Daheim auf Saltkrokan schien noch immer die Sonne, und Melcher war dabei, die Gartenmöbel anzustreichen. Er habe seit seiner Kindheit nichts mehr anstreichen dürfen, seit er einmal einen bösen kleinen Mann in roter Farbe auf die Tapete im Salon gemalt habe, beklagte er sich bei Malin. Das war eine Ungerechtigkeit, und die sollte jetzt sofort aus der Welt geschafft werden. Heutzutage sei das Streichen leicht, erklärte er ihr. Man brauche sich nicht mit Pinseln und Farbtöpfen abzumühen, jetzt brauche man nur eine handliche kleine Spritze, rasch ginge es, und gut würde es, versicherte Melcher.
»Das denkst du«, sagte Malin.
Sie hatte Nisse Grankvist auf verschiedene Dinge vorbereitet, die Melcher wahrscheinlich bei ihm kaufen wollte und die er auf keinen Fall in die Hand bekommen dürfte.
»Keine Sense, kein Beil, kein Brecheisen«, hatte sie gesagt.
»Kein Brecheisen?« sagte Nisse. »Mit einem Brecheisen kann er doch aber kein Unheil anrichten.«
»Du würdest nicht so reden, wenn du neunzehn Jahre mit ihm zusammengelebt hättest«, versicherte Malin. »Na ja, dann gib ihm nur das Brecheisen, aber sorge bitte dafür, daß deine Regale voll Verbandstoff ›für Erste Hilfe‹ und schmerzstillender Mittel sind.«
Eine Farbenspritze hatte sie vergessen zu erwähnen, und daher stand Melcher nun hier, glücklich wie ein Kind, und bespritzte einen Gartenstuhl, der sicher nicht mehr gestrichen worden war, seit es der fröhliche Schreiner getan hatte.
Tjorven hatte nach zwei Stunden ausdauernder und treuer Dienste ihre Stellung gekündigt. Jetzt scharten sie sich um Melcher, sie und Pelle und Stina. Das sah so lustig aus, diese Anstreicherei, am liebsten hätten sie alle drei mitgeholfen.
»Untersteht euch«, sagte Melcher. »Dies ist mein Spielzeug, jetzt hab ich ausnahmsweise mal Spaß.«
»Bist du ein Spritzmaler, Herr Melcher?« fragte Tjorven.
Melcher ließ einen Strom von Farbe über den Stuhl rinnen.
»Nein, das bin ich nicht. Aber, siehst du, ein tüchtiger Mann muß so gut wie alles können.«
»Bist du das denn?« fragte Tjorven.
»Ja, das ist er«, versicherte Pelle.
»Das bin ich«, sagte Melcher zufrieden. »Ein sehr tüchtiger Mann, wenn ich das von mir selber sagen darf.«
In diesem Augenblick kam eine von Pelles Wespen angesurrt, und da Melcher schon einmal gestochen worden war, fuchtelte er jetzt mit der Spritze herum, um sie zu verscheuchen. Wie er es angestellt hatte, war hinterher nicht festzustellen. Das war fast nie möglich, bei Melchers Mißgeschicken, es blieb stets ein Geheimnis. Malin in der Küche hörte jedenfalls den Aufschrei, und als sie ans Fenster stürzte, sah sie Melcher draußen stehen, die Augen fest zusammengekniffen und das Gesicht verkleistert. Tüchtig wie er war, hatte er sich selber mit der Spritze bemalt, und er war weiß im Gesicht wie eine Sahnetorte.
Oder wie Matilda, dachte Tjorven und lachte leise vor sich hin.
Aber Pelle weinte.
Nun war es nicht so schlimm mit Melcher, wie Pelle dachte. Er hatte so viel Verstand besessen, die Augen rasch zusammenzukneifen, und er hielt sie noch immer fest geschlossen, als er auf die Küchentür zuwankte, um sich von Malin helfen zu lassen. Er tastete mit den Händen, und den Kopf hielt er vorgestreckt, so weit er konnte, einmal, weil die Farbe nicht aufs Hemd hinunterrinnen sollte, und andererseits, damit Malin sofort erkennen konnte, um welchen Körperteil es sich diesmal handelte. Da stieß er gegen einen Baum.
Einen Apfelbaum, den der fröhliche Schreiner wahrscheinlich mit Liebe und Freude gerade hier eingepflanzt hatte. Melcher hatte Apfelbäume auch sehr gern, aber jetzt waren seine Klagerufe so wild und verzweifelt, wie Malin sie noch nie von ihrem Vater gehört hatte. Und sie hatte schon viele gehört.
Pelle weinte noch mehr, und Stina fing ebenfalls an. Aber als Tjorven Herrn Melchers Sahnetorte-Gesicht sah, das nun noch mit Moos und Flechte garniert war wie andere Torten mit Mandelsplittern, da war sie so gescheit, um die Hausecke zu laufen. Denn sie merkte, daß ein lautes Lachen aus ihr herauswollte, und sie wollte Herrn Melcher nicht noch trauriger machen, als er schon war.
Hinterher – nachdem Malin ihn gesäubert und seine Augen mit Borwasser ausgewischt hatte – wollte Melcher den Apfelbaum umhauen.
»Hier stehen zu viele Bäume«, rief er, »ich lauf zu Nisse und kauf eine Axt.«
»Nein, danke«, sagte Malin, »jetzt möchte ich ein bißchen Ruhe und Frieden haben.«
Ach, wenn sie gewußt hätte, wie wenig Ruhe und Frieden sie an diesem Tage haben würden!
Es fing damit an, daß Melcher plötzlich Johann und Niklas vermißte: »Wo stecken die Jungen?« fragte er Malin.
»Draußen auf der Schäre, das weißt du doch«, sagte Malin. »Aber ich finde, sie müßten jetzt bald zu Hause sein.«
Das hörte Tjorven, und sie verzog böse den Mund.
»Das finde ich auch. Die Dummköpfe! Ich finde, sie könnten endlich Bootsmann bringen. Bloß sie können wohl nicht wegen dem Nebel.«
Melcher hatte beschlossen, ein paar Tage mit den Gartenmöbeln zu warten. Jetzt saß er auf der Treppe des Schreinerhauses und blinzelte unaufhörlich. Trotz der Behandlung mit Borwasser hatte er ein Gefühl, als hätte er Sand in den Augen.
»Was redest du von Nebel?« fragte er Tjorven. »Die Sonne scheint ja, daß einem die Augen brennen.«
»Ja, hier«, sagte Tjorven. »Aber hinter Lillasken liegt der Nebel so dick wie Brei.«
»Ja, das hat Großvater auch gesagt«, erklärte Stina. »Und Großvater und ich, wir wissen alles, wir hören immer Radio.«
Es dauerte etwa zwei Stunden, bis das, was Malin das Große Beben nannte, bei Melcher ausbrach. Es war genau wie immer und genau so, wie sie es erwartet hatte.
Malin wußte, ihr Vater war ein mutiger Mann. Wie mutig, das wußte wahrscheinlich nur sie allein, denn sie hatte ihn in entscheidenden Augenblicken des Lebens gesehen. Andere sahen vielleicht nur den nachgiebigen und kindlichen, manchmal geradezu lächerlich kindischen Melcher; aber hinter all seinem Gebaren verbarg sich ein anderer Mensch, der stark war und völlig furchtlos, das heißt, in allem, was ihn selbst betraf.
»Aber sobald es um deine Kinder geht, benimmst du dich geradezu läppisch«, sagte Malin.
Das sagte sie, als er dasaß und wegen Johann und Niklas jammerte. Aber bevor es soweit gekommen war, war er dreimal bei Nisse und Märta gewesen.
»Es ist nicht so, daß ich unruhig bin«, hatte er mit verlegenem Lächeln versichert, als er das erste Mal hingegangen war.
»Eure Kinder sind ja mit dem Meer vertraut, ihretwegen sorge ich mich kein bißchen«, beteuerte er das zweite Mal. »Aber Johann und Niklas draußen in dieser dicken Milchsuppe …« Denn jetzt hatte der Nebel Saltkrokan erreicht, und er flößte ihm Furcht ein.
»Meine Kinder stecken in genau derselben Milchsuppe«, sagte Nisse.
Als Melcher zum dritten Mal in den Kaufmannsladen kam, lachte Nisse und sagte: »Was darf es denn heute sein? Ich hab prima Brecheisen, mit denen kannst du dir eins auf den großen Zeh hauen, damit du zur Abwechslung mal über etwas anderes zu jammern hast.«
»Danke, ich brauch kein Brecheisen«, sagte Melcher. Dann lächelte er wieder sein verlegenes Lächeln.
»Wie gesagt – es ist nicht, weil ich unruhig bin, hätte man aber nicht allen Grund, den Seerettungsdienst zu alarmieren?«
»Weshalb denn?« fragte Nisse.
»Na ja, weil ich so wahnsinnig unruhig bin«, sagte Melcher.
»Das ist kein Grund«, meinte Nisse. »Der Seerettungsdienst kann in dieser Waschküche auch nichts sehen. Und was kann den Kindern zustoßen? Der Nebel lichtet sich wohl bald, und das Wasser ist ja völlig still.«
»Ja, das Wasser schon«, sagte Melcher. »Ich wünschte, ich wäre es auch.«
Mißgestimmt ging er zum Bootssteg hinunter, und als er dieses Graue, Formlose sah, das wie in Wogen auf ihn zurollte, da packte ihn ein Grauen, und er schrie, so laut er konnte:
»Johann! Niklas! Wo seid ihr? Kommt nach Hause!«
Aber Nisse, der ihm gefolgt war, schlug ihm freundlich auf die Schulter. »Mein guter Melcher, man kann nicht in den Schären wohnen, wenn man sich so anstellt. Und es wird auch nicht das kleinste bißchen besser, weil du hier stehst und wie ein Nebelhorn heulst. Komm mit zu Märta hinein, wir wollen Kaffee trinken und Wecken essen, komm nur.«
Aber Melcher war von Kaffee und Wecken so weit entfernt, wie ein Mensch davon entfernt sein konnte. Er sah Nisse mit verzweifelten Augen an.
»Sie sind vielleicht noch draußen auf der Schäre – glaubst du nicht auch? Sie sitzen vielleicht in Vestermans Bootsschuppen und haben es warm und schön und gemütlich. Sag, daß du das glaubst«, bat er beschwörend. Nisse sagte, er glaube es. Aber gerade da kam ein Motorboot durch den Nebel getöfft und machte am Ponton fest. Es war Björn, der von Harskär zurückkam, und der verdarb alles. Auf der Schäre seien keine Kinder, beteuerte er, denn er sei eben da vorbeigefahren und habe nachgesehen. Da ging Melcher murmelnd fort. Er traute sich nicht zu sprechen, weil niemand die Tränen in seiner Stimme hören sollte.
Auch als er zu Malin hineinkam, sagte er nichts. Sie saß mit Pelle im Wohnzimmer. Pelle zeichnete. Malin strickte. Und die alte Amerikaneruhr an der Wand tickte leise, die Glut vom abendlichen Feuer leuchtete im Kamin, der ganze Raum war voll tiefstem Frieden.
So ruhig, so friedvoll, so wunderbar könnte das Leben sein, dachte Melcher, wenn man nur nicht zwei Kinder in Seenot draußen auf dem Meer hätte.
Melcher sank aufs Sofa und seufzte schwer. Malin warf ihm einen forschenden Blick zu. Sie wußte genau, wie es um ihn stand, und das Große Beben würde nicht lange auf sich warten lassen. Dann brauchte er sie, aber bis dahin saß sie schweigend da und strickte.
Und Melcher nahm sie nicht mehr wahr. Weder sie noch Pelle, sie gingen ihn nichts an. In diesem Augenblick hatte er nur zwei Kinder, und die kämpften draußen auf dem Meer um ihr Leben. Er sah sie viel deutlicher vor sich als Malin und Pelle. Aber sie verhielten sich dauernd anders. Mal lagen sie halbtot vor Hunger und Kälte auf dem Boden des Kahns und riefen mit schwacher Stimme nach ihrem Vater. Mal lagen sie im Wasser und versuchten, mit letzter Kraft eine kleine Felsinsel zu erklimmen. Sie krallten sich mit den Nägeln fest und schrien voller Angst nach ihrem Vater. Nun aber kam eine riesige Woge – wo die nun herkommen mochte, da es doch ganz still war? –, aber sie kam und riß seine beiden Kinder mit sich, und sie versanken, und ihre Haare wogten wie Seegras unter Wasser, ach Herrgott, weshalb konnten Kinder nicht für immer drei Jahre alt bleiben und auf dem Sandhaufen sitzen mit Eimer und Schaufel, damit einem solche Qual erspart blieb!
Er seufzte schwer ein über das andere Mal, da endlich erinnerte er sich an Malin und Pelle, und er sah ein, daß er sich zusammennehmen mußte. Er sah Pelles Zeichnung an. Sie stellte ein Pferd vor, das sah er; das Pferd sah aber im Gesicht genauso aus wie der alte Söderman. Normalerweise hätte Melcher gelacht, jetzt sagte er nur:
»Na, Pelle, du zeichnest? Und du, Malin – was strickst du denn da?«
»Einen Pullover für Niklas«, antwortete Malin.
»Da wird er sich aber freuen«, sagte Melcher; er schluckte jedoch heftig, denn er wußte ja, daß Niklas auf dem Meeresgrund lag und nie mehr einen Pullover brauchen würde. Niklas, Niklas, sein lieber Junge! Wenn man bedenkt, wie er damals, als er zwei Jahre alt war, aus dem Fenster gefallen war. Schon damals hatte Melcher begriffen, daß er so ein engelhaftes Kind war, dem kein langes Leben beschieden sein würde. Ach, das war ja Pelle gewesen, fiel ihm plötzlich ein, und er warf dem armen Pelle, dessen einziger Fehler der war, daß er nicht auf dem Meeresgrunde lag, einen mißbilligenden Blick zu.
Aber Pelle war ein gescheiter kleiner Kerl, der mehr verstand, als Melcher und Malin jemals klarwurde. Nachdem er sich lange genug die stummen Seufzer angehört hatte, die sein Vater in regelmäßigen Abständen ausstieß, legte er die Zeichnung beiseite. Er wußte, erwachsene Menschen brauchten auch manchmal Trost, und so ging er denn ohne ein Wort zu Melcher und schlang die Arme um seinen Hals.
Da fing Melcher an zu weinen. Er drückte Pelle heftig an sich und weinte stumm und verzweifelt und mit abgewandtem Gesicht, damit Pelle es nicht merkte.
»Es wird schon alles gut werden«, sagte Pelle tröstend. »Ich geh jetzt raus und seh nach, ob der Nebel sich verzogen hat.«
Das war nicht der Fall, eher das Gegenteil. Aber Pelle fand unten am Ufer einen Stein, einen kleinen, feinen braunen Stein, der ganz rund war und sich seidig anfühlte. Den zeigte er Tjorven.
Sie war auch draußen im Nebel. Es war ein aufregendes und dramatisches Wetter, und sie mochte es eigentlich, nur heute nicht ganz so gern, da Bootsmann nicht bei ihr war, sondern irgendwo draußen in dieser dicken, grauen Watte.
»Vielleicht ist es ein Wunschstein«, sagte Pelle. »Man nimmt ihn in die Hand und wünscht sich etwas, und dann geht es in Erfüllung.«
»Und das soll ich glauben?« sagte Tjorven. »Wünsch dir, daß wir zwei Kilo Bonbons kriegen, dann wirst du ja sehen.«
Pelle schnaubte. »Man muß sich etwas Richtiges wünschen, wenn man sich etwas wünscht.«
Und er hielt den Stein in seiner ausgestreckten Hand und wünschte so feierlich und richtig, wie er nur konnte.
»Ich wünsche, daß meine Brüder bald von dem unendlichen Meer zurückkommen.«
»Und Bootsmann auch«, sagte Tjorven. »Tja, und Freddy und Teddy natürlich auch. Aber sie sind ja im selben Boot, das braucht man sich nicht extra zu wünschen.«
Es war Abend geworden. Aber nicht, wie Juniabende sonst sind, nicht hell und glasklar und ein Wunder Gottes, sondern schummrig und unnatürlich. Nebel über allen Fjorden und über allen Inseln und Schären, Nebel über Söderöra und Kudoxa, Nebel über Rödlöga und Svartlöga und Blidö und Möja, Nebel über allen Fahrrinnen und allen Schiffen, die ganz langsam dahinkrochen und mit ihren Nebelhörnern Warnrufe aussandten. Und Nebel über Grankvists kleinem Kahn, der längst schon hätte an seinem heimatlichen Steg liegen müssen, was er aber nicht tat.
»Büsche büsche boll,
kocht den Kessel voll,
drei Schiffe fuhren übers Meer …«
sang Freddy.
»Ich seh kein einziges«, sagte Teddy und ruhte sich auf den Riemen aus. »Hab noch nie so wenig Schiffe gesehen. Was glaubt ihr, wie lange wir gerudert haben?«
»Eine Woche ungefähr«, sagte Johann. »So kommt es einem jedenfalls vor.«
»Aber es ist bestimmt schön, nach Rußland zu kommen«, sagte Niklas. »Wir sind wohl bald da.«
»Das glaub ich auch«, sagte Teddy. »So wie wir gerudert haben! Hätten wir bloß den richtigen Kurs gehalten, dann wären wir gegen zwei Uhr am Bootssteg zu Hause in voller Fahrt vorbeigezischt und wären jetzt bei Janssons Kuhweide auf Grund gelaufen.«
Darüber lachten sie alle vier. Gelacht hatten sie in den letzten fünf Stunden ziemlich viel. Gerudert und gerudert hatten sie, gefroren hatten sie, sich ein bißchen gezankt, ein bißchen vor sich hingedämmert, Butterbrote gegessen, gesungen, um Hilfe gerufen, gerudert und gerudert und den Nebel gehaßt und sich nach Hause gesehnt, aber trotzdem hatten sie ziemlich viel gelacht.
Es war Melcher, der im Augenblick ein großes Unglück auf See erlebte, und nicht die Kinder.
Jetzt aber kam der Abend, und da fiel ihnen das Lachen schwerer. Sie froren mehr als zuvor und wurden immer hungriger und sahen kein Ende von all dem Jammer. Dieser Nebel war unnatürlich, ein normaler Juninebel hätte sich schon längst lichten müssen; dieser aber lag noch immer da und hielt sie in seinem grauen, gespenstischen Griff, als ob er sie nie loslassen wollte. Um sich warm zu halten, hatten sie sich an den Riemen abgewechselt, aber das half nichts mehr, und das Rudern kam ihnen jetzt auch so trostlos vor, da man nicht wußte, wohin es ging. Vielleicht trug jeder Riemenschlag sie nur weiter ins offene Meer hinaus, und dieser Gedanke machte ihnen angst. Das Meer lag zwar völlig still da, aber sollte sich der Nebel, den sie jetzt so sehr haßten, daß sie ihn am liebsten mit den bloßen Händen zerfetzt hätten, sollte sich dieser Nebel jemals lichten, dann war Wind nötig. Und wenn Wind aufkäme – und kräftig genug – und sie waren weit draußen auf dem Meer in einem kleinen Kahn, dann gäbe es wirklich nicht mehr viel zu lachen.
»Dieses ganze Schärengebiet ist mit Inseln übersät«, sagte Freddy. »Daß wir aber auch nur über eine einzige stolpern – kein Gedanke!«
Sie sehnten sich sehr danach, festen Boden unter den Füßen zu spüren. Kaum zu glauben, daß man danach eine solche Sehnsucht haben konnte! Eine einzige kleine Insel, das war alles, was sie begehrten. Sie brauchte nicht besonders groß oder schön zu sein oder sonst irgendwie bemerkenswert, versicherte Teddy, es durfte ruhig eine kleine, verstrüppte sein, aber immerhin so, daß man an Land gehen und ein Feuer anmachen und vielleicht erkennen konnte, wo man war, und vielleicht eine Art Dach über dem Kopf bekommen konnte, vielleicht sogar Menschen begegnete, vielleicht sogar unnatürlich freundlichen Menschen, die einem mit heißem Kakao und warmen Pfannkuchen entgegenkamen.
»Jetzt fängt sie an zu spinnen«, sagte Johann.
Aber es war schön, von Essen zu spinnen, das merkten sie. Sie fingen alle miteinander an und unterstützten sich gegenseitig, große Mengen von Fleischklößen und Kohlrouladen und Beefsteaks und Schweinekoteletts und Bratwürsten zusammenzuspinnen.
»Und vielleicht ein kleines Pilzomelett«, schlug Freddy vor. Dem Pilzomelett stimmten sie alle begeistert zu. Auch Bootsmann, wie es schien, denn er bellte kurz auf. Mehr hatte er ja die ganze Zeit nicht von sich gegeben. Ihm gefiel dieses Unternehmen nicht, wie es keinem gescheiten Hund gefallen konnte. Aber er lag dort auf der Ducht, schweigend und
geduldig, wie es sich ebenfalls für einen gescheiten Hund gehörte, wenn diese unbegreiflichen Menschen auf solche unbegreiflichen Zerstreuungen verfielen.
»Armer Bootsmann«, sagte Freddy, »er ist hungriger als wir, denn er hat einen viel größeren Magen zum Hungrigsein.«
Sie hatten ihre Butterbrote mit ihm geteilt, und als die Brote alle waren, hatten sie ihm Dorsch angeboten, aber den hatte er dankend abgelehnt. »Das wundert mich gar nicht«, sagte Johann. »Ich würde lieber verhungern als ungekochten Dorsch essen.«
»Ist nichts, nichts, nichts mehr im Rucksack?« fragte Teddy.
»Eine Flasche Wasser«, sagte Freddy.
Eine Flasche Wasser! Nach all ihren lieblichen Träumen von heißem Kakao und Beefsteaks und Pfannkuchen empfanden sie es als unerträglich armselig, nur eine Flasche Wasser zu haben.
Sie saßen lange Zeit schweigend und mutlos da. Niklas überlegte, was schlimmer sei, zu erfrieren oder zu verhungern. Im Augenblick war es die Kälte, die ihn am meisten plagte. Die dicke Jacke nützte nichts, er fror bis ins Mark, und er erinnerte sich plötzlich an ihr Lagerfeuer draußen auf der Schäre. Dies Lagerfeuer mußte lange her in einem anderen Leben gewesen sein, so fern wirkte es jetzt. Aber ihm fiel die Streichholzschachtel ein, die er in der Tasche hatte, und er holte sie heraus. Mit klammen Fingern riß er ein Streichholz an. Es brannte mit einer klaren, tröstlichen kleinen Flamme, und er bog seine Hand drum herum, um für einen Augenblick zu spüren, was Wärme war.
»Spielst du das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern?« fragte Freddy.
»Wie konntest du das erraten«, sagte Niklas. Aber in dem Augenblick fiel sein Blick auf etwas.
»Was ist das, was ihr da unter der Achterducht habt? Ist das nicht ein Spirituskocher?«
»Ja, tatsächlich«, sagte Teddy. »Wer um Himmels willen hat denn den da vergessen?«
»Papa wahrscheinlich«, sagte Freddy. »Als er und Mama vorgestern abend draußen waren und Grundnetze ausgelegt haben. Er hatte Mama damit gelockt, daß er ihr im Boot Kaffee kochen würde, wenn sie mitkäme, weißt du noch?«
»Hört mal, könnten wir nicht auch …« sagte Niklas.
»Wir haben keinen Kaffee«, sagte Freddy. »Nur Wasser.«
Niklas überlegte. Heißes Wasser würde sie trotzdem wärmen, und im Augenblick hatten sie Wärme nötiger als irgend etwas anderes. Er sah sich nach der Kelle um, die sie als Schöpfgefäß im Kahn benutzten. Es war ein gewöhnlicher Blechschöpfer, den konnte man als Kochtopf verwenden. Niklas sagte den anderen, was er vorhatte, und sie schauten gespannt zu, wie er den Spirituskocher anzündete und Wasser aus Teddys Flasche in die Kelle füllte.
»Büsche büsche boll, kocht den Kessel voll«, sang Freddy, und da kam Johann auf eine Idee.
»Wir könnten doch Dorsch da drin kochen«, sagte er.
Freddy warf ihm einen aufrichtig bewundernden Blick zu.
»Johann, du bist ein Genie«, sagte sie.
Jetzt bekamen sie alle Hände voll zu tun. Sie reinigten und spülten in wahnsinniger Eile alle ihre sieben Dorsche, schnitten sie in Scheiben und hatten eine fast glückliche Stunde, während sie den Fisch in der Kelle kochten. Die Prozedur nahm lange Zeit in Anspruch, denn es paßten immer nur vier Scheiben auf einmal in den Blechschöpfer. Aber schließlich war aller Fisch gekocht und auch mit großer Befriedigung verzehrt. Den größten Teil verschlang Bootsmann, aber auch die anderen bekamen reichlich genug.
»Könnt ihr begreifen«, fragte Freddy, »daß man vier Scheiben Dorsch essen kann ohne das kleinste Krümchen Salz und dann auch noch finden kann, es wäre fast das Beste, was man je gegessen hat!«
»Wieso nicht?« sagte Johann. »Wenn man Fischbrühe trinken kann und das gut findet? Aber dann hat man sie natürlich nicht mehr alle.«
Es war aber, als kehre wieder Leben in sie zurück, nachdem sie die kräftige, dampfend heiße Fischsuppe getrunken hatten. Oh, die wärmte bis in die Zehen hinunter! Alles war mit einemmal leichter zu ertragen. Sie fingen wieder an zu hoffen, auf irgend etwas, daß der Nebel weichen oder daß ein Dampfer kommen und sie auflesen würde oder daß sie daheim erwachten und alles nur geträumt hätten.
Aber die, Stunden verrannen, und der Nebel lag nach wie vor über dem Wasser. Es kam kein Dampfer, und es war kein Traum, denn im Traum konnte man nicht so frieren. Die Fischbrühe hielt nur ein kurzes Weilchen vor, und der Spirituskocher war endgültig ausgegangen. Jetzt kam die Kälte wieder angekrochen und mit ihr die Müdigkeit und Mutlosigkeit. Es hatte keinen Sinn, noch weiter zu hoffen. Sie würden die ganze Nacht hindurch hier wie Gefangene im Nebel sitzen müssen, vielleicht bis in alle Ewigkeit.
Da zuckte Freddy plötzlich zusammen und fuhr hoch.
»Hört mal!« sagte sie. »Hört mal!«
Und sie hörten: Irgendwo weit weg im Nebel tuckerte ein Motor. Sie horchten, als hinge das Leben davon ab, und dann schrien sie. Es konnte Björns Boot sein, und es konnte das Boot von jemand anders sein, aber wessen es auch war, sie mußten versuchen, es heranzurufen.
Und tatsächlich, es kam näher. Immer näher. Jetzt war es nahe – nahe. Und sie schrien sich heiser. Zuerst in wildem Jubel, aber dann vor Verzweiflung und Wut. Keuchend vor Verbitterung saßen sie da und hörten, wie das Motorengetucker wieder leiser wurde und langsam erstarb. Und schließlich nichts mehr. Nichts mehr als Nebel. Da gaben sie auf und krochen schweigend zusammen auf der Ducht neben Bootsmann, damit er ihnen ein wenig von seiner Wärme abgab.
Nisse Grankvists Kaufmannsladen auf Saltkrokan war wohl einer der friedlichsten Orte der Welt. Nicht daß es dort etwa still und ausgestorben war, im Gegenteil. Hier versammelten sich die Leute von Saltkrokan und von den Inseln rundum. Hierher kamen sie, um einzukaufen und um sich zu unterhalten und Neuigkeiten zu erfahren und um Post zu holen und zu telefonieren. Hier war das Herz von Saltkrokan. Die Leute hatten Nisse und Märta gern, weil sie vergnügt waren und anständig und hilfsbereit, und in ihrem engen kleinen Laden war es gemütlich, wo es so gut nach Kaffee und Backobst und Hering und Seife und allerlei anderen Dingen roch. Es war hier Tag für Tag von früh bis spät ein Summen und Schwatzen, und mitunter gab es gewaltige Wortgefechte über die Angelegenheiten der Insel. Aber immer ging es friedfertig zu, es war ein Ort des Friedens, dieser Kaufmannsladen.
An diesem Abend allerdings nicht. Heute herrschte hier Jammer und Angst und Verzweiflung. Denn Melcher Melcherson hatte das Große Beben und machte mehr Lärm, als die gesamte Bevölkerung der Insel jemals zustande gebracht hatte.
»Jetzt muß etwas getan werden«, schrie er. »Ich will, daß alle Zollboote und Lotsenstationen und Leuchtturmwärter und Helikopter und Flugzeugambulanzen im ganzen Norden jetzt eingesetzt werden! Jetzt auf der Stelle!«
Er starrte Nisse an, als ob dieser die Pflicht hätte, für all das zu sorgen. Malin nahm ihren Vater flehentlich am Arm.
»Lieber Papa, beruhige dich ein bißchen!«
»Wie soll ich mich beruhigen, wenn ich im Begriff bin, vaterlos zu werden!« brüllte Melcher. »Ich meine – ach was, ihr wißt, was ich meine! Im übrigen ist es wohl schon zu spät. Ich glaube, daß keins von ihnen noch am Leben ist.«
Die anderen standen dabei, stumm und bedrückt, und hörten zu, Nisse und Märta und Malin und Björn Sjöblom. Selbst Nisse und Märta waren jetzt ängstlich. Sie waren keine unnatürlichen Eltern. Unnatürlich war dieser dichte Nebel im Monat Juni, so etwas war seit Menschengedenken nicht vorgekommen.
»Ich war ein Rindvieh! Weshalb hab ich die Kinder nicht gleich mitgenommen, als ich ihnen ihren Kahn wiederbrachte«, sagte Björn. Deswegen hatte er ein schlechtes Gewissen, und das hielt ihn hier im Laden von Saltkrokan bei den Eltern zurück, obgleich er längst schon nach Hause hätte aufbrechen müssen, nach Norrsund.
Übrigens waren nicht nur sein Gewissen und die armen Eltern der Grund, weshalb er blieb. Von dieser Malin, die jetzt so ernst und der fröhlichen, die er neulich abend kennengelernt hatte, gar nicht mehr ähnlich war, konnte er nur schwer den Blick wenden. Stumm und hilflos stand sie da und hörte dem Ausbruch ihres Vaters zu. Mit einer müden Bewegung strich sie sich das blonde Haar aus der Stirn, und er sah ihre Augen, dunkel und gequält. Sie tat ihm leid. Weshalb konnte ihr Vater sich nicht ein wenig mehr beherrschen, da sie es doch konnte?
Nisse hatte den Zollkreuzer in Furusund alarmiert, nicht weil er an eine unmittelbare Lebensgefahr glaubte, doch es war schon schlimm genug, wenn die Kinder die Nacht draußen im Nebel zubringen mußten.
»Ein einzelner Zollkreuzer, was kann der schon ausrichten?« schrie Melcher, der verlangte, daß der Seerettungsdienst des ganzen Nordens an diesem nebligen Juniabend ins Schärengebiet um Saltkrokan beordert werden sollte. Nachdem er aber lange Zeit getobt und gewettert hatte, war es, als ginge ihm die Luft aus. Er ließ sich auf einen Sack mit Kartoffeln niedersinken und blieb dort sitzen, so bleich und verstört, daß Märta Mitleid mit ihm hatte.
»Möchtest du eine Beruhigungstablette haben, Melcher?« fragte sie freundlich.
»Ja, bitte«, sagte Melcher. »Eine ganze Schachtel!«
Es fiel ihm im allgemeinen schwer, Tabletten einzunehmen, und er hatte auch kein Vertrauen zu ihnen, aber im Augenblick war er bereit, Fuchsgift zu schlucken, falls ihm das eine Weile Ruhe und Gelassenheit verschaffen könnte.
Märta holte eine kleine weiße Tablette und ein Glas Wasser für ihn. Und er legte, wie immer, die Tablette auf die Zunge, trank einen Schluck Wasser und schluckte heftig. Und richtig, das Wasser rann hinunter, und die Tablette blieb liegen. Er war nicht weiter erstaunt, denn so machten seine Tabletten es immer. Er versuchte es noch einmal, aber die verdammte Tablette lag nach wie vor auf der Zunge, bitter und widerlich. »Nimm einen Riesenschluck«, sagte Malin. Da tat Melcher es. Er nahm einen Riesenschluck, und er schaffte es, daß ihm das Ganze in den falschen Hals geriet. Auch die Tablette, denn diesmal war sie mitgegangen.
»Rrrkkss«, machte Melcher. Er prustete wie ein Seehund, und da rutschte die Tablette hoch und blieb irgendwo stecken. Und da blieb sie den ganzen Abend. Aber man merkte nicht, daß sie ihn sonderlich beruhigte.
Malin hatte sich den ganzen Tag sehr zusammengenommen, jetzt aber fühlte sie plötzlich, daß sie anfangen würde zu weinen. Nicht gerade wegen der Beruhigungstablette hinter Melchers Nase, sondern weil alles so zum Verzweifeln war. Sie durfte ihren Vater nichts merken lassen, und deswegen lief sie nach draußen. Die Tränen kamen, sobald sie zur Tür hinaus war, und jetzt durften sie kommen. Sie lehnte den Kopf gegen die Wand und weinte leise.
Dort fand Björn sie.
»Kann ich irgend etwas tun?« fragte er teilnahmsvoll.
»Ja – rede bitte nicht so freundlich mit mir«, murmelte Malin, ohne aufzublicken, »sonst weine ich, daß es hier eine Überschwemmung gibt.«
»Dann werde ich nichts mehr sagen«, antwortete Björn. »Nur, daß du ziemlich hübsch bist, wenn du weinst.«
Er machte sich auf den Heimweg nach Norrsund. Dort war die Schule, in die die Kinder von allen Inseln ringsum kamen, damit er ihnen ein wenig Wissen eintrichtern konnte, und dort im oberen Stock des Schulhauses hatte er seine einsame Junggesellenbude. Von Saltkrokan aus brauchte er nicht mehr als zehn Minuten bis dorthin. Malin sah ihn zum Bootssteg hinunter verschwinden.
»Morgen wird es besser«, rief er, »glaub mir!«
Gleich darauf hörte sie das Tuckern von seinem Boot draußen auf dem Sund.
Und es war dasselbe Tuckern, das die Kinder im Kahn ein paar Minuten später hörten und das auf so schändliche Weise verschwand.
»Nein, jetzt kriege ich aber die Wut«, sagte Johann und richtete sich von der Ducht auf, wo er in der letzten halben Stunde gehockt hatte, dicht an Bootsmann gedrückt.
»Willst du ins Wasser springen?« fragte Niklas, und seine Zähne schlugen so sehr aufeinander, daß er kaum sprechen konnte.
»Nein, ich will euch nur bis zum nächsten Bootssteg rudern und euch absetzen«, sagte Johann finster.
Freddy hob ihr blaugefrorenes Gesicht.
»Ach bitte, ja, das wäre schön. Und wo liegt dieser kleine Steg?«
Johann biß die Zähne aufeinander.
»Das weiß ich nicht. Ich werde ihn aber jetzt suchen oder tot umfallen. Ich laß doch nicht irgendeinen ekelhaften alten Nebel darüber bestimmen, wie lange ich auf dem Wasser sein soll.«
Er setzte sich an die Riemen. Der Nebel lag nach wie vor so dick wie Watte. Oh, wie er ihn verabscheute! Weshalb machte er nicht, daß er auf die Nordsee hinauskam oder wo er hingehören mochte? »Ich werd's dir zeigen«, murmelte er erbost. Es schien fast so, als wäre der Nebel sein persönlicher Feind.
Er machte fünf kräftige Ruderschläge. Da stieß der Kahn gegen einen Stein.
»Peng«, sagte Teddy, »da hätten wir den Steg!«
Es war kein Steg. Aber es war Land. Sie hatten mindestens zwei Stunden lang nur fünf Ruderschläge vom Land entfernt gelegen.
»Von so was wird man verrückt«, sagte Teddy, und wie die Verrückten stürzten sie ans Ufer. Sie schrien und hüpften, und Bootsmann bellte, sie waren völlig außer Rand und Band. Daß sie wirklich wieder festen Boden unter den Füßen hatten! Was für ein fester Boden es nun sein mochte. War es so eine Insel, wo die Leute mit heißen Pfannkuchen ankamen, oder ein unbewohnter Holm, wo sie unter einer Tanne schlafen mußten?
Teddy hatte ja gesagt, es dürfe ruhig eine kleine häßliche und verstrüppte Insel sein, und das paßte sehr gut auf diese hier. Verstrüppt war es hier und steinig, soweit sie im Nebel und im Halbdunkel sehen konnten. Aber bevor sie ein Lager für die Nacht aufschlugen, wollten sie erforschen, ob es hier vielleicht irgend etwas Dachähnliches gab.
Johann vertäute den Kahn und schwor, er werde niemals mehr seinen Fuß dahinein setzen. Und dann begannen sie ihre mühevolle Wanderung. Sie gingen am Ufer entlang, so gut es zwischen den vielen Steinen und all dem Gestrüpp gehen wollte, das sie aufzuhalten suchte.
»Schön wär's, wenn wir einen alten Strandschuppen fänden«, sagte Teddy.
»Gibt's denn in Rußland auch solche?« fragte Johann. Er war jetzt aufgedreht und übermütig. War er es denn nicht gewesen, der sie an Land gebracht hatte?
»Ihr braucht es nur zu sagen, dann finde ich auch noch ein kleines Blockhaus, wo wir übernachten können«, rief er.
Er ging voran und fühlte sich als Anführer. Dies war eine Expedition durch eine unerforschte Wildnis mit unbekannten Gefahren, die hinter jeder Biegung lauerten. Ein Anführer war vonnöten, und das war er. Allen voran bog er um eine Landspitze, und da sah er etwas, das ihn jäh stehenbleiben ließ. Er sah ein Hausdach, das genau vor ihm über einige
Bäume hinwegragte.
»Dieses Blockhaus zum Beispiel«, sagte er.
Die anderen hatten ihn eingeholt, und er zeigte stolz auf seinen Fund. »Bitte schön! Dort habt ihr euer Haus! Wahrscheinlich voller warmer Pfannkuchen.«
Da fingen Teddy und Freddy an zu lachen. Unbändig und befreiend. Dieses Gelächter setzte gewissermaßen den Schlußpunkt für ihr ganzes schauriges Abenteuer im Nebel, und Johann und Niklas mußten mitlachen, obgleich sie nicht wußten, worüber.
»Ich möchte mal wissen, was das für ein Haus ist«, sagte Niklas, als sie sich endlich satt gelacht hatten.
»Mach deine Augen tüchtig auf, dann wirst du es erfahren«, sagte Teddy. »Es ist unsere Schule.«
Niemand bei Grankvists und niemand bei Melchersons kam an diesem Abend vor Mitternacht ins Bett. Das heißt, Pelle und Tjorven waren zur gewohnten Zeit eingeschlafen, aber sie wurden aus ihren Betten gezerrt, damit sie bei dem Schmaus dabei sein konnten, der in Grankvists Küche abgehalten wurde, um den glücklichen Ausgang dieses unruhigen Tages zu feiern.
Unruhig war er bis zuletzt gewesen. Als Björn mit seinem Boot bei Grankvists Steg anlegte und Melcher seine verlorenen Söhne, wohlbehalten und in Decken eingewickelt, darin sitzen sah, da liefen ihm die Tränen übers Gesicht, und er sprang mit einem Satz an Bord, um sie in seine Vaterarme zu schließen. Er war jedoch etwas zu forsch abgesprungen, und nach einer kurzen Zwischenlandung auf der Achterducht schoß er auf der anderen Seite ins Wasser hinein, und da nützte es ihm nichts, daß er eine Beruhigungstablette hinter der Nase hatte.
»Das hat mir noch gefehlt«, rief er. »Jetzt ist es aber genug!«
Malin wimmerte, als sie ihn wütend auf den Steg zuschwimmen sah. Nur Melcher konnte an einem einzigen Tag so viel passieren.
Tjorven stand dabei, sie war nicht so richtig wach.
»Weshalb badest du in deinen Sachen, Herr Melcher?« murmelte sie. Aber dann entdeckte sie Bootsmann, und da vergaß sie alles andere.
»Bootsmann, komm her, Bootsmann!«
Sie rief ihn mit ihrer zärtlichsten Stimme, und er sprang an Land und stürzte auf sie zu, und sie schlang die Arme um ihn, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
»Siehst du nun, daß mein Wunschstein etwas genützt hat?« sagte Pelle. Sie hatten sich gerade um den großen Klapptisch in Grankvists Küche niedergelassen.
Der ganze Pelle strahlte. Oh, was für eine Nacht! Was für ein Leben sie hier auf Saltkrokan führten! Was für Einfälle! Mitten in der Nacht Leute aus den Betten zu zerren, damit sie aufstanden und Schweinekoteletts aßen, was für ein phantastischer Einfall! Und außerdem waren Johann und Niklas auch nach Hause gekommen.
»Man sollte es nicht glauben, daß einem ganz schwindlig im Kopf werden kann vom Essen«, sagte Teddy mit vollem Mund.
Freddy hatte ein Schweinekotelett in jeder Hand. Sie biß abwechselnd in das eine und in das andere.
»Herrlich finde ich das«, sagte sie. »Ich will schwindlig im Kopf sein vom Essen.«
»Von richtigem Essen«, sagte Johann, »nicht von solchem, das man sich zusammenschmort, wenn man draußen auf dem Wasser ist.«
»Aber eigentlich war das auch gar nicht so übel«, sagte Niklas. Sie aßen und genossen und fanden immer mehr, daß dies trotz allem wohl ein schöner Tag gewesen war.
»Hauptsache, man bewahrt die Ruhe«, sagte Melcher und nahm sich noch ein Kotelett. Er hatte sich umgezogen und war trocken und so glücklich, daß es um ihn herum leuchtete.
»Soso, findest du«, sagte Malin.
Melcher nickte nachdrücklich. »Ja, sonst kann man nicht in den Schären leben. Ich geb zu, ich war nahe daran, ein bißchen unruhig zu werden, aber dank deiner Beruhigungstablette, Märta …«
»Da bist du wenigstens hinter der Nase ruhig geworden«, sagte Nisse. »Aber im übrigen …«
»Im übrigen bin ich voll des Dankes«, sagte Melcher. Und wahrlich, das war er. Das Gemurmel um den Tisch nahm zu, die Kinder waren berauscht vom Essen und der Wärme und davon, daß sie wieder daheim waren nach dem Nebel, der wie ein Alptraum gewesen war. Melcher hörte die Stimmen seiner Kinder, und deshalb war er voller Dank. Er hatte sie alle um sich, keines war untergegangen und trieb unter Wasser mit Haaren wie wogendes Seegras.
»Und alle atmen sie, froh und gesund,
und keiner fehlt in unserem Kreis«,
sprach er leise vor sich hin. Malin guckte schräg über den
Tisch zu ihm hinüber.
»Was murmelst du da vor dich hin, Papa?«
»Nichts«, sagte Melcher.
Erst als Malin sich wieder Björn zuwandte, sprach er leise die Fortsetzung:
»Der Tag geht zur Neige, das Feuer verglimmt, bald ist es erloschen. Schnell ist sie vorüber, die glückliche Zeit, da keiner fehlt in unserem Kreis.«