Kapitel 4

Kris und ich kletterten durch die Hecktür von Amys bzw. Robins wahrhaft herrlichem kleinen Flugzeug und nahmen vis-a-vis in zwei eleganten Sesseln an einem Tisch Platz. Amy (nahm ich an) hatte die ursprüngliche Ausstattung, bestehend aus zehn schmalen Sitzen und einem behelfsmäßigen Männerklo, ersetzt durch zwei Pilotensitze für die Kanzel, vier bequeme Passagiersitze in einer Kabine und eine ordentliche Toilette hinten mit abschließbarer Tür.

Kris gab unumwunden zu, daß ihn Robin tatsächlich überredet hatte, mich aus der Flugplanung herauszuhalten.

«Robin hatte Angst, du würdest dich gegen Trox sperren, aber ich sagte ihm, ich überrede dich schon. Und du fliegst doch auch mit, oder? Allein schaff ich das alles nicht.«

«Was sollen wir denn da machen?«

«Nach den Pilzen sehen.«

«Den Pilzen!«Ich glaubte ihm nicht und hatte ein ungutes Gefühl.

«Es liegt doch auf dem Weg zu Odin«, bearbeitete er mich.»Nur ein Abstecher und ein kurzer Halt. «Er versuchte es herunterzuspielen.»Und natürlich hat Robin dem Supervogel hier Zusatzinstrumente einbauen lassen, die den Luftdruck in Millibar messen und ihn durchgehend auf Band aufzeichnen, und Windgeschwindigkeitsmesser auch. Die kannst du mühelos von deinem Platz aus bedienen. Du brauchst nur den Radarhöhenmesser einzuschalten, der berechnet dann alles von selbst und gibt den Luftdruck in Meereshöhe an. Ich zeig’s dir.«

«Und diese Spezialinstrumente für die Höhen- und Windgeschwindigkeitsmessung, sind die teuer?«

«Allerdings. Die sind extra für Stürme installiert worden, ursprünglich wohl für Hurrikan Nicky. In der Zeit hat Robin Amy die Maschine abgekauft. Und wo er schon so viel Geld in unseren Flug gesteckt hat«, sagte Kris in klagendem Ton,»mußt du ihm doch irgendwie entgegenkommen.«

«Warum fliegt er nicht selbst mit?«

«Du bist robust, er nicht. «Kris dachte noch einmal darüber nach und setzte hinzu:»Er hat einen Termin in Miami, den er nicht absagen kann.«

«Und er wollte, daß wir nach Trox fliegen«, tippte ich an,»aber ohne Bordkarte, damit ich annehme, wir flögen direkt zu Odin?«

Kris nickte ungeniert.»Wir haben den Flugplan gestern nachmittag schon weitgehend ausgefüllt.«

Die Heimlichtuerei erschreckte mich, aber ich wollte wirklich gern einmal durch einen Hurrikan fliegen, und die Gelegenheit kam vielleicht nie wieder. Lügen hin, Pilze her, für Odin nahm ich Trox in Kauf.

Kris spürte es und wies sichtlich erleichtert auf mehrere Einträge auf dem Schein.»Das ist die voraussichtliche Kilometerzahl. Das ist der Treibstoff — wir haben volle Tanks. Hier unsere Reisefluggeschwindigkeit. Hier die Flughöhe. Da unten dann unsere Maximalflugzeit, so lange können wir in der Luft bleiben. Ein Abstecher nach der Insel ist in jedem Fall drin. Dann haben wir M eingekreist, das steht für maritim, weil wir über Wasser fliegen; der

Kreis ums J besagt, daß wir Schwimmwesten dabei haben, und F heißt, die Schwimmwesten fluoreszieren.«

«Tun sie das denn?«fragte ich.»Und haben wir wirklich Schwimmwesten an Bord?«

«Ja, natürlich, Perry! Du bist vielleicht mißtrauisch.«

«Nein«, sagte ich und seufzte.»Nur vorsichtig. Genau wie du.«

«Tja…«Er zögerte, zeigte dann aber wieder auf den Schein.»Zu deiner Beruhigung, das D da steht für Dinghy, und wir haben auch wirklich eins, sogar ein überdachtes wie angegeben, in leuchtendem Orange, mit Platz für zehn Personen.«

«Wo ist es?«fragte ich, und Kris zeigte immer noch leicht gekränkt auf ein grau verpacktes Bündel auf einem der Passagiersitze.

«Robin hat es neu gekauft«, sagte Kris.»Alles sollte hundertprozentig sein. Man kann nur sagen, daß ihm das Beste gerade gut genug für uns war.«

«Schön für ihn«, meinte ich trocken, aber der Sarkasmus ging an Kris vorbei.

«Ganz unten dann«, er zeigte wieder auf den Schein,»siehst du die Farbe des Flugzeugs, weiß, und Robins Anschrift als die des Betreibers, das heißt des Eigners in dem Fall, sowie meinen Namen und meine Unterschrift, weil ich der Pilot bin, und damit hat es sich.«

«Gut«, sagte ich, wenn auch halbherzig, mit Vorbehalten.

«Eine Karte brauchen wir trotzdem.«

Kris gab nach.»Na schön. Na schön. Du kriegst deine verdammte Karte. Ich geh eine holen.«

Diesmal ging ich mit ihm über den Asphalt zu dem kleinen Gebäude abseits des Hauptreisebetriebs, und wir betraten einen ziemlich vollen Raum mit Theke, Tischen, Stühlen, wo man Kaffee und Blätterteiggebäck kaufen konnte und wo acht oder neun Amateurflieger mit blanken Nerven dem Abenteuer einer Hurrikandurchquerung entgegenfieberten und eisige Ruhe vortäuschten.

Odin in seiner schreckenerregenden Gestalt zog alle Aufmerksamkeit auf sich, laufend wurden auf einem Monitor sein neuester Standort und Entwicklungsstand angezeigt. Hurrikan Odin, mit Windgeschwindigkeiten von nunmehr 250 Stundenkilometern in der Umgebung des Auges, hatte soeben Kategorie 5 auf der Saffir-Simpson-Skala erreicht. Das Auge lag gegenwärtig bei 17.04 Grad nördlicher Breite, 78.3 Grad westlicher Länge und bewegte sich mit zehn Stundenkilometern in nordwestlicher Richtung. Der Luftdruck im Auge war über Nacht von 967 auf zuletzt gemessene 930 Millibar gefallen. Das Auge hatte jetzt einen Durchmesser von 17,5 Kilometern.

Kris lief zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf, die offenbar zur Flugplanung und zu einem Kiosk führte, an dem man kleine Navigationshilfen kaufen konnte, darunter auch Landkarten und Radiokarten. Kris erstand je eine und trug sie wie Trophäen vor sich her.

Bevor er wiederkam, blickte einer der anderen Piloten zum Kiosk hinauf und meinte bedauernd:»Traurige Sache mit Bob Farraday, was?«

Ich sagte:»Ehm…«, und erfuhr, daß Bob Farraday, der Fluglehrer von Amy Ford, vor einem Monat tödlich mit dem Auto verunglückt war.»Daraufhin hat sie ja die Maschine verkauft, die Sie und Ihr Freund fliegen. Ich dachte, das wüßten Sie.«

Ich schüttelte den Kopf, aber das erklärte immerhin, warum sie ein solches Prachtstück verkauft hatte.

Die entschlossenen Hurrikanjäger um uns herum waren sich einig, daß vom Owen-Roberts-Flughafen auf Grand Cayman aus das Auge in Richtung 152 Grad lag, wobei vertrackterweise aber berücksichtigt werden mußte, daß die Nadel eines Magnetkompasses nicht den geographischen Norden anzeigt und daß sich durch die zyklonischen Winde der Steuerkurs von Minute zu Minute ändern würde. Außerdem war natürlich auch das ganze Auge in Bewegung.

Als ich so dem kundigen Geplapper der anderen zuhörte, bekam ich das Gefühl, Kris und ich hätten hier etwas Unmögliches vor, aber Kris selbst sprühte vor Energie, strahlte vor Freude, zog mit mir und den Karten einfach wieder zurück zu Robins Piper und breitete die Karten auf dem Tisch aus.

«Da liegt Odins Auge«, erklärte er, zeichnete mit Bleistift einen Kringel auf der Radiokarte ein, und mit Hilfe eines Taschenrechners bestimmte er flink, wie ich es von ihm gewohnt war, den Kurs und die Geschwindigkeit, die uns ans Ziel bringen sollten. Gerechterweise sei gesagt, daß es fast genau der Kurs war, den er ohnehin hatte fliegen wollen, auch wenn ich nicht auf den Karten bestanden hätte. Mit Genugtuung zog er nämlich jetzt aus der Brusttasche seines Hemdes eine gefaltete Postkarte, auf der er die vorgesehenen Kurse notiert hatte; und unter dem Weg zum Auge standen noch weitere Zahlen, die er mir nach einem Zögern erläuterte.

«Es ist wohl besser, wenn du Bescheid weißt. Nun, die Zahl da, die zweite, ist der magnetische Kurs von Cayman nach Trox. Die nächste ist der von Trox zu Odins Auge, und die vierte ist der Kurs vom Auge zurück nach Cayman. Wenn wir jetzt losfliegen, wirst du sehen, bringen uns die Kurse wieder hierher zurück.«

Ich starrte ihn an und zweifelte an seinem Verstand. Aber im Gegensatz zu der Cherokee von Kris in White Wal-tham war diese Piper, die kleine Luxusmaschine hier, mit allerlei elektronischen Finessen ausgestattet, und so las ich, während Kris gewissenhaft seine Kontrollen zu Ende führte, die schmale Gebrauchsanweisung zum Navigieren mittels Funksignalen durch.

Das ganze Unternehmen, schätzte ich, würde zu einem flotten kleinen Rundflug geraten, der uns in irgendwelche ruhigen Gegenden fernab von Odin führte und über verschiedene Kreisfunkfeuer, also Funkstationen, die ein ungerichtetes Signal abstrahlten, heil zurück nach Cayman.

Viel später erst erfuhr ich, daß Tiefflugnavigation über der westlichen Karibik dank dreier starker Richtfunkfeuer in Panama, auf Swan und der Bahamainsel Bimini einmal recht einfach gewesen war, daß aber mit der Einführung der Satellitennavigation in der Verkehrsluftfahrt diese Hilfsmittel für Hobbyflieger aufgegeben worden waren. Kris und ich hätten an dem Tag, als wir so forsch nach Trox aufbrachen, die Kreuzverweise von Richtfunkfeuern aus Panama, Swan und Bimini sehr gut gebrauchen können.

Mit den Kursdreiecken, die immer zu Kris’ Navigationsausrüstung gehörten, zog ich auf beiden Karten eine gerade Linie von Cayman nach Trox, und nachdem ich Kris, der immer noch an seinen neuen Pakt mit Robin dachte und sich ihm verpflichtet fühlte, die Zahlen aus der Nase gezogen hatte, trug ich die Fluggeschwindigkeit und dementsprechend die voraussichtliche Dauer des Flugs nach Trox ein.

Mein Kurs und meine Ankunftszeit wichen von Kris’ Berechnungen kaum ab.»Sagte ich doch«, meinte er.

Ich lehnte mich auf meinem Sitz zurück.»Was sollen wir für Robin auf Trox tun? Du redest nur um den Brei herum. Er hat viel Geld ausgegeben, wie du sagst, aber ich wüßte immer noch gern, wofür.«

«Er möchte, daß du Fotos machst. «Sowohl Kris als auch Robin, der im Schlafanzug mit hinaus zum Pick-up gekommen war, als wir losfuhren, hatten sich vergewissert, daß ich meine Kamera dabeihatte.

«Fotos? Wovon denn?«

Kris rutschte auf seinem Sitz herum.»Er hat nur Fotos gesagt… als würdest du schon wissen, was er will, wenn du’s siehst. «Aber das, so sollte sich zeigen, war schon wieder geschwindelt von Kris.

Die Sache kam mir immer unvernünftiger vor, doch um wenigstens so zu tun, als wäre alles im normalen Rahmen, schlug ich vor, schon einmal die Rettungswesten anzulegen, natürlich ohne sie aufzublasen, aber einsatzbereit.

Kris, der die Hauptschlacht gewonnen hatte, machte mir dieses kleine Zugeständnis und schnallte sich fügsam die dünne orangefarbene Schwimmweste um.

Zwei oder drei der leichten Flugzeuge vor uns waren in Bewegung. Nach einem scharfen Blick auf die Uhr schimpfte Kris, wir hätten zu viel Zeit verloren, kletterte in den Pilotensitz und führte sichtlich erleichtert darüber, daß er keine Fragen mehr zu beantworten brauchte, die letzten Checks vor dem Start durch, indem er den Zeiger des Höhenmessers auf Null stellte, um den momentanen Luftdruck des Startflughafens angezeigt zu bekommen, der 1002 Millibar betrug. Dann ließ er die Motoren an und bat den Tower um Rollfreigabe.

Ich setzte wie Kris die Kopfhörer auf und bat vom Kopilotensitz aus um Starterlaubnis. Die Erlaubnis kam, obwohl der Tower es im allgemeinen lieber sah, wenn autorisierte Militärmaschinen das Auge eines Hurrikans anflogen. Kris aber brauste entschlossen und gekonnt die Startbahn entlang, stieg über dem Meer hoch und steuerte direkt auf Odin zu.

Wir waren ungefähr bei der Horizontlinie von Grand Cayman — die Aufmerksamkeit der Flugleitung galt nun der uns folgenden Maschine und der dahinter —, als Kris plötzlich den Kurs änderte und die Pilze von Trox anpeilte.

Er drückte verschiedene Schalter, und als er damit durch war, stellte ich fest, daß wir keinen Funkkontakt mehr hatten, da Kris den Empfänger systematisch auf ortsfremde Frequenzen eingestellt hatte. Wie von ihm und Robin zweifellos geplant, waren wir allein am weiten Himmel — und am weiten Himmel zogen rauhe, böige Winde auf, auch wenn die Ausläufer des Hurrikans laut Wetterbericht noch weit entfernt waren.

Über die Kopfhörer, die wir beide noch aufhatten, sagte Kris:»Jetzt müßten es zwanzig Minuten Flugzeit bis Trox sein, aber so starken Wind hatte ich nicht eingeplant. In zehn Minuten kannst du Ausschau halten. Robin sagt, die Insel ist manchmal schwer zu sehen.«

Ich meinte zu ihm, unsere Funkstille sei Wahnsinn. Kris grinste nur.

Zehn Minuten vergingen, zwanzig. Die Wellenkämme mehrten sich über dem grauen Wasser unter uns, die Wolkenfetzen verdichteten sich, das Flugzeug wurde im zunehmenden Wind heftig geschüttelt.

Keine Insel. Kein unscheinbarer, von Guano bedeckter Fels. Ich wiederholte alle Berechnungen, und den Zahlen nach waren wir immer noch auf Kurs.

Als die Insel zu meiner großen Erleichterung rechts vor uns in Sicht kam, sah sie zuerst nur wie ein langgezogener weiß schäumender Wellenkamm aus. Ich rüttelte Kris am Arm, zeigte geradeaus nach unten und sah die uneingestandene Sorge im Nu von seiner Stirn verschwinden.

Ehre gerettet, nun grinste er wieder. Er brachte die Maschine von zweitausend Fuß auf einige hundert hinunter und kreiste vorsichtig über dem schmalen Eiland, um es in der zunehmenden Bewölkung nicht aus den Augen zu verlieren. Robin hatte ihm zwar gesagt, daß es einen Landestreifen gab, aber sosehr wir auch suchten, weder Kris noch ich konnten etwas davon entdecken, bis er schon beinah verzweifelt in dreihundert Fuß Höhe die Insel an der schmälsten Stelle überflog, und da ich mit ungeteilter Aufmerksamkeit danach Ausschau hielt, war ich es wieder, der zuerst den unauffälligen, wegähnlichen flachen Strich entdeckte, der durch das sonst felsige Gelände ging. Die Landebahn war beunruhigenderweise graugrün und bestand nicht aus Asphalt, sondern aus planierter, festgestampfter, überwachsener Erde.

Kris erblickte den schlichten Landestreifen ebenfalls, drehte gleich und flog ihn der Länge nach ab, doch weder ihm noch mir fielen Steine oder sonstige Hindernisse auf der Bahn ins Auge.

«Robin hat geschworen, daß man hier landen kann.«

Kris’ Stimme klang über den Kopfhörer eher beherzt als überzeugt.

Mir schien, daß Robin dabei nicht den heftigen Seitenwind berücksichtigt hatte. War Robin hier schon einmal selbst gelandet? Robin war kein Flieger. Ich zwar auch nicht… aber wenigstens mit Wind kannte ich mich aus.

Die Hände um den Steuerknüppel, am ganzen Körper angespannt, brachte Kris die Maschine auf nahezu volle Touren, flog noch einmal um die Insel und setzte schließlich zur Landung an. Er hatte zwar immer noch Seitenwind, kam aber halbwegs gerade rein.

Im Kampf mit den Windstößen vergaß Kris, das Fahrgestell auszufahren — seine Cherokee in White Waltham hatte ein feststehendes Fahrwerk — und geschlagene fünf Sekunden stand ihm das Entsetzen im Gesicht, als ich wort-los auf die drei Lichter zeigte, die grün hätten sein müssen, es aber nicht waren. Drei grüne Lichter bedeuteten nach einem Fliegerhandbuch, das ich kannte, daß alle drei Räder des Fahrwerks ausgefahren und verriegelt waren.

«Herrgott«, rief Kris,»ich hab die Downwind-Checks vergessen. Total vergessen… Bremsen aus, Fahrwerk unten, Treibstoffgemisch fett, Propeller frei…«Mit flinken Fingern brachte er alles ins reine — ausgenommen wahrscheinlich seine Selbstachtung.»Gurte eingesteckt, Luken geschlossen und verriegelt, Autopilot aus, als hätte ich das blöde Ding überhaupt eingeschaltet, festhalten, Perry, halt dich fest, ab geht’s…«

Er schaffte eine unter den Umständen durchaus akzeptable Landung — auf manchen holprigen Reiseflügen war mein Rückgrat viel schlimmer durchgerüttelt worden.

«Entschuldigung«, sagte er untypischerweise. Er bog die Finger durch, um seine Muskulatur zu lockern.»Die Checks vergessen!«Er hörte sich tief betroffen an.»Wie konnte ich nur?«

«Wir sind ja unten. Laß gut sein«, sagte ich.»Wie geht’s weiter?«

«Ehm. «Geistesabwesend wie in Trance, konnte er an nichts als seine Versäumnisse denken.

Ich versuchte es noch einmal.»Kris, wir sind doch gut gelandet, oder? Es ist nichts passiert.«

«Ja. schon. Hast du mal auf den Höhenmesser gesehen?«

Hatte ich nicht, aber ich holte es nach. Der Luftdruck stand noch bei 1002 Millibar, aber der Höhenmesser zeigte 360 Fuß unter dem Meeresspiegel an. Als Kris den Zeiger wieder auf Null stellte, fiel die Millibarzahl auf 990, und er starrte wie hypnotisiert auf dieses Ergebnis.

«Hier am Ende der Rollbahn wollen wir doch sicher nicht bleiben, oder?«sagte ich.»Komm also bitte mal zu dir. Denk an Odin.«

Sein Kopf schien augenblicklich wieder frei zu werden, und als hätte ich eine blöde Frage gestellt, sagte er:»Hast du nicht die Gebäude unter uns gesehen, als wir über die Küste gekommen sind? Die schauen wir uns natürlich zuerst an.«

Er wendete das Flugzeug, ließ es über die ganze grasbewachsene Bahn zurückrollen und beförderte uns damit zu einer Art Miniaturdorf hin, das aus vier weiß gestrichenen Holzhäusern, drei langen und niedrigen, halbzylindrischen Wellblechschuppen, einer winzigen Kirche mit Spitzturm und zwei großen, massiv wirkenden Betonbunkern bestand.

«Robin sagte, die Pilze wachsen in den Wellblechschuppen«, und schon sprang Kris aus der Maschine.»Sehen wir also mal nach.«

Wider Erwarten waren die Türen nicht verschlossen. Und zu unserer Verwunderung waren keine Leute da.

Der Überraschung dritter Teil… keine Pilze.

Ich fotografierte ein paarmal keine Pilze.

In den Schuppen standen lange hüfthohe Tröge mit Kompost, der Eichenspäne enthielt, und ich wußte, daß zumindest Pfifferlinge besonders in Eichenwäldern vorkommen und gedeihen. Die Luft roch muffig und von Pilzsporen gesättigt. Nichts, was ich sehen oder riechen konnte, war den Aufwand unserer Reise wert.

Kris zog für sich allein umher, und schließlich trafen wir uns in einem der Betonbunker zum Erfahrungsaustausch.

Keinerlei Pilze.

«Nicht mal ein verdammter Heckenschwamm«, empörte sich Kris.»Und auch sonst sehr wenig.«

Die Häuser waren menschenleer und vollgestellt mit sperrmüllreifem Krempel. In der Kirche hatten einmal Gedenktafeln an den weißen Wänden gehangen, doch sie waren abgeschraubt und mitgenommen worden, und geblieben waren rechteckige dunkle Stellen. Wasser kam nicht aus den verlegten Leitungen, sondern aus Ziehbrunnen mit unterirdischen Regenwasserspeichern.

Der Bunker, in dem wir standen, war dank der etwa ein Meter zwanzig dicken, fensterlosen Wände kühl und mußte wohl einmal als Unterkunft gedient haben. Vier gezimmerte Etagenbetten standen da, aber ohne Bettzeug, und das Gebäude hatte einmal elektrisches Licht gehabt, aber jetzt hingen nur noch die Drähte von der Decke.

«Der andere Bunker sieht aus, als hätte mal ein Generator drin gestanden«, meinte Kris, und ich nickte.»Die Pilzhäuser waren klimatisiert«, sagte ich,»und eine effiziente Pumpsprenganlage hatten sie anscheinend auch.«

«Dieser Ort ist vollkommen verlassen«, seufzte Kris.

«Wir verschwenden hier unsere Zeit.«

«Schauen wir uns mal den Landungssteg an«, schlug ich vor, und wir gingen einen Hang aus getrocknetem Schlamm hinunter zu einer Landungsbrücke aus Beton und Holz, die groß genug war für einen Frachter.

Wieder keine Leute und auch sonst herzlich wenig. Keine Taue, keine Ketten, kein Kran. Es war, als hätte das zuletzt abgehende Schiff alles abgeräumt.

Bevölkert war die Insel von Hunderten großer blauer Vögel, Tausenden großer und kleiner Eidechsen und einer großen Herde Rinder, die friedlich und frei umherzog und graste, ohne uns zu beachten.

Ich fotografierte das alles, ahnte danach aber so wenig wie vorher, was wir da für Robin tun oder wonach wir schauen sollten, und noch viel weniger, warum.

Wir waren um elf Uhr vierzehn auf der Insel gelandet, und als wir unseren umfassenden, aber ziemlich unfruchtbaren Rundgang beendet hatten, waren mehr als zwei Stunden vergangen.

Der Wind, der seit unserer Ankunft immer mal wieder aufgefrischt hatte, schwoll plötzlich zu einem anhaltenden Sturm von Norden an und gemahnte uns zur Eile, denn sehr bald würden Odins wirbelnde Bodenwinde hier nicht nur uns Sterbliche herumscheuchen, sondern auch dem Flugzeug gefährlich werden, das sich in der Luft immerhin zu behaupten wußte, am Boden aber glatt umgepustet werden konnte.

Wir rannten durch den weiter anschwellenden Wind, sprangen in die Kanzel, und Kris checkte ausnahmsweise nur das Nötigste, bevor er die Motoren anließ, und prüfte danach nur kurz die Instrumente. Dann richtete er die Nase des Flugzeugs mehr oder weniger direkt auf die Startbahn und gab Vollgas.

Das Flugzeug holperte los, tat aber bei niedriger Geschwindigkeit einen so heftigen Satz in die Luft, daß Kris mit weiß hervortretenden Knöcheln darum kämpfen mußte, es gut in den Steigflug zu bringen. In diesem Augenblick kamen mir gegen meinen Willen all die Hurrikanflieger in den Sinn, die spurlos verschwunden waren… und ich ahnte, wie das passiert sein konnte.

Schwitzend drückte Kris die Nase nach unten und ließ das Flugzeug steigen wie einen Falken, und innerhalb einer Minute waren wir dreitausend Fuß hoch und höher, und Trox war hinter uns im Dunst verschwunden.

Da erst merkte ich, daß ich bei unserem hastigen Aufbruch von der Insel irgendwie meine Kamera liegengelassen hatte. All die vorsorglichen Aufnahmen umsonst! Ich klopfte meine sämtlichen Taschen ab, suchte rings um den Kopilotensitz, aber ohne Erfolg.

Fluchend sagte ich es Kris.

«Na, jetzt fliegen wir jedenfalls nicht mehr zurück. «Er klang zwar verärgert, aber wegen des Fotoapparats umzukehren fand er genau wie ich absurd. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, den Flieger ruhig zu halten, aber er war auch froh, wieder in der Luft zu sein, und zog sichtlich erleichtert seinen irren Flugplan aus der Hemdtasche.

«Flieg mal Ostnordost, 80 Grad«, rief er mir als Anweisung zu, während er nach seinem Kopfhörer langte und das Mikrofon heranzog.»Dann kommen wir schon zum Auge.«

«Das Auge ist nicht mehr da, wo es gestern war«, rief ich zurück, übergab ihm das Steuer und legte meinerseits Kopfhörer an.

«Schon klar«, sagte Kris,»hab ich einkalkuliert.«

Nicht einkalkuliert hatte er, daß Odin, wie man das von Hurrikans kennt, plötzlich und ohne uns Bescheid zu geben einen völlig anderen Kurs eingeschlagen hatte. Die ganze Sturmspirale zog jetzt genau nach Westen und würde innerhalb von vierundzwanzig Stunden unweigerlich über der Insel sein, von der wir gerade kamen.

Auf Trox hatten wir unsere Rettungswesten abgelegt und sie in der Kabine gelassen, und als Kris soweit alles im Griff hatte, ging ich nach hinten und zog meine wieder an. Ich brachte ihm seine nach vorn und überredete ihn, sie anzulegen, obwohl er keine Lust dazu hatte.»Wir landen nicht im Bach«, wandte er ein.

«Trotzdem.«

Widerwillig ließ er sich die dünne orange Weste von mir über den Kopf streifen und die Gurte umschnallen.

Unser Vorstoß in Odins Zentrum war keineswegs geordnet oder kontrolliert. Wolken peitschten am Fenster vorbei und wurden allmählich dichter und dunkler, bis wir schlicht durch hundertprozentige Feuchtigkeit oder anders gesagt durch Regen flogen.

Obwohl die Falten auf seiner Stirn und der angespannte Mund ganz den Eindruck machten, als sei er selbst in berechtigter Sorge, erklärte Kris mir streitlustig, das Wetter könne noch so schlimm sein, wir würden nicht aufgeben. Das Flugzeug, stieß er nach, sei den Anforderungen gewachsen, und wenn ich kneifen wolle, hätte ich daheim in Newmarket bleiben sollen.

«Sprichst du mit dir selbst?«fragte ich. Auch über die Kopfhörer konnte man sich wirklich nur noch schwer verständigen.»Wie schnell sind wir?«

Kris antwortete nicht. Ich nahm an, daß der entfesselte Wind uns seitlich abgetrieben hatte und daß wir jetzt dabei waren, sehr schnell ins Innere der Spirale hineinzufliegen. Da ich unsere Position auf keiner der beiden Karten auch nur annähernd bestimmen konnte, verlangte ich energisch, wir müßten wieder mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen und den Bordfunk auf die richtigen Frequenzen einstellen. Zögernd willigte Kris ein, aber ich erntete nur Pfeiftöne und Piepser und, was menschlichen Kontakt anging, entfernt und leise, die Stimme einer spanisch sprechenden Frau.

Der wieder erweckte Funk half mir aber doch, klarer zu denken, und so schaltete ich trotz der Turbulenzen um uns herum die beiden Spezialmeßgeräte von Robin ein, sosehr Kris auch brüllte, daß sie nur zum Gebrauch im Auge und in seiner Umgebung bestimmt seien. Er verstummte aber und riß ungläubig die Augen auf, als er sah, wie die Millibaranzeige auf dem modifizierten Radarhöhenmesser von den auf Trox eingestellten 990 absank über 980, 970, 960 und bei 950 erst stockte, dann zitterte und gegen 940 fiel.

Gelangten wir nicht automatisch ins Auge, wenn wir der Talfahrt der Millibars folgten? Im Auge war der Luftdruck immer am niedrigsten. Durch die absteigenden Zahlen bekehrt, begann Kris langsam und stetig nach links zu steuern, in Drehrichtung der Winde.

Normale Höhenmesser messen den Außendruck. Piloten stellen den Druck auf Meereshöhe ein, und in der Luft wird der Druckunterschied als Höhe in Fuß angezeigt. Der Radarhöhenmesser ermittelte unsere Höhe anhand der Zeit, in der ein zur Meeresoberfläche gesandtes Funksignal zurückgeworfen wurde. Ohne ihn wären wir wirklich übel dran gewesen, denn wir hätten nicht gewußt, wieviel Platz zwischen uns und dem Meer war. Ich wünschte nur, ich hätte gelernt, die Instrumente richtig zu bedienen, statt einfach einen Knopf zu drücken, wenn die Finger juckten.

Der Druckwert schrumpfte weiter von 940 auf 935… 930… 924. Zu niedrig, dachte ich. Was das neue Instrument anzeigte, konnte nicht stimmen. Unsinn… oder ich las es falsch… obwohl sogar schon einmal 880 in einem Sturm gemessen worden waren. 924 ging ja noch, aber 923? 921? Wir sind verratzt, dachte ich. Meine Theorie brachte uns um… 920… 919… es war aus. Heute früh auf Cayman hatte der Druck im Auge bei 930 gelegen… so schnell konnte er unmöglich gesunken sein… Aber 919… 919, und er fiel immer noch. Ich sah auf den Standardhöhenmesser und rechnete im Kopf nach. Wir waren fast auf Meereshöhe… gefährlich!» Geh nicht tiefer«, warnte ich Kris.

«Wir sind in Wolken direkt überm Wasser. Zieh hoch, zieh hoch, sonst…«

Kris war ein guter Pilot für einen Sonntagsausflug nach Newmarket. Wir hatten beide keine Ahnung gehabt, welch hohes Können ein Hurrikan erforderte. Mit eigensinnig vorgerecktem Kinn zog er die Maschine bei 919 Millibar langsam nach links, ging vorsichtig tiefer… tiefer… Es blieb bei 919, und ich hielt den Atem an.

Als die Nadel gerade auf 918 Millibar ging, brachen wir durch die Wolken in helles Sonnenlicht.

Das Auge! Wir hatten es wirklich geschafft! Wir waren mitten im Herzen von Odin. Das war gewissermaßen unser Mount Everest, der Höhepunkt unseres Lebens, der Gipfel, den wir nie wieder erblicken würden. Das Auge eines Hurrikans durchfliegen — ich hatte es mir ja gewünscht, aber jetzt erst wurde mir bewußt, wie sehr.

Die 918 Millibar waren hart an der Grenze. Berghohe Wellen bewegten sich dicht unter uns, glitten machtvoll dahin, ohne aber hochzulecken, ohne unseren bemerkenswerten Mikrokosmos zu verschlingen.

Kris liefen Tränen über die blassen Wangen, und mir wahrscheinlich auch.

In diesem wunderbaren Augenblick der Offenbarung und Erfüllung war ich Robin Darcy unerhört und uneingeschränkt dankbar. Auch wenn ich ihm nicht über den Weg traute, auch wenn er Kris überredet hatte, mich anzulügen, auch wenn uns der Abstecher nach Trox ernsthaft in Gefahr gebracht hatte — ohne sein Geld, sein Flugzeug, seine Instrumente und, jawohl, seine geheimen und wahrscheinlich kriminellen Absichten hätten wir beide mit den Füßen auf dem Boden bleiben und Odins Weg von fern auf dem Bildschirm verfolgen müssen, und wir hätten niemals wie meine Großmutter sagen können:»Da war ich, das kenne ich.«

Der Fahrtmesser zeigte ein Tempo an, bei dem wir ganze drei Minuten Ruhe haben würden, bevor wir in die fürchterlichen Winde auf der gegenüberliegenden Seite des Auges gerieten, und Kris, der zu dem gleichen Schluß kam, begann uns sofort in einem engen Kreis zu führen, so daß wir etwas länger in Odins Zentrum blieben.

Unter uns — vielleicht nur zweihundert Fuß unter uns — lag die bewegte See blau in dem erstaunlichen Sonnenlicht, das auch auf unser Flugzeug fiel und eckige Schatten auf unsere Gesichter warf. Über uns ragte der von kaum einem Wolkenwirbel getrübte Schacht hoch empor und gab immer wieder mal einen Blick auf blauen Himmel frei. Kris hielt das kreisende Flugzeug im langsamen Steigflug, bis wir vielleicht vier- oder fünftausend Fuß über Meereshöhe waren, uns an unsere eigentümliche Situation gewöhnt hatten und sie in Erinnerung behalten würden.

Wir waren allein im Auge. Zwischen blauem Himmel und blauem Meer hatte niemand sonst teil an dieser seltsamen kreiselnden Welt.

«Stadioneffekt«, bemerkte Kris fröhlich.

Ich nickte. Stadioneffekt hieß, daß das Auge oben weiter war als unten über der Wasserfläche; wie ein Stadion eben.

Die wirbelnde Wolkenwand mit den fürchterlichen Winden rings um das stille Zentrum sah undurchdringlich aus. Zu der goldenen Sonne im Innern vorzustoßen war gut und schön, aber jetzt mußten wir an den Rückflug denken. Kris zog wieder die Karte mit den Steuerkursen hervor, räumte aber selbst ein, daß Nummer vier jetzt nicht mehr stimmte.

«Gib du ihn mir«, sagte er.»Das kriegst du hin.«

Wir hatten gar nicht erst versucht, uns an das Flugschema professioneller Hurrikanflieger zu halten, nämlich drei Flüge direkt durchs Auge auf zehntausend Fuß. Wir waren wirklich auf uns allein gestellt.

Ich rechnete aus, daß wir bei nördlichem Kurs auf Land treffen würden, wenn nicht auf Cayman, ein doch recht kleines Ziel, dann auf Jamaika oder, als letzter Ausweg,

Kuba. Zeit und Treibstoff hatten wir genug, um so weit zu kommen, und mit ein wenig Glück hatten wir bis dahin längst wieder Funkverbindung und konnten uns führen lassen. Peinlich, aber besser als abstürzen.

Kris war mit dem Nordkurs einverstanden, wollte aber in östlicher Richtung in die Wolkenwand einfliegen, da die gegen den Uhrzeigersinn drehenden, dort besonders starken Winde uns wohl ohnehin nach Norden tragen würden, bis wir vielleicht hundert Kilometer weiter waren und den äußeren Rand des Hurrikans erreichten.

Die zweite Windspitze eines Hurrikans am Boden kommt, wenn das Auge vorbeigezogen ist und die Illusion erzeugt hat, daß der Sturm vorüber sei. Die zweite Windspitze eines Hurrikans schlägt von Südwesten zu wie eine rollende Betonwand und vernichtet alles, was dem ersten Ansturm widerstanden hat.

Die zweite Windspitze eines Hurrikans Kategorie 5 heult und kreischt und ist schneller als ein Tennis-As ein As servieren kann. Sie bringt Sturzbäche, Sturzseen schlammlösenden Regens. Sie bringt Obdachlosigkeit und Elend und reißt Brücken ein — und um nach Grand Cayman zurückzukehren, mußten wir noch einmal durch den tobenden Sturm.

«Wie hoch sind wir?«fragte Kris. Seine Stimme klang nervös, sein Blick war beunruhigt. Normalerweise rechnet man einfach, daß der Luftdruck alle zehn Meter um ein Millibar fällt — aber mit der Höhe nimmt auch die geistige Konzentration ab, und Kris und ich konnten in der rüttelnden, lärmenden Holterdipolterwelt um uns herum nicht mehr allzu klar denken.

Kris steuerte nach Osten und nahm bei achttausend Fuß auf dem Höhenmesser entschlossen Kurs auf Land. Wir waren beide sicher, daß wir die Abdrift unterschätzt hatten und daß uns die rotierende Windspirale trotz der voll aufgedrehten Motoren überallhin blies, nur nicht, wohin wir wollten.

Vom blauen Himmel war nichts mehr zu sehen. Die See brodelte und raste, grau und braun.

Wolken und Regen hüllten uns ein. Wir waren blind und konnten nicht feststellen, wie wir vorankamen. Kris versuchte es gar nicht mehr. Er war geistig weggetreten.

Minutenlang war ich fest davon überzeugt, daß Kris und ich und das Flugzeug hier überfordert waren. Die Vorahnungen meiner Großmutter machten mir Gänsehaut. Kris, der sichtlich den Mut verlor, rief wiederholt:»Mayday, Mayday, Mayday «in das Mikrofon, ein Hilferuf über Funk, den niemand hörte.

Trotzdem hätten wir es noch schaffen können, wenn wir auf dem nördlichen Kurs geblieben wären und wenn nichts dazwischengekommen wäre, aber von einer Sekunde zur nächsten, katastrophenschnell, stürzte ein simpler mechanischer Vorgang uns ins Chaos, in das ungestüme Reich der Dämonen.

Das rechte Triebwerk fiel aus.

Sofort kam die ganze Maschine aus dem Gleichgewicht, kippte seitlich ab, drehte sich im Kreis, reckte die Nase, senkte sie wieder. Kris rief:»Volles Gegenruder, Steuerknüppel vor, volles Gegenruder«, wobei er das linke Pedal durchtrat, und mir fiel ein, daß man mit» Steuerknüppel vor, volles Gegenruder «eine einmotorige Maschine abfängt, wenn sie trudelt, aber ich wußte nicht, ob das gestörte Gleichgewicht eines einseitig streikenden zweimotorigen Flugzeugs davon besser oder schlimmer wurde. Ich suchte noch einmal Funkkontakt, um Kris’ Stimme auszusenden, und hörte nur sehr schwaches Spanisch.

Raum und Zeit gerieten durcheinander. Wir konnten nur noch einen Gedanken auf einmal fassen. Meine kreisten um das Schlauchboot, das hinter mir in der Passagierkabine lag, denn da Flugzeuge nicht auf dem Wasser treiben, war ich überzeugt, daß wir es brauchen würden.

Irgendwie bekam ich in der schlingernden Kiste das dicke Bündel zu fassen, packte es und hielt es fest, während die Maschine kaum noch zu lenken war und Kris, der immer noch wie wild am Steuerknüppel zerrte, wieder anfing zu rufen:»Mayday, Mayday, Steuerknüppel vor, volles Gegenruder… Mayday…«, und dann, verzweifelt:»Ich flieg zurück nach Trox. Zurück nach Trox.«

Auch wenn er sinnlos drauflosplapperte, behielt er das bockende, drehende, rüttelnde Flugzeug doch halbwegs unter Kontrolle, das gegen seinen Willen aus achttausend Fuß Höhe jetzt schnell zu Tal ging, und erst als ich ihm zuschrie, er solle sich zum Abspringen bereit machen, schien ihm bewußt zu werden, daß wir mit nur einem überhitzten Triebwerk in diesem Sturm auf verlorenem Posten kämpften. Er konnte die sich überschlagenden Wellen sehen, aber er hätte dennoch das Unausweichliche geleugnet. wäre nicht Meerwasser gegen die Windschutzscheibe geklatscht.

Mit einem Aufschrei des Entsetzens griff er steiffingrig nach den Schaltern und zog die Nase schräg hoch, während Triebwerk und Propeller auf der Backbordseite noch auf vollen Touren liefen, und irgendwie erwischten wir das Wasser bäuchlings auf einer furchterregend großen, anrollenden Welle. Beim ersten Aufprall sprang die Piper zurück in die Luft, drehte sich heftig nach links und senkte die Nase. Der zweite Schlag war stärker, und mit der eigentümlichen Logik, die in Notsituationen den Verstand führt, dachte ich auf einmal an eine vor langer Zeit gehörte Prüfungsfrage, bei der es um das geeignetste Material für Sicherheitsgurte ging, die sich dehnen und Bewegungsenergie auffangen mußten, um den Benutzer bei einer plötzlichen Kollision vor Schaden zu bewahren. Als sich das Flugzeug in die beinah senkrechte Wand der nächsten hohen, schaumgekrönten Welle bohrte, erfüllten unsere Sicherheitsgurte ihren Zweck und fingen unsere Energie auf, daß es durch Mark und Bein ging.

Fast noch im Moment des Aufpralls stieß ich die Hecktür auf und sprang in das tosende Wasser, hielt um des lieben Überlebens willen das Dinghy umklammert und zog an der Leine, um es aufzublasen. Schon blähte es sich gewaltig und entfaltete sich mit einem Schwung, der es mir aus den Händen riß bis auf das außen herumführende Tau, die Rettungsleine für über Bord Gegangene. Für ganz kurze Zeit hielt ich es noch fest, aber in dem heulenden Sturm war jedwede Kraft, die ich zu haben meinte, eine Farce, und mit Grausen erkannte ich, daß ich es nicht würde halten können, bis Kris sich losgeschnallt und das sinkende Schiff verlassen hatte.

Er kam dann aber sehr schnell vorn heraus, sprang glücklicherweise zuerst mit einem Fuß auf die bereits überflutete Tragfläche und fiel dann direkt in das beinah vollständig aufgeblasene Dinghy, als es mir aus den Händen glitt. Wind und Wellen erfaßten das sich ausdehnende Boot und trugen es im Nu von dem sinkenden Flugzeug fort, und einen Moment lang sah ich Kris’ von Schrecken erfülltes Gesicht noch zu mir herüberschauen. Dann trennten uns Wolken und Regen gewaltsam und machten uns füreinander unsichtbar, und nur wenig länger konnte ich das mit Wasser vollgelaufene Flugzeug sehen, bevor es mit hochstehender Tragfläche rasch und für immer in den Fluten versank.

Ohne viel Hoffnung zog ich an den Leinen der Schwimmweste, die meine alleinige Überlebenschance darstellte, und daß sich die Weste prompt mit Luft füllte wie vorgesehen, schien mir wirklich der einzige kleine Strohhalm zu sein, an den ich mich klammern konnte, aber mehr auch nicht.

Meine Schuhe schwammen weg, und ich zog meine Hose aus, so daß ich nur Unterhosen, Hemd und die leuchtendorange Schwimmweste am Leib trug. Das relativ warme Wasser der Karibik konnte mich zwar hin und her werfen, aber an Unterkühlung sterben würde ich nicht. Es gab tröstliche Geschichten von verschollenen Seeleuten, die nach Tagen auf See noch lebend aufgegriffen wurden. Das war gut zu wissen, dachte ich, auch wenn sie nicht mit hurrikanhohen Wellen zu kämpfen gehabt hatten.

Es war Tag, und meine wassergetränkte Uhr war um 14.15 Uhr stehengeblieben, bei unserem Absturz ins Meer. Zu Hause hatte ich eine billige wasserdichte Armbanduhr zum Schwimmen: Hätte ich die bloß mitgenommen. Alberner Gedanke. Im Meer war die Zeit ohne Bedeutung.

Aber wenn Kris und ich nicht wieder auf dem Flughafen von Cayman auftauchten, würde Robin Darcy uns bestimmt suchen lassen. Kris’ Dinghy war meilenweit zu sehen, und meine Rettungsweste mochte zwar nur ein kleiner Tupfer im Ozean sein, war dafür aber leuchtfarben. Bloß nicht daran denken, daß bei diesem Wolkenbruch, diesen Wellenbergen kein Hubschrauber auf Schwimmwestensuche gehen würde.

Odin war ein langsam ziehender Hurrikan, aber auch die langsamen gingen irgendwann vorbei. Um zu überleben, mußte ich zunächst Odin durchstehen und dann zu entdecken sein, und am besten wäre ich zu entdecken auf einer der gängigen karibischen Luftverkehrsrouten.

Die Gedanken kamen langsam, und keiner war erfreulich. Unangenehm zum Beispiel dieser: Das karibische Meer war sehr groß. Oder, anderes Beispiel, anderer Gedanke: Bist zwar ein geübter Surfer, hast aber erstens kein Brett dabei, und zweitens war bei zehn Meter hohen Sturmwellen wahrscheinlich auch mit Surfbrett nichts zu wollen.

Außerstande, einen konstruktiven Entschluß zu fassen, kämpfte ich lediglich darum, mich und meinen wirren Kopf über Wasser zu halten. Die Schwimmweste war gottlob so beschaffen, daß ihr Kragen das Kinn des Trägers ab stützte und ihn, selbst wenn er von einem turmhohen Brecher erfaßt wurde, wie einen vollgesaugten Korken langsam wieder nach oben brachte.

Man konnte Salzwasser schlucken und krampfhaft nach Luft schnappen. Man konnte sich immer wieder an die windgepeitschte Oberfläche strampeln und sich dort eine Weile halten, etwas zu Atem kommen, aber wenn der Spätnachmittag in Dunkelheit übergegangen war, konnte man im unaufhörlichen Ansturm der tosenden Wellen allmählich das Gefühl bekommen, daß mit einer Rettung oder auch nur vorübergehenden Erleichterung nicht mehr zu rechnen war.

Man konnte ins Delirium fallen, und man konnte ertrinken.

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