Weise ganz prächtig, du warst immer gehorsam und hattest so gute Schulzeugnisse und hast nie gelogen und so.«
»Hab ich das gesagt?« entgegnete Melcher und lächelte breit. »Dann muß ich auf meine alten Tage angefangen haben, ein bißchen zu lügen.« Pelle schickte einen Wasserstrahl zu ihm hin.
»Nicht doch, Pelle«, sagte Malin, »du darfst nicht die ganze Küche naß machen.«
»Soso, seinen Vater darf er aber naß machen?« fragte Melcher erstaunt. »Ja, das darf er«, sagte Pelle ruhig und überzeugt.
Hinterher, als er, in ein großes Bettlaken gehüllt, auf Malins Schoß saß, fiel ihm Stinas dummer Vorschlag ein wegen des verwunschenen Prinzen, den Malin heiraten sollte. Er betrachtete sie forschend. Sie war womöglich traurig, weil sie so »völlig unverheiratet«, wie Tjorven es nannte, herumlaufen mußte?
Sie hatten eine große Neuigkeit erfahren, als sie diesmal nach Saltkrokan gekommen waren. Björn hatte sich mit einem Mädchen auf Harskär verlobt. Pelle hatte Malin mit Bangen gefragt, ob sie deswegen traurig sei. Aber Malin hatte gelacht und gesagt:
»Nein, das war das Beste, was er tun konnte, und das hab ich ihm schon Weihnachten gesagt!«
Aber deswegen war es ja doch nicht sicher, ob es ihr gefiel, so »völlig unverheiratet« herumzulaufen.
»Jetzt ist dieser kleine Motor fertig und von Melcher eigenhändig gesäubert«, sagte Melcher und schraubte die letzte Mutter fest, und dann sang er: »Jetzt hat er den richtigen Spritzer, und das werde ich euch nun zeigen.«
Der Motor sollte in Pelles Badewanne zeigen, ob er den richtigen Spritzer hatte oder nicht.
Den hatte er. Er hatte einen Spritzer, daß es ringsum gegen die Wände sprühte, und Melcher, der sich eifrig über die Wanne beugte, bekam den ersten Schwall mitten ins Gesicht.
»Ääh«, sagte Melcher, und dann sagte er schnell: »Ich wische hinterher selbst alles wieder trocken, Malin.«
Aber Malin versicherte ihm, sie sei richtig dankbar, weil plötzlich die ganze Küche dadurch sauber würde, und trockenwischen könne sie schon noch selber. »Wenn unser kleiner Pelle nur erst ins Bett kriechen möchte. Frierst du?« fragte sie, als sie sah, wie Pelle dastand und schlotterte.
»Ich friere wie ein Schneider«, sagte Pelle. Und er fror auch, als er ins Bett kam.
»Ich glaub, ihr habt die Decken zu lange gelüftet«, sagte er. »Puh, wie ist es hier kalt.«
»Du merkst auch alles«, murmelte Niklas halb im Schlaf.
Pelle lag in seinem schmalen Bett ganz still und versuchte, sich ein Fleckchen anzuwärmen.
»Es wäre schön, wenn man ein warmes Kaninchen im Bett hätte«, sagte er.
Johann hob den Kopf hoch.
»Ein Kaminchen, bist du nicht bei Trost? Meinst du einen Petroleumkamin?«
»Ein Kaninchen, hab ich gesagt.«
»Ein Kaninchen – ja, das sieht dir ähnlich«, sagte Johann. Dann sank er zurück auf sein Kopfkissen und schlief ein.
Aber Pelle lag wach. Er sorgte sich wegen Jocke so, daß er nicht einschlafen konnte. Wenn nun heute nacht Frost kam und Jocke in seinem Stall fror? Ihm selbst wurde jetzt allmählich warm und wohl. Es war ungerecht, daß Kaninchen nur kleine Kisten zum Schlafen haben sollten mit ein bißchen Heu darin.
Pelle seufzte mehrmals. Er litt große Seelenpein. Zuletzt hielt er es nicht mehr aus. Er stieg aus dem Bett, und auf der Leiter, die von einem der vielen Dachausflüge, die Melcher gemacht hatte, vor ihrem Fenster stand, kletterte er in den kühlen Frühlingsabend hinaus und rannte bibbernd zum Kaninchenstall.
Niemand sah ihn, weder als er hinlief noch als er, mit Jocke im Arm, wieder zurückschlich. Niemand außer möglicherweise dem Fuchs, der ebenfalls einen kleinen Abendspaziergang um Saltkrokan herum machte.
Nun war Jocke aber keineswegs so dankbar, seinen Kaninchenkäfig verlassen zu dürfen, wie Pelle erwartet hatte. Er wehrte sich, als Pelle versuchte, ihn in sein Bett zu stecken. Seiner Ansicht nach war das kein Schlafplatz für ein Kaninchen, und er machte einen langen Satz. Malin und Melcher saßen unten im Wohnzimmer und hörten plötzlich von oben einen gellenden Schrei. Sie stürzten hinauf, um nachzusehen, was denn los sei, und fanden einen Niklas, der aufrecht in seinem Bett saß, außer sich vor Schrecken und am ganzen Leibe zitternd.
»Hier spukt es«, sagte er. »Ein unheimliches, zottiges Gespenst ist auf mich losgesprungen.«
Melcher streichelte ihn beruhigend.
»So etwas nennt man Nachtmahr, wenn man so schrecklich träumt, aber davor brauchst du keine Angst zu haben.«
»Gemeiner Mahr«, brummte Niklas, »er ist mir mitten ins Gesicht gesprungen.«
Aber unter Pelles Decke, von seinen Armen fest umklammert, lag der kleine Mahr und lauerte nur auf die nächste Gelegenheit, wieder herauszukommen und zu spuken.
Und als das ganze Haus schlief, kletterte Pelle wieder in die Nacht hinaus und setzte Jocke in seinen Käfig zurück.
»Man kann dich einfach nicht mit im Bett haben«, sagte er. »Ich glaube, mit einem Petroleumkamin würde es fast besser gehen.«
Und bald erwachte ein neuer Frühlingstag über Saltkrokan, ein Tag, den keiner je vergessen sollte. Denn es war der Tag, an dem Moses auf die Insel kam und eine ganze Kette von Ereignissen in Gang setzte. Dabei war Moses nur ein kleiner junger Seehund, den Kalle Vesterman draußen auf der Schäre, in ein Netz verstrickt, gefunden und mit nach Saltkrokan genommen hatte, weil er wußte, daß die Seeadler mit verlassenen Seehunden hart umgehen.
»Vesterman ist der größte Störenfried, den wir hier auf der Insel haben«, sagte Märta Grankvist immer. Es kam wohl einmal vor, daß Streit entstand, wenn die Inselbewohner im Laden zusammenkamen, und es war immer das gleiche: Immer war es Vesterman, der ihn anzettelte. Ein unruhiger Geist war er. »Wie Wasser um die Steine«, sagte seine Frau. »Und eigentlich hat er überhaupt keinen Verstand.« Und das erzählte sie allen, die es hören wollten. Ein Fischer und ein Jäger war er, alle andere Arbeit war ihm ein Greuel, obgleich er einen kleinen Bauernhof besaß; den mußte aber zum größten Teil seine Frau besorgen. Es war eine Plackerei, und manchmal murrte sie. Vesterman war auch in schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen, und wenn er in der Klemme saß, ging er zu Nisse Grankvist. Aber in letzter Zeit hatte Nisse ihn abgewiesen. Er wollte jemandem, der nie seine Schulden bezahlte, kein Geld mehr leihen.
Tjorven stand auf dem Anleger, als Vesterman an diesem Morgen von der Schäre heimkehrte. Und sie schrie auf, als er einen kleinen fauchenden Seehund vor sie hinlegte, der sie mit schwarzen, feuchten Augen anschaute und so niedlich war, wie sie noch nie etwas gesehen hatte.
»Oh, ist der aber niedlich«, rief Tjorven. »Darf ich ihn streicheln?«
»Meinetwegen gern«, sagte Vesterman. Und dann sagte er etwas Unglaubliches. »Du kannst ihn behalten, wenn du willst.«
Tjorven starrte ihn an.
»Was sagst du da?«
»Du kannst ihn haben. Natürlich nur, wenn deine Mama und dein Papa es erlauben. Ich bin froh, wenn ich ihn loswerde. Du kannst ihn ja aufziehen und behalten, bis er so groß ist, daß man 'nen Nutzen von ihm hat.«
Tjorven schnappte nach Luft. Vesterman gehörte im allgemeinen nicht zu ihren Lieblingen, aber im Augenblick fühlte sie, daß sie ihn anbetete. »Oh«, machte sie und dachte fieberhaft nach – wie konnte man sich für ein so einzigartiges Geschenk nur bedanken? »Ich stick dir auch etwas in Kreuzstich! Möchtest du das?«
Vesterman verstand nicht, daß Tjorvens Angebot das Gewaltigste war, was sie zustande bringen konnte, und er sagte: »N-ja, ich will nicht behaupten, daß ich unbedingt Sehnsucht danach hab, aber – nimm du den Seehund, man traut sich ohnehin nicht, mit einem jungen Seehund zur Frau nach Haus zu kommen.« Dann ging Vesterman seiner Wege und ließ eine völlig verwirrte Tjorven zurück.
»Bootsmann, das kann nicht wahr sein«, sagte sie. »Wir haben einen Seehund gekriegt!«
Bootsmann schnupperte an dem Seehund. Er hatte noch nie ein Wesen gesehen, das diesem ähnelte; wenn Tjorven es aber durchaus wollte, dann würde er sich auch mit diesem komischen kleinen Vieh anfreunden, das hier lag und ihn anzischte.
»Nein, erschreck ihn nicht«, sagte Tjorven und jagte Bootsmann weg. Dann schrie sie, so laut sie nur konnte: »Kommt mal her! Kommt mal alle her! Das kann ja nicht wahr sein – ich habe einen Seehund gekriegt!«
Pelle kam als erster angelaufen, und er freute sich so sehr, daß er anfing zu zittern, als er den Seehund sah und das Unfaßbare erfuhr: Tjorven hatte dieses phantastische, graugesprenkelte kleine Knäuel geschenkt bekommen, das zischte und schrie und mit knubbeligen, seltsamen kurzen Vorderpfoten auf der Brücke herumkrabbelte. War es wirklich möglich, daß jemand einfach einen Seehund geschenkt bekam?
»Oh, hast du aber Glück«, sagte Pelle aus tiefstem Herzen. Und Tjorven gab ihm recht.
»Ja, es ist nicht zu glauben, ich hab doch andauernd so'n Glück.«
Aber jetzt blieb nichts anderes übrig, als Mama und Papa davon zu überzeugen, wie schön es war, einen Seehund zu haben.
Nach und nach hatten sich alle auf dem Anlegesteg versammelt und betrachteten erstaunt den Seehund.
»Wir können bald einen Tierpark auf Saltkrokan aufmachen«, sagte Melcher. »Ich muß nur mal sehen, ob ich nicht irgendwo noch ein paar billige kleine Flußpferde auftreiben kann.«
Aber Märta hob abwehrend die Hände. Sie wollte keinen Seehund im Haus haben, unter gar keinen Umständen. Nisse hatte ebenfalls Bedenken. Er versuchte Tjorven klarzumachen, welche Mühe sie haben werde, ihn aufzuziehen. Er brauche soviel Milch wie ein Kalb und kiloweise Strömlinge, wenn er erst etwas größer wurde.
»Strömlinge kann er von uns kriegen«, sagte Stina. »Nicht wahr, Großvater?«
Tjorven guckte ihre Eltern vorwurfsvoll an.
»Ich habe ihn doch bekommen«, sagte sie. »Es ist genau, wie wenn man ein Kind bekommt, versteht ihr das nicht?«
Teddy und Freddy gaben ihr recht.
»Und wenn man ein Kind bekommt, dann redet man doch nicht gleich davon, wieviel Milch es braucht und wie schwer es ist, es großzuziehen«, sagte Teddy.
Sie bestürmten Märta mit Bitten. Johann und Niklas und Pelle halfen mit. Sie versprachen, einen Teich für das Seehundjunge zu machen, wo es sich tagsüber aufhalten konnte. In der Felsböschung hinter dem Bootsschuppen war ein tiefer Einschnitt, wenn man den mit frischem Salzwasser füllte, hatte der Seehund das feinste Schwimmbassin, das er sich nur wünschen konnte. Und nachts könne er im Bootsschuppen sein, meinte Freddy. Er werde überhaupt keine Mühe machen, versicherten sie alle hoch und heilig.
Der junge Seehund stieß hin und wieder kleine hilflose Schreie aus, und Stina sagte triumphierend: »Hört ihr, er ruft ›Mama‹!«
»Und das bin ich«, sagte Tjorven und nahm den Seehund auf den Arm. Es sah so aus, als fühlte er sich da wohl. Er schnupperte in ihrem Gesicht herum, und seine Barthaare kitzelten sie, so daß sie lachen mußte.
»Ich weiß, wie er heißen soll«, sagte Tjorven. »Moses! Vesterman hat ihn genauso gefunden wie die, die Moses im Schilf fand – das weißt du doch noch, Freddy?«
»Ich hatte mir Pharaos Tochter nicht ganz so vorgestellt wie Vesterman«, sagte Melcher. »Aber Moses ist ja ein schöner Name.«
Da alle es für selbstverständlich hielten, daß Moses bleiben durfte, willigte Märta schließlich ein.
»Du darfst ihn dann behalten, bis er so groß ist, daß er allein zurechtkommt«, sagte sie. Und alle Kinder jubelten.
»Wißt ihr, was ich glaube?« fragte Stina. »Ich glaube, Moses ist ein verwunschener Prinz, der aus dem Meer raufgestiegen ist.«
»Du mit deinen verwunschenen Prinzen«, sagte Pelle. »Prinz Moses, was?«
Tjorven saß auf dem Anleger, und Moses lag auf ihrem Schoß. Sie streichelte ihn, und er schnupperte an ihren Händen, so daß sie seine Barthaare spürte, und da lachte sie von neuem, daß sie nur so quietschte. Bootsmann stand daneben und sah zu. Lange stand er still und sah Tjorven mit seinen traurigen Augen an. Plötzlich aber machte er kehrt und trottete davon.
Tjorven bekam in diesem Frühjahr alle Hände voll zu tun, denn sie mußte sich ja um Jocke und Moses kümmern. Pelle schrieb aus der Stadt einen Brief nach dem anderen und ermahnte sie, ordentlich nach seinem Kaninchen zu schauen.
»GIB IHM VIL LÖWENZANBLÄTTER«, schrieb er, und Tjorven klagte Stina ihr Leid.
»Viele Löwenzahnblätter, der hat gut reden! Ich hab noch nie ein Kaninchen gesehen, das andauernd so'n Hunger hat!«
Aber Jocke war jedenfalls ein friedliches Tier, das nur Löwenzahnblätter und Wasser brauchte, um sich wohl zu fühlen. Er schrie nicht, wenn man ihn allein ließ. Er kroch nicht überall herum und zerrte Tischtücher herunter oder holte Kochtöpfe heraus oder zerriß Papas Zeitungen. Das alles tat Moses, derselbe Moses, der tagsüber in seinem Teich sein sollte und nachts im Bootsschuppen. Moses wollte weder im Teich sein noch im Bootsschuppen. Er folgte Tjorven überall auf den Fersen, wo sie ging. War sie denn nicht seine Mama? War sie es nicht, die ihm die köstliche Flasche gab mit warmer Milch und Öl darin? Dann durfte er wohl auch bei ihr sein. Er schrie und protestierte, wenn Tjorven ihn abends im Bootsschuppen einsperrte, und als er einmal noch lauter tobte als sonst, nahm sie ihn einfach mit in ihr Zimmer – Mama war bei Frau Jansson zum Handarbeitskränzchen, sie konnte es also nicht verbieten.
Bootsmanns Schlafplatz war auf einem Stück Bettvorleger neben Tjorvens Bett. Hier hatte er, seit er ein Welpe gewesen war, jede Nacht gelegen. Als jetzt aber Moses kam und auf dem Fußboden herumzukrabbeln begann, sagte Tjorven:
»Bootsmann, du mußt heute bei Teddy und Freddy schlafen.«
Es dauerte ein Weilchen, bis Bootsmann begriff, was sie meinte. Erst als sie ihn beim Halsband nahm und aus dem Zimmer führte, verstand er es. »Es ist ja nur für diese eine Nacht, verstehst du«, sagte Tjorven.
Aber als Moses gemerkt hatte, wie gemütlich es war, in Tjorvens Zimmer zu schlafen, wollte er sich nicht mehr mit einem alten Bootsschuppen begnügen.
Am nächsten Abend, als Tjorven ihn einsperren wollte, schrie er so laut, daß er über ganz Saltkrokan zu hören war.
»Die Leute müssen ja denken, wir quälen ihn zu Tode«, sagte Teddy. »Es wird das beste sein, wenn er drinnen bei Tjorven schläft.«
Märta zögerte ein bißchen, aber sie gab nach. Es war schwierig, einem kleinen Seehund zu widerstehen, der so anhänglich war und einen mit seinen klugen, schönen Augen ansah, als verstünde er alles.
An diesem Abend ging Bootsmann unaufgefordert zu Freddy und Teddy hinein und legte sich hier zum Schlafen hin. Und das tat er auch weiterhin. Er hörte auf, Tjorven auf den Fersen zu folgen, wohin sie auch ging. Vielleicht fürchtete er, Moses zu treten. Von nun an lag er fast den ganzen Tag neben der Treppe zum Kaufmannsladen. Mit dem Kopf zwischen den Pfoten lag er hier, als ob er schliefe, und schaute nur jedesmal hoch, wenn jemand in den Laden wollte.
»Mein lieber Nödelhund, du bist aber richtig nödelig geworden«, sagte Tjorven und streichelte ihn. Dann aber mußte sie laufen und für Jocke Löwenzahnblätter rupfen und für Moses Milch warm machen. Es machte viel Mühe, Tierpfleger zu sein, wenn Stina ihr auch manchmal half.
»Du hast immerhin nur Kalle Hüpfanland«, sagte Tjorven. »Aber ich hab zwei Tiere zu versorgen – und dann Bootsmann natürlich.«
Stina fand es keineswegs schön, daß sie nur Kalle Hüpfanland hatte. Den konnte man nicht mit der Flasche füttern, wie Tjorven es mit Moses tat, die glückliche Tjorven! Stina half ihr, für Jocke Löwenzahnblätter abzurupfen, und hoffte immer wieder inbrünstig auf die Belohnung, nach der sie sich so sehnte: Moses die Flasche geben zu dürfen. Aber Tjorven war nicht zu erweichen. Moses wollte sie selber füttern. Sonst fühlte er sich nicht wohl, behauptete sie. Stina durfte dabeisitzen und zugucken, wenn es ihr auch in den Fingern juckte, Tjorven die Flasche zu entreißen, einerlei, ob Moses sich dann wohl fühlte oder nicht.
Aber auch für Stina kamen bessere Zeiten. Ihr Großvater hielt sich Schafe, nur zwei, die er gegen ein kleines Entgelt auf Vestermans Weide laufen lassen durfte. Die bekamen um diese Jahreszeit ihre Lämmer, und Stina begleitete ihren Großvater jeden Tag zur Weide, um nachzusehen, ob die jungen Lämmer zur Welt gekommen waren.
»Mulle, Mulle, Mulle«, schrie Söderman, »kommt her, laßt euch zählen, ob ich etwas reicher geworden bin.«
Eines seiner Mutterschafe tat wirklich, was es konnte, um seinen Reichtum zu mehren. Eines Tages bekam es nicht weniger als drei Lämmer in dem kleinen Unterstand, den Söderman als Schutz für seine Schafe zusammengezimmert hatte.
»Für so viele hat sie nicht Milch genug«, sagte Söderman. »Eines davon kommt dabei zu kurz.«
Söderman sollte recht behalten. Mehrere Tage lang ging er mit Stina hin, und er sah, wie das kleinste von den Lämmern abmagerte, weil es nicht Kraft genug hatte, sich mit den beiden anderen um die Milch zu balgen. Und schließlich sagte Söderman: »Wir müssen es mit der Flasche versuchen.«
Stina zuckte zusammen. Manchmal geschah wirklich das ganz Unerwartete und Wunderbare. Sie zog ihren Großvater in einer Eile mit zum Kaufmann, die Söderman übertrieben fand. Das Lamm war schließlich noch nicht dem Tode nahe. Aber auf Stinas Anweisung kaufte er eine Nuckelflasche genau wie die, die Tjorven für Moses hatte, und Stina lächelte erwartungsvoll.
Jetzt sollte Tjorven es aber so gründlich kriegen, daß ihr die Sprache wegblieb!
Tjorven fütterte gerade Moses, als Stina mit einer vollen Nuckelflasche in der Hand angelaufen kam.
»Was fällt dir ein!« sagte Tjorven.
Moses hatte noch eine zweite Flasche, die er bekam, wenn er besonders hungrig war, und Tjorven meinte, es sei diese, die Stina sich unterstanden hatte zu holen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, wie es sich gehörte.
»Moses ist satt«, sagte Tjorven. »Der kriegt nichts mehr.«
»Was geht mich das an?« sagte Stina. »Ich hab den Kopf mit anderen Sachen voll.«
Tjorven hob erstaunt die Augenbrauen. »Mit was denn zum Beispiel?«
»Ich muß Totti füttern«, sagte Stina wichtigtuerisch.
Tjorven schwieg und dachte nach.
»Wer ist denn Totti?« fragte sie schließlich.
Und sobald sie es erfahren hatte, da rannte sie mit Stina auf Vestermans Weide und half ihr eifrig, das Lamm zu füttern. Stina durfte immerhin noch die Flasche festhalten.
Totti war bald ebenso zahm wie Moses, und Stina brachte ihm mehrmals am Tag Milch. Manchmal ließ sie ihn aus der Weide hinaus und nahm ihn mit auf einen kleinen Spaziergang. Er rannte genauso anhänglich hinter ihr her wie Moses hinter Tjorven.
»Das ist wirklich ein Anblick«, sagte Nisse Grankvist, als er auf seine Treppe hinaustrat und sah, wie Tjorven und Stina mit Moses und Totti anspaziert kamen. Dann bückte er sich und streichelte Bootsmann. »Und wie geht's dir? Liegst du da und bist traurig, weil du nicht mitspielen darfst?«
Aber Stina und Tjorven setzten sich auf die Treppe und fütterten ihre Tiere und verglichen sie miteinander, welches am niedlichsten sei.
»Ein Seehund ist nun mal ein Seehund«, sagte Tjorven, und das konnte Stina nicht abstreiten.
»Aber ein Lämmchen ist trotzdem niedlicher«, sagte Stina, und dann sagte sie: »Ich glaube, Totti und Moses, das sind beides zwei verwunschene Prinzen.«
»Tsss«, machte Tjorven. »Bloß Frösche sind verwunschen, das hab ich doch schon mal gesagt.«
»Ja, das denkst du«, sagte Stina.
Sie saß schweigend da und überlegte. Vielleicht war es einem gewöhnlichen Schaf auf Vestermans Weide nicht möglich, einen verwunschenen Prinzen zustande zu bringen, aber Moses war in einem Fischernetz gefunden worden, das war genau wie im Märchen.
»Ich glaube trotzdem«, sagte Stina, »daß Moses der kleine Junge vom Meerkönig ist, den eine böse Fee verzaubert hat.«
»Nee, er ist mein kleiner Junge«, sagte Tjorven und umarmte Moses. Bootsmann hob den Kopf und sah sie an. Und wenn es wirklich stimmte, daß er denken konnte wie ein Mensch, dann dachte er vielleicht genau wie Pelle: Zum Kuckuck mit allen verwunschenen Prinzen!