Kapitel 12

Irgendwie weckten die Schwärmerei und der Respekt, die sich auf Jason Wells’ unfertigem Gesicht spiegelten, zusammen mit seiner professionellen und selbstvergessenen Arbeitsweise in mir wieder das Selbstwertgefühl, das während der fürchterlich kräftezehrenden Krankheit so am Boden gelegen hatte, daß mein an zehntausend Umdrehungen pro Minute gewohnter Verstand Tage und Wochen damit vergeudet hatte, nach Eins waagerecht zu suchen.

Jason Wells fand für sich ein vergammeltes Aussehen vielleicht ganz in Ordnung, aber zu meiner gewohnten Bildschirmpersönlichkeit paßte es nicht. Zeit, daß diese Bildschirmpersönlichkeit das Heft in die Hand nahm, entschied ich.

Der großartige Tweedumhang meiner Großmutter war nicht nur edwardianisch, er war klasse; er hatte Format. Mein glattrasiertes Kinn sah schon viel besser aus. Meine gekämmten Haare fielen ganz von selbst nach ihrer aus dem Fernsehen bekannten Fasson. In einer Drogerie kaufte ich Kosmetika und bei einem Herrenausstatter Hemd, Schlips und Hose, um gebügelt auszusehen. Ich kaufte eine Businesstasche, in die alles reinging, und bei Jason Wells noch Filme, eine neue Kamera und einen Satz Batterien.

Danach brauchte ich mich nur noch gerade hinzustellen, meinen Namen zu nennen, meine Wünsche zu äußern und bitte zu sagen. Auch wenn ich mich dabei noch unangenehm schlapp fühlte. In den zermürbenden letzten Wochen hatte ich vergessen, wie weit mein Arm reichte.

«Ich brauche einen Zug zum Flughafen Heathrow«, sagte ich.

«Selbstverständlich, Dr. Stuart, bitte hier entlang. Der Heathrow Express fährt von hier ohne Zwischenhalt direkt zum Flughafen und ist in fünfzehn Minuten dort.«

«Ich möchte nach Miami fliegen.«

«Selbstverständlich, Dr. Stuart. First class doch sicher?«

«Ich muß diesen Scheck bei meiner Kreditkartenfirma einreichen, damit ich bis zu meiner Rückkehr bei Kasse bin.«

«Selbstverständlich, Dr. Stuart, die Kreditkartenfirma wird umgehend jemanden in die First-class-Lounge schicken, um das zu regeln. Und natürlich brauchen Sie auch ein paar Dollar.«

«Ich würde gern vor dem Abflug duschen.«

«Selbstverständlich, Dr. Stuart. Unsere SonderserviceAbteilung wird sich um alle Ihre Wünsche kümmern.«

«Ich muß meinen Verleger in Kensington anrufen und möchte gern einen Raum für eine geschäftliche Verabredung reservieren.«

«Überhaupt kein Problem, Dr. Stuart. Unser Konferenzzentrum ist in der Executive Club Lounge.«

Verwöhnt in jeder Hinsicht, landete ich unweigerlich vor einem Fernseher. Und natürlich, wie konnte es anders sein, hatte jemand einen Sender eingestellt, der zeigte, welches Wetter auf der anderen Seite des Atlantiks bevorstand.

«In Miami wird’s wohl stürmisch, Dr. Stuart«, sagte man mir fröhlich nickend. Es wurde als selbstverständlich angesehen, daß schlechtes Wetter der Grund für meine Reise war, dabei hatte ich erst durch meinen letzten Anruf beim Wetteramt erfahren, daß in den nächsten fünf Tagen mit Problemen zu rechnen war.

Heathrows aktuellstem und genauestem Wetterbericht konnte ich entnehmen, daß sich in der Karibik so spät in der Saison möglicherweise noch ein schwaches Tief ausbildete. Entwickelte es sich wirklich, würde es als tropischer Sturm Sheila bezeichnet werden.

Nach dem momentanen Luftdruckstand von 1002 Millibar sah es aus, als würde das Ganze verpuffen, aber das war vor gar nicht langer Zeit auch bei Odin so gewesen.

Ein Ansager erklärte gerade, wie die modernen Methoden der Unwettervorhersage Geld sparen und Leben retten halfen. Bereitschaft könne zwar einen Sturm nicht abwenden, aber doch die Auswirkungen lindern. Voraussicht sei von unschätzbarem Wert.

Ein weltmüder Geschäftsmann, Gin-Glas mit Eis in der Hand, beäugte zynisch die echten Errungenschaften der Wetterbeobachtung und meinte gelangweilt:»Sonst was Neues?«

Doppier-Radar war neu, dachte ich, und neue Satelliten waren entwickelt worden, und Computer erstellten 3-D-Modelle… und es gab närrische Hurrikanflieger, die in das Auge des Wirbelsturms vorstießen und dabei fast ertranken. All diese enormen Anstrengungen waren unternommen worden, damit gelangweilte, zynische Geschäftsleute im Trockenen ihren Gin-Tonic trinken konnten.

Der Sonderservice holte mich ab, offerierte Sessel, Eßbares, Zeitungen mit Kreuzworträtseln, Anrufe ins Londoner Stadtgebiet. Ich drückte die Telefonnummer meiner Großmutter und bekam, fast hatte ich es gehofft, Jett an den Apparat, die für eine Woche wieder dort war und erleichtert schien, meine Stimme zu hören.

«Wo bist du gestern abend hin?«fragte sie besorgt.»Kris sagt, er hat dich überall gesucht. Ich habe vor zehn Minuten noch mit ihm telefoniert. Er dachte, du seist vielleicht hier.«

«Und er war bestimmt nicht gut auf mich zu sprechen«, meinte ich bedauernd.

«Ich hätte es dir nicht gesagt, aber es stimmt, er war sehr, sehr verärgert. Wo bist du denn jetzt?«

Ich dachte: Wenn ich durch einen Hurrikan schwimmen kann, finde ich auch einen Weg durchs Labyrinth. Mir dämmerte langsam, wo der Weg hinführte, und ich fühlte mich zu jeder Schandtat bereit und leicht im Kopf.

«Wart auf mich«, sagte ich lächelnd,»laß alle anderen sausen…«

«Sehen wir mal.«

«Bleib mir treu. «Was zum Teufel, dachte ich, hab ich denn jetzt gesagt?

«Solange wir leben? Weißt du, woraus du da zitierst?«

Diesmal antwortete ich ihr voll Überzeugung:»In guten wie in schlechten Tagen.«

«Ehrlich?«fragte sie unsicher.»Oder ist das nur ein Scherz?«

«Montagmorgens macht man keine Witze übers Heiraten. Nein oder ja?«

«Wenn das so ist.ja.«

«Gut! Sag meiner Großmutter, daß es für immer ist… und, ehm… wenn ich das Kreuzworträtsel löse, komme ich im Lauf der Woche zurück.«

«Perry! War das alles? So geht das nicht.«

«Paßt auf euch auf, ihr beiden«, sagte ich und legte den Hörer auf, als sie protestierend» Perry!«sagte, weil sie noch reden wollte.

War es mir ernst damit? überlegte ich wirr. Konnte man wirklich hingehen und montagmorgens einfach so um die Hand einer Frau anhalten? War das eine dumme Laune oder etwas Endgültiges? Solche Launen, die scheinbar aus dem Nichts kamen, sagte ich mir, waren in Wirklichkeit gar keine Launen, sondern bereits getroffene Entscheidungen, die auf eine Gelegenheit warteten, ausgesprochen zu werden.

Während ich einer Morgenphantasie mit Jett nachhing, kamen John Rupert und Geist nach Heathrow, fanden mich im Konferenzzentrum und waren, nach ihren Gesichtern zu urteilen, weder auf die Klasse von Großmutters Umhang gefaßt noch auf die Präsentabilität, Entschlossenheit und neubelebte Willenskraft von Stuart, P.

Ich lächelte. Was glaubten sie denn, wie ich die Karriereleiter emporgestiegen war? Und a propos Leitern, waren mein Verleger und mein Ghostwriter auf dem Weg nach oben oder nach unten?

Am Telefon hatte ich ihnen interessantes Material versprochen, wenn sie zum Terminal 4 kämen, und als sie eintrafen, gab ich ihnen die deutschen Bestellungen und Rechnungen sowie Kopien davon, die ich auf den Apparaten ringsherum frisch angefertigt hatte.

Ich sagte:»Mit den Fotokopien allein könnte man Oliver Quigley und Caspar Harvey, die Trader, die Tag und Nacht nach dem Material suchen, zur Raserei bringen. Die Originale sind die gesammelten Werke des verblichenen Traders George Loricroft. Es handelt sich um Bestellungen, die er vorwiegend auf deutschen Rennbahnen von Kunden entgegengenommen hat, mit denen er zu diesem Zweck dort verabredet war. Wäre er nicht gestorben, hätte er die Bestellungen der Reihe nach Personen zugeleitet, die sie entweder selbst ausführen oder zur Ausführung an Dritte weitergeben konnten. Ich nehme an, der Inhalt dieser Hefter ändert sich ständig — manchmal wird die Ware knapp sein, aber hier haben wir immerhin vierzehn Bestellungen. «Ich hielt kurz inne.»Belladonna Harvey«, sagte ich,»weiß nicht, was da gespielt wird. Auch mein Arbeitskollege Kris Ironside nicht. Wenn Sie Einfluß haben auf diejenigen, deren Sache es ist, den Trader-Ring zu zerschlagen, sorgen Sie nach Möglichkeit bitte dafür, daß die beiden keine Schwierigkeiten bekommen.«

Meine» Kontakte «sagten, sie würden es versuchen, aber ich nahm an, selbst wenn es ihnen gelang, hatte ich ein für allemal zwei Freunde verloren.

Ich betrachtete John Rupert und Geist mit Respekt und wachsender Zuneigung. Nur wenige Menschen opferten ihre Zeit wie sie, indem sie unbemerkt ein Doppelleben führten. Als hegte er ähnliche Gefühle auch für mich, sagte Geist auf einmal, er hoffe, wir kämen eines Tages wirklich dazu, das Unwetterbuch zu schreiben.

«Das solltet ihr auch, bei dem Riesenvorschuß«, meinte John Rupert ironisch.

Aus einem plötzlichen Drang heraus brach Geist alle Regeln der Geheimhaltung.»Perry«, sagte er, sein Gesicht voll persönlicher Sympathie und beruflicher Indiskretion,»machen Sie sich keine Gedanken. Ihre Freunde werden sehr wahrscheinlich nicht belangt. Auch Harvey und Quigley nicht, es sei denn, sie machen eine Dummheit. Unser Dienstvorgesetzter hat beschlossen, die beiden zwecks Neuanfang zu lassen, wo sie sind. Eigentlich geht es uns bei der Trading Company um das, was Sie uns hier geliefert haben, die schriftlichen Aufstellungen des Materials, für das sie Anbieter oder Kunden haben. Bekommen wir eine solche Liste in die Hand — Ihre hier ist reines Gold —, dann leiten wir die einzelnen Bestellungen, die Bestandteile des Pakets an unsere Kollegen in Deutschland weiter oder wo die Sache nun läuft, und die schlagen zu, lassen den Laden hochgehen oder tun, was immer sie für richtig halten. Wir, John Rupert und ich und einige andere, sehen es als unsere Aufgabe an, Trader (oder wie sie sich dieser Tage gerade nennen) zu identifizieren und ihnen, wenn sie identifiziert sind, ihre Bestellungen oder Kopien davon abzuluchsen, nach Möglichkeit, ohne daß sie es merken. Sehr oft lassen wir die Mittler unbehelligt, damit wir uns noch einmal an sie halten können. Die deutschen Briefe, die Sie da entdeckt haben, werden ihre Schreiber, die Anbieter und Kaufinteressenten, vor Gericht bringen oder aus dem Geschäft werfen, zum Teil auch gewaltsam, und das angebotene Material kommt unter Verschluß. Belege zu sammeln wie die, die Sie uns hier überlassen haben, das ist unser Job. So vereiteln wir Waffengewalt schon im Stadium der Planung. Man kann keine Atombombe bauen, wenn man nicht an die heiße Ware herankommt.«

Er schwieg, aber nicht aus Bedauern darüber, daß er geredet hatte, eher aus Befriedigung.

John Rupert, von dem ich eigentlich erwartet hätte, er würde eine solche Offenherzigkeit mißbilligen oder versuchen, sie mit dem Hinweis auf die Geheimhaltungspflicht zu unterbinden — sogar John Rupert nickte beifällig.

«Sie sehen also, daß wir mehr über Uran und das alles wissen, als wir zugeben«, gestand er.»Wir schützen uns durch vorgeschützte Unkenntnis. Wir wollten Sie schon am Freitag im Krankenhaus einweihen. Unser Dienstvorgesetzter wird nicht darüber erbaut sein, daß wir es getan haben.«

«Verschweigen Sie es ihm«, sagte ich.

Ich drückte ihnen nacheinander die Hand, warm und verbindlich.

John Rupert sagte:»Was uns immer interessiert, sind brandheiße Briefe wie die in dem Hefter, der Sie damals zu uns geführt hat. Die vielen fremden Sprachen!«

«Diese Briefe sind unseres Wissens noch nicht wiederaufgetaucht«, sagte Geist.»Die müssen so heikel sein, daß sie jemand unter Verschluß hält. Würde mich nicht wundern, wenn die genau wieder da wären, wo sie gewesen sind.«

John Rupert konnte darüber nicht lachen. Ohne darauf einzugehen, sagte er:»Die Regierungen in Rußland, Deutschland und natürlich noch in vielen anderen Ländern haben mit dem internationalen Terrorismus zu kämpfen, und sie verurteilen den Staatsterrorismus. Die Informationen, die wir ihnen schicken, sind ihnen willkommen. Wir wissen nie genau, welche Sabotage, welche Erpressung wir damit verhindern, doch man weiß sich bei uns zu bedanken.«

«Aber«, wandte Geist ein,»erinnern Sie sich an den Mann in den Everglades, von dem wir Ihnen erzählt haben.«

«Der erschossen wurde, weil er zu viel gesehen hatte?«

«Genau«, sagte Geist.»Den kannten wir. Seien Sie also auf der Hut, Perry. Die Mittelsleute sind zwar nicht immer gefährlich, wie Sie wissen, aber die eigentlichen Bombenhändler, diejenigen, die das angereicherte Uran selbst anfordern, die sind es fast immer.«

Bevor ich irgend etwas versprechen konnte, holte mich netterweise der Mann vom Sonderservice ab, trug im Laufschritt meine Reisetasche vor mir her und sagte, außer mir seien bereits alle Passagiere an Bord des Flugzeugs.

Ich winkte John Rupert und meinem Ghostwriter kurz zu. Sie hatten meine Vermutungen voll und ganz bestätigt. Die Trader waren Mittelsleute, und Leute wie John Rupert und Geist hatten die Aufgabe, an die Mittelsleute heranzukommen. Ich tauchte in das brummende Motorengeräusch des beinah vollbesetzten Flugzeugs ein, sah die vielsagen-den Blicke, die Rippenstöße, die umgingen, und fragte mich, wieviel Millionen Jahre wohl die Halbwertzeit eines Mittelsleutejägers betrug.

Der Sonderservice hatte sich selbst übertroffen, indem er dafür sorgte, daß in Miami ein Mietwagen für mich bereitstand, und der hatte als zusätzliches unverhofftes Plus dann auch noch ein sprechendes Navigationssystem.»An der nächsten Kreuzung geht es links ab zum Federal Highway nach Sand Dollar Beach.«

Ich spielte an den Knöpfen des Radios und fand einen Sender, der mit dem kommenden Wetter befaßt war.

Unerhört schnell ratterte der Sprecher drauflos:»Ein Nachlassen und eine Richtungsänderung der Höhenwinde über der westlichen Karibik haben zu einer Stärkung des weiter östlich liegenden Tiefs geführt, das, wie wir soeben erfahren, jetzt offiziell als tropischer Sturm Sheila bezeichnet wird, mit Durchschnittswinden von über achtzig Stundenkilometern. Die Koordinaten von Sheila waren heute nachmittag um 16 Uhr östlicher Standardzeit 16 Grad Nord, 78 West; sie zieht mit etwa 15 Kilometern die Stunde in nordwestlicher Richtung. Nach diesem Überblick nun zum Regionalwetter.«

Es hörte sich an, als wollte der Sprecher den Wetterbericht möglichst rasch hinter sich bringen, um wieder zur Werbung zu gelangen, die als Einnahmequelle des Senders freilich wichtiger war als das Aufziehen irgendwelcher Sturmböen.

Nach den genannten Koordinaten lag Sheila gut 600 Kilometer südöstlich von Grand Cayman; da brauchten Michael und Amy Ford noch keine Sperrholzplatten zur Seewasserabwehr an ihr Riesenhaus zu nageln.

Ich schaltete zurück.

«Bleiben Sie auf dem Federal Highway bis zur nächsten Kreuzung, und biegen Sie an der ersten Ausfahrt dahinter links ab…«

Der Wagen brachte mich zur richtigen Straße, und mein Zahlengedächtnis brachte mich zu Robin Darcys feudalem Haus.

Inzwischen war es dunkel. Ich drückte auf die Klingel mit dem Gefühl, in einen Abgrund zu springen.

Nicht Robin kam an die mittelalterlich massive Haustür.

Es war Evelyn, die — schlank in bodenlangem Schwarz und mit langen farbigen und weißen Perlenketten geschmückt — offensichtlich jemand anders erwartet hatte. Ihr Begrüßungslächeln gefror zu einem scharfen Blick, mit dem sie mich vom Scheitel bis zur Sohle musterte, während sie sich widerwillig eingestand, daß sie wußte, wer ich war, und daß sie mich vor drei Wochen in ihrem Haus zu Gast gehabt hatte, so leid ihr das jetzt tat.»Perry Stuart«, sagte sie vorwurfsvoll,»weshalb sind Sie hier? Robin erwartet Sie doch sicher nicht.«

Robin selbst erschien, eingerahmt von einer Flügeltür, auf der anderen Seite der marmorgefliesten Diele. Er war ganz ruhig, keine Spur von der Aufregung, mit der man einen gerngesehenen Gast empfängt.

«Ja«, sagte er leise.»Perry Stuart. Doch, ich habe Sie erwartet. Vielleicht nicht heute abend, vielleicht morgen, aber erwartet schon. Wie sind Sie hergekommen?«

«British Airways und Hertz«, sagte ich.»Und Sie?«

Er lächelte schwach.»Kommen Sie herein«, sagte er.

«American Airlines und Frau.«

Ich trat in die Mitte der Diele und blieb unter dem brennenden Kronleuchter stehen. Geradeaus lag, wie ich mich erinnerte, das Wohnzimmer, dahinter die Terrasse, wo wir abends gesessen hatten, und dahinter der Pool. Das Zimmer, in dem ich geschlafen hatte, lag rechts von mir. Robin und Evelyn bewohnten unbekannte Regionen auf der linken Seite, wo sich auch die überdimensionale Küche befand und ganz am Ende das Zimmer von Kris.

«Also?«fragte Darcy.

Hinter mir entsicherte Evelyn unüberhörbar eine Pistole.

«Erschieß ihn nicht«, sagte Darcy seelenruhig.»Das wäre unklug.«

«Aber ist er nicht der —?«

«Ist er, aber tot nützt er uns nicht viel.«

Ich trug das neue weiße Hemd und dunkelgraue Hosen, aber nicht den edwardianischen Mantel und sah alles in allem so aus wie bei Caspar Harveys Sonntagsessen.

Robin wiederum, bürgerlich, rundlich, unscheinbar, Robin mit den schwachen Augen hinter der eulenhaften Brille sah aus, als wäre der gewerbliche Anbau von Rasenflächen, den er betrieb, sein ganzer Lebensinhalt.

Ich stand still unter dem Kronleuchter und dachte bei mir, wenn seine Neugier nicht so stark sein sollte, daß er mich am Leben ließ, hätte ich mich bös verrechnet. Nach einigen angespannten Augenblicken ging er an mir vorbei zu seiner Frau, und wenn ich auch ein unfreiwilliges Schlucken nicht ganz vermeiden konnte, gelang es mir doch, stillzuhalten und zu schweigen.

«Hm«, meinte er.»Unbeeindruckt von Schußwaffen. «Er stellte sich vor mich hin, hielt die Pistole locker in der Hand und nahm das Magazin heraus.»Was geht in Ihnen vor«, fragte er sichtlich interessiert,»wenn Sie nicht sicher sind, ob der nächste Augenblick vielleicht Ihr letzter ist? Ich habe Sie schon zweimal so regungslos erlebt.«

«Versteinerung«, sagte ich.»Furcht.«

Er zuckte mit den Lippen und schüttelte den Kopf.»Für mich nicht. Was zu trinken?«

Evelyn machte eine abwehrende Geste, aber Robin drehte sich um und ging ins Wohnzimmer, wo eine geöffnete Flasche Champagner neben vier Kristallgläsern stand.

«Da Sie gestern nacht in London vor mir weggelaufen sind«, sagte er zu mir, als ich hinter ihm her kam,»oder vielmehr heute früh, darf ich wohl annehmen, daß Sie gekommen sind, um sich zu entschuldigen und das herauszurücken, was Kris mir geben wollte.«

Ich kostete den Champagner, trocken, aber zu prickelnd. Ich setzte das Sektglas ab.»Davon sollten Sie vielleicht nicht ausgehen.«

«Er muß weg«, drängte Evelyn mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

Robin sah ebenfalls auf die Uhr und sagte mit einem Nicken zu Evelyn:»Klar, Liebes, du hast recht«, und zu mir:

«Können Sie morgen wiederkommen, um die gleiche Zeit?«

Es hörte sich nach einer ganz normalen Einladung an. Ich fragte mich, wer von uns beiden mehr hinterm Berg hielt und gutgläubiger aussah.

Evelyn komplimentierte mich sogleich zur Haustür. Robin, nach dem ich mich umdrehte, beobachtete meinen Abgang mit ausdruckslosen Augen. Was immer er mir sagen wollte, es ging nicht im Beisein seiner Frau.

Als die Tür hinter mir ins Schloß gefallen war, stieg ich draußen an der warmen Nachtluft wieder in den Mietwagen, fuhr damit zum nächsten noch belebten Einkaufszentrum, stellte ihn vor einem Großkino ab und ging zu Fuß das kurze Stück zurück zum Haus der Darcys.

Helles Licht beschien jetzt die Einfahrt und die massive

Tür. Ich wartete versteckt im dichten Grün auf der anderen Straßenseite, so nah wie möglich am Haus, und wußte, die erwarteten Gäste konnten Fremde sein, hoffte aber, nachdem Evelyn so gedrängt hatte, auf das Gegenteil.

Evelyn die Perlige hatte mit ihrer Armbanduhr wunderbar deutliche Signale gesetzt, und Robin mit den vier Sektgläsern hatte ihr darin nicht nachgestanden, doch sie hatten nur die halbe Geschichte erzählt. Als die Gäste kamen, empfingen Evelyn und Robin sie gemeinsam an der hell erleuchteten Tür.

Die Gäste, ein unverwechselbares Paar, waren Michael Ford und Amy. Evelyn und Robin begrüßten sie überschwenglich, und ihr Fahrer, ein Mann mit schwarzer Baseballmütze, stieg lautlos aus der langen Limousine, um nicht weit von da, wo ich mich versteckt hielt, ins Gebüsch zu tauchen und später dann zwischen den streifigen Schatten der Palmwedel umherzustreichen, ein Bodyguard, der zur Sicherheit seiner Arbeitgeber patrouillierte.

Der einzige Unterschied zwischen ihm und mir war, daß er bewaffnet war und ich nicht.

Der Bodyguard und Fahrer beendete einen seiner weitgehend unsichtbaren Rundgänge und blieb vor Darcys Einfahrt an der Straße stehen, direkt gegenüber meinem Versteck. Im hellen Sternenlicht lehnte er sich gegen einen Baum und steckte sich eine Zigarette an, und so hielt er dann durch nichts und niemanden beunruhigt Wache, und der süßliche Geruch brennenden Tabaks, der herüberwehte, war sein einziger Beitrag zur Abendunterhaltung.

Er und ich warteten zweieinhalb Stunden, bis Michael und Amy wieder herauskamen. Der Chauffeur setzte sich sogleich in Bewegung, um ihnen die Wagentüren zu öffnen und loszufahren, und ich, der immer noch mit steifen Gliedern dahockte, wollte gerade über die Straße zu Robin gehen, der von der Tür aus dem entschwindenden Wagen seiner Gäste nachblickte, da erschien Evelyn hinter ihm, legte ihm bittend die Hand auf die Schulter und zog ihn ins Haus.

Die Lichter drinnen erloschen nach und nach, bis es nur noch im Schlafzimmer hell war, und ich rechnete mir keine Chance aus, Robin in dieser Nacht noch allein zu erwischen. Evelyn war hinderlich und lästig.

Ihretwegen hatte ich viel Zeit damit vergeudet, mir die Blattformen Deckung bietender Sträucher Floridas einzuprägen, um dann lediglich das Kennzeichen des Besucherwagens mitzubekommen, der, was mich nicht weiter überraschte, auf Florida zugelassen war. Für Michael und Amy war die Villa auf Grand Cayman, wie ich später erfuhr, nur ein Wochenendhaus. Sie wohnten in einer ebenso großzügigen Villa nördlich von Miami.

Bis zu meinem Mietwagen war es zu weit, als daß ich Michael und Amy hätte verfolgen können, selbst wenn ich das gewollt hätte, aber ich brauchte Robin allein. Ich hatte nicht gewußt, daß Michael und Amy nicht in ihrem Haus auf Grand Cayman sein würden, und sie waren nirgends zu sehen, als ich zu dem eine Straße vom Strand entfernten Mittelklassehotel zurückkehrte, das ich mir als anonyme Bleibe ausgesucht hatte.

In dem einfachen, aber doch recht gemütlichen Zimmer dort schrieb ich einen langen Brief an Jett, in dem ich all die liebevollen Dinge zu Papier brachte, die ihr direkt zu sagen mir schwerfiel. Meine liebe Großmutter hätte ihr vielleicht zu bedenken geben können, daß ich mich schon dreimal verliebt und entliebt hatte, aber Jett war etwas Besonderes — und um diese Besonderheit zu definieren, sei nur gesagt, daß jemand, der Mycobacterium paratuberculosis Chand-Stuart X lieben konnte, so besonders war wie Pu-239.

Der Fernseher in meinem Zimmer sagte dem tropischen Sturm Sheila, der jetzt bei 16 Grad Nord, 79 Grad West über dem offenen Meer lag und weiterhin mit fünfzehn Stundenkilometern nach Nordwesten zog, ein kurzes Leben voraus. Eine Landkarte kam auf den Bildschirm, und für einen Ort namens Rosalind Bank wurde Sturmwarnung gegeben.

Am anderen Morgen regnete es zwar auf der armen Rosalind Bank, aber der tropische Sturm Sheila ließ, auch wenn er jetzt mit hundert Stundenkilometer schnellen Winden wirbelte, kaum Anzeichen dafür erkennen, daß er sich weiter aufbaute, und zog in nördliche Richtung.

Im Kopf gerechnet, lag der tropische Sturm Sheila etwa tausend Kilometer von Sand Dollar Beach. Behielt Sheila ihren jetzigen Kurs bei (was kaum anzunehmen war), dann würde sie in rund sechzig Stunden, also in zweieinhalb Tagen, am Donnerstagabend gegen neun auf das Haus der Darcys treffen.

Als machte sie es extra, drehte Sheila wieder nach Nordwesten ab, legte Tempo zu und erlangte den Status eines Hurrikans der Kategorie 1.

Ich ging im noch immer ruhigen und blauen Atlantik schwimmen, kaufte mir dann eine dicke Rennsportzeitung für Florida und nutzte viele Stunden des Tages so sinnvoll wie möglich, indem ich aufschlußreiche Listen daraus zusammenstellte. Ich schickte eine Kopie meiner Ausgrabungen per Kurier nach Kensington, dann raffte ich in Ruhe meine Sachen und meine Gedanken zusammen und fand noch Zeit genug für einen Anruf bei Will vom Hurricane Center in Miami (Sheila legte tüchtig zu) und bei Unwin, dem ich für die Kamera danken wollte.

Unwins Antwortdienst teilte mir mit, er sei vorübergehend nicht erreichbar, aber bei meinem dritten Anruf nahm er dann den Hörer ab und meinte nach dem überraschten» Hallo!«und» Guten Tag«, er freue sich zu hören, daß ich dem kleinen Dreckkasten noch Bilder abgerungen hatte.

Ich fragte ihn, wie denn der Tag mit Amy auf Trox genau gewesen sei, und lernte ein paar neue Kraftausdrücke kennen. Nie wieder, sagte Unwin, werde er diese Frau irgendwohin fliegen. Und jawohl, stimmte er zu, sie habe den Tresor geöffnet und wieder geschlossen und niemand anderen da herangelassen.

Er lauschte aufmerksam dem neuen Plan, den ich ihm darlegte, und nachdem er eine Weile durch seine langen gelben Zähne die Luft eingesogen und alles bedacht hatte, sagte er, das ließe sich schon machen, er werde mich zurückrufen.

Eigentlich wollte ich das Hotel längst verlassen haben, als er sich endlich meldete, aber die Wartezeit hatte sich gelohnt. Morgen sei alles unter Dach und Fach. Er habe den Papierkram erledigt.

«Schlafen Sie gut, Perry«, sagte er.

Ich fuhr wieder an denselben Ort wie am Abend vorher, ging zu Robin Darcys Haus und klingelte.

Diesmal öffnete Robin Darcy selbst sofort die Tür, als habe er dort gewartet, und stand regungslos vor mir im Gegenlicht, das seine ganze Gestalt zum Schattenriß formte.

Er sah nicht direkt tödlich aus, aber unbedingt bedrohlich.

Umgekehrt erblickte er frontal beleuchtet vor dunklem Hintergrund einen Mann, der größer, jünger und schlanker war als er und zweifellos bessere Augen hatte, aber nur über einen Bruchteil der Information und Erfahrung verfügte, die er gebraucht hätte.

Darcy bat mich nicht hinein. Er sagte:»Wo sind George Loncrofts Briefe?«

«In Deutschland«, erwiderte ich knapp.

«Zu wessen Nutzen?«

«Wenn Sie das nicht wissen«, sagte ich,»fahre ich nach Hause.«

Eine Stimme mit dem Einschlag von West Berkshire schnarrte plötzlich triumphierend hinter mir:»Sie fahren nirgendwohin, Kumpel. Und das Eisen, das Ihnen da in die Nieren drückt, ist kein Spielzeug, es bläst Löcher in dumme Jungs.«

Ich meinte leichthin zu Robin Darcy:»Haben Sie einen endlosen Vorrat von den Dingern?«und sah hinter den Brillengläsern ein Blitzen, das vielleicht als Warnung gedacht war. Jedenfalls drehte er sich auf dem Absatz um, bedeutete mir mit dem Kopf, ihm zu folgen, und ging in seinen Filzpantoffeln leise über den Marmor der großen Diele ins Wohnzimmer.

Man brauchte mir nicht zu sagen, daß es Michael Fords Schuhe waren, die hinter mir her knarrten, und Amys Sandalen, die wie ein Echo von Glenda Loricrofts Stöckelschuhen neben ihm her klapperten.

«Stehenbleiben und umdrehen«, befahl Michael, und der besorgte Ausdruck, den ich, als ich dem Befehl gehorchte, kurz auf Darcys Gesicht sah, erinnerte mich unangenehm an Alligatoren.

Michael trug knielange khakifarbene Shorts und ein kurzärmeliges weißes Hemd, das seine Hantel stemmermuskeln voll zur Geltung brachte. Die leicht nach außen gebogenen Beine vermittelten wieder den Eindruck, als drückten ihm die muskulösen Schultern arg auf die Knie, und der dicke Nacken legte nahe, daß es eher zwecklos war, sich ihm entgegenzustellen.

Amy, deren feinknochiges Magermilchgesicht befriedigt lächelte, hielt mich offensichtlich für einen Vollidioten, weil ich in einen so plumpen Hinterhalt getappt war. Sie trug hellbraune Hosen und ein weißes Hemd wie Michael und hielt genau wie er eine Pistole in der Hand.

Ich ignorierte das Schießeisen, als wäre es unsichtbar, und sagte freudestrahlend zu ihr:»Tag, Amy, schön, Sie zu sehen! Es ist ja schon richtig lange her, seit ich nach meiner Rettung auf Trox bei Ihnen übernachtet habe.«

Meine Absicht dabei war lediglich, die Atmosphäre ein wenig zu entschärfen, doch Amy legte die Stirn in Falten und wies mich schroff zurecht:»Sie sind nie auf Trox gewesen!«Als hätte sie mich damit nicht schon genug verblüfft, fügte sie hinzu:»Trox gehört mir, und seit Hurrikan Odin hat niemand Anspruch auf irgend etwas, das sich dort befindet. Sie sind, ich wiederhole, nie da gewesen. Sie müssen auf einer anderen Insel geborgen worden sein. Da bringen Sie was durcheinander.«

Michael nickte zustimmend mit wachsamen Augen und sagte:»Alles auf Trox gehört Amy. Wenn Sie da nie gewesen sind, und das sind Sie nun mal nicht, dann können Sie auch keinen Anspruch auf die Insel oder auf irgend etwas, was sich dort befindet, erheben.«

«Kris…«:, setzte ich an.

«Ihr Freund Kris bestätigt, daß auch er nie da gewesen ist.«

Mein Freund Unwin würde wohl etwas anderes erzählen, dachte ich und legte Trox erst mal auf Eis. Die Lage war kritisch. Ich wollte Darcy immer noch allein.

Michael, Amy und Robin Darcy, dachte ich zur Klärung: drei aktive Trader. Dazu kamen mindestens drei weitere

Mittelsleute. Einmal Evelyn, dann der Mann, der am Abend vorher als Bodyguard fungiert hatte, geduldig, loyal und bewaffnet. Der sechste war vielleicht der Pilot der Chartermaschine, in der ich mit verbundenen Augen gesessen hatte.

Sie alle waren immer bewaffnet gewesen, aber Evelyn, die Durchgestylte und Geschmückte mit den starken Ansichten, schien mir die Schießfreudigste zu sein. Sie hatte ich von allen am wenigsten gern im Rücken.

Ich drehte mich im Wohnzimmer zu Michael um und sagte:»Wozu die Artillerie? Was soll das?«

«Deutsche Briefe.«

Ich sagte:»Was für Briefe?«

Nicht einmal Robin Darcy, sah ich, wußte es genau. Hätte Kris ihm nicht von dem Streich erzählt, den er Oliver Quigley spielen wollte, hätten die anderen mit aller Wahrscheinlichkeit gar nicht gewußt, daß die deutschen Briefe existierten.

Mit aller Wahrscheinlichkeit… aber sicher war in dieser chaotischen Welt gar nichts.

Michael sagte:»An wen haben Sie die Briefe verkauft?«

Scheiße, dachte ich.»Was für Briefe?«fragte ich noch einmal.

«Es ist besser für Sie, wenn Sie es ihm sagen«, riet mir Darcy.

Ich dachte nur, daß das Gespräch, wenn man es so nennen konnte, auf vielen Ebenen unbefriedigend verlief. Sie wollten eine Sache, ich eine andere. Jetzt war ich dran: Spring!

Ich sagte zu Amy:»Wie ist denn Ihr Pferd am Samstag in Calder gelaufen?«

Es war, als hätte ich eine Bombe geworfen. Druckwellen liefen sichtbar an Amys Schießarm hinunter, bis das schwarze runde Loch am Ende des Laufs auf den Fußboden statt auf meinen Nabel zielte. Ihre starke Reaktion bewies mir hinreichend, daß auch sie Rennbahnen als Handelsposten benutzte. Die lange Liste, die ich nach Kensington geschickt hatte, enthielt Daten und Orte, für die Amys Besitzerstatus als Tarnung dienen konnte. Ich hatte die Liste als Möglichkeit betrachtet, die zu beweisen war, und ich fand, jetzt hatten John Rupert und Geist einen guten Anhaltspunkt, wo sie suchen mußten.

Robin Darcy erstarrte.

Michael Ford ließ seine furchterregenden Muskeln spielen.

Evelyn kam mit dem uniformierten Bodyguard, Fahrer, Läufer und Springer herein. Niemand stellte ihn mir vor, aber die anderen nannten ihn Arnold. Er trug nicht mehr die Baseballmütze und benahm sich kein bißchen wie ein Bediensteter, und ich hätte ihn kaum erkannt, wenn ich ihm nicht dabei zugesehen hätte, wie er in knapp zwei Stunden ein Päckchen Zigaretten verqualmte.

Arnold hatte ein schwarzes Hemd an und trug seine Pistole in einem Schulterholster mit schweren Gurten unter der linken Achsel.

Als Kind einer Kultur mit strengen Waffengesetzen hatte ich nie einen Schuß abgefeuert und das auch noch nie bedauert, aber bei den Darcys fühlte ich mich nackt. Wer hier mit bloßen Händen kämpfte, war auf dem besten Weg zur Leichenhalle.

Evelyn hatte ihrer Pistole sicher wieder das Magazin eingesetzt. Von ihr zu erwarten, daß sie die wachsende Spannung im Raum dämpfte, war zwecklos, mit ihrer lauten Drohstimme schürte sie eher noch das Feuer.

Nur Robin Darcy, im Augenblick unbewaffnet, war sichtlich um Verständigung bemüht.

Michael Fords zu Anfang gezeigte Aggressivität verstärkte sich wie in Eigendynamik. Immer wieder spannte er die Muskeln an, bis es aussah, als hätte er sie sich nur zugelegt, um besser explodieren zu können. Das anschauliche Wort >Streitlust< flackerte mir durch den friedliebenden Sinn, und unwillkürlich suchte ich nach einer Körpersprache, die ihm die Lust nehmen würde.

Der Perry Stuart des großmütterlichen Umhangs hielt jedoch nicht viel von Demutsgesten. Was immer Michael an ungewolltem Trotz in meinem Gesicht sah, es brachte ihn nur noch mehr in Fahrt.

Amy, für die ihr Mann ein ebenso offenes Buch war wie der Rennkalender, setzte ihr Geld offensichtlich auf den Champion. Nicht nur darauf, daß er siegte, sondern daß er mir jeden Gedanken an eine etwaige Revanche austrieb. Sie lächelte. Sie mag es, wenn er sich schlägt, dachte ich. Es erregt sie. Im Kolosseum hätte sie nach Blut geschrien.

«Los, Michael«, drängte sie ihn,»er soll dir sagen, was er wirklich mit den deutschen Bestellungen gemacht hat. Laß dir nichts von ihm erzählen. Gib’s ihm, Michael!«

Außer Robin Darcy zeigte sich keiner von ihnen gewillt oder auch nur in der Lage, anders als mit vorgehaltener Pistole über die deutschen Briefe oder sonst etwas mit mir zu reden. Sie übertrafen einander mit finsteren Drohungen (Alligatoren wurden nicht genannt), bis Michael, bestärkt und angestachelt durch den Lärm und das Geschrei der anderen, seiner inneren Gesetzlosigkeit freien Lauf ließ, die einer Lawine gleich erst langsam, dann immer schneller ins Rollen kam, bis sie durch nichts mehr aufzuhalten war.

Auf Michael Ford übertragen hieß das: massiver Angriff mit geballten Fäusten und Emporheben des Opfers in die Luft, um es unter den anfeuernden Rufen der Gemahlin gegen die ungepolsterte Einrichtung zu schleudern.

Evelyn und Arnold klatschten Beifall.

Nur mein Gastgeber war still.

Meine Bemühungen, Michaels Attacke abzuwehren, indem ich trat, auswich oder zuschlug, wo ich konnte, und seinen Kopf gegen die Wand zu knallen versuchte, reichten nicht aus. Selbst in Bestform hätte ich gegen einen Profi wie ihn keine Chance gehabt.

Er ließ sich Zeit. Er bewies Übersicht. Jeder seiner Schläge saß.

Als ich ihm dann gerade einmal entwischt war und er einen Moment verschnaufte, warf ich mich auf Evelyns besten Teppich und riß Darcy die Füße unterm Körper weg. Ich zog ihn an den Haaren zu mir herüber, brachte meinen Mund an sein Ohr und flüsterte ebenso eindringlich wie deutlich in nicht geringer Verzweiflung:»Machen Sie die Terrassentür auf und gehen Sie schlafen.«

Ich sah noch seine verblüfft aufgerissenen Augen, bevor Michael seine Verschnaufpause beendete und heranstürmte, um unter dem zunehmend hirnlosen Drängen seiner Anhänger erneut die zerstörende Kraft seiner Muskeln vorzuführen, und mir schien, daß er deshalb so in die vollen ging, weil er im grauen Alltag nur selten dazu kam.

Die Niederlage aus Erschöpfung war zum Greifen nah, und ich lag buchstäblich und bildlich auf den Knien, als Darcy die schwere gläserne Schiebetür zur Terrasse erreichte. Ich selbst hätte die Tür inzwischen kaum noch aufbekommen, aber als ich sah, wie Robin Darcy die große Glasscheibe mit einem Ruck zur Seite schob, als ich das Grummeln der Gleitrollen und dann den Wellenschlag draußen vom Strand hörte und das Salzwasser roch, als sich mir eine Möglichkeit auftat, den Prügeln lebend zu entkommen, machte ich jede Energiereserve locker, die mir die Mycobakterien gelassen hatten, und ich wälzte mich von Michaels stampfenden Füßen weg, kroch einen Meter wie ein Säugling, spannte jede geschwächte Sehne zum Verzweiflungsakt. und ich war zur Glastür hinaus und halb über die Terrasse, bevor sie brüllend hinter mir herjagten.

Ich torkelte wie besoffen die Steintreppe von der Terrasse zum Pool hinunter und platschte ungeschickt ins Wasser, statt hineinzutauchen, entsetzt darüber, daß ich mich vor Schwäche selbst in meinem liebsten Element nicht einmal halb so schnell wie sonst bewegen konnte.

Wenn ich gehofft hatte, der einseitige Kampf wäre damit zu Ende, so hatte ich mich geirrt. Michael Ford verlegte sich nur auf eine andere Technik. Statt mir in voller Montur ins Wasser zu folgen, nahm er Amy seine Knarre wieder ab und schoß auf mich, so daß die Kugeln viel zu nah und sengend heiß an mir vorbeispritzten. Die Vorstellung vom bekannten Meteorologen, der tot in einem privaten Swimmingpool schwamm, noch dazu gespickt mit Kugeln aus einer registrierten Schußwaffe, schien Michael nichts auszumachen — und seine Anhänger wollten offensichtlich nicht kapieren, daß ihnen Gefängnis drohte, wenn er zum Erfolg kam.

Ich versuchte nicht mehr, mich aus seiner Schußlinie zu halten, indem ich schnell im Kreis schwamm. Ich konnte keine Brechungswinkel mehr berechnen. Ich hielt einfach lappenschlaff den Handlauf am Beckeninnenrand gepackt und drückte mich in den viel zu kleinen Schatten des gekachelten Überhangs, während Michael unvermindert blutrünstig seinen Kriegstanz fortführte und als er sah, daß er schlecht postiert war, ums Becken wetzte, um mich von der anderen Seite zu erwischen.

Das Wasser bremste die Geschwindigkeit der Kugeln, aber nicht genug. Die optische Brechung funktioniert als Schutzschild um so besser, je tiefer das Ziel unter Wasser ist, denn um so falscher ist das Bild, das die gebrochenen Lichtstrahlen abgeben. Schießt man dahin, wo das Ziel zu sein scheint, verfehlt man es. Tiefes Wasser… ich schnappte nach Luft und tauchte, und die Schüsse gingen vorbei — wie bei Odin wurde meinen Lungen mal wieder zugesetzt.

Diesmal schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sich das Flutlicht über die Terrasse und den Pool ergoß, bis mit Sirenen und Lautsprechern, mit Gebrüll und gezückten Kanonen der Schwarm marineblauer Uniformen durch das Gebüsch brach. Irgendwie kannte ich es schon, daß ich mit vorgehaltener Pistole barsch aufgefordert wurde, aus dem Wasser zu kommen und mich hinzuknien, daß eine schwere Hand im Nacken mich nach unten drückte, daß man mir unverständliches Zeug ins Ohr brüllte und mir mit Handschellen die Hände auf den Rücken band.

Es waren nicht die gleichen Polizisten wie beim letzten Mal. Diese hier hatten höchstens noch mehr Angst und waren um so ruppiger. Da ich sie praktisch herbeigerufen hatte, um meine Haut zu retten, konnte ich mich nicht beschweren.

Auf der anderen Seite des Pools versuchte Michael, gleichfalls in die Knie gezwungen, sich herauszureden.»Ein kleiner Jux, Officer, bloß ein Spiel«, und er behauptete, mit dem Polizeihauptmann und sogar mit dem Chef der Polizei befreundet zu sein.

Arnold hatte ebensowenig Verständnis wie Evelyn und Amy für die Art, wie sie hier behandelt wurden. Es war empörend. Das ganze Überfallkommando konnte sich auf seine Degradierung gefaßt machen.

«Was kriegen Sie netto?«fragte Michael gerade.»Ich lege Ihnen das noch mal drauf.«

In diese hochdramatische Szene schlenderte gähnend und in einen seidenen Morgenmantel gehüllt Robin Darcy hinein, wandte sich an den ranghöchsten Polizeibeamten und bat um Entschuldigung dafür, daß seine Gäste den Einbrecheralarm ausgelöst hatten.»Tut mir sehr leid, Lieutenant. Der Alarm, der Sie automatisch ruft, wird über einen Zeitschalter aktiviert. «Darcy versprach, es werde keinen falschen Alarm mehr geben. Seine Gäste hätten wohl etwas wilde Partyspiele gespielt. Es sei allein seine Schuld, daß er vergessen habe, die Anlage auszuschalten. Natürlich werde er gern auch dieses Jahr wieder für den Polizeiball spenden.

Dann führte Robin Darcy mit kleinen, nervös wirkenden Schritten den Lieutenant herum, und ein enttäuschter Polizist folgte ihnen mit dem Schlüssel für die Handschellen. Sie befreiten zuerst die wutschäumende Amy, dann die Galle speiende Evelyn (in meinem eigenen Haus!) und den kehlig knurrenden Arnold.

Michael wurde, obwohl er heftig jedermann mit unbestimmter Rache drohte, ebenfalls befreit.

«Wenn wir Ihre Gäste nicht wegen ungebührlichen Benehmens drankriegen«, sagte der Ranghöchste und steckte Notizbuch und Stift weg,»dann bedanken Sie sich bei Sheila.«

Darcy erinnerte ihn daran, daß ich immer noch geduldig auf den Knien lag, wobei meine Geduld mindestens zur Hälfte darin bestand, daß ich zu fertig war, um etwas anderes zu tun.

«Wer ist Sheila?«fragte Darcy.

Der blau Uniformierte zog die Brauen hoch.»Hurrikan«, sagte er knapp.»Da wollen wir nicht die Zellen voller Schickis haben.«

Sein Helfer nahm mir die Handschellen ab, doch Michael hatte mein Standvermögen fürs erste ruiniert. Der Lieutenant, dem das nicht entging, sagte warnend, wenn es noch mehr Ärger gebe, werde Mr. Ford trotz des Hurrikans in Haft genommen.

Nach getaner Arbeit steckten die Polizisten ihre Waffen wieder ein und gingen, und Evelyn, ganz der Hausdrachen, scheuchte ihre Gäste inklusive Michael zurück in die Villa. Mir warf sie lediglich einen wütenden Blick zu und sperrte mich aus.

Ich setzte mich in einen der Stühle am Pool und sah in den friedlichen Himmel.

Das Unbehagen, das in Wellen durch meinen geschundenen Körper schwappte, ließ sich aushalten; es ließ sich besser aushalten, wenn irgend etwas erreicht worden war, aber das mußte sich erst noch herausstellen.

Irgendwo hinten im Haus klingelte ein Telefon, und jemand ging dran. Der Wachdienst, fiel mir ein, rief ja zur Kontrolle immer noch mal an, wenn es zu einem Polizeieinsatz ohne Festnahme gekommen war.

Wegen Sheila war niemand festgenommen worden.

Robin Darcy kam allein von der Terrasse herunter und setzte sich in den Stuhl neben mir.

«Danke«, sagte ich, und er nickte.

Er saß eine Weile schweigend da und betrachtete mich, als wäre ich eine Art Käfer. Wahrscheinlich sah er nicht viel, außer daß ich voll blauer Flecke war und mich kaum bewegen konnte, das Vermächtnis von Michaels rasenden Fäusten und Füßen.

Ich fragte, ob Michael noch da sei, und Darcy verneinte; nach der Verwarnung durch die Polizei habe er sich verzogen und sei mit Amy zu ihrem Haus nördlich von Miami gefahren.

Wie ein gefütterter Löwe, dachte ich. Satt.

«Er kann brutal sein, wenn er in Rage kommt«, sagte Darcy.

«Ja.«

Minuten vergingen.

Ich sagte:»Fliegen Sie morgen mit mir nach Trox?«

Er stand abrupt auf, als hätte ich ein Messer gezogen, und ging mit unsicheren Schritten einmal um den Pool herum. Als er zurückkam, setzte er sich wieder und fragte zu meiner Überraschung:»Wie sehen Sie mich?«

Ich lächelte unwillkürlich.»Als ich an dem Sonntag bei Caspar Harvey essen war«, sagte ich,»meinte Bell Harvey zu mir, Sie seien ein kluger Kopf und ich solle mich von Ihrem gemütlichen Aussehen nicht täuschen lassen.«

«Bella! So einen Scharfblick hätte ich ihr nicht zugetraut. «Das schien ihn zu ärgern.

«Ich habe auf sie gehört«, sagte ich,»aber an dem Tag kam es mir nicht so vor, als müßte ich auf ihre Worte allzuviel geben.«

«Und ich dachte, für Ihren Beruf hätten Sie gar nicht genug auf dem Kasten.«

Er hörte sich plötzlich geknickt an, unerwartet traurig, als hätte er ein wichtiges Spiel verloren. Er war zu sehr von sich überzeugt gewesen, dachte ich.

«Ich habe auf Bell gehört«, sagte ich,»und während unseres Aufenthalts bei Ihnen und bei Michael und Amy, besonders nach unserem Fiasko mit Odin, als ich von der Unified Trading Company erfuhr, wurde mir klar, daß Sie wissen, wie man sein Ziel erreicht, und weil ich Sie mochte, tat es mir sehr leid, daß Sie mit tödlichen Metallen handeln.«

«Und jetzt glauben Sie nicht mehr, daß ich damit handle?«

«O doch«, sagte ich.»Da bin ich mir sicher.«

«Ich verstehe Sie nicht.«

Ich sagte:»Sie bezwecken aber das Gegenteil.«

«Perry. «Er war zapplig.»Sie sprechen in Rätseln.«

«Sie doch auch. Sie haben mir ausrichten lassen, ich solle mir einen Weg durchs Labyrinth suchen, und — na ja, das habe ich getan.«

Robin Darcy sah wie vor den Kopf geschlagen aus. Ich sagte:»Sie sind John Ruperts Dienstvorgesetzter.«

Ich wartete darauf, daß er es leugnete, aber er ließ es stehen. Er sah blaß aus. Geschlagen. Entsetzt.

«John Rupert und Geist besprechen sich mit Ihnen«, fuhr ich fort,»und Sie sagen ihnen, was zu tun ist. Die beiden sind Teil einer Hierarchie, an deren Spitze Sie stehen.«

Robin Darcy starrte mich an, blinzelte, nahm seine Eulenbrille ab, putzte sie unnötig, setzte sie wieder auf, räusperte sich und fragte, wie ich zu einem solchen Schluß gekommen sei.

Ich sagte nur, daß ich an diesem Morgen verstanden hätte, wie Instinkt und Neigung funktionierten.»Und mir kam einfach der Gedanke«, sagte ich,»daß Sie, wenn ich dem guten Gefühl, das ich Ihnen gegenüber habe, vertraue, nicht schlecht sein können, und wenn Sie nicht schlecht sind, dann schachern Sie auch nicht mit dem Tod. Dann bekämpfen Sie eher diejenigen, die das tun. So gesehen heißt das, wenn Sie die Fäden zu x tödlichen Geschäften in der Hand halten, können Sie die schlimmsten verhindern und das eine oder andere unter den Tisch fallen lassen, aber von Seiten Ihrer Partner fällt kein Verdacht auf Sie. Sie führen ein sehr gefährliches Doppelleben. Michael würde Sie wahrscheinlich umbringen, wenn er dahinterkäme. Deshalb brauchten Sie mich — oder jemanden wie mich —, der, ohne es zu ahnen, für Sie die Augen offenhält. Alles, was ich John Rupert und Geist erzählt habe, ist direkt an Sie weitergegangen. «Ich lächelte kläglich.»Wir wären besser klargekommen, hätten wir offen miteinander gesprochen.«

Robin war geschockt.»Das hätte ich nicht machen können.«

«Wider das Geheimhaltungsgebot?«tippte ich an.

Er hörte zwar meine Ironie, aber er wanderte schon sehr lange auf dem schmalen Grat, wo Geheimhaltung lebenswichtig war.

«Kommen Sie also mit nach Trox?«fragte ich noch einmal.

«Was ist mit Sheila?«

«Es kann schon sein, daß sie mit von der Partie ist.«

«Und wer noch?«fragte er.

«Sie, ich und der Pilot.«

«Was für ein Pilot? Doch nicht Kris?«

«Nicht Kris«, stimmte ich bei.

Wieder schwieg er eine ganze Weile, dann sagte er:»Sie sind nicht in der Verfassung zu fliegen. Warum sollten wir da hin?«

«Hoffnung«, sagte ich nur, aber früh am nächsten Morgen fand er sich wie vereinbart auf dem Miami Airport ein.

Ich machte ihn mit Unwin bekannt und erneuerte seine Bekanntschaft mit dem Flugzeug, derselben Maschine, gechartert von Downsouth, mit der er schon einmal nach Trox geflogen war.

Unwin grinste mich breit an und klopfte Robin Darcy auf den Rücken. Belustigt über den zwiespältigen Ge-sichtsausdruck, den diese kleine Anmaßung hervorrief, verstaute ich meine Tasche in der Kabine und fragte unseren Piloten noch einmal nach dem Flugwetter.

«Die gute Sheila«, sagte er,»hat über Nacht die Röcke gerafft und Kurs nach Nordosten genommen. Sie ist jetzt Kategorie 2 und kommt, und wenn ich auf Grand Cayman wohnte, würde ich mich heute morgen von mir persönlich rausfliegen lassen.«

Seit langen Jahren Profi, ging Unwin kurz um die Maschine und ließ nichts aus. Für mich war Kris ein guter Pilot, aber Unwin flog mit seidenen Händen. Trox erschien pünktlich genau da, wo es sein sollte, und der planierte Grasstreifen empfing die gemietete zweimotorige Tur-bopropmaschine glatt und sanft. Als wir nicht weit von der zerstörten Kirche zum Stehen kamen, stieg Unwin allein aus und ging auf die Überreste des Dorfs zu.

Für mich war es ein seltsames Gefühl, wieder auf der Insel zu sein, und ein noch seltsameres, Robin Darcy neben mir zu haben. Während wir auf unseren Plätzen hinter der Kanzel warteten, fragte ich Robin:»Wissen Sie, daß Amy sagt, die Insel gehört ihr?«

Er nickte.»Sie erhebt Anspruch darauf, weil sie monatelang von keinem anderen betreten worden sei. Irgendein altes Gesetz, soviel ich weiß.«

«Sie sagt, ich sei nie hier gewesen.«

«Ja«, erklärte Robin,»sie will nicht, daß ihr jemand ihren Anspruch streitig macht.«

«Ich nehme an, Sie wissen«, sagte ich zu Darcy,»daß sie Hunderttausende mit Pasteurisierungstechniken verdienen kann, wenn es ihr gelingt, die Kühe hier isoliert zu halten. Das wissen Sie sogar bestimmt, Sie haben ihr ja geholfen, mit Ihren radioaktiven Pilzen die ganze Bewohnerschaft zu vertreiben. Und an dem Tag, als Sie mich mit verbundenen Augen nach Grand Cayman geschafft haben, waren Sie noch mal mit Strahlenschutzanzügen hier, um die Herde zu untersuchen. Die Herde ist aber nicht verstrahlt, und sie könnte — könnte — ein Vermögen wert sein.«

«Was heißt, könnte?«

«Ich habe die Milch dieser Kühe getrunken«, sagte ich resigniert,»und mir damit eine neuartige Krankheit eingefangen, die jetzt Mycobacterium paratuberculosis Chand-Stuart X heißt.«

Er sagte verstehend:»Also deshalb waren Sie im Krankenhaus! Aber Sie haben sie offensichtlich überwunden. Das beweist also nicht, daß Sie auf der Insel waren.«

«Die Antikörper beweisen es.«

«Oh«, sagte er, und dann noch einmal:»Oh. Und sicher noch etliche Kulturen dazu.«

«Die auch.«

«Sie können also nachweisen, daß Sie auf der Insel waren.«

«Nicht nur das«, sagte ich.»Amy wird auch die Krankheit nicht gefallen, die man kriegen kann, wenn beim Pasteurisieren was schiefgeht. Die haut bös rein und hält lange nach. Bis ich kuriert bin, muß ich anscheinend noch über Wochen behandelt werden.«

Ich hatte keine Lust, daran zu denken, und um das Thema zu wechseln, fragte ich Robin:»Was ist denn eigentlich aus dem Hefter voll fremdsprachiger Briefe hier geworden?«

«Sie meinen den, den Sie aus dem Tresor geholt haben?«

«Genau.«

«Ich war verblüfft, als John Rupert erzählte, Sie hätten den gesehen.«

«Aber Sie haben ihn dann mitgenommen«, sagte ich.

«Und zwar an dem Tag, als Sie mich mit verbundenen Augen nach Cayman brachten — und dafür bin ich Ihnen dankbar.«

Er lächelte.»Über uns getäuscht hat Sie das aber nicht.«

«Nur vor einem nassen Grab bewahrt.«

«Michael war der Meinung, wir sollten Sie abknallen«, nickte Robin und fuhr düster fort:»Und nach all den Verzögerungen der letzten Zeit war er so scharf darauf, die Bestellungen in dem Hefter zu versilbern, daß er ihn heimlich an sich genommen hat.«

Die Neigung der Trader, nach eigenem Gutdünken zu handeln, war für Robin oft ein Problem gewesen.»Erst gestern abend«, sagte er,»hat Michael mir erzählt, daß er mit den vielen fremdsprachigen Briefen nicht klarkam und den Hefter Amy überlassen hat, damit sie ihn bei ihren Rinderunterlagen auf Trox im Tresor verwahrt, bis er einen Plan gefaßt hat, und soviel ich weiß, ist der Hefter noch hier. Das wird mit ein Grund sein, warum Michael blind auf jeden losgeht — er hat sich zum Narren gemacht.«

«Hätten Sie den Hefter gern?«fragte ich.

«Natürlich. Aber der Tresor geht nicht auf.«

«Wer sagt das?«fragte ich.

«Amy sagt, er läßt sich nicht öffnen, damit niemand die Unterlagen über ihre Rinder stehlen kann.«

«Vielleicht geht’s auch so«, sagte ich. Ich nahm den Umschlag mit den von Jason Wells sorgfältig abgezogenen Fotos aus meiner Reisetasche.»Die Aufnahmen habe ich alle hier auf der Insel gemacht«, sagte ich.»Die ersten zeigen die leergeräumten Pilzhäuser vor dem Hurrikan, das Dorf und das Vieh vor dem Hurrikan, und das letzte Herdenbild und die drei fotografierten Auslandsbriefe sind nachher entstanden.«

Robin betrachtete fasziniert die Aufnahmen.

«Die kann ich gebrauchen«, sagte er.»Besser als nichts.«

Ich öffnete die Tür hinten im Flugzeug und ging, vom Wind zur Seite gedrückt, die Trittstufen hinunter, in Kleidern und Schuhen und ohne Augenbinde, doch Robin blieb zögernd oben stehen und hielt sich am Handlauf fest.

«Kommen Sie«, redete ich ihm zu.»Hier gibt es keine gefährliche Strahlung. Die Bewohner haben sich von etwas Ähnlichem wie George Loricrofts Alphateilchenprobe ins Bockshorn jagen lassen, die eine Menge Lärm gemacht, aber niemandem geschadet hat.«

Robin zuckte die Achseln und folgte mir die Gangway hinab, und gemeinsam gingen wir in dem böigen Wind auf Bunker Nummer zwei zu.

Bullen liefen in dem zerstörten Dorf herum, und die Schwarzbuntkühe muhten und rieben sich an mir, als ich sie, obwohl sie mir so übel mitgespielt hatten, liebevoll streichelte. Schließlich waren sie die weltweit einzigen Träger von Mycobacterium paratuberculosis Chand-Stuart X.

Robin und ich gingen in den Bunker, und geschützt vor dem aufkommenden Sturm sahen wir uns den Tresor an.

Robin stellte 4373 3673 (HERE FORD) ein, und nichts geschah.

«Amy hatte recht«, meinte er frustriert.»Er geht nicht auf.«

«Versuchen Sie’s mit 3673 4373«, sagte ich,»FORD HERE.«

Robin warf mir einen Blick von vernichtender Skepsis zu, drückte aber die Ziffern. Immer noch nichts, die Tür blieb zu.

«Aussichtslos«, sagte Robin.»Amy hatte recht.«

«Amy hatte recht«, stimmte ich bei.»Amy kennt sich mit Videotheken aus und vielleicht auch mit Pasteurisierung, und sie kennt sich mit Tresoren aus.«

«Was wollen Sie damit sagen?«

«Es gibt keinen Strom auf der Insel«, sagte ich.

«Das weiß ich…«

«Wie funktioniert dann die Tresortür?«

Robin, in allem bewandert außer in den Grundlagen der Naturwissenschaft, runzelte die Stirn und schwieg.

«Mit Batterien«, sagte ich.

Ich schob die kleine Metallplatte unter der Buchstaben-und Zahlenanzeige nach unten, und da steckten drei ganz normale AA-Batterien nebeneinander.

«Aber«, wandte Robin ein,»es sind doch Batterien drin, und sie geht trotzdem nicht auf.«

«Drei sind drin«, sagte ich,»aber es ist Platz für vier. «Ich griff in meine Reisetasche, holte das unangebrochene Viererpäckchen AA-Batterien heraus, das ich zusammen mit meiner Kamera gekauft hatte, legte sie anstelle der drei alten in das Batteriefach und schloß es.

Ich stellte 4373 3673 ein, hörte das scharfe Klicken, zog den Griff nach oben und öffnete die Tür.

Drinnen waren Amys gesammelte Rinder-Akten und ein gelbbrauner Hefter, wie ich ihn kannte. Ich nahm ihn raus, schaute hinein und überreichte ihn mit einer etwas feierlichen Geste Robin.

Erstaunt sagte er:»Woher wußten Sie denn, wie der Tresor aufgeht?«

«Ich habe vier Tage allein auf der Insel verbracht«, antwortete ich ihm.»Daher kenne ich den Tresor gut. Ich ha-be sein Kennwort herausgefunden. Ich habe mir seine Batterien angesehen. Nur die Briefe konnte ich nicht entziffern.«

«Darum kümmere ich mich«, sagte Robin.»Sie werden sehen, nichts von Ihrer Mühe war umsonst.«

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