4. Kapitel Henry trifft eine Wahl

Wichtige Kunden empfing Mr Carker immer erst in seinem Büro, bevor er sie herumführte, und Mr Fenton, der Chef eines bedeutenden Energieunternehmens, war ganz offensichtlich sehr wichtig.

»Sie kennen ja sicher unsere Geschäftsbedingungen«, sagte Mr Carker. »Pro Stunde berechnen wir fünfundzwanzig Pfund und eine Kaution von dreihundert Pfund, die erstattet wird, wenn wir den Hund wohlbehalten zurückbekommen. Und was das Wochenende betrifft, so haben wir da spezielle Tarife …«

»Ja, ja«, unterbrach ihn Mr Fenton schnell. Henry hatte die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut und nicht zugehört. »Gibt es hier jemanden, der meinen Sohn ein wenig herumführen könnte, während wir uns ums Geschäftliche kümmern?«, sagte Mr Fenton leise mit einem vielsagenden Blick auf Henry.

Mr Carker begriff sofort. Er war an Eltern gewöhnt, die ihre Kinder anlogen. Er ging in den Flur und rief nach Kayley.

»Würdest du den jungen Herrn hier herumführen und ihm die Hunde zeigen?«, sagte er, als sie ins Zimmer kam. »Er soll sich einen aussuchen.«

Kayley lächelte Henry an und er lächelte zurück. Was für einen wundervollen Beruf sie hat, dachte er. Und außerdem war sie so hübsch mit ihren wehenden dunklen Haaren und den tiefblauen Augen …

»Ich darf mir aussuchen, welchen ich will«, sagte Henry zu ihr. »Er sollte aber nicht zu alt sein, denn Hunde leben höchstens fünfzehn Jahre, nicht wahr? Wenn er noch jung ist, hab ich ihn bei mir, bis ich erwachsen bin.«

Kayley holte tief Luft. Sie wusste, dass die Hunde nie länger als drei Tage verliehen wurden. Also wurde dieser Junge reingelegt. Das hatte sie schon oft erlebt. »Hast du eine bestimmte Rasse im Sinn?«

Henry schüttelte den Kopf. »Nein, ich will mir die Hunde alle anschauen, den richtigen erkenne ich schon.« Er sah vertrauensvoll zu Kayley auf. »Ich werde es sofort wissen, da bin ich mir ganz sicher.«

»Ja«, sagte Kayley. »Das ist oft so, man spürt es einfach.«

Zuerst führte sie ihn in Raum E auf der Rückseite des Gebäudes und Henry blieb vor einem Basset stehen, der in der Ecke seines Käfigs mächtig schnaufte. Es war ein hübscher Hund und Henry kraulte ihm durch die Gitterstäbe hindurch den Kopf, aber er sagte nichts. Der nächste Hund war der Mastiff mit den schlechten Träumen und Henry hörte mit offenem Mund die Geschichte von dem verschluckten Finger.

»Er hat es inzwischen überwunden, aber die anderen Hunde gehen noch immer sehr vorsichtig mit ihm um, als ob sie es wüssten.«

Diesen Hund musste man einfach gernhaben, doch Henry war ein vernünftiger Junge. Bald waren Ferien, aber wenn er später wieder jeden Tag zur Schule ging, würde der Hund nicht genügend Auslauf haben.

Neben dem Mastiff war ein hübscher King-Charles-Spaniel, der sich vor Henry gleich auf den Rücken warf und die Pfoten in die Luft streckte, um gekrault oder gestreichelt zu werden.

»Dem geht’s auch nicht gut«, sagte Kayley. »Das Paar, dem er gehörte, hat sich scheiden lassen und sie haben ihn ständig in der Bahn zwischen dem einen in London und dem anderen in Edinburgh hin- und hergeschickt. Sobald er einen Zug sieht, setzt er sich hin und heult.«

»Oh, ich wünschte, ich könnte ihn nehmen«, sagte Henry. »Es ist ein wundervoller Hund.« Und Kayley nickte, denn der Spaniel wäre eine gute Wahl.

Doch Henry ging weiter, vorbei an einem Corgi, dann an einem Schnauzer … und schließlich kam er in Raum D.

Zuerst schaute er sich einen Dalmatiner an und Kayley erwartete schon, dass er sagen würde: »Der ist es!«, denn seit dem bekannten Film über hundertundeinen Dalmatiner schien jedes Kind einen haben zu wollen. Doch obwohl ihn Henry zwischen den Ohren kraulte und ein wenig seufzte, blieb er nicht stehen, sondern ging weiter. Sie kamen an einem Tibet-Terrier vorbei, der so zottelige Haare hatte, dass man kaum erkannte, wo vorn und hinten war, und dann an einem Mops.

Die Hunde waren müde, es war das Ende eines anstrengenden Tages, doch als sie Kalyley mit einem Besucher sahen, gaben sie sich Mühe, sich aufrecht hinzusetzen und ein freundliches Gesicht zu machen.

Henry sah mittlerweile etwas angespannt aus. Er war so sicher gewesen, dass er den Hund, der für ihn bestimmt war, sofort erkennen würde, und nun hatte er so viele wundervolle Hunde gesehen und doch hatte keine innere Stimme zu ihm gesagt: »Stopp! Das ist er!«

Und wenn er sich nun geirrt hatte? Und wenn es den einen und einzigen Hund für ihn gar nicht gab?

Kayley, die ihm ansah, was er dachte, legte beruhigend ihren Arm um seine Schulter und sie gingen in den nächsten Raum, Raum C. Hier machte Kayley Henry auf die Besonderheiten der einzelnen Hunde aufmerksam: Auf die blaue Zunge eines Chow-Chows, das dichte Fell eines Irischen Wasserspaniels, das ihn auch in kaltem Wasser gut schützte.

Und wieder bewunderte Henry all diese Hunde und wieder schüttelte er den Kopf und sie gingen weiter.

Inzwischen hatte sich Mr Fenton zu ihnen gesellt und versuchte, Henry Ratschläge zu erteilen. »Der Boxer hier hat ein hübsches kurzes Fell, der wird bestimmt nicht haaren.« Oder: »Ich bin mir sicher, dass deine Mutter nichts gegen diesen kleinen Dackel haben wird.«

Doch Henry hörte nicht, was sein Vater sagte, er ging mit gerunzelter Stirn weiter von Hund zu Hund und schaute und sagte immer noch nicht die Worte, auf die alle warteten.

Nun betraten sie Raum A. Sie kamen an Otto vorbei und Henry blieb stehen, um ihn ausgiebig hinter den Ohren zu kraulen. Man sah dem Bernhardiner an, dass er ein ganz besonderer Hund war. Auch Francine war das. Hinter ihrem affigen Äußeren konnte Henry ihre fleißige, zuverlässige Seele erkennen. Dann kam der Collie … Henry hatte jeden Lassie-Film, der jemals gedreht worden war, gesehen. Und doch blieb er nicht stehen, auch nicht für den Pekinesen oder Queen Tilly, die mürrisch auf ihrer Wärmflasche lag.

Doch dies war der letzte Raum. In der Ecke stand noch ein Käfig, aber der war leer. Es gab keine Hunde mehr.

»Ich hab mich geirrt«, sagte Henry leise. »Ich hatte geglaubt, ich würde ihn gleich erkennen.«

Aber was machte das schon, jeder einzelne Hund hier war es wert, dass er ihn mit nach Hause nahm. Er würde Kayley bitten, einen für ihn auszusuchen, aber sein Selbstvertrauen war dahin.

In diesem Moment traten zwei Männer in braunen Overalls durch die Tür, die von der Straße in Kayleys Kammer führte.

»Wir haben eine Nachricht vom Tierheim«, sagte der eine. »Die haben da einen Wasserrohrbruch und können heute keine neuen Tiere mehr aufnehmen, also haben wir ihn zurückgebracht, die Nummer 51.«

»Wo ist er?«, fragte Kayley.

»Er ist noch draußen in seiner Kiste. Wir wollten ihn gerade einladen, da kam der Anruf. Wo soll er jetzt hin?«

»Bringen Sie ihn rein«, sagte Kayley.

»Aber das können wir nicht machen. Mr Carker hat ihn ausgemustert, er will bestimmt nicht, dass …«

»Bringen Sie ihn hierher«, wiederholte Kayley.

Es gab eine kleine Pause, dann zuckten die Männer mit den Schultern und gingen wieder hinaus.

Kayley folgte ihnen. Man hörte, wie eine Kiste aufgestemmt wurde, und im Gang erschien etwas kleines Weißes. Einen Moment lang stand Fleck ganz still und schaute sich um. Dann schoss er wie eine Gewehrkugel durch den Raum und auf Henry zu, der sich im gleichen Augenblick bückte und seine Arme ausbreitete.

»Ich hab’s dir gesagt!«, rief er. »Ich hab gesagt, ich würde es wissen. Ich hab gesagt, wir würden es beide wissen!«

In diesem Moment kam Mr Carker herein und erfasste sofort die Situation.

»Ah, du hast dich für den Tottenham-Terrier entschieden«, sagte er mit öligem Lächeln. »Wir wollten ihn gerade ins … äh … auf eine Hundeausstellung schicken … aber das verzögert sich etwas.« Er wandte sich an Mr Fenton. »Natürlich müssen wir für so einen Hund einen Aufpreis verlangen. Diese Rasse ist sehr selten.«

Mr Fenton wollte sich gerade beschweren, doch dann warf er einen Blick auf Henry oder vielmehr auf das Knäuel, das Henry und der Hund bildeten, sie schienen zu einem Lebewesen zu verschmelzen. Er zuckte resigniert mit den Schultern und folgte Mr Carker in dessen Büro.

»Er heißt Fleck«, sagte Kayley, als die beiden Männer weg waren. »Er heißt so, weil er …«

Henry sah zu ihr hoch. »Ich weiß, warum er so heißt. Weil er dieses goldene Fleckchen in seinem linken Auge hat.«

»Ja«, sagte Kayley. »Genau deswegen.«

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