Kapitel 11

Gegen Mittag holte ich die liebe arglose Melanie ans andere Ende der Leitung und fragte, ob ich meinen Ghostwriter wegen des Unwetterbuchs sprechen könne.

«Klar«, meinte sie fröhlich, und schon sagte Geist selbst zu mir:»Ich dachte, Sie hätten den Grind.«

«Vom Grind wird man nicht stumm.«

«Dann nehme ich an, Sie wollen reden.«

«Über aktuelle und kommende Unwetter«, sagte ich.»Es gibt einiges, das Sie wissen sollten.«

«Schon unterwegs.«

Sie kamen beide, der lange John Rupert und der schmächtige Geist. Ich lud sie ein, Platz zu nehmen, und entschuldigte mich für die imitierten Masern, auf die ich gern verzichtet hätte. Ravi Chand nahm an, der Ausschlag würde bis Sonntag weggehen, aber bis Sonntag schien es lange hin. Ich sah schlimm aus.

«Was haben Sie?«fragte John Rupert.

«Mycobacterium-paratuberculosis-Infektion Variante X.«

«Aha«, sagte der eine und» Ah ja «der andere. Beide hatten so etwas noch nie gesehen, aber das galt auch für den Rest der Menschheit.

«Vergangene Nacht«, sagte ich, bemüht, es möglichst sachlich vorzubringen,»hat Glenda, die Frau von George Loricroft, sich vor eine U-Bahn geworfen. «Sprachlos rissen sie den Mund auf.»Anscheinend hatte sie am Mittwoch morgen ihrem Mann den Schädel eingeschlagen. Er lag unentdeckt in seinem Schlafzimmer, bis die Polizei heute früh zu ihm nach Hause kam, um ihm mitzuteilen, daß seine Frau sich umgebracht hatte.«

John Rupert und Geist atmeten wieder, und ich sagte:

«Ehe Sie fragen — die Belegschaft seines Rennstalls hat ihn nicht weiter vermißt, da er ständig ins Ausland reiste, ohne zu sagen, wohin. Mittwoch früh hat er noch ein Training geleitet; ich war selbst dabei. Ebenso Belladonna Harvey, seine Assistentin, aber als gestern und heute weder sie noch George noch Georges Frau erschienen, hat der Futtermeister einfach wie schon bei früheren Gelegenheiten alles nach Schema F gemacht.«

Sie hörten aufmerksam zu, während ich ihnen von Glenda, der Stute, dem radioaktiven Pulver und dem Bleikasten erzählte. Danach fragte ich sie, ob sie befugt seien, bei Loricroft eine Haussuchung vorzunehmen. Die Antwort lag offenbar irgendwo zwischen» Nein«,»Kommt drauf an «und» Das ist eine Sache der Polizei von Newmarket«. Es gab kein schlichtes Ja.

«Von allen Unified Tradern«, bemerkte ich,»war George Loricroft am ehesten der Mann für die Bearbeitung von Auslandsaufträgen, aber er ist schon zwei Tage tot.«

John Rupert nickte.»Seine Kollegen haben die Leiche sicherlich gesäubert. Aber was hätten Sie sich denn von einer Haussuchung erhofft? Er war bestimmt vorsichtig. Das sind sie immer. Die wichtigste Frage ist, wer nimmt jetzt seinen Platz ein?«

Ein nachdenkliches Schweigen folgte. Glendas falsche Schneefälle, meinte Geist, hätten nicht nur ihren Mann außer Gefecht gesetzt. Die Trader müßten sich jetzt neu gruppieren. Das seien unsichere Zeiten für sie.

John Rupert fragte mich noch einmal:»Was sollte eine Haussuchung bei Loricroft denn bringen?«

«Namen und Adressen dürfte man sich vielleicht noch erhoffen«, sagte ich.»Vielleicht hat sogar Glenda schon alles offensichtlich Belastende vernichtet. Zeit dazu hatte sie. Aber wie wär’s zum Beispiel mit einem Ölmeßstab im Kofferraum seines Autos und Ölspuren daran, die dem Öl aus dem ramponierten Flugzeug entsprechen? Was ist mit Bankauszügen, Telefonrechnungen… einer Papierspur?«

Sie schüttelten die Köpfe, nachdenklich und bedrückt. John Rupert sagte:»Das sind zwar keine hundertprozentigen Profis, aber Loricroft wird schon so schlau gewesen sein, keinen belastenden Papierkram herumliegen zu lassen.«

Geist stimmte zu.»Wissen Sie, was ich denke?«sagte er.

«Ich könnte mir wirklich vorstellen, daß sie im Moment unentschlossen sind und nicht wissen, wie es weitergehen soll, aber das wird nicht lange dauern. Wir brauchen also ein paar zündende Ideen. Fruchtbare Ideen. Genie ist gefragt.«

John Rupert lächelte schief.»Wir brauchen jemanden, bei dem sie nie auf den Gedanken kämen, daß er gegen sie arbeitet.«

Ich sah, wie beide Besucher die Köpfe drehten, bis ihre Augen auf mein Gesicht gerichtet waren, und ich dachte, wenn es ihnen um Einfälle ging, dann waren sie bei mir an der falschen Adresse.

«Ich bin doch derjenige, der sich hilfesuchend an Sie gewandt hat«, stellte ich klar.»Ich verdiene mein Brot mit der Vorhersage von Wind, Regen und Sonnenschein, nicht als Ideengeber für die Terrorabwehr. Sie müssen besser als ich wissen, wie man sich den Tod eines Traders zunutze machen kann.«

Ich wartete eine ganze Weile vergebens auf Vorschläge auch nur der fruchtbaren Art, von genialen nicht zu reden, und erkannte mit Besorgnis, daß sie inzwischen eher geneigt waren, sich bei mir Rat zu holen, als mir welchen zu geben.

«Ich brauche ein paar Antworten«, sagte ich zögernd. Es war schon verrückt, auf was ich mich da eingelassen hatte, aber bevor ich wußte, wohin die Reise ging, war ich nicht bereit, noch einen Schritt zu tun. Nur ein Idiot zog ohne Karte los.

«Vor allem«, sagte ich,»möchte ich eine Antwort auf die Frage, was Sie eigentlich von mir erwarten. Und ich wüßte gern… ob Sie einer größeren Organisation angehören. Geben Sie an Dritte weiter, was ich Ihnen erzähle? Wer ist >wir

Ich beobachtete ihre wechselnden Gesichtsausdrücke und merkte, daß ich sie effektiv vor die für sie schwierigste Entscheidung gestellt hatte, die Frage nämlich, was ich wissen durfte und was nicht.

John Rupert warf Geist einen Blick zu und erhob sich langsam. Geist folgte ihm stumm zur Tür.

«Wir bereden uns«, sagten sie.»Wir kommen wieder.«

Das Leben wäre einfacher, dachte ich, wenn sie wegblieben. So viel einfacher, wenn ich mich von der ganzen Geschichte lossagen könnte. Noch viel einfacher, wenn ich gar nicht erst nach Kensington gegangen wäre. Was wollte ich denn jetzt? Mich herauswinden oder mich hineinwerfen?

Ich trat ans Fenster und sah auf die Straße hinunter, die an dem Gebäude entlangführte. Dort hielten zwar öfter Taxis, um Kunden abzusetzen oder aufzunehmen, aber ich war doch verblüfft, als John Rupert und Geist plötzlich über den Gehsteig liefen, das erste Taxi anhielten, das vorbeikam, und mit unbekanntem Ziel davonfuhren. Geists weiße Haare, drei Stock tiefer, waren unverwechselbar gewesen, und John Ruperts lange Schritte ließen ihn noch storchenbeiniger aussehen.

Kaum war ihr Taxi um die nächste Ecke gebogen, kam Jett ins Krankenzimmer.»Hast du schon gehört?«sagte sie, und mit weit aufgerissenen Augen, ungläubig:»George Loricroft lag tot im ersten Stock…«

Sie hatte ein an die Klinik gerichtetes Fax von der BBC dabei, in dem es hieß, da Dr. Chand um acht Tage Frist zur Untersuchung meiner Tuberkulose-Infektion gebeten habe, würde ich erst wieder im Studio erwartet, wenn ich vollständig genesen sei.

«Machen Sie sich bitte keine Gedanken«, beruhigte Ravi Chand, der eben hinzukam, seinen aufbegehrenden Patienten.»Sie werden uns schon am Sonntag verlassen können, aber Sie brauchen offensichtlich Ruhe. Ihre starke Konstitution in Ehren, Sie wissen nicht, wann Sie Gefahr laufen, sich zu übernehmen. Solche Krankheiten gehen an die Substanz, glauben Sie mir.«

Flott wie immer, mit wehendem weißen Kittel winkte er Jett zu und rauschte wieder hinaus.

«Du kennst ihn gut«, bemerkte ich und fügte in seinem flötenden Akzent hinzu:»Meine liebe Jett.«

«Ich habe schon mehrere Patienten von ihm in der Nachsorge betreut«, sagte Jett lächelnd im Gedanken an unvergessene Momente.»Ravi genießt hohes Ansehen. Ich habe dich hierhergebracht, weil er ein As auf dem Gebiet der Strahlenkrankheit ist, und ich dachte, so einen brauchtest du, aber er freut sich irrsinnig, daß du etwas hast, was ihm noch nie untergekommen ist. Weißt du, daß er vorhat, über deinen Fall zu schreiben?«

Sie blieb und leistete mir gute Gesellschaft, bis John Rupert und Geist zurückkehrten, dann ging sie und sagte, sie werde am Abend noch einmal vorbeikommen.

Die beiden Männer brachten kalte Novemberluft mit, aber wenig an fruchtbaren Entscheidungshilfen.

Geist betrachtete seine Schuhspitzen, fuhr sich mit der Hand übers Haar und tat sein Bestes.»Wir haben mit unserem — ehm — Dienstvorgesetzten gesprochen und sollen Ihnen antworten wie folgt…«Er zögerte immer noch, als sei Geheimhaltung für ihn zu einer schier unüberwindbaren Gewohnheit geworden.»Die Antworten sind. «Er zog ein kleines, feines Blatt Papier aus seiner Brusttasche und las mit halb erstickter Stimme ab:»Ja, Sie sind uns nützlich, ja, Ihre Auskünfte werden weitergegeben, und was unser eigentliches Ziel betrifft…«, hier zögerte er erneut, und ich wartete in stiller Aufmerksamkeit, bis er die Kurve bekam. Er sah auf den Zettel und las ab:»Wir möchten der Unified Trading Company das Handwerk legen, aber nicht nur das, sondern wir möchten auch die Dahinterstehenden, die unbekannten, vorwiegend ausländischen Gruppen, die ständig an der atomaren Bedrohung basteln und feilen, kriegen. Wir möchten wie beim Unterwandern eines Rauschgiftrings über die Dealer an die Hauptlieferanten herankommen.«

«Nur daß Ihre Lieferanten«, meinte ich trocken,»mit angereichertem Uran und Plutonium handeln statt mit vergleichsweise harmlosem Zeug wie Kokain.«

Geist wand sich auf seinem Sessel und las wieder direkt vom Blatt.

«Da Dr. Stuart in erster Linie Meteorologe ist, erwartet niemand von ihm, daß er sich weiter mit der Angelegenheit befaßt. «Er faltete das Blatt zusammen und steckte es ein.

«Mehr hab ich nicht«, sagte er und seufzte.»John Rupert hat noch eine kürzere Nachricht.«

Ich wandte mich an John Rupert, der, ebenfalls zögernd, eine viel knappere Weisung vorlas. Sie lautete:»Kommen Sie in aller Ruhe zum Ziel. Sehen Sie sich das, was Sie herausbekommen, von der Seite an. Sie haben mein Vertrauen. Wer durch einen Hurrikan schwimmen kann, findet auch den Weg durch ein Labyrinth.«

Ich sagte:»Ist das der genaue Wortlaut?«

John Rupert nickte.»Als ich ihn fragte, was das heißen soll, meinte er, Sie würden schon verstehen.«

Er sah unsicher aus, und ich begriff, daß es selbst für» die Zuständigen «weite Bereiche gab, in die sie nicht eingeweiht wurden. So war den beiden hier anscheinend die Identität ihres Dienstvorgesetzten nicht bekannt. Ich fragte, wer er sei. Sie schüttelten matt die Köpfe und behaupteten, es nicht zu wissen, doch in Anbetracht ihres durch und durch geheimen Metiers war ich mir nicht sicher, ob ich ihnen glauben sollte.

Beide nahmen an — und sagten es auch —, daß ich nach den wenig zufriedenstellenden Antworten, die ich auf meine Fragen bekommen hatte, sofort das Feld räumen würde; aber ich löste für mein Leben gern Kreuzworträtsel, und da ich aufgefordert worden war, einen Weg durch ein vielleicht gar nicht existierendes Labyrinth zu finden, dachte ich, es könnte nicht schaden, mir mehr Einblick in geheimdienstliches Denken zu verschaffen. Zur gelinden Überraschung von Verleger und Ghostwriter brachte ich das Gespräch auf Bücher.

Geist wußte kaum genug von Stürmen, um den Flaum einer Pusteblume wegzublasen, meinte aber, wenn ich frei von der Leber weg auf Band spreche, das Thema angehe wie bei unseren Plaudereien im Verlag, nur mit möglichst viel Dramatik, dann ließe sich sogar ein Bestseller daraus machen, und John Rupert berechnete gutgelaunt, wieviel Tonnen Papier dazu nötig wären. Die Idee zum Buch, das eigentlich nur Tarnung sein sollte, schlug unvermutet Funken.

Im Lauf der nächsten Stunde erfuhr ich von meinen zunehmend entspannten, auftauenden Besuchern, daß die» zuständige «Dame vom Technischen Überwachungsverein, über die ich zuerst nach Kensington gekommen war, mich an keine besonders hohe Sprosse auf der Antiterrorleiter verwiesen hatte. John Rupert aber war durchaus guter Mittelrang, mit Zugang zu höheren Ebenen, und hatte mir jetzt einen Weg eröffnet, wenn ich ihn denn gehen wollte.

«Wie haben Sie sich entschieden?«fragte er.

«Muß nachdenken«, sagte ich.

Als er und Geist gegangen waren, setzte ich mich im Dämmerlicht in einen Sessel und überdachte noch einmal die Antworten, die ich erhalten hatte, bis mir ihre Bedeutung klarer wurde.

Zunächst einmal war mir ganz nebenbei mitgeteilt worden, daß ich die Person, die auf der nächsthöheren Sprosse der Leiter stand, möglicherweise vom Sehen kannte. Der Nächsthöhere hatte sehr wahrscheinlich, wie ich selbst, ein bekanntes Gesicht. Vielleicht war der Nächsthöhere ein Politiker.

Weit davon entfernt, mich abzuschreiben, hatte der Nächsthöhere mich mehr oder weniger dazu gedrängt weiterzumachen. Im Kern hieß seine Nachricht:»Machen Sie die Geschäfte der Trader zunichte, aber ohne daß die Trader merken, wie Sie es angestellt haben.«

Ich kam von der möglichen Zukunft zurück auf die unerwartete Vergangenheit und schaute in aller Ruhe, ob da vielleicht ein Muster zutage trat, dem ich trauen konnte, wie wenn man scheinbar willkürlich Fäden miteinander verwebt, bis das Geflecht plötzlich eine dreidimensionale Struktur bekommt. Es hatte einmal einen Boom von derartigen» Illusionsbildern «gegeben, Bildern, die sich, wenn man hinter das Naheliegende und Offensichtliche schaute, in Szenarien von räumlicher Tiefe verwandelten. Wettervorhersagen beruhten zu einem großen Teil auf Luftdruckbildern von nahen und entfernten Fronten, dreidimensional und immer in Bewegung.

Das Naheliegende und Offensichtliche bei Unified Trading — so sah ich jetzt, wo es zu spät war — war George Loricroft mit seinen zahlreichen Kontakten auf den Rennbahnen Europas gewesen.

Als Trader würde ich mir jetzt einen korrupten Physiker oder Sprachkundler suchen, am besten beides in einer Person. George Loricroft war aber weder das eine noch das andere gewesen… vielleicht ersetzte ihn also auch wieder ein Trainer. Vielleicht waren die Trader wirklich nur Mittelsleute, und George hatte gegen die eherne Betriebsvorschrift verstoßen, niemals Ware mit nach Hause zu nehmen, schon gar nicht, wenn dort eine eifersüchtige Frau wartete.

Jett kam, als ich an diesem unergiebigen Punkt angelangt war, knipste die klinisch helle Beleuchtung an und fragte, warum ich da im Dunkeln saß.

Ich sitze da nicht nur, ich tappe, dachte ich, sagte aber lediglich» Hallo «und» Kennst du diese Kreuzworträtsel, die keine schwarzen Felder und noch nicht mal schwarze Linien haben?«

«Die sind unmöglich«, meinte Jett.»Krieg ich nicht hin.«

«Dafür brauche ich manchmal eine ganze Woche und eine Handbibliothek.«»Um was geht’s eigentlich?«

«Mir geht’s darum, wo Eins waagerecht ist.«

«Heißt das, du weißt nicht, wo du anfangen sollst?«

«So ist es, liebste Jett. Wo in aller Welt würdest du nach einem Hefter mit Aufträgen und Rechnungen suchen? Wo würdest du ihn aufbewahren, wenn er dir gehörte?«

Jett sagte, sie wisse es nicht, fragte aber, ob ich Veras Hefter aus dem Forschungsinstitut mit den Unterlagen über Harveys Stute meinte. Dieser Hefter und die Schachtel mit der Duftprobe seien noch in ihrem Wagen.

«Nein«, sagte ich, so ähnlich sich die beiden Hefter auch waren.»Der, den ich meine, ist zuletzt auf Trox in ein Flugzeug geschafft worden. Wo mag er jetzt sein?«

«Noch im Flugzeug?«Sie war verwirrt.

Ich schüttelte den Kopf.»Das Flugzeug war gemietet, da ist vor dem nächsten Start sicher alles ausgeräumt worden. Ich nehme mal an, daß einer der Trader den Hefter noch hat. Alles andere ist abwegig, es sei denn — «, ich unterbrach mich mitten im Satz, und erst als mein Atem sich beruhigt hatte, sagte ich:»Rufen wir Kris an.«

«Jetzt komme ich nicht mehr mit«, sagte Jett, aber immerhin erreichten wir Kris. Er und Bell aßen bei ihm zu Hause Thai-Reis und bliesen Trübsal.

Sie waren für den vorgeschlagenen kleinen Krankenbesuch sofort zu haben und rückten mit einem Sechserpack Bier an. Die lebhaften Erinnerungen an George und Glenda, die zwangsläufig im Raum hingen, ließen allerdings wenig Gelächter aufkommen.

Bell hatte auf meinen Wunsch Glendas Koffer mitgebracht, und Bell war es auch, die ihn öffnete, doch er enthielt nur ein wenig Kleidung zum Wechseln und keinen Hefter. Gut gedacht, aber Fehlanzeige.

«Komisch, daß du nach einem Hefter fragst«, sagte Bell.

«Weil, ich habe Dad heute morgen wegen Glenda angerufen — und ich war so fertig, ich habe an einem Stück geheult —, tja, und Dad rief zurück und wollte wissen, ob in Glendas Gepäck ein Hefter sei, er hat mich förmlich angefleht, sofort nachzusehen — «

«Und war der Hefter da?«unterbrach ich.

«Du bist genauso schlimm wie Dad. Er war furchtbar aufgeregt. Und wenn du’s wissen willst, sie hat praktisch nur mitgenommen, was in dem Koffer ist, also wirklich nicht viel, aber sie hatte ja auch gerade George umgebracht… Ach herrje. «Unaufhaltsam stiegen ihr Tränen in die Augen.

«Du hast ihn noch nicht mal gemocht«, sagte Kris mürrisch und hielt ihr Papiertaschentücher hin.

Kris mochte Robin Darcy.

«War Robin Darcy nicht in Newmarket?«fragte ich Bell.

«Doch«, sagte sie,»aber er ist wieder zurück nach Florida.«

«Wann?«

«Frag Kris.«

«Dienstag«, sagte Kris und hörte sich gelangweilt an.

«Lange bevor Glenda den Hefter stibitzt hat.«

«Warum macht ihr bloß so ein Trara um einen Hefter?«fragte Bell gereizt.»Man könnte meinen, da seien die Kronjuwelen drin gewesen. Dabei waren es nur Bestellungen, weiter nichts, aber die meisten waren auf deutsch oder in so einer Sprache. «Sie schien nicht zu bemerken, daß mir die Luft wegblieb, und redete munter weiter.»Dad ist praktisch aus der Haut gefahren, aber er kam dann wieder auf den Teppich, als ich ihm sagte, daß der

Hefter zurück nach Newmarket gegangen und in Sicherheit ist.«

Ich atmete tief durch und fragte mehr oder weniger ruhig, wer ihn zurück nach Newmarket geschafft habe.

«So ein Motorradbote«, sagte sie.»Ein Kurier.«

«Und. ehm«, fragte ich,»wem hat er ihn gebracht?«

«Das war ein bißchen merkwürdig«, sagte Bell,»wo sie ihm in Doncaster beim Pferderennen doch fast die Augen ausgekratzt hat.«

«Oliver Quigley?«stieß ich ahnungsvoll, aber entsetzt hervor.

Bell nickte.»Genau. Der Kurier kam heute morgen mit einem großen leeren Umschlag an, und alles war vorausbezahlt, da hat Kris natürlich den Hefter in das Kuvert gesteckt, es zugeklebt und ab die Post. Bis jetzt hab ich gar nicht mehr daran gedacht. Der Kurier kam, ehe wir das mit George erfuhren. Wir wußten noch nicht, daß er tot war. Als wir das hörten, war alles andere wie weggewischt.«

«Ehm…«, fragte ich vorsichtig,»hat Glenda selbst davon gesprochen, daß sie Oliver Quigley einen Hefter schicken wollte?«

«Das war so ziemlich das einzige, womit sie uns nicht in den Ohren gelegen hat, aber doch, sie hat mit Oliver gesprochen, wenn auch nicht lange. Gesprochen ist gut — gefetzt haben die sich —, aber sie sagte uns, wenn der Kurier komme, sollten wir ihm den Hefter mitgeben, und dann ging sie an die frische Luft… und ach herrje, die arme Glenda… Sie ist nicht wiedergekommen…«

Kris verdrehte die Augen zum Himmel und offerierte Papiertaschentücher. Er sagte:»Der Kurier stand bei mir auf der Matte, als wir von dir zurückkamen. Er hätte schon eine Ewigkeit gewartet, sagte er. Seine Laune war nicht die beste, aber wir haben ihm Kaffee und Toast und so was vorgesetzt, und ich habe ihm ein dickes Trinkgeld gegeben, weil er mich erkannt hat, da ist er ganz zufrieden wieder weg.«

«Wir waren froh, etwas für Glenda getan zu haben«, sagte Bell. Sie meinte das ernst, doch Kris verbarg ein Kichern.

«Trink noch was«, sagte ich zu ihm, doch er überließ Bell seine zweite Dose Bier.

Er hockte auf der Fensterbank, lang, hellhäutig und unglaublich klar im Kopf. Seit er in Luton knapp dem Tod entronnen war und Glenda ihm vorgemacht hatte, wie man den Plan zum Selbstmord in die Tat umsetzt, hatte sich der chaotische Teil seines Wesens erstaunlicherweise beruhigt, und so war es Kris, der mich nachdenklich ansah und meinte:»Eins nach dem anderen, Junge, dann finden wir deine Papiere schon. Du erklärst uns, was dich daran interessiert, und ich geb sie Bells Papa, damit er seinen Schwiegersohn ein bißchen schätzen lernt.«

«Die Hochzeit steht also?«fragte ich.

«Im Moment«, bejahte Bell.

«Hefter«, kam Kris sofort auf das Wesentliche zurück.

«Glenda hatte einen in ihrem Koffer, und wegen des Tohuwabohus da vermute ich, sie hatte ihn gestohlen. Wie hört sich das an?«

«Super«, sagte ich.

«Wie steht’s denn dann damit? In dem Koffer waren Sachen, von denen sie wußte, Oliver Quigley würde sie zurückhaben wollen…«Kris schwieg, kratzte sich am Kopf und redete zweifelnd weiter.»Sie haben sich am Telefon beschimpft, bis Glenda nachgab und sich bereit erklärte, Oliver den Hefter per Kurier zurückzuschicken, wenn sie ihn nur in einen Freiumschlag zu stecken brauchte, und den hat er ihr dann auch geschickt, aber der armen Glenda war das inzwischen alles zuviel geworden.«

Bell und Jett nickten, während ich mich fragte, ob Kris wirklich an seine Darstellung der Dinge glaubte oder bewußt versuchte, uns in die Irre zu führen… und ich bedauerte, wie mißtrauisch ich nach gerade mal vier Stunden als nichtamtlicher Schnüffler geworden war.

Gegen neun hatten sich meine drei Besucher unterhaltsameren Zeitvertreiben als der Ausschlagbeschau zugewandt, und gegen zwölf merkte ich, eine wie einsame Beschäftigung das Problemlösen sein konnte, wenn der Erfolg davon abhing, daß niemand von dem bestehenden Problem etwas ahnte.

Ein Hautfleckencheck am Samstagmorgen überzeugte mich davon, daß eine Besserung eingetreten war, wenn auch der Ausschlag jetzt unter einem Dreitagebart juckte. Eine Woche nach Luton hatte ich immer noch blaue Flecke auf dem Brustkorb und spürte meine Rippen schmerzhaft, wenn ich vergaß, mich langsam zu bewegen. Eindeutig gebessert hatte sich nur die Erbrechensquote. Von Jetts fröhlichen Besuchen einmal abgesehen, hatte ich keine besonders tolle Woche hinter mir. Eher einen langen Anschauungsunterricht in der Lebensphilosophie meiner Großmutter: Wenn du’s nicht ändern kannst, denk an was anderes.

Den größten Teil des Samstagmorgens verbrachte ich mit der Unsummen an Krankenhaus-Telefongebühren verschlingenden Suche nach einem Motorradfahrer, der am Donnerstag einen dicken Briefumschlag zu Oliver Quigley nach Newmarket gebracht hatte, doch als ich endlich einen Kurierdienst fand, dem Oliver Quigley wenigstens ein Begriff war, stellte sich heraus, daß dem Kurier jetzt vorgeworfen wurde, er habe die Bestellung nicht ausgeliefert, obwohl der Empfang des Päckchens ordnungsgemäß quittiert worden war.

Der Mann vom Kurierdienst war aufgebracht und in seinem Zorn manchmal kaum zu verstehen. Ich bat ihn, sich zu beruhigen und noch einmal der Reihe nach zu erzählen.

Na gut, sagte der Mann von Zipalong Couriers. Ja, sie seien beauftragt worden, das von mir beschriebene Päckchen abzuholen und zu überbringen, und ihr Bote habe leider einen beträchtlichen Aufpreis für seine lange Wartezeit verlangen müssen. Mr. Ironside habe ihn aber voll entschädigt. Ja, der Bote sei nach Newmarket zu Mr. Quigleys Adresse gefahren, und jawohl, ein Mr. Quigley habe die Sendung angenommen und den Empfang quittiert, und sie könnten nichts dafür, daß Mr. Quigley jetzt behaupte, der Zipalong-Bote sei nicht vorbeigekommen und er, Quigley, sei zum Zeitpunkt der Zustellung beim Pferderennen in Cheltenham gewesen.

«Um welche Zeit war das?«fragte ich.

«Mittags.«

Bis dem Mann einfiel, mich zu fragen, warum ich das alles wissen wollte, hatte ich genug über die Standesregeln der Kuriere erfahren, um Geist einen Selbstlernkurs in die Feder zu diktieren.

Ich verabschiedete mich mit tausend Dank von Zipalong und rief die Handynummer von Oliver Quigley an, dem feinnervigen Trainer, dessen zapplig-zittriges Alltags-Ich jetzt ganz wiederhergestellt schien.

Als ich mit ihm Verbindung bekam, war er wieder auf der Rennbahn von Cheltenham, draußen vor der Golden Miller Bar. Er legte eine stammlige Begrüßung hin, die außer acht ließ, daß ich ihn in Doncaster ohne Maske erlebt hatte.

«Eigentlich«, sagte ich,»wollte ich Sie mal fragen, was mit Zipalong Couriers passiert ist.«

Die stottrige Antwort entbehrte nicht der gröbsten Rennstallflüche, lief im wesentlichen aber darauf hinaus, daß Oliver Quigley am gestrigen Freitag gegen Mittag, als er angeblich in Newmarket den Empfang einer Kuriersendung quittierte, auf der Rennbahn in Cheltenham ein Pferd für das Hürdenrennen der Dreijährigen gesattelt hatte. Und zwar ohne Erfolg, da das betreffende Pferd nur eine Gangart kannte — die langsame — und auch dann nicht gesiegt hätte, wenn Perry Stuart da gewesen wäre, wo er hingehörte, nämlich vor den Kameras im Wetterstudio, anstatt wegen ein paar blauer Flecke das Krankenhaus zu bemühen.

Als ich zum dritten Mal» Mr. Quigley?«einwarf, bremste er sich und sagte:»Was — was?«Wenn er in Cheltenham war, fragte ich, wer hatte dann Glendas Päckchen quittiert?

Mißgestimmt, wie er war, fand Oliver, das gehe mich nichts an. Er könne auch gern weiterhin Tips über die Bodenbeschaffenheit von mir bekommen, murmelte ich. Na ja, dann… Oliver Quigley nahm an, der Bote sei, als er schon wieder niemanden antraf, so (Zitat) stinkig gewesen, daß er selbst als Quigley unterschrieben, das Päckchen wieder mitgenommen und es in den nächsten Graben geworfen habe.

«Meinen Sie wirklich?«fragte ich.

«Und ob ich das meine«, das Handy klapperte gegen Olivers Zähne,»die haben das Päckchen nicht zugestellt, und ich zerre sie vor den Kadi, bis ich’s wiederhabe.«

«Viel Glück«, sagte ich.

«Der verdammten Glenda könnte ich den Hals umdrehen«, sagte er.»Wäre sie nicht schon tot, würde ich sie umbringen. Wenn Zipalong mein Päckchen nicht bald findet, lohnt sich der Prozeß nicht mehr… aber ich verklage sie trotzdem. Dieser Dieb von einem Motorradkurier gehört aus dem Verkehr gezogen.«

Während ich mir sein endloses Gemecker anhörte, war ich froh, gut hundert Meilen westlich von der Rennbahn Cheltenham zu sein.

Nach dem Gespräch mit Oliver ließ ich mir ein, zwei Stunden Zeit, während mit sanftem Klicken wie bei einem Geldautomaten die Rädchen in meinem Kopf einrasteten, und dann erst führte ich weitere zwei Telefongespräche, eins mit dem Bedford Hotel in Newmarket und eins mit dem Wetteramt in Bracknell.

John Rupert und Geist hatten recht gehabt. Die Ermordung eines der Trader trieb die anderen auseinander.

Da John Rupert mir» für alle Fälle «seine Handynummer gegeben hatte, rief ich ihn mitten in einer Golfpartie an, die er ohne zu murren unterbrach.

«Es geht Ihnen hoffentlich nicht schlechter«, sagte er.

«Nein, im Gegenteil. Darf ich Sie etwas fragen?«

«Jederzeit.«

«Gut, wie ernst ist es Ihnen mit dem Buch über Sturmwinde?«

«Oh!«Jetzt hatte ich ihn wirklich überrascht.»Wieso?«sagte er vorsichtig.

«Weil ich einen Vertrag brauche«, antwortete ich frei heraus.»Eigentlich keinen Vertrag, sondern einen Vorschuß.«

«Einen Vorschuß. für etwas Bestimmtes? Ich meine, ist es eilig? Wir haben Samstag nachmittag.«

«Ich glaube, ich kann Ihnen noch einen Trader liefern, aber dafür brauche ich ein Ticket nach Miami.«

Er benötigte ganze zehn Sekunden, um sich zu entscheiden.

«Bis morgen?«sagte er.

Am Sonntag (»morgen«) gegen Mittag betrachtete Ravi Chand meinen zurückgehenden Ausschlag durch ein Vergrößerungsglas, mit heller Lampe und enttäuschter Miene.

«Was ist los?«fragte ich besorgt.

«Aus Ihrer Sicht gar nichts. Aber mir läuft mein Versuchstier davon, obwohl meine Untersuchungen erst zur Hälfte abgeschlossen sind. «Er seufzte.»Jett hat versprochen, daß sie einmal die Woche zur Weiterbehandlung mit Ihnen vorbeikommt. Ich werde publizieren, sobald ich kann.«

«Was ist denn mit den Eigentümern der Herde, bei der ich mich angesteckt habe?«fragte ich schüchtern.»Gehört mein Ausschlag nicht denen?«

«Wer immer die Eigentümer sind, sie benutzen die Herde als lebendes Labor, völlig isoliert von äußeren Einflüssen. Ideal. Sie könnten Millionen mit neuen Pasteurisierungsmethoden verdienen.«

«Wie das?«fragte ich.

«Nach den bestehenden Gesetzen ist Kuhmilch zu pasteurisieren, indem man sie mindestens fünfzehn Sekunden lang auf 71,7 Grad Celsius oder 161 Grad Fahrenheit erhitzt. Mit einem Patent für ein neues Verfahren, das eine geringere Temperatur oder Erhitzungsdauer erfordert, also Energie spart, ließen sich Millionen machen. Darauf sind die aus. Sie haben kein Interesse an einer neuen, für Menschen ansteckenden Krankheit und machen keine Experimente damit. Sonst hätte ein Krankheitsbild wie das Ihre die größte Aufmerksamkeit erregen müssen. Aber der Krankheitsverlauf hat niemanden interessiert. Kurze Inkubationszeit, plötzlicher Ausbruch, schnelle Genesung, das ist schlüssig. Die Krankheit ist neu. Anders. Sie sind ein Fall für sich. Übrigens habe ich Ihre Krankheit uns beiden zu Ehren Mycobacterium paratuberculosis Chand-Stuart X genannt.«

Er drückte mir herzlich die Hand.»Ich kann Sie nicht zu meinen Notizen in den Safe sperren, aber bitte, bitte, lieber Doktor Stuart, lieber Perry, bleiben Sie am Leben, bis ich mein Buch herausbringe.«

Jett holte mich mit ihrem Wagen ab, und Ravi Chand in seinem weißen Kittel stand an der Tür und winkte uns traurig zum Abschied auf Zeit. Bis jetzt war ich nur von Mittwoch bis Sonntag in seiner Obhut gewesen, aber die schnelle (Gott sei Dank heilbare) Chand-Stuart-Infektion harrte bereits in vielen Petrischalen in seinem Labor der weltweiten Anerkennung.

Jett fuhr mich zur Wohnung meiner Großmutter, wo sie vom nächsten Tag an wieder Dienst hatte. Sie schien sich darauf zu freuen, aber für mich bedeutete das das Ende der nun eine Woche lang erlebten Nähe. Jett war mir eindeutig tief unter die wenig anziehende Haut gegangen.

Meine Großmutter, die sich darüber entsetzte, wie dünn ich geworden war, erfreute sich der Gesellschaft von John Rupert, der meinetwegen noch eine Golfpartie verschoben hatte und dabei war, Unwetteranbahnungsverträge im ganzen Zimmer zu verteilen.

Als alles unterschrieben war, gab er meiner Großmutter die Hand und mir einen auf den Namen einer Kreditkartengesellschaft ausgestellten Riesenscheck für entstehende Unkosten.

«Gültig ab sofort, und es kommt noch mehr«, versprach er,»sobald Geist sich an die erste Seite setzt.«

Als er gegangen war, bat meine Großmutter das diensttuende» liebe Kind«, ihr das Päckchen zu geben, das der

Briefträger gestern morgen für mich gebracht hatte. Dem Poststempel nach kam es aus Miami, und dort hatte ich nur einem Menschen die Adresse meiner Großmutter gegeben.

Unwin mit dem gelbzahnigen Grinsen schickte mir das denkbar schönste Geschenk, denn als ich mich durch Meter von Luftpolsterfolie gewühlt hatte, fand ich eine Frischhaltetüte mit einem Brief daran und meiner altvertrauten, verdreckten kleinen Kamera im Innern. Freudig überrascht las ich die beiliegende Notiz:

Perry,

ich habe einen Schwung Leute nach Trox geflogen. Der Boss war eine Frau. Sie sagt, die Insel gehöre ihr. Sie war zum Kotzen. Aber Ihre Kamera hing da, wo Sie gesagt hatten. Da die Fuhre den ganzen Tag so verdammt unhöflich gewesen war, habe ich von dem Fund nichts erzählt.

Alles Gute Unwin

Ich erklärte den anderen, woher die Kamera kam, steckte sie zufrieden ein und machte mich daran, telefonisch Kris und Bell aufzuspüren. Ergebnis: Bell war heim nach Newmarket gefahren, wo sie und ihr Vater derzeit inoffiziell den Stallbetrieb bei Loricroft leiteten.

«Es ist alles so furchtbar«, sagte Bell, Tränen zurückdrängend.»Oliver Quigley und Dad haben nur diesen blöden Hefter im Kopf, der noch immer nicht aufgetaucht ist. Heute sind sie beide wieder nach Cheltenham gefahren, während ich hier aufpassen darf. Dad ist halb verrückt vor Aufregung und sagt mir nicht, warum.«

«Wo ist Kris?«fragte ich mitfühlend und erfuhr, er sei im Studio, da er bis Mitternacht das Wetter im Rundfunk ansagen müsse; soviel sie wußte, hatte er vor, in seiner Wohnung zu übernachten.

«Geht’s dir besser?«erkundigte sie sich verspätet, und ich dankte ihr und sagte, ich sei als geheilt entlassen worden.

«Was meint er mit Fuhre?«fragte Jett, die Unwins Brief las.

«Die Passagiere«, sagte meine überaus flugerfahrene Großmutter.»Und Perry, wenn wir uns aus dem Takeaway etwas zum Abendbrot geholt haben und du unserer lieben Jett van Els nachher gute Nacht gesagt hast, kannst du ruhig hierbleiben und dich auf dem Sofa einmal richtig ausschlafen. Du brauchst nicht nach Hause. Du siehst viel zu tatterig aus für die vielen steilen Treppen.«

Ich widersetzte mich ihr niemals direkt, wußte aber immer die Bedingungen zurechtzubiegen, so daß sie, als ich sie bat, mir ihren warmen edwardianischen Sherlock-Holmes-Umhang mit den tiefen Taschen auszuleihen, lediglich sagte:»Zieh Handschuhe an!«und:»Komm gesund wieder. «Von bösen Vorahnungen war zu meiner Erleichterung keine Rede.

Müde wie sie selbst küßte ich sie auf die Stirn und ließ mich von Jett zur Paddington Station fahren, Ausgangspunkt für die Züge nach Westen, Tummelplatz manischdepressiver Selbstmordkandidaten (wenn auch nicht Glendas Wahl) und Standort eines guten alten Münzfotokopierers.

Nach einer langen und ergreifenden Gutenachtszene wie aus Romeo und Julia bekannte Jett, noch einmal Ravi Chands ärztliche Meinung eingeholt zu haben, Stand vom Sonntagmorgen.

«Was meint er denn?«

«Noch acht Tage warten.«

Ich hatte schon zu lange gewartet.

«Nach so einem langen Anlauf«, sagte ich,»dürfte unsere Entlobung mindestens fünfzig Jahre dauern.«

Lächelnd, mit glänzenden Augen half sie mir, Veras Laborbefunde zu fotokopieren, und als wir uns zwei kurze Straßen weiter endgültig trennten, hatte ich einen gelbbraunen Hefter mit Vera-Kopien in einer der tiefen Taschen des Umhangs und Veras Originale, von einer Büroklammer zusammengehalten, in der anderen.

Gegen Mitternacht oder kurz danach stand ich bei Kris auf der Matte und wartete wie der Zipalong-Kurier auf die Heimkehr des Wetterpropheten.

Den Schlüssel in der Hand blieb er stehen, überrascht, mich um die Zeit dort zu sehen.

«Ich habe mich ausgesperrt«, sagte ich achselzuckend.

«Kann ich bei dir übernachten?«

Er sah auf seine Uhr.»Okay«, meinte er ohne große Begeisterung, aber er hatte oft genug um Mitternacht bei mir vor der Tür gestanden.

«Komm rein«, sagte er.»Zieh die Joppe aus. Du siehst miserabel aus. Tee oder Kaffee?«

Ich sagte, mir sei zu kalt, um den Mantel abzulegen. Er setzte Wasser auf und klapperte mit den Tassen.

«Was immer du dem Zipalong-Kurier nach Newmarket mitgegeben hast«, sagte ich ein wenig lächelnd,»es war nicht das, was Glenda George gestohlen hat.«

Er machte große Augen.»Woher zum Teufel weißt du das?«

«Nun, wer außer dir hätte dafür sorgen können, daß der

Motorradkurier zur rechten Zeit bei Quigley ankam? Du hast den armen Mann mit Toast gefüttert und ihn sonstwie aufgehalten, bis du sicher warst, daß er erst ankam, wenn Quigley unterwegs nach Cheltenham war.«

«Ich wollte dem alten Hektiker nur einen Streich spielen«, meinte Kris lachend.

Ich nickte.»Er fordert den Spott heraus.«

«Glenda«, sagte Kris,»hat uns den ganzen Donnerstag damit verrückt gemacht, daß sie einen Stoß Unterlagen von George hätte, die bewiesen, daß er ein elender Verräter sei. Wir konnten es nicht mehr hören. Dann rief Oliver an, und er und Glenda haben sich fürchterlich gezankt. Sie hätte da eine Liste von Pferden mitgehen lassen, die in Deutschland laufen sollten, sagte er, und die Liste gehöre ihm, Oliver, und er wolle sie zurückhaben.«

«Aber du hast sie ihm nicht zurückgeschickt«, sagte ich.

«Hm, stimmt. «Er grinste.»Deswegen ist er ganz schön ausgeflippt, der gute Oliver.«

«Was hast du den Kurier denn nach Newmarket bringen lassen?«

«Eine Pferdeliste. Zusammengestellt aus Zeitungsausschnitten. Was sonst?«

«Hast du die Liste gelesen, die du ihm eigentlich schicken solltest?«

«Woher denn?«sagte Kris.»Die ist ganz auf deutsch.«

«Zeig mal«, bat ich ihn.

Er nickte, ging bereitwillig in sein spartanisches Schlafzimmer, öffnete eine Schublade und zog einen gewöhnlichen gelbbraunen Hefter unter seinen Socken hervor. Völlig unbefangen gab er ihn mir, und ein kurzer Blick hinein bestätigte meine Vermutung. Andere Briefe als in dem Hefter auf Trox, aber zu demselben Zweck.

«Bitte sehr«, sagte Kris,»Liebesbriefe, dachte Glenda. Aber es sind wirklich nur Aufstellungen von Pferden. Siehst du das Wort da?«Er zeigte hin.»Das heißt Rennpferde.«

Das deutsche Wort, auf das er zeigte, war Pferderennbahn.

«Fast«, widersprach ich mild;»es heißt Rennbahn.«

«So? Na und?«

«Und, ehm«, sagte ich,»wer hat denn bei Oliver auf den Kurier gewartet, um das Päckchen in Empfang zu nehmen?«

«Rate mal.«

«Wenn ich raten muß… Robin Darcy?«

«Du bist schlauer, als gut für dich ist.«

«Du und Robin seid Freunde, und er hat im Bedford Hotel gewohnt, das, wie ich hörte, keine hundert Meter von Quigleys Stall entfernt ist. Wer käme also eher in Frage? Das war nicht schlau, sondern naheliegend.«

«Na klar… also, das sollte nur ein Streich sein. Wie bist du drauf gekommen?«

«Du hast uns erzählt, Robin sei am Dienstag zurück nach Miami… Zufällig hab ich mit dem Hotel telefoniert, und sie sagten mir, er sei gestern abgereist. Egal. Was hältst du davon, wenn wir die Briefe aus Deutschland fotokopieren? Hier im Bahnhof Paddington geht das im Nu, und wenn du Oliver dann zeigst, daß seine kostbare Liste gerettet ist, sollst du mal sehen, was er für ein Gesicht macht. Kopien anzufertigen empfiehlt sich immer. Wenn Oliver dich wegen des Verlusts der Originale verklagen würde, wäre das katastrophal.«

Kris gähnte, seufzte und stimmte zu.

«Ich tu das für dich, wenn du willst«, sagte ich.

«Es ist wohl besser, wenn ich mitkomme. Los, bringen wir es hinter uns.«

«Gut.«

Ich nahm den Hefter, raffte mehr Kräfte zusammen, als ich zu haben meinte, trat aus Kris’ Schlafzimmer, ging den Flur entlang und zur Haustür hinaus, ohne mich umzudrehen, und summte ein fröhliches Marschlied, als wäre das Ganze ein Spaziergang.

Hinter mir hörte ich Kris unschlüssig» hm «sagen, aber es war nicht weit, und mein Schwung trug uns bis zum Bahnhof hin.

Während Kris auf meine Bitte Kleingeld für den Apparat besorgte, machte ich schnell meine Kopien und legte für jedermann und insbesondere für Kris gut sichtbar ein deutsch beschriebenes Blatt obenauf. Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung hielt ich unter Großmutters Umhang einen Hefter in der Hand, und Kris hielt Glendas Hefter an seine Brust gedrückt.

Der Schwung verließ uns beide, und wir froren plötzlich in der Nacht, als Kris unsicher sagte:»Hoffentlich hat Robin nichts gegen die Kopien. Jedenfalls kommt er den Hefter gleich abholen. Nach eins, hat er gesagt, wenn ich vom Dienst zurück bin.«

«Ich denke, er ist in Miami«, sagte ich, nun meinerseits unsicher.

«Nein, er fliegt morgen. Ich glaube, er hat umdisponiert. «Er sah erneut auf seine Armbanduhr.»Er wird wohl bald hier sein.«

«Wirklich?«

Das gefiel mir nicht. Ich brauchte einen geordneten Rückzug und wollte in Frieden gehen.

Kris lief vor mir her und schien plötzlich stärkere Zweifel zu haben, machte dann aber ebenso plötzlich ein paar schnelle Schritte und sagte:»Ich weiß nicht…«, dann rief er erfreut:»Da ist er ja!«und zeigte mit dem Finger nach vorn.

«Sagen wir ihm Bescheid…«

Ich blieb stehen, hörte nicht mehr zu, drehte mich auf dem Absatz um und eilte in paratuberkulös gebremstem Laufschritt zurück in Richtung Bahnhof.

Es war wieder einmal an der Zeit, eins von meinen neunundzwanzig Leben zu opfern.

Kris konnte zwar immer schon schneller laufen als ich, aber nicht so schnell wie ein daherkommendes Taxi, dessen Fahrer in der Überzeugung anhielt, einen Passanten vor Straßenräubern retten zu müssen. Als ich mich holter-dipolter in seinen Wagen gezwängt hatte, bog er auf zwei Reifen in eine Querstraße ein, und wir sahen noch, wie die beiden Männer aufhörten, mir nachzulaufen, kurz vor Kris’ Wohnung stehenblieben, die Arme in die Hüften stemmten und, ihrer Beute beraubt, hinter mir her schauten. Unter der Straßenbeleuchtung blitzte das dicke dunkle Brillengestell im runden Gesicht des unverwechselbaren, gedrungenen Robin. Hinter ihm stand die große blonde, gefrustete nordische Göttergestalt.

Kris hielt immer noch Glendas lederbraunen Hefter, nur daß der jetzt keine gefährlichen Bestellungen auf deutsch mehr enthielt, sondern die mit Jetts Hilfe verfertigten Kopien von Veras Bericht über die strahlenkranke Stute im Institut zur Erforschung von Krankheiten beim Pferd.

In einer Manteltasche trug ich wie gehabt Veras Originale, und in der anderen ein echtes Geschenk der Unified Trading an die Menschheit, Loricrofts Vermächtnis über das Wo, Wann, Wieviel und Wie stark von erhältlichem U-235 und Pu-239.

Der Taxifahrer fragte mich, wo ich hin wollte, was ich nicht wörtlich nahm, sonst hätte ich antworten müssen, ins Bett mit Jett, warm, lieb und gesund. Statt dessen ließ ich mich einmal um den Block und zurück zum Bahnhof fahren, wo es immerhin so warme Plätzchen gab, daß man nicht völlig zu verzweifeln brauchte.

Ich setzte mich auf eine Bank im Wartesaal, teilte die Vorhölle mit normalen Reisenden und unbehausten Hungerleidern.

Meine unbedachte Reaktion, vor Kris und Robin wegzulaufen, war bei näherer Betrachtung dumm und ließ sich kaum jemals angemessen erklären oder entschuldigen. Die Flucht war ein Kurzschluß gewesen. Sicher, ich hatte ungesetzliche Angebote und Bestellungen in der Tasche, vernichtendes Beweismaterial, aber Beweise gegen wen? Wem sollte ich den Hefter geben? Jemandem, der eine Sprosse über John Rupert stand? Wie kam ich denn an den heran? Und wer mochte das sein?

Lange dachte ich über die Rätselsprüche nach, die mir übermittelt worden waren.

Kommen Sie in aller Ruhe zum Ziel.

Sehen Sie sich, was Sie herausbekommen, von der Seite an.

Ich hatte beides nicht getan.

Wenn es einen Weg durchs Labyrinth gab — wenn es ein Labyrinth gab —, lag des Rätsels Lösung darin, daß man hinaustrat oder daß man tiefer hineintauchte?

Der Hefter mit den Vera-Kopien hätte sich als Versuch, Oliver Quigley noch etwas mehr zu ärgern, erklären lassen. Ich hatte das mit Lachen abtun wollen und hätte es damit abtun können. Warum war ich vor Robin weggelaufen?

Schließlich führte ich die Flucht auf einen Fiebertraum zurück, in dem Robin und Kris Hand in Hand beieinanderstanden und mich auf Schußweite heranwinkten, um meinem Leben ein Ende zu setzen. Unbewußt hatte ich sie von da an als Verbündete betrachtet, ohne jedoch Kris wirklich ruchloser Verbrechen für fähig zu halten. Aber daß man zwei gegensätzliche Ansichten zugleich hegt, ist natürlich gang und gäbe, man denke nur an Leute, die über die Reichen schimpfen, aber jede Woche Lotto spielen in der Hoffnung, das zu werden, was sie angeblich verabscheuen.

Die Dinge von der Seite betrachten… Was hieß das nun?

Ich versuchte es mit einem Seitenblick auf Trox. Auf Pilze, Vieh und internationale Anarchie.

Betrachtete Odin von der Seite…

Schlief ein.

Als ich gegen sechs aufwachte, stellte ich fest, daß mein schlummernder Verstand ergründet hatte, was mit dem Seitenblick gemeint war. Von der Seite, dachte ich gähnend, hieß im Schlaf.

Niemand hatte mich während der vier oder fünf Stunden, die ich in meiner Kuschelecke verbrachte, gestört, aber ein kurzer Blick in einen als Bierreklame verkleideten Spiegel an der Wand zeigte mir, daß zwar der Ausschlag in meinem Gesicht auf braunrosa Flecke reduziert war, aber dafür sahen meine verquollenen Augen wie Zwiebeln aus und mein unrasiertes Kinn wie ein Stoppelfeld in Schwarz. In der Annahme, niemand würde meine gepflegte Person mit diesem Wrack in Verbindung bringen, ließ ich alles so und sah die Taschen des Sherlock-Holmes-Capes meiner Großmutter durch, die ich am Abend vorher vollgestopft hatte.

Neben dem Hefter mit Loricrofts deutschen Briefen und den Kopien enthielten sie vor allem Veras Originale, meine Kamera und meine Brieftasche. Die Kamera war trox-verdreckt, aber in der Brieftasche steckten immerhin Paß, Kreditkarten, Schecks, Telefonkarte, ein internationaler Führerschein und ein Batzen Geld, das ich von Jett geborgt hatte.

Ein Fotogeschäft in der Nähe brüstete sich, ab acht Uhr» Paßfotos sofort «zu liefern. Sowie dort das Licht anging, klopfte ich an, und der vergammelte Teenager hinter der Theke, dem ich nicht allzuviel zutraute, überraschte mich damit, daß sein Interesse sichtlich erwachte, als ich ihn fragte, wo man um diese Zeit schon Tüftelarbeit erledigen lassen könne. Er sah auf die Kamera und betrachtete mich dann näher.

«Mann, sind Sie nicht Perry Stuart?«sagte er.»Mit Ihrem Gesicht stimmt was nicht, oder?«

«Das wird schon wieder«, sagte ich.

«Ich kann Ihnen einen Rasierer leihen«, bot er an, während er zerstreut mit einem Bleistift an dem Fotoapparat herumbohrte.»Wollen Sie wissen, ob unter dem Siff noch brauchbare Aufnahmen sind?«

«Kennen Sie jemanden, der das nachsehen kann?«

«Ich bitte Sie!«Er faßte die Frage als Kränkung auf.»Vier Jahre Abendschule hab ich gemacht, um den Beruf zu lernen. Kommen Sie in einer Stunde wieder. Ist mir eine Ehre, für Sie zu arbeiten, Mr. Stuart. Ich werde mein Bestes tun.«

Meine Erwartungen sanken. Nachlässige Sprache, große Sprüche. Ich wünschte, ich wäre woanders hingegangen.

Aber ein bekanntes Gesicht bringt mehr Vorteile als Nachteile mit sich. Als ich nach einer Stunde wiederkam, erwartete mich ein mit Tuch ausgelegtes Tablett mit einer

Kanne Kaffee, einem Korb warmer Brötchen und vielen anderen Annehmlichkeiten. Sogar ein sauberer Rasierapparat in einer zur Manschette gefalteten Papierserviette war dabei. Ich dankte dem Verkäufer für sein Entgegenkommen und bekam dann in allen Einzelheiten erzählt, wie man Negative aus einem Kuhfladengrab rettet.

Ich aß, rasierte mich, bewunderte aufrichtig sein Geschick. Ich sah ihm zu, wie er meisterhafte Farbabzüge anfertigte, und ich schrieb ihm Autogramme im Dutzend, da er keine andere Bezahlung annehmen wollte. Er heiße Jason Wells, sagte er. Sprachlos gab ich ihm die Hand und bat um ein Kärtchen mit seiner Adresse.

«Der Laden gehört meinem Onkel«, sagte er.»Irgendwann zieh ich selber einen auf. Darf ich ein Foto von Ihnen machen, damit ich es an die Wand hängen kann?«

Er knipste drauflos, und das genügte ihm offenbar völlig als Lohn für die sechsunddreißig sauberen Negative und die herrlichen Vergrößerungen, die ich schließlich mitnahm.

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