5. Kapitel Der erste Tag

Henry wachte mit einem ungewöhnlichen Gefühl auf. Ihm war warm, aber das war es nicht. Das Ungewöhnliche war, dass er sich glücklich fühlte. Gemütlich. Sicher. Nicht, als hätte er schlecht geträumt, und sei nun froh, wach zu sein. Henry fühlte sich so, als hätte er nie im Leben schlechte Träume gehabt.

Andererseits war sein Bett so hart, es war ungewöhnlich hart. Langsam begriff er, dass es überhaupt kein Bett war. Er lag mit seiner Decke auf dem Fußboden … und dann fiel ihm alles ein. Er hatte seinen Eltern versprochen, Fleck nicht in seinem Bett schlafen zu lassen, und er hatte sein Versprechen gehalten. Aber er konnte Fleck an seinem ersten Tag in seinem neuen Zuhause auch nicht allein lassen.

In diesem Moment presste sich eine kalte Nase in seine hohle Hand und Fleck begrüßte freudig den neuen Tag. Wie sein Besitzer. Fleck war ebenfalls in Geborgenheit, Wärme und Glück aufgewacht. Er sprang Henry auf die Brust, er leckte sein Ohr, sprang wieder runter und rollte sich auf den Rücken, sodass Henry seinen Bauch rubbeln konnte.

Doch Henry fiel ein, was seine Mutter am Abend zu ihm gesagt hatte.

»Wenn er eine Pfütze auf den Teppich macht, kommt er in die Garage und bleibt da auch.«

Es war höchste Zeit, mit Fleck Gassi zu gehen.

Sich anzuziehen war gar nicht so einfach, denn Fleck hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie er Henry dabei »helfen« konnte. Er schleppte seine Socken an interessante Orte und trieb seine Schuhe zusammen, aber als Henry endlich fertig war, ließ Fleck sich Halsband und Leine anlegen und folgte seinem neuen Herrn die Treppe hinunter. Stolz wie ein Model auf dem Laufsteg.

Henry ging mit ihm aus der Tür und durch den Vorgarten, der gar kein Garten war, sondern eine geharkte Kiesfläche. Hier durfte Fleck auf keinen Fall sein Bein heben.

Gegenüber von Henrys Haus war ein Privatgarten, der den Bewohnern der Straße zugänglich war, aber nicht allen. Auf einem Schild am Tor stand Für Hunde und unbegleitete Kinder verboten. Doch am Ende der Straße, wo die Häuser kleiner und nicht mehr so vornehm waren, gab es einen öffentlichen Park. Seine Mutter ging mit Henry nie dorthin, weil sie Angst hatte, die Kinder dort könnten grob zu ihm sein. Fleck schien der Park zu gefallen, er konnte gar nicht schnell genug hinkommen.

Es war ein ganz gewöhnlicher Stadtpark, aber Fleck benahm sich, als wäre er im Paradies. Er schnüffelte an jedem Baum, um zu riechen, welcher Hund als Letztes da gewesen war, er versuchte ein Büschel Gras zu essen und musste niesen. Er entdeckte einen spannenden Laubhaufen. Und die ganze Zeit über zuckten seine Ohren vor Eifer und immer wieder drehte er sich nach Henry um, als ob er sehen wollte, ob der auch all das roch und fühlte und mit ihm teilte.

Henry ließ es zu, dass Fleck ihn führte, und stand plötzlich einem Mädchen mit blonden Locken gegenüber. Sie saß auf einer Bank und las und war genau die Sorte von hübschem, selbstbewusstem Mädchen, die Henry normalerweise Angst einflößte, aber Fleck schloss sie augenblicklich ins Herz.

»In dem stecken ja eine Menge Rassen«, sagte das Mädchen und streichelte Flecks Rücken.

Henry schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Tottenham-Terrier«, sagte er.

»Noch nie gehört, das muss eine neue Züchtung sein. Er sieht richtig klug aus. Warum lässt du ihn nicht von der Leine?«

»Ich habe ihn erst seit gestern und weiß noch nicht, ob er zurückkommt. Nächste Woche will ich mit ihm in die Hundeschule.«

»Natürlich kommt er zurück. Er liebt dich.«

Henry sah das Mädchen an. Ihre Worte machten ihn überglücklich. Er beugte sich vor und löste die Leine. Fleck schüttelte sich kurz, dann sauste er los wie ein Windhund nach dem Startschuss und verschwand hinter ein paar Bäumen.

Einen kurzen Moment lang überfiel Henry Panik, als er und das Mädchen sich ansahen. Und wenn er nun für immer verschwand? Doch dann tauchte der kleine Hund wieder auf und sauste wie ein weißer Pfeil auf Henry zu.

»Hab ich’s doch gewusst«, sagte das Mädchen.

Zwei Jungen, die die ganze Zeit Fußball gespielt hatten, kamen herüber. Henry dachte an seine Klassenkameraden, die an seinem Geburtstag die Geschenke zerstört hatten, und war auf der Hut. Doch die Jungs hatten nichts Böses im Sinn. Sie ließen Fleck hinter dem Ball herjagen, bevor sie weiterzogen.

»Ich geh mal besser wieder«, sagte Henry zu dem Mädchen. »Ich hab noch nicht gefrühstückt und meine Eltern fragen sich bestimmt, wo ich bin.«

Das Mädchen nickte. »Ich begleite dich zum Tor.«

Dummerweise führte sie der Weg an einem Teich vorbei und auf dem Teich schwammen Enten.

Fleck blieb einen Moment stehen und schaute sich alles an. Das Fell auf seinem Rücken sträubte sich und ein Grollen wie das eines Wolfs drang aus seiner Kehle. Und bevor Henry begriff, was geschah, gab es einen lauten Platsch und Fleck schwamm auf die Enten zu.

Die quakten entrüstet, dann schlugen sie mit den Flügeln und flogen hoch. Fleck schwamm ein paarmal hin und her und tat so, als hätte er keine Enten jagen, sondern nur ein wenig planschen wollen. Als Henry ihn rief, paddelte er zum Ufer zurück und wühlte sich durch das Schilf.

»Weg!«, rief das Mädchen und lief los. »Pass auf, dass er dir nicht zu nahe kommt.«

Aber Henry war erst seit Kurzem Hundebesitzer. Er blieb stehen und Fleck kam ihm so nahe wie möglich, um sich dann mit aller Kraft zu schütteln.

»Du hast ja einen mutigen kleinen Hund«, sagte ein Mann, der eine Dänische Dogge an der Leine führte. »Mischlinge sind oft gute Schwimmer.«

Henry wollte ihm gerade erklären, dass Fleck ein Tottenham-Terrier war, aber er war inzwischen fast genauso nass wie sein Hund. Er nahm Fleck an die Leine und machte sich auf den Weg nach Hause.

Als er die Auffahrt hochging, fing er an, sich Sorgen zu machen. Er hatte seiner Mutter versprochen, dass Fleck keine Pfützen machen würde, aber nun war der Hund selbst eine einzige wandelnde Pfütze. Sicherheitshalber betrat er das Haus durch den Hintereingang.

Olga, das neue Dienstmädchen, war ein richtiger Trauerkloß. Sie kam aus Kasachstan und sprach kaum ein Wort Englisch. Henry fürchtete sich vor ihren Schluchzern und Tränen. Doch als sie ihn mit dem durchweichten kleinen Hund sah, zog sie ihn schnell in die Küche und rubbelte Fleck mit einem Handtuch trocken, bis er aussah wie frisch gebadet. Dann holte sie flink für Henry neue Sachen zum Anziehen und schob ihn vor sich her zum Esszimmer.

»Mutter schon warten … schnell!«, sagte sie. Aber sie sagt es mit einem Lächeln.

»Wenn ich nicht wüsste, dass es übermorgen wieder vorbei ist, würde ich es nicht aushalten«, sagte Albina. »Ich habe ein weißes Haar auf dem Teppich gefunden und eins auf der Fußbank. Außerdem wäre ich fast über den Trinknapf gestolpert. Wie ich Unordnung hasse!«

Albinas Freundinnen tranken gerade ihren Morgenkaffee bei ihr und waren sehr mitfühlend.

»Ich hatte eine Freundin, deren Mann einen Irischen Wolfshund mit nach Hause gebracht hat«, sagte Glenda. »Stell dir vor, mit einem einzigen Schwanzwedeln hat der einen ganzen Tisch mit kostbarem Kristall abgeräumt. Und alles, was dem Mann einfiel, war: ›Der Hund will doch nur Hallo sagen.‹ Natürlich hat sie sich von ihm scheiden lassen, was sonst.«

Henry kam herein, um Tante Gloria, Tante Glenda und Tante Geraldine zu begrüßen. Sicherheitshalber trug er Fleck auf dem Arm.

»Ich dachte, ihr möchtet ihn vielleicht sehen«, sagte er.

Fleck wollte runter und die Damen richtig begrüßen mit An-den-Beinen-Schnüffeln und Herumrollen und allem Drum und Dran, doch Henry hielt ihn fest.

»Er ist noch nicht richtig erzogen, aber er kann schon eine Weile still sitzen, wenn man es ihm sagt«, erzählte er stolz.

Henry trug den Hund von einer zur anderen, als präsentiere er ihnen ein großartiges Geschenk.

Geraldine tätschelte Fleck vorsichtig mit spitzen Fingern, Glenda lächelte nervös und Gloria fragte ängstlich: »Beißt der?«

»Ich kann nur hoffen, Donald weiß, was er tut«, sagte Glenda, als Henry mit dem Hund wieder verschwunden war. »Es sieht ja nicht so aus, als würde er ihn so schnell über haben.«

»Donald ist überzeugt davon, dass das spätestens morgen Abend der Fall sein wird. Henry muss jeden Morgen sehr früh aufstehen, um mit ihm rauszugehen, und überhaupt macht der Hund viel Arbeit. Und selbst wenn es Ärger geben sollte, ich halte das auf keinen Fall länger aus. Stellt euch nur vor, am Ende zerkratzt er noch den Couchtisch!«

Bei einem derart grässlichen Gedanken durchfuhr es sie eiskalt.

Während Henry in dieser Nacht auf dem Boden unter seiner Decke lag, Fleck dicht an ihn gekuschelt, dachte er nach. Oft ist es so, dass man sich etwas ganz doll wünscht, und wenn man es dann bekommt, ist es eine einzige Enttäuschung.

Wie sehr hatte er sich zum Beispiel auf den Urlaub auf den Seychellen gefreut. Seine Eltern hatten ihm erzählt, er könne da schnorcheln und tauchen … doch als sie angekommen waren, bekam er einen fürchterlichen Ausschlag von irgendeinem tropischen Insekt und durfte nicht einmal ins Wasser gehen. In Davos war es ähnlich gewesen, er wollte so gern Ski fahren, doch dann hatte es keinen Schnee gegeben, nur ein Hotel voller Leute, die die ganze Zeit Partys feierten und sich betranken.

Aber mit einem Hund war alles anders. Er hatte ihn sich schon so lange und so sehnlich gewünscht und jetzt hatte er ihn und es war schöner, als Henry es sich in seinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Es waren nicht nur seine Gesellschaft und die Wärme, die Fleck in sein Leben gebracht hatte, Henry hatte auch nicht gewusst, dass ein Hund einen zum Lachen bringen konnte oder dass er einem dabei half, Freunde zu gewinnen.

Außerdem sah er auf einmal Dinge, an denen er vorher achtlos vorbeigegangen war: die geheimnisvollen Höhlen im Stamm der Eiche oder wie akkurat die Eicheln in ihren Hütchen saßen oder wie die Erde nach einem Wolkenbruch schwer und dunkel wurde. Früher hätte Henry noch nicht einmal bemerkt, dass es regnete.

Und über was er sich neuerdings alles Gedanken machte! Bei ihrem Nachmittagsspaziergang hatte Fleck ein Gitter über einem Abwasserrohr entdeckt. Das hatte ihn so begeistert, dass er sich platt auf den Bauch legte, um zu schnüffeln und zu riechen und zu forschen. Nie zuvor hatte Henry vorher darüber nachgedacht, was sich dort unten in dem schwarzen und übel aussehenden Wasser alles verbergen mochte. Vielleicht alte Flussgeister, die man aus ihrem Zuhause vertrieben hatte, oder winzige Krokodile, die im Klo runtergespült worden waren … womöglich gab es dort eine ganze Abwasser-Unterwelt, von der niemand etwas ahnte.

Henry streckte seinen Arm aus, um sein Nachtlicht anzumachen, aber Fleck lag quer über seinen Füßen und Henry wollte ihn nicht wecken. Egal, er brauchte sowieso kein Nachtlicht mehr, jetzt wo er einen Beschützer und Freund hatte.

Am nächsten Morgen, einem Sonntag, setzte sich Henry hin, um seinen Großeltern in Northumberland eine Postkarte zu schreiben. Nie zuvor hatte er ihnen etwas Interessantes zu berichten gehabt. Er wusste, wie sehr sie sich mit ihm freuen würden, wie glücklich sie darüber wären, dass er jetzt einen Hund hatte. In ihrem Haus am Meer hatten sie natürlich auch einen Hund, die alte Meg.

Er klebte eine Briefmarke auf die Karte und ging aus dem Haus und zum Briefkasten. Fleck ihm auf den Fersen.

Sie gingen weiter in den Park, dort trafen sie zwar nicht das blonde Mädchen, aber den Mann mit der Dänischen Dogge. Der riesige Hund stand ganz still, während Fleck ihn umrundete und bewundernd an seinen Beinen schnüffelte. Dann liefen Henry und Fleck zu der Eiche und zu dem Laubhaufen, der Park war schon fast ein richtiges Zuhause.

Sonntag war eigentlich Olgas freier Tag, aber als Henry nach Hause kam, war sie noch da und gab ihm einen Knochen für Fleck. Es war genau die richtige Art Knochen für einen Hund und Fleck bedankte sich bei ihr auf seine Art.

Olga war nicht länger still und sauertöpfisch und Henry begriff, dass sie einfach nur einsam und traurig gewesen war. Noch etwas, das er ohne Fleck nie verstanden hätte. Anscheinend hatte sie bei sich zu Hause in Kasachstan sehr viele Tiere gehabt und immer, wenn sie auf Englisch den Namen eines Tiers nicht wusste, machte sie die entsprechenden Geräusche: muhte wie eine Kuh oder meckerte wie eine Ziege, bellte wie ein Hund oder fauchte wie eine Katze. Das ging so lange, bis sie vor Lachen nicht mehr konnten.

»Was, um alles in der Welt, geht hier vor?«, sagte Albina, als sie in die Küche kam, während Olga gerade so tat, als wäre sie eine Ziege, die einen Fahrradreifen frisst. Dann entdeckte sie Fleck, der an seinem Knochen herumkaute.

»Was ist das denn für eine Sauerei? Er darf auf gar keinen Fall ins Esszimmer damit, hörst du, Henry?«

Am Nachmittag war Henry mit seinen Eltern bei Sir Richard und Lady Dorothy Graham eingeladen, die in einem wunderschönen Haus in Richmond lebten. Sie hatten drei Kinder in Henrys Alter. Besonders wohlerzogene Kinder, die Henry zutiefst verabscheute.

»Der Hund kann natürlich nicht mit«, sagte Albina. »Lady Dorothys Haus ist makellos und außerdem hinterlässt er Spuren auf den Sitzen.«

Albinas Mercedes hatte Polster aus schneeweißem Leder und sie hütete ihn wie ihren Augapfel.

»Ohne Fleck komme ich aber nicht mit«, sagte Henry. »Auf gar keinen Fall!«

»Du kannst unmöglich allein zu Hause bleiben«, sagte seine Mutter.

Doch zur allgemeinen Überraschung erklärte sich Olga bereit, ihren freien Tag zu opfern und mit Henry ins Einkaufszentrum zu gehen, damit er für Fleck einen Ball und anderes Spielzeug kaufen konnte.

Henry verbrachte einen herrlichen Nachmittag. Er hatte von seinem Geburtstagsgeld noch nichts ausgegeben und nun betrachteten Fleck und er Quietscheenten aus Gummi und Bälle in allen Größen und Plastikknochen und Mäuse zum Aufziehen.

Doch als sie nach Hause kamen und Fleck sich für ein Nickerchen in Henrys Zimmer niederließ, da schleppte er nicht etwa die Qietscheente mit, die ihm von all den Spielsachen am besten gefallen hatte, sondern Henrys kleines blaues Handtuch, das im Bad auf den Boden gefallen war. Als Henry es ihm später wegnehmen wollte, da fing Fleck zum ersten Mal an zu knurren und schlug seine Zähne nur umso fester in das Tuch.

Dieses Handtuch gehört jetzt mir, schien er sagen zu wollen.

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