22. Kapitel Am Meer! Endlich am Meer!

Henrys Großmutter weinte. Sie versuchte es zu verbergen, während sie herumwuselte, Brote schmierte und Keksdosen öffnete. Die ganze schreckliche Woche hindurch, als sie nicht wussten, was mit Henry passiert war, hatte sich Marnie zusammengerissen und war tapfer gewesen, doch nun ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

Die Küche in dem kleinen Fischerhaus platzte vor Hunden und Kindern aus allen Nähten. Nachdem er seinen Job erledigt hatte, war Otto ebenfalls angetrabt gekommen und Meg, die alte Labradorhündin, war unter dem Sofa hervorgekrochen und tat ihr Bestes, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.

Inmitten des Gewusels hockte Fleck und sah sehr mit sich zufrieden aus. Henrys Großvater hatte ihn gleich mit Namen begrüßt, nachdem er Henry fest umarmt hatte.

»Hallo, Fleck«, hatte er gesagt und damit gezeigt, dass er der Hund war, auf den es ankam. »Willkommen bei uns zu Hause.« Fleck hatte sich einen von Marnies Hausschuhen geschnappt und bewachte ihn.

Henry hockte auf einem Stuhl am Küchentisch und war rundum glücklich. Alles war genau so, wie er es sich erhofft hatte. Seine Großeltern so warmherzig und verständnisvoll, das knackende Kaminfeuer, der Blick aus dem Fenster hinaus aufs Meer und die vorbeiziehenden Wolken am Himmel …

Nein, es war sogar noch besser als in seiner Vorstellung, denn er hatte nicht nur Fleck gerettet, sondern auch die anderen Hunde. Und er hatte Pippa getroffen!

Doch als die Kinder anfingen, von ihren Erlebnissen zu berichten, waren die Schrecken der letzten Stunde wieder gegenwärtig.

»Wir wurden von riesigen Hunden gejagt«, berichtete Pippa. »Ehrlich. Wir wollten erst gar nicht glauben, dass sie hinter uns her waren.«

»So, als ob wir irgendwelche Kriminelle wären«, fügte Henry hinzu. »Solche Biester habt ihr noch nie gesehen. Wenn Otto nicht gewesen wäre und …«

Er brach ab, denn die Hintertür öffnete sich und auf der Schwelle stand ein großer Polizist, der aussah, als wäre er hier zu Hause.

»Tach«, sagte er und zog seine Mütze.

Die Kinder erstarrten. Würde man sie nun direkt nach London zurückschicken und die Hunde wieder einsperren? Für einen Augenblick geriet Henrys Welt ins Wanken. War es möglich, dass sein Großvater sie verraten hatte?

Doch nun begann der Polizist zu sprechen: »Ich hab nur mal fragen wollen, ob ihr Neuigkeiten wegen dem Jungen habt, aber nun seh ich ja selbst, dass alles okay ist.«

»Ja, danke, Arthur«, sagte Alec. »Henry ist gesund und munter genau wie seine Freundin Pippa. Es war so, wie wir es uns gedacht haben. Er wollte uns mit Fleck besuchen kommen. Aber die Kinder haben uns gerade erzählt, dass sie von Spürhunden verfolgt worden sind. Kannst du dir das vorstellen?«

Der Polizist nickte. »Einer der Bauern im Moor hat uns Bescheid gesagt. Hab grad ein paar Männer hochgeschickt. Ich glaube, wir wissen, wer die Typen sind. Kevin Dawks und sein Freund. Kevin ist einer von denen, die verboten Müll abladen, der andere ist auch nicht besser. Und natürlich haben sie das Gesetz gebrochen, gejagt ohne Erlaubnis.«

Er setzte sich die Mütze wieder auf, schüttelte den Kindern die Hand und ging.

»Arthur war uns ein richtiger Trost«, sagte Marnie. »Er ist jeden Tag gekommen, um zu sehen, ob du aufgetaucht bist. Die Polizei hat nämlich nie geglaubt, dass du gekidnappt worden bist. Die waren die ganze Zeit sicher, dass du auf dem Weg zu uns bist.«

Doch nun war es an der Zeit, ein paar wichtige Telefongespräche zu führen. Der Anruf im Kloster war schnell erledigt, aber der bei Pippa zu Hause war nicht so einfach.

»Wir haben dich schon vor einer Stunde aus dem Ferienlager zurückerwartet«, sagte Kayley am anderen Ende der Leitung. »Hat der Bus Verspätung?«

»Na ja, es ist nämlich so …«, begann Pippa. »Also, ich war gar nicht auf Klassenfahrt, ich bin in Northumberland.«

»Du bist wo?«, fragte Kayley entsetzt.

»Ich kann’s dir erklären, aber es ist eine lange Geschichte.«

Zuerst herrschte Schweigen. Dann sagte Kayley: »Kommen in dieser Geschichte vielleicht auch fünf Hunde vor?«

»Ja, das tun sie.« Pippa holte tief Luft. »Die Hunde sind hier bei mir, weil …« Und dann folgten weitschweifige Erklärungen.

Als Pippa den Hörer auflegte, sah sie nicht sehr glücklich aus. »Meine Schwester kommt her, um mich abzuholen. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Sie ist ein bisschen sauer.«

Wenn man berücksichtigte, wie ausgeglichen Kayley normalerweise war, war sie nicht nur ein bisschen sauer. Sie war stinkwütend.

»Und nun bist du an der Reihe«, sagte sein Großvater zu Henry.

In London nahm Albina den Hörer ab und schrie auf.

»Dem Himmel sei Dank! Oh, Henry, wir haben uns solche Sorgen gemacht, ich wäre fast gestorben! Du musst sofort zurückkommen. Sofort! Kannst du ein Flugzeug nehmen? Oder vielleicht ist der Zug ja schneller. Ach, was red ich denn da, natürlich kommen wir und holen dich mit dem Auto. In ein paar Stunden können wir da sein.«

Henry unterbrach sie, ruhig, aber bestimmt.

»Ich komme nicht nach Hause.«

»Was? Henry, Schätzchen, was sagst du denn da? Henry …« Albina schluchzte ins Telefon, aber ihr Sohn ließ sich auch durch Tränen nicht erweichen. Er dachte noch einmal daran, wie seine Mutter ihn zum Zahnarzt geschickt hatte, um Fleck dann heimlich fortzuschaffen.

»Fleck ist bei mir und ich werde ihn nicht wieder hergeben. Niemals.«

»Nein, nein … natürlich nicht. Es tut mir leid. Alles wird gut, wir haben es ja verstanden.«

»Ihr habt mich ausgetrickst«, sagte Henry. »Ich hab kein Vertrauen mehr zu euch.«

Albina weinte immer noch, aber Henry sah Fleck vor sich, wie er bewusstlos in seinem Käfig lag. »Ich werde euch auch nie mehr vertrauen.«

Er wollte gerade auflegen, als sein Großvater kam und ihm den Hörer aus der Hand nahm.

»Albina, kann ich bitte mit Donald sprechen?«, sagte er. »Ist er da?«

»Ja, er ist da. Was soll ich denn bloß tun?« Albina war immer noch außer sich. »Donald, dein Vater ist am Telefon.«

Donald nahm den Hörer. »Der Junge ist bei euch?«

»Ja, er und Fleck sind wohlbehalten hier angekommen. Aber Henry ist schrecklich erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Lasst ihn noch ein paar Tage hier, damit er sich ausruhen kann, bevor er zu euch zurückkommt.«

»Aber das ist ja lächerlich, du kannst nicht von uns erwarten, dass …«

Donald brach ab. Die Stimme seines Vaters klang anders als sonst. Es war nicht länger die Stimme von jemandem, der beschlossen hat, sich nicht einzumischen. Es war die Stimme seines Vaters, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte.

»Der Junge braucht jetzt Zeit, Donald. Kommt am Ende der Woche her. Und denkt daran: Wenn ihr versucht, ihm den Hund wieder wegzunehmen, dann habt ihr ihn für immer verloren.«

Als Alec in die Küche zurückkam, standen Marnie und die Kinder am Fenster und pressten ihre Nasen an die Scheibe.

»Wir haben sie gesehen«, sagte Pippa schadenfroh. »In einem Polizeiwagen. Den Mülltypen und den anderen mit den zwei Hunden. Und dann war da noch einer dabei, der hat sich hinter den anderen beiden versteckt. Er sah total geschockt aus.«

Pippa sagte die Wahrheit. Milton Sprocket, von der Polizei verhaftet, eingekeilt zwischen Darth und Terminator, durchgefroren, gebissen und entehrt, war tief in seiner Selbstachtung gesunken.

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