Das Seltsame am Sommer ist, daß er so schnell vergeht

Das Seltsame am Sommer ist, daß er so schnell vergeht, schrieb Malin in ihr Tagebuch.

Bevor Melchersons sich so recht besinnen konnten, war ihr erster Sommer auf Saltkrokan schon vorbei, und es war Zeit, wieder in die Stadt zurückzukehren.

»Etwas Blöderes kann ich mir wirklich nicht vorstellen«, sagte Niklas. »Weshalb müssen die Schulen mitten in den Sommerferien anfangen? Kannst du nicht an die Schulbehörde schreiben, Papa, und ihnen sagen, sie möchten diese Dummheiten doch endlich einmal lassen?«

Melcher schüttelte den Kopf. Die Schulbehörde sei eisern, sagte er, man müsse sich fügen.

Ganz kürzlich sind wir erst hergekommen, schrieb Malin ins Tagebuch, und nun sollen wir schon wieder alles verlassen. Es fällt einem schwer. Pelle muß sein Kaninchen verlassen und seine Walderdbeeren, Johann und Niklas ihre Hütten und Angelruten und Badefelsen und Wracks, Papa seinen morgenlichten Sund, seinen Kahn und sein Schreinerhaus. Und ich, was muß ich verlassen? Meine Sommerwäldchen, meine Apfelbäume und meine Pfifferlingsstellen. Meine kleinen einsamen Waldpfade. Die abendliche Stille. Nicht mehr auf der Treppe sitzen zu können und die Mondstraße über dem dunklen Fjord zu sehen, keine nächtlichen Schwimmausflüge machen zu können unter einem Himmel, der von Sternen glüht, nicht mehr in einer kleinen Bodenkammer zu schlafen mit dem Wiegenlied der Dünung im Ohr, das wird mir schwerfallen. Und dann die Menschen hier, die unsere Freunde geworden sind, die müssen wir auch verlassen. Oh, wie werde ich sie vermissen!

Aber wir wollen ein gebührendes Abschiedsmahl richten, das hat Papa bestimmt, und ich brüte schon über der Speisenfolge. Gedämpfter Barsch nach Melchers Art, wie wäre das? Und dann Strömlingsauflauf und Pfifferlingsomelett und vielleicht ein paar kleine gute Fleischklöße. Zum Kaffee Sahnetorte …

Melcher freute sich sehr auf sein Festmahl. Er hätte es gern mit einem Feuerwerk beendet, das würde der Höhepunkt des Sommers werden, behauptete er. Aber dagegen sträubte sich Malin, denn ihr fiel ein Krebsessen ein, bei dem Melcher aus Versehen das ganze Feuerwerk auf einmal abgebrannt hatte.

»Der Höhepunkt des Sommers, o ja, das glaub ich gern«, sagte Malin. »Aber hier gibt's kein neues Feuerwerk, bis die Narben vom vorigen nicht mehr zu sehen sind.«

Sahnetorte war ein ruhigerer Abschluß, fand sie, und die wurde draußen im Garten gereicht, an einem warmen Sonntag im August, als der Fjord wie ein Spiegel dalag und alles »sommeriger war als je zuvor«, wie Niklas behauptete.

Pelle und Tjorven und Stina saßen auf der Vortreppe des Schreinerhauses, und Malin tat ihnen so viel Sahnetorte auf die Teller, wie sie nur in sich hineinbekamen. Pelle aß, aber er war genau wie Melcher der Meinung, Feuerwerk hätte mehr Spaß gemacht.

»Ja, aber stell dir vor, du hättest zusehen müssen, wie Papa explodiert und mit lodernden Haaren über Harskär davongeflogen wäre«, sagte Malin. »War die Torte übrigens nicht gut?«

»Malin, weißt du was«, sagte Tjorven, »die ist so infernalisch gut, daß man schmatzen muß, wenn man sie ißt.«

»Oh, oh, oh«, sagte Malin, »ich bin schon zufrieden, wenn du nur sagst, sie ist gut.«

»Nee, das würde sich ja anhören, als ob ich von Knäckebrot rede«, sagte Tjorven.

Söderman trank drei Tassen Kaffee, obgleich er wußte, daß das seinem Magenknurren nicht gut bekam, aber er müsse etwas zum Trost haben, behauptete er, da Malin ihn jetzt verlassen wolle.

»Ja, wenn das etwas nützt, dann möchte ich bitte eine ganze Wanne voll haben«, sagte Björn und hielt Malin seine Tasse hin. Sein Blick war düster, und sie vermied es, ihn anzusehen.

»Sonst ist es mit Sommergästen immer so«, sagte Nisse, »daß man es nett findet, wenn sie kommen, und auch, wenn sie wegfahren, besonders wenn sie wegfahren. Aber das Schreinerhaus ohne Melchersons, das wird wirklich leer werden!«

»Ihr kommt ja zum Glück im nächsten Sommer wieder«, sagte Märta. In dem Augenblick hatte Melcher eine glänzende Idee. »Weshalb sollten wir nicht Weihnachten im Schreinerhaus feiern? Haha, wer ist der Umsichtigste auf der ganzen Welt? Melcher Melcherson! Ich habe vorsichtshalber für ein ganzes Jahr gemietet.«

Alle Kinder brachen in ein Freudengeschrei aus, und Malin wandte sich eifrig an Märta und Nisse.

»Kann man das? Kann man im bitterkalten Winter im Schreinerhaus wohnen?«

»Wenn wir Mitte Oktober anfangen, für euch zu heizen, vielleicht«, sagte Nisse.

Melcher erklärte, man könne nicht ein ganzes großes Schreinerhaus, für das man Miete gezahlt habe, ohne jeden Zweck leer stehen lassen. Wollte man für sein Geld etwas haben, dann müsse man Weihnachten dort feiern, und wenn einem die Ohren abfrören. Er packte Tjorven und tanzte mit ihr herum.

»Heißa und hopsa und fallerallera, Heiligabend sind wir fröhlich und alle wieder da«, schrie er. Und übrigens nicht nur Heiligabend, sondern auch jetzt in der Stunde des Abschieds, sagte Melcher, da sie sich ja schon in wenigen Monaten wiedersehen würden. »Nur frohe Gesichter möchte ich um mich sehen! Hörst du, was ich sage, Bootsmann?« fragte er streng, denn Bootsmann lag da und sah betrübter aus als je zuvor. »Malin, gib ihm den Rest von der Torte, wir wollen mal sehen, ob es etwas nützt«, sagte Melcher.

Und Bootsmann fraß die Sahnetorte, aber mit unerschütterlich trauriger Miene.

»Und trotzdem findet er sie so infernalisch gut, das weiß ich«, sagte Tjorven.

Pelle saß auf der Treppe, den Kopf auf die Hände gestützt. Er fühlte sich genauso düster, wie Bootsmann aussah. Alles hatte immer ein Ende, Sahnetorten und Sommer und vielleicht das ganze Leben, was wußte er! Aber ein kleines Stück Sahnetorte war merkwürdigerweise übriggeblieben, und als das Festmahl vorüber war, stand die Tortenplatte zur Freude aller Wespen noch immer an der Giebelseite auf dem Gartentisch.

Glückliche Wespen, die dürfen im Schreinerhaus bleiben, denn kleine Wespenkinder brauchen nicht in die Stadt zu reisen und in die Schule zu gehen, was haben die es gut, dachte Pelle.

Sie wurden indessen um das Stück Torte gebracht. Tjorven hatte es bemerkt, und sie verscheuchte die Wespen. Drei Stück Torte hatte sie vorher schon verputzt, dieses hier aber sah besser aus als irgendein anderes mit seiner kleinen hellrosa Marzipanrose obendrauf, und Tjorven wollte es haben. Sie sah sich nach Malin um, denn sie war es nicht gewohnt, Sachen ohne Erlaubnis zu nehmen. Aber Malin war mit Björn verschwunden, und Herr Melcher war ebenfalls nirgendwo zu sehen. Es war ganz einfach keiner da, den sie fragen konnte, und jeden Augenblick konnte jemand anders kommen und das Stück Torte entdecken, jemand, der es vielleicht auch haben wollte. Daher war es eilig. Und daher faltete Tjorven die Hände und betete:

»Lieber Gott, darf ich das Stück Torte nehmen?«

Und sie antwortete sich selbst mit der tiefsten Baßstimme, die sie zustande bringen konnte: »Ja, gewiß darfst du das.«

Und dann war die Torte zu Ende. Das Mahl war zu Ende. Der Sommer war zu Ende – oder nicht?

Nein, der Sommer war noch nicht zu Ende, nur weil Melchersons die Insel verließen. Es kamen warme Septembertage mit Hummelgesumm und Schmetterlingsflattern, es kamen Oktobertage, so still und klar wie Kristall, die Bootsschuppen am Anlegesteg spiegelten sich klar im Wasser, daß man kaum wußte, was Spiegelbild war und was Wirklichkeit. Tjorven aber wußte es, und sie erklärte es Bootsmann.

»Was da auf dem Kopf steht, das sind auch Bootsschuppen, allerdings nur für Meerjungfrauen, verstehst du. Sie schwimmen rein und raus und spielen den ganzen Tag.«

Und in den Bootsschuppen, die nicht auf dem Kopf standen, spielte Tjorven mit Bootsmann Versteck. Ohne ihn wäre sie ziemlich verlassen gewesen, Teddy und Freddy waren jetzt jeden Tag in der Schule und Pelle und Stina weit weg in einem fernen Stockholm, in das sie selbst noch nie ihren Fuß gesetzt hatte und von dem sie nichts wußte. Aber sie hatte Bootsmann, und außerdem füllte sie ihre Tage mit den seltsamen und wunderbaren Spielen des Einzelkindes aus. Sie entbehrte nichts.

Und langsam senkte sich das herbstliche Dunkel auf Saltkrokan und die Menschen, die dort lebten. Abends leuchtete es spärlich aus den Fenstern, kleine, einsame Lichter in all dem Kohlschwarz. Hier draußen auf den Inseln wohnten so wenige Menschen, und wenn die Dunkelheit kam und die Herbststürme um ihre Häuser heulten und das Meer wie irrsinnig an ihren Stegen und Bootsschuppen rüttelte, da gab es wohl diesen oder jenen unter ihnen, der sich fragte, weshalb man hier am weitesten draußen im Meer lebte, aber sie wußten, gerade hier wollten sie leben und nirgendwo anders.

Der Dampfer aus der Hauptstadt kam jetzt einmal in der Woche. Er hatte keine Sommergäste an Bord, überhaupt keinen Menschen außer der Besatzung, aber Nisse Grankvist bekam seine Waren und stand getreulich auf dem Anleger, um sie in Empfang zu nehmen. Und Tjorven stand ebenfalls bei jedem Wetter da mit Bootsmann neben sich, obwohl es manchmal kohlrabenschwarze Nacht war, wenn das Schiff endlich kam, und obwohl kein Pelle mitkam.

Aber Pelle schrieb Briefe, denn er ging jetzt in die Schule in der Stadt und konnte in Blockbuchstaben schreiben. Er schrieb nicht an Tjorven, sondern an Jocke. Allerdings war es Tjorven, die zu Jocke in Janssons Stall gehen mußte und ihm berichtete, was da stand, nachdem Freddy es ihr vorgelesen hatte.

»JOCKELCHEN«, schrieb Pelle, »HALT AUS, HALT AUS, ICH KOME BALT.«

Als Tjorven eines Morgens erwachte, lag Eis auf allen Pfützen, in denen sie am Tage vorher herumgeplatscht war, und sie hatte lange Zeit ihren Spaß daran, das Eis mit ihren Stiefeln zu zersplittern. Aber am nächsten Tag war noch mehr Eis da, es wurde immer kälter, und eines Nachts fror der Fjord zu. »Noch nie haben wir so früh Eis gehabt«, sagte Märta.

Die Eisbrecher mußten eine Fahrrinne aufbrechen, damit der Dampfer durchkommen konnte, und dennoch dauerte es zehn Stunden, ehe er sich durch all den Eisbrei bis zu den Inseln am äußersten Rand der Schärenküste durchgearbeitet hatte.

Und dann wurde es endlich Weihnachten. Grankvists Laden hatte Weihnachtswichtel im Schaufenster, und alle Leute von den Inseln drängten sich am Ladentisch, um Stockfisch und Weihnachtsschinken, Weihnachtskaffee und Weihnachtskerzen zu kaufen.

Teddy und Freddy hatten Weihnachtsferien und mußten im Geschäft mithelfen. Tjorven war überall im Wege.

»Bloß noch wenige Tage bis Heiligabend«, sagte sie, »und ich kann immer noch nicht mit den Ohren wackeln.«

Sie verkehrte in dieser Zeit fleißig mit Söderman, und der hatte ihr eingeredet, daß der Weihnachtswichtel besonders solche Leute gern hätte, die mit den Ohren wackeln könnten – es sehe freundlich aus, behauptete Söderman. Er selbst beherrschte die Kunst, aber er wollte nach Stockholm fahren und bei Stina Weihnachten feiern, und wer sollte dann hier draußen auf Saltkrokan dem Weihnachtswichtel freundlich mit den Ohren zuwackeln?

»Das mußt du machen, Tjorven«, sagte Söderman.

Und Tjorven übte geduldig und mit Ausdauer.

Drei Tage vor Weihnachten kam die »Saltkrokan I« durch die Eisrinne gestampft mit der Familie Melcherson an Bord. Sie standen allesamt an der Reling und starrten durch das Schneegestöber und die Winterdämmerung auf ihre Sommerinsel, die jetzt weiß und schweigend dalag, in Schnee gebettet, von Eis umfangen, winterlich schön und seltsam fremdartig, mit weißen Dächern auf den Bootsschuppen und mit leeren Bootsstegen, an denen keine Boote mehr an ihren Vertäuungen schaukelten. War das wirklich ihre Sommerinsel? Sie erkannten sie gar nicht wieder.

Aber sie konnten das Schreinerhaus unter verschneiten Apfelbäumen sehen, der Schornstein rauchte, und Melcher war gerührt.

»Es ist jedenfalls ein Gefühl, als käme man nach Hause«, sagte er. Und da stand Nisse Grankvist draußen auf dem Eis an der Fahrrinne, da kamen Teddy und Freddy auf ihren Schlitten angesaust, da kam Janssons Schlitten mit Söderman drin und mit Jansson auf dem Kutschbock und Tjorven als blindem Passagier hintendrauf. Ein zartes kleines Schellengeläut schlug an ihr Ohr, und Pelle merkte, wie es ihm einen Ruck gab. Jetzt war Weihnachten, und er sollte Jocke wiedersehen, bald, bald sollte er Jocke wiedersehen! Und Bootsmann – da kam er auch auf dem Eis angetrottet. Pelles Augen leuchteten, als er ihn sah. Tjorven winkte und schrie, aber das merkte er nicht. Er sah nur Bootsmann. »Alles ist ganz anders als im Sommer«, darüber waren Johann und Niklas sich einig. Natürlich nicht Teddy und Freddy, die johlten und schrien und krächzten wie Krähen und waren gottlob ganz wie immer, sonst aber war es, als kämen sie in eine andere Welt. Weder Johann noch Niklas machten sich Gedanken darüber, was es hieß, in dieser Welt von Schnee und Eis zu leben, einsam und abgeschieden. Für sie war all das Winterliche hier und die Veränderung nur aufregend und abenteuerlich, mehr oder weniger um ihrer Zerstreuung willen entstanden.

Der Dampfer hielt jetzt in der Fahrrinne. Bis an den Anlegesteg konnte er nicht kommen. Wollte man aussteigen, mußte man mit Hilfe einer Leiter aufs Eis hinunterklettern.

»Endlich am Nordpol«, sagte Johann. »Die Mitglieder der Expedition steigen aus.« Er kletterte als erster hinunter, und die anderen folgten nach. Da sahen sie Björn auf einer anderen Leiter herankommen, die quer über der Fahrrinne lag. Es war eine wackelige und ziemlich gefährliche Brücke, aber so eine brauchte man, wenn man in Norrsund wohnte und nach Saltkrokan hinüberwollte. Und auf Saltkrokan hatte Björn offenbar heute etwas zu erledigen.

»Weshalb kommst du, ist was Besonderes los?« fragte Söderman verschmitzt.

Björn gab keine Antwort, denn jetzt sah er Malin.

»Heißa und hopsa und fallerallera, Heiligabend sind wir fröhlich und alle wieder da«, schrie Melcher und packte Tjorven. Aber sie riß sich los, denn sie wollte mit Pelle gehen, und da mußte sie sich beeilen. Pelle hatte keine Zeit, außer Bootsmann noch jemanden zu begrüßen. Er rannte los, übers Eis auf den Anleger zu, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, und mit derselben Geschwindigkeit ging es die ganze Dorfstraße entlang. Tjorven konnte nicht nachkommen. Sie rief ärgerlich hinter ihm her, aber er blieb nicht stehen, und sie sah den wippenden Puschel auf seiner Mütze weit vor sich in der Dämmerung verschwinden. Aber sie wußte, wo sie ihn finden würde.

»Jocke, Jockelchen, siehst du, ich bin zu dir zurückgekommen!«

Pelle hatte sein Kaninchen auf dem Arm, als Tjorven in Janssons Stall kam. Es war so dämmerig, daß sie ihn kaum sehen konnte, aber sie hörte, wie er sich leise mit Jocke unterhielt, fast so, als wäre es ein Mensch. »Pelle, rat mal, was ich kann«, sagte Tjorven eifrig. »Ich kann jetzt mit den Ohren wackeln.«

Pelle hörte ihr nicht zu. Er sprach weiter mit Jocke, und sie mußte es dreimal sagen, bevor er sich bequemte, eine Antwort zu geben. »Zeig doch mal«, sagte er schließlich. Und Tjorven stellte sich in das spärliche Licht vom Fenster und begann. Sie strengte sich an und schnitt die wildesten Grimassen, und dann fragte sie hoffnungsvoll: »Ging es?«

»Nee«, sagte Pelle. Er begriff nicht, weshalb man überhaupt mit den Ohren wackeln mußte, aber Tjorven erklärte ihm, wie gern der Weihnachtswichtel Leute habe, die es könnten. Da lachte Pelle schallend und sagte, erstens gebe es keinen Weihnachtsmann, und zweitens möge er solche, die mit den Ohren wackeln könnten, nicht lieber als andere Menschen. Daher könne sie ebensogut etwas Nützlicheres lernen, zum Beispiel pfeifen. Das konnte Pelle, und während er Jocke zärtlich an sich preßte, pfiff er ihm »Am Weihnachtsbaum die Lichter brennen« vor. Und Tjorven auch, falls sie zuhören wollte.

Pelle wußte nicht, was er tat, als er das mit dem Weihnachtsmann sagte. Tjorvens Kinderglaube bekam einen Knacks, so daß es krachte. War es möglich, daß es keinen Weihnachtsmann gab? Je näher Heiligabend rückte, um so mehr Sorgen machte sie sich, daß Pelle vielleicht recht haben könnte, und als sie am Morgen des Heiligabend bei ihrer Morgengrütze saß, war sie so weit in Unglauben und Verzweiflung hineingeraten, daß sie so gut wie alle Wichtel abgeschafft hatte. Es machte überhaupt keinen Spaß mehr. Was für ein Weihnachten sollte das wohl werden? Kein Weihnachtsmann – und dann noch Grütze zum Frühstück! Sie schob voller Widerwillen den Teller zurück.

»Iß jetzt, Hummelchen«, sagte ihre Mutter freundlich. Sie begriff nicht, weshalb Tjorvens Augen so dunkel waren. Solche Grütze gerade sei das Beste, was der Weihnachtswichtel kenne, versicherte sie.

»Dann kann er meine kriegen«, sagte Tjorven dumpf. Sie war jetzt wütend auf diesen Weihnachtsmann, den es einerseits nicht gab und der andererseits wollte, man sollte Grütze essen und mit den Ohren wackeln, und sie sagte grollend:

»Essen und an Wichtel glauben, das ist wohl das einzige, was ein Kind tun soll.«

Nisse merkte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Er merkte es meistens, wenn mit Tjorven etwas nicht in Ordnung war, und er ahnte, was es war. Als Tjorven ihn jetzt fest ansah und geradeheraus fragte: »Gibt es den Weihnachtsmann, oder gibt es ihn nicht?«, da wußte er, daß ihrem Heiligabend aller Glanz genommen würde, wenn er genauso geradeheraus antwortete: »Nein, es gibt keinen!« Darum zeigte er ihr den alten Holznapf, den seine Großmutter besessen hatte und den sie jeden Heiligabend mit Grütze gefüllt und für den Weihnachtsmann an die Hausecke gestellt hatte.

»Was meinst du, wenn wir das auch versuchten?« fragte Nisse. »Sollen wir deine Grütze hier in den Napf tun und sie dem Weihnachtsmann hinstellen?«

Tjorvens Miene hellte sich auf, als hätte man ein Weihnachtslicht in ihr angezündet. Natürlich gab es Wichtel, wenn Papas Großmutter daran geglaubt hatte! Und wie schön war es, daß es sie gab und daß sie am Weihnachtsabend draußen um die Hausecke geschlichen kamen! Es war auch gut, daß sie gern Grütze aßen, dann brauchte man sie nicht selber zu essen. Alles war jetzt gut, und das wollte sie Pelle erzählen.

Sie traf ihn erst, als es schon dunkel war. Da standen sie allesamt auf dem vereisten Bootssteg des Schreinerhauses und sahen zu, wie der Schlitten des Weihnachtsmannes draußen auf dem Eis im Schneetreiben angesaust kam. Der Weihnachtsmann hatte einen Kienspan, mit dem er sich leuchtete, und war so richtig, wie er nur sein konnte. Er hatte Janssons Pferd und Schlitten, das sah Tjorven, aber der Weihnachtsmann mußte sich ein Pferd leihen, wenn er so viele Weihnachtsgeschenke bringen mußte.

Selbst Pelle war verstummt. Seine Augen wurden immer größer, und er drängte sich dicht an seinen Vater. Der Weihnachtsmann warf zwei Säcke mit Weihnachtsgeschenken auf den Steg, einen für Melchersons und einen für Grankvists. Es ging genauso schnell, wie wenn die Männer von einem Schärendampfer Waren an Land warfen, und dann verschwand der Schlitten in der Dunkelheit.

Und Pelle stand da und dachte darüber nach, wie das eigentlich mit dem Weihnachtsmann zusammenhing. Da sah er Johann lachen und Niklas ein bißchen zublinzeln, und er wurde fast böse. Dachten sie wirklich, er wäre ein kleines Kind, dem man sonstwas auf die Nase binden konnte? Aber es mochte mit dem Weihnachtsmann nun sein, wie es wollte, es machte auf alle Fälle Spaß, es war ganz wunderbar, im Dunkeln hier zu stehen und Schlittengeläut zu hören und den Fackelschein draußen auf dem Fjord verschwinden zu sehen. Und dazu noch einen ganzen Sack voller Weihnachtsgeschenke zu bekommen.

Es war überhaupt wunderbar, in diesen Wintertagen auf Saltkrokan Pelle zu sein. Malin sah, wie er vor Glück strahlte. Als sie eines Abends allein in der Küche waren, fragte sie ihn, was ihm denn soviel Freude mache. Pelle kauerte sich auf dem Küchensofa zusammen und überlegte ein Weilchen. Dann erzählte er Malin, was soviel Freude mache.

»Zum Beispiel …« sagte er.

Morgens hinausgehen, wenn frischer Schnee gefallen war, und den Weg zum Brunnen und zum Holzstall mit freischaufeln zu helfen. Die verschiedenen Spuren der Vögel im Schnee zu sehen. Weihnachtsgarben für alle Sperlinge und Dompfaffen und Kohlmeisen in die Apfelbäume zu hängen. Einen Tannenbaum zu haben, den man selbst im Wald zusammen mit den anderen geholt hat. In der Dämmerung zum Schreinerhaus zurückkommen, wenn man Ski gelaufen war, und sich im Flur den Schnee von den Schuhen zu stampfen und hineinzukommen und zu sehen, wie das Feuer im Küchenherd brannte und wie fein die Küche war mit allen Kerzen. Morgens, wenn es noch dunkel war, aufzuwachen, weil Papa den Kachelofen heizte. Im Bett liegenzubleiben und zuzusehen, wie es hinter der Ofentür flackerte. Abends über den Hausboden zu gehen und sich ein bißchen im Dunkeln zu fürchten, aber nur ein bißchen! Mit dem Schlitten auf dem Eis zu fahren ganz bis an die Dampferrinne heran und sich dann auch ein bißchen zu fürchten! In der Küche zu sitzen und sich mit Malin zu unterhalten so wie jetzt gerade und Zimtwecken zu essen und Milch zu trinken und sich überhaupt nicht zu fürchten. Ja, und dann im Kälberstand in Janssons Stall zu sitzen und mit Jocke zu reden, das war fast das allerschönste.

»Aber hast du schon gehört, daß der Fuchs heute nacht bei Jansson wieder ein Huhn gestohlen hat?« fragte Malin.

Vor diesem Fuchs hatte Pelle Angst. Zwei Abende hintereinander hatte er bei Jansson Hühner gestohlen, und einer, der Hühner stahl, der konnte auch Kaninchen stehlen. Das war ein entsetzlicher Gedanke. Überall schlich der Fuchs herum. Er hatte natürlich auch Tjorvens Weihnachtsgrütze aufgegessen, obwohl sie glaubte, es sei der Weihnachtsmann gewesen. Pelle fragte, was Malin wohl glaube.

»Vielleicht der Fuchs und vielleicht der Weihnachtsmann«, sagte Malin. Pelle lag an diesem Abend lange wach und hatte Angst um sein Kaninchen. Jocke hatte allerdings in einem Kälberstand seinen Platz, aber Füchse waren so schlau – wer konnte wissen, was sie alles anstellten, wenn sie hungrig waren und zu Hühnern und Kaninchen hineinwollten? Füchse sollte man totschießen, dachte Pelle. So blutrünstig war er sonst nie, aber jetzt lag er da im Bett und sah es vor sich, wie der Fuchs seinen Bau hinten im Kuhwäldchen verließ und durch den Schnee auf Janssons Stall zuschlich. Pelle geriet in Schweiß hier in seinem Bett, und er schlief die ganze Nacht unruhig.

Am nächsten Morgen begegnete er zufällig Björn, der mit einem frischgeschossenen Hasen aus dem Wald kam. Pelle machte die Augen zu, um nicht hinsehen zu müssen, der arme kleine Hase!

Weshalb schoß Björn nicht lieber diesen dummen Fuchs? Onkel Jansson würde sich bestimmt freuen, wenn er es täte. Das meinte Björn auch, als er von dem Fuchs erfuhr.

»Diesen Fuchsrüpel, den sollten wir doch schnappen können. Grüß Jansson schön und sag ihm, ich würde es heute nacht versuchen.«

»Um welche Zeit sollen wir kommen?« fragte Pelle eifrig.

»Wir?« sagte Björn. »Du kommst überhaupt nicht. Du wirst in deinem Bett liegen und schlafen.«

»Ich denke nicht daran«, sagte Pelle.

Er sagte es nicht zu Björn, sondern eine Weile später zu Jocke, denn das feine an Jocke war, daß er mit keinerlei Einwänden kam.

»Hab keine Angst, wenn du es heute nacht knallen hörst«, sagte Pelle. »Ich bin bei dir, darauf kannst du dich verlassen.«

Und das war er auch. Aber wie nah war es daran gewesen, daß er sein Versprechen an Jocke hätte brechen müssen! Er mußte daliegen und mit den Augen zwinkern, um sich wachzuhalten, bis Johann und Niklas eingeschlafen waren. Und er mußte schleichen, um durch die Küche nach draußen zu gelangen, während Papa und Malin im Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer saßen und die Tür zur Küche offenstand. Es war ein Wunder, daß sie ihn nicht hörten.

Und dann – in die Nacht hinauszukommen und im Mondschein auf verschneiten Wegen ganz allein dahinzurennen. Zu einem finsteren Stall zu kommen, der gar nicht so gemütlich war wie sonst. Hineinzuschlüpfen und Angst zu haben, daß Björn es merken könnte, ja, ziemlich große Angst zu haben und sich bis zu Jocke hinzutasten. »Ach Jockelchen, da siehst du, ich bin doch gekommen!«

Ein Stall bei Nacht ist ein seltsamer Ort. Es ist still, die Kühe schlafen, aber man hört Geräusche. Hin und wieder klirrt eine Kette, wenn eine Kuh sich ein wenig bewegt. Hin und wieder gackert eine Henne erschrocken auf, als ob sie vom Fuchs träumte. Hin und wieder hört man Björn an seinem Gewehr herumfingern und drüben an seiner Luke leise pfeifen. Der Mond scheint durchs Fenster, auf dem Fußboden bildet sich ein Weg aus Mondlicht, und dort kommt die Stallkatze angeschlichen. Aber gleich ist sie wieder vom Dunkel verschluckt, man sieht nur ihre gelben Augen funkeln. Ihr armen Stallmäuse alle, die ihr heute nacht unterwegs seid! Und armer Jocke, wenn Pelle nicht hier wäre und ihn vor dem Fuchs beschützte. Er drückt Jocke fest an sich und fühlt mit Genuß, wie weich und warm er ist. Pelle fragt sich, wie lange es wohl noch dauert. Vielleicht verläßt der Fuchs jetzt, gerade jetzt, seinen Bau und schleicht durch den Schnee auf Janssons Stall zu?

Jedenfalls kommt Melcher jetzt, gerade jetzt, herauf, um seine Jungen fest zuzudecken. Er findet in Pelles Bett keinen Pelle, sondern einen Zettel mit einer Botschaft, in großen Blockbuchstaben geschrieben:

ICH BIN WEK UND SCHIESE FÜCKSE FÜR JANSON.

Melcher nimmt den Zettel mit zu Malin hinunter.

»Was meinst du dazu? Darf Pelle mitten in der Nacht ›wek‹ sein und ›für Janson Fückse schiesen‹?«

»Nein, wahrhaftig nicht«, versichert Malin mit Nachdruck.

Man wird müde, wenn man in einem Kälberstand sitzt mit einem warmen Kaninchen im Arm. Pelle ist nahe daran einzuschlafen, aber plötzlich zuckt er zusammen. Er hört, wie Björn sein Gewehr entsichert, er sieht ihn im Mondlicht drüben am Stallfenster, sieht, wie er das Gewehr hebt und anlegt. Jetzt … jetzt kommt der Fuchs dort draußen über die Lichtung, und nun soll er sterben, sein Leben ist zu Ende, er wird nie wieder zu seinem Bau im Kuhwäldchen zurückkehren – und Pelle ist es, der das veranlaßt hat.

Mit einem Schrei läßt Pelle das Kaninchen los und stürzt auf Björn zu. »Nein, nein, nicht schießen!«

Björn wird so böse, daß er Funken zu sprühen scheint.

»Was machst du hier? Weg mit dir! Ich will schießen!«

»Nein!« schreit Pelle und umklammert Björns Beine. »Du darfst nicht! Füchse dürfen doch schließlich auch leben.«

Und kein Fuchs braucht heute nacht Pelles wegen zu sterben. Dort draußen im Mondschein gibt es keinen Fuchs mehr. Statt dessen kommt Malin auf ihren Skiern angefahren. Und Björn wird blaß. Sich vorzustellen, er hätte einen Schuß abgegeben. Sich vorzustellen, Pelle hätte ihn nicht daran gehindert!

»Ja, es war gut, daß du gekommen bist«, sagte Pelle zu Malin, als er wieder in seinem Bett lag. Er hatte ihr versprochen, niemals wieder nachts auf Fuchsjagd zu gehen, und Malin hatte ihm versichert, daß der Fuchs Jocke gar nicht holen könne, solange der in seinem kleinen Verschlag bei den Kälbern wohne.

Jetzt aber lag Pelle immer noch da und warf sich herum. Da war etwas, was ihn fast mehr beunruhigte als der Fuchs.

»Malin«, sagte er, »wirst du Björn heiraten?«

Malin gab ihm lachend einen Kuß auf die Wange.

»Nein, das werde ich nicht tun«, versicherte sie ihm. »Der Fuchs kann den Jocke nicht holen, und Björn kann die Malin nicht holen, solange wir jeder in unserem kleinen Verschlag bleiben.«

Und am nächsten Tag hatte Pelle alle Sorgen vergessen. Denn nun war das Schlittenkarussell auf dem Eis vor Grankvists Bootssteg fertig. Jedes Jahr, wenn das Eis fest war, stellte Nisse Grankvist das Schlittenkarussell auf. Das hatte sein Vater vor ihm getan, zu allen Zeiten war man auf Saltkrokan im Winter Schlittenkarussell gefahren.

»Und weshalb soll man etwas aufgeben, was so viel Freude macht«, sagte Nisse.

Melcher pflichtete ihm bei. Er fuhr mit größerer Begeisterung Schlittenkarussell als seine eigenen Kinder, und hinterher kamen sie alle zum Essen nach Hause, mit Wangen so rot wie Weihnachtsäpfel, und bekamen bei Malin Dorsch mit Senfsoße.

»Vormittags Dorsche im Eisloch angeln und nachmittags Schlittenkarussell fahren – es ist wirklich ein reiches Leben, das man führt«, sagte Melcher, als sie um den Küchentisch versammelt waren.

»Bist du allein angeln gewesen?« fragte Johann.

»Nein, ich war mit Nisse Grankvist draußen«, sagte Melcher.

»Wie viele Dorsche habt ihr gefangen?« erkundigte sich Niklas voller Interesse.

»Zehn Stück, stellt euch vor«, sagte Melcher. »Nicht schlecht!«

»Wie viele davon hast du gekriegt?« fragte Johann.

»Wir haben gleich und gleich geteilt«, sagte Melcher kurz. »Es macht wirklich einen Mordsspaß, Schlittenkarussell zu fahren, findet ihr nicht?« fuhr er lebhaft fort. Aber Johann war unerbittlich.

»Wie viele davon hast du gefangen?«

Melcher starrte ihm voller Grimm ins Gesicht. Die bittere Wahrheit war, daß Nisse neun Dorsche geangelt hatte und er selbst einen. Einen kleinen, elenden Burschen, den kleinsten von allen. Aber das hatte er nicht erzählen wollen.

»Du hast vielleicht gar keinen gefangen?« fragte Niklas.

Da seufzte Melcher. Aber dann lächelte er wie eine Sonne und zeigte auf den kleinen Dorsch, der da so jämmerlich und verloren neben den anderen lag.

»Doch – den!«

Alle guckten mitleidig auf den Dorsch und auf Melcher, aber er versicherte, das Anglerglück sei etwas Unerforschliches, das habe nichts mit Geschicklichkeit zu tun, falls sie das dächten.

»Manchmal hat man Glück und manchmal nicht. Ich weiß noch, als ich vor einigen Jahren mal mit einem guten alten Freund im Eis Dorsche geangelt hab, und da hab ich sechsundzwanzig Dorsche gefangen. Und wie viele, meint ihr, fing er? Keinen einzigen!«

»Was war das für ein guter alter Freund?« fragte Johann.

Melcher warf ihm einen Blick zu.

»Ist das eine Art Frage-und-Antwort-Spiel, was du hier treibst?« Dann legte er die Stirn in tiefe Falten und dachte eine Weile nach. »Ja, wie hieß er doch gleich? Himmel noch mal, denkt bloß, ich kann mich nicht an den Namen erinnern!«

»Tsss, weshalb erfindest du den nicht auch?« riet ihm Pelle.

»Schäm dich, Kind«, sagte Melcher. »Vergiß nicht, daß du mit deinem Vater sprichst.«

Da schlang Pelle die Arme um seinen Hals und drückte ihn. »Daran denke ich ja gerade.«

Malin beeilte sich, ihrem Vater zu Hilfe zu kommen. Es war kein Wunder, daß er sich an den Namen eines guten alten Freundes nicht erinnern konnte.

»Ihr wißt doch, wie es manchmal bei Papa ist. Das einzige, woran er sich erinnert, ist, daß er etwas vergessen hat, aber was es war, daran erinnert er sich nicht.«

»Schäm dich, Kind!« sagte Melcher noch einmal.

Die Wintertage waren kurz. Es dämmerte früh. An den langen Abenden wurde die Küche zur Wärmehalle, wo sich alle versammelten. Strenggenommen war sie der einzige wirklich warme Ort im ganzen Schreinerhaus.

Die Nächte waren kalt. Die Jungen schliefen in Flanellpyjamas und mit Wollpullovern in ihrer Bodenkammer. Melcher konnte es in seiner kleinen Mädchenkammer leidlich aushalten. Aber Malin hatte auf das Sofa in der Küche umziehen müssen.

»Zwei Bodenkammern heizen, das geht einfach nicht«, sagte Malin, und sie fühlte sich wohl auf ihrem Küchensofa. »Der einzige Nachteil ist, daß man abends nie ins Bett kommt.«

Denn in der Küche kamen alle zusammen. Hier saßen Nisse und Märta, um bei einer Tasse Kaffee ein Plauderstündchen zu halten, Teddy und Freddy saßen hier und spielten mit Johann und Niklas Monopoly, Tjorven und Pelle zeichneten und spielten. Bootsmann lag in einer Ecke und schlief, Malin strickte, Melcher sang und redete und fühlte sich wohl.

Draußen war klirrend kalter Winter. Kalte Sterne leuchteten über ihrem vereisten Fjord, und die Kälte knackte in den Hausecken. Da war es herrlich, sich in einer warmen Küche zusammenzukuscheln. Pelle schmunzelte und stopfte den Herd mit Holz voll. Genau so sollte es sein: Alle sollten beisammensitzen und es warm haben und singen und sich unterhalten. Bis er zuletzt selber so müde wurde, daß sich alles für ihn wie ein Gesumm anhörte und er ins Bett wankte.

Sonst verbrachte Pelle den größten Teil seiner Zeit in Janssons Stall. Nicht nur bei Jocke. Er half Onkel Jansson auch beim Ausmisten, und er kam nach Hause und roch so nach Stall, daß es keiner in seiner Nähe aushielt. Malin war gezwungen, ein Paar alte Skihosen und eine zu klein gewordene Jacke als Stallkleidung herauszugeben, die er, sobald er zur Tür herein war, im Hausflur auszuziehen hatte.

»Später werden wir das Zeug wohl verbrennen müssen, wenn wir wieder wegfahren«, sagte Malin.

»Nee, das will ich mit in die Stadt nehmen«, sagte Pelle unerwartet heftig. Malin war im Begriff, etwas kaputtzumachen, was er sich gerade ausgedacht hatte. Und ein wenig verlegen erklärte er es ihr. »Ich kann es in einem besonderen Schrank aufbewahren«, sagte er. »Und wenn ich mich zu sehr nach Jocke sehne, dann gehe ich hin und rieche daran.«

Tjorven ging ein paarmal mit ihm in Janssons Stall, aber schließlich hatte sie es satt.

»Ich will nicht die ganze Zeit bloß immer mit Kühen und Kühen zusammensein«, sagte sie.

Statt dessen lief sie Ski. Sie hatte zu Weihnachten Skier bekommen, und nun mühte sie sich auf den Hängen ab, unverdrossen und beharrlich. Wenn sie hinfiel, hatte sie Mühe, allein wieder hochzukommen. Sie lag da und zappelte mit den Beinen wie ein Käfer, bis Teddy oder Freddy kamen und ihr wieder hochhalfen. Aber sie waren jetzt selten zur Stelle. Meistens trieben sie sich mit Johann und Niklas herum und waren wieder geheim. Sie hatten eine geheime Schneefestung, die jeder Mensch, der Augen im Kopf hatte, unten an der Landzunge sehen konnte. Da brachten sie den ganzen Tag zu, aber manchmal wurde es ihnen langweilig, und sie begaben sich auf lange Skifahrten übers Eis zu anderen Inseln, oder sie angelten Strömlinge im Eis mit Söderman zusammen, der jetzt wieder zu Hause war und geschworen hatte, fürs erste werde er nicht mehr in die Stadt reisen.

Alle waren beschäftigt, und Tjorven war immer noch eine ziemlich verlassene Tjorven mit Bootsmann als ihrer liebsten Gesellschaft. An einem bitterkalten Tag, als der Himmel eisig grün über Saltkrokan stand und der Mehlbeerbaum beim Schreinerhaus weiß von Rauhreif war, kam Malin von ihrer Skifahrt nach Haus und fand Tjorven weinend auf dem Hang hinter Södermans Hütte. Sie weinte sonst nur vor Zorn, aber dies waren Tränen des Leides und rührten von Frost in Fingern und Zehen her und von einem Gefühl der Verlassenheit, das einen überkommt, wenn man stundenlang im Schnee herumgestiefelt ist und plötzlich merkt, wie fürchterlich man friert und daß bei Söderman alles abgeschlossen ist und bei ihr selbst niemand zu Haus und auch im Schreinerhaus keiner, und wenn Teddy und Freddy vergessen haben, daß sie versprochen hatten, nach einem zu sehen, während Mama und Papa in Norrtälje sind.

Wenn man dann plötzlich Malin sieht, dann kommen einem die Tränen, die man bis jetzt nur als einen Klumpen im Hals gehabt hat, plötzlich aus den Augen gestürzt. Wie kann das Leben für ein kleines Kind bloß so kalt und schrecklich und einsam sein – oh, daß aber Malin trotzdem gekommen ist!

Und Malin nahm sie auf den Arm und trug sie zum Schreinerhaus und sang ihr etwas vor, während sie dahinging:

»A-B-C, die Tjorven lief im Schnee.

Der Schnee ist kalt, die Tjorven weint,

weil leider keine Sonne scheint.

A-B-C, das Frieren tut so weh.«

Als sie dann in die Küche vom Schreinerhaus kamen, da machte Malin etwas Seltsames, etwas überaus Seltsames, fand Tjorven.

»Man kann sich doch nicht mitten am Tag ausziehen und ins Bett legen«, sagte Tjorven.

»Doch, wenn man kleinen Kindern die Zehen aufwärmen will, dann ist dies das beste Mittel«, versicherte Malin.

Sie kuschelten sich beide auf Malins Küchensofa zusammen, und da war es warm, es war das Himmelreich für ein Kind, das vier Stunden lang im Schnee herumgestapft war. Tjorvens Augen begannen zu glänzen. »Fühlst du meine Zehen?« fragte sie. Malin versicherte ihr mit einem Schauder, das tue sie, denn so kalte Kinderzehen waren wohl noch nie auf diesem Küchensofa aufgetaut worden.

Tjorven konnte sich über Malins seltsame Einfälle gar nicht genug wundern. Ab und zu lachte sie auf. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt.

»Man kann sich doch nicht mitten am Tag ins Bett legen«, sagte sie von neuem.

»Doch, wenn ›das Frieren so weh tut, daß die Tjorven weint‹, dann muß man«, sagte Malin.

Tjorven gähnte.

»Ach was, sing doch nicht dies traurige Lied«, murmelte sie. »Sing eins, von dem einem die Zehen warm werden.«

Malin lachte.

»Eins, von dem einem die Zehen warm werden?«

Von dort, wo sie lag, konnte sie die Eisblumen am Fenster sehen und die fahle Wintersonne, die so kalt durch die Äste des Mehlbeerbaumes schien und so bald wieder unterging und Saltkrokan in Dunkel und klirrendem Frost zurückließ. Wahrlich, hier brauchte man ein Lied, von dem einem die Zehen warm wurden!

»Draußen wehn die Sommerwinde,

Kuckuck ruft in hoher Linde«,

sang Malin. Aber da befiel sie eine so heftige Sehnsucht nach dem Sommer, daß sie nicht weitersingen konnte. Und das war auch nicht nötig. Denn jetzt war Tjorven eingeschlafen.

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